Deutsche Poetik. ──────
Theoretisch-praktisches
Handbuch der deutschen Dichtkunst.
Nach den Anforderungen der Gegenwart
von
Dr. C. Beyer. ──────
Erster Band.
Stuttgart.
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.
1882.
K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
[EAI:b]Seiner Majestät
dem regierenden Könige von Württemberg
Karl I.
dem hohen Beschützer der Werke des Friedens und der Humanität
mit
Allerhöchster Bewilligung
ehrfurchtsvollst zugeeignet.
Vorwort als Einleitung. ──────
Wohl an fünfundzwanzig Jahre beschäftige ich mich neben meinen
dem Lesepublikum bekannten dichterischen, litterarhistorischen und philosophischen
Arbeiten vorzugsweise mit den Wesensgesetzen der
deutschen Poetik. Das interessevolle Eindringen in die Rückertschen
Dichtungen, die auf den Gebieten poetischer Technik als gesetzgebende
gelten können, förderte dieses Studium in hervorragender Weise und
verlieh ihm einen individuellen Reiz. So gestaltete sich die Absicht, ein
Lehrmittel zu schaffen, welches die Ausstellungen über Dürftigkeit
und theoretisierende Einseitigkeit der meist doktrinären,
unmethodischen und undeutschen Hülfsmittel der Poetik
verstummen mache, die (wie Heyses veraltete Verslehre) Modernes
und Antikes vermischend meist auf der Basis der alten Sprachen aufgebaut
sind, oder die (wie Ph. Wackernagels Auswahl) den altgriechischen
und fremden Formen weit über die Hälfte des Umfangs
einräumen und obendrein manche unrichtige Bezeichnungen bieten, was
ich da und dort (z. B. § 107, 109, 184 &c.) nachzuweisen vermochte.
Der universelle, sprach- und reimgewandte Heros poetischer Form,
Fr. Rückert, welcher in mir die Erwägung anregte, ob denn nicht
die litterarischen Reichtümer aller Völker bald an Stelle der Nationallitteraturen
die von ihm angebahnte Weltlitteratur schaffen würden,
schien mir am meisten geeignet, die Abstraktion der Gesetze einer Poetik
zu ermöglichen und durch seine mehr als 200,000 Verse umfassenden
Dichtungen in das Geheimnis der deutschen Verskunst einzuführen.
Da ich mir jedoch vornahm, keinen Lehrsatz ohne Beispiel
zu lassen, so hätte ich mir durch starres Beschränken auf Rückertsche
Beispiele den Vorwurf der Einseitigkeit zuziehen müssen, indem bei
Rückert doch so Manches fehlt, was als ein Vorzug anderer bedeutender [RII]
Dichter und Zeitgenossen angesehen werden muß. Auch hielt ich einzelne
Formen bei anderen Dichtern ─ mehr als bei Rückert ─ geeignet,
neben Pflege des Sinnes für das Schöne formale wie materielle Bildung
anzuregen, oder wenigstens das regelnde Gesetz schärfer erkennen
zu lassen. Jch entschloß mich also schon frühe, neben Rückert alle
Dichter unserer deutschen Gesamtlitteratur bis in die Gegenwart
in das Bereich meiner Studien und Beispiele zu ziehen, was bis jetzt
in gleichem Maße von keiner Poetik versucht wurde, so daß gerade
das, was die meisten Poetiken zum praktischen Gebrauche vermissen
lassen, in reichem Maße und nach sorgfältigster Auswahl im vorliegenden
Werke geboten ist, wodurch dem letzteren der Charakter eines durchaus
brauchbaren Lehrmittels für Schule und Selbstunterricht gegeben
werden sollte.
Es schien mir nach jahrelangem Arbeiten allmählich zu gelingen,
das ganze weite System der hiehergehörigen wissenschaftlichen Wahrheiten
darzulegen, nämlich die Gesamtheit der Lehren lückenlos vorzutragen,
die in ihrer Folge seit Opitz, seit Erscheinen der deutschen
Zeitmessung von J. H. Voß bis zu den Arbeiten von Minckwitz,
Gottschall, Kleinpaul, Wackernagel &c. eben die Wissenschaft der
Poetik bilden.
Wenn es die römischen Dichter nicht wagten, die schwierigen
Versmaße der Griechen in ihrem vaterländischen Jdiom nachzubilden
(weil es ihnen zu schwer war, wie die Ausnahme Horaz bestätigt,
oder weil sie sich vor dem Schimpfnamen Græculi fürchteten, womit
man die Verletzung des gewöhnlichen Accents bestrafte), so mußte es wohl
gerechtfertigt sein, wenn der deutsche Litterarhistoriker ─ angesichts
unserer überwiegend die antike Metrik und Nomenklatur behandelnden
Hülfsmittel der Poetik ─ aus ästhetischen Gründen, wie aus
Begeisterung für deutsch=nationale Poesie den nachäffenden Græculis
entgegentrat, um deutsche Accentuation, deutsche Strophik und Phonetik
und die dem deutschen Geiste entquollenen und angemessenen Formen
zu pflegen. Ja, es mußte verdienstlich erscheinen, wenn ich in einer
deutschen Betonungslehre, in einem deutschen Vers= und
Strophensystem die Befreiung von der überlebten schablonenhaften
Schulregel zu proklamieren vermochte, wenn die von unseren besten
Dichtern aus natürlichem oder ererbtem Gefühl beachteten prosodischen
Gesetze in ein zusammenhängendes System gebracht werden konnten und [RIII]
der praktische Nachweis möglich wurde, daß diese Gesetze in unserem
Sprachgeist und Sprachbau von jeher begründet waren. Das Jahr
1870/71, das unserer politisch=patriotischen Lyrik einen gewissen Aufschwung
verlieh und uns ein neues Deutschland gab, sollte doch
auch eine allem Nachäffen feindliche, echt deutsche Poetik im Gefolge
haben und zeigen, daß Deutschland auch in der Poesie auf eigenen
Füßen zu stehen vermag, daß es in seiner urdeutschen Betonung und
in seinen nationalen Metren, Strophen und Formen alles besitzt,
was durch Nachbilden antiker und moderner fremder Metren vergeblich
erstrebt wurde. Die meisten unserer besseren und besten Dichter
haben, wo sie sich von der Form beengt fühlten, ihrem natürlichen,
deutschen Wohllauts- und Rhythmusgefühle nachgegeben und
wohl im Hinblick auf die Minnesinger und auf die Dichter des Volkslieds
ziemlich häufig das Wagnis begangen (vgl. § 116─122),
mit den herkömmlichen Schulbegriffen zu brechen und zwar
unbekümmert um den Tadel der Pedanten und Halbwisser, die aus
übertriebenem Respekt vor der herkömmlichen Autorität die Schönheit
freier Verse (§ 120 ff.) als Fehler bemäkelten, um ja nicht in den
Verdacht der Unkenntnis der Schulgesetze zu kommen. Bei Schiller
läßt sich z. B. der Einfluß des deutschen Accentgesetzes in all seinen
jambischen Stücken (mit Ausnahme der Jungfrau von Orleans und
der Braut von Messina) nachweisen; ebenso bei Goethe im Faust.
Aber erst Heinrich Heine war der Erste, welcher erhaben über die
Kritik der Pedanten die herkömmliche Metrik kühn durchbrach. Er
gehörte zu den wenigen, die das Wesen der deutschen Rhythmik fühlten
und sich praktisch gegen die griechisch=deutsche auflehnten (vgl. Strodtmanns
Dichterprofile 1879, I. S. 246). Fr. Rückert in Kind Horn,
Geibel in Sigurds Brautfahrt, A. Grün in Der treue Gefährte,
Hamerling im Vaterlandslied, Uhland in Taillefer, Wilh. Jordan
im Nibelunge, Scheffel u. A. (vgl. § 119, 120, 191, 219) haben sich
absichtlich von der Schulregel des modernen zwängenden Versrhythmus
frei gemacht. Mit Heine haben nunmehr für den Sehenden alle
besseren Dichter das nicht mehr zu unterdrückende Recht des deutschen
Sinn-Accents beansprucht, der sein Gesetzbuch gebieterisch fordert. Der
Übersetzer des Cajus Silius Italicus klagt mit Recht: „Wir besitzen
unleugbar eine große Anzahl schöner, phantasievoller, erhebender Gedichte
und hochbegabter Dichter, allein eine vollständig reine Silbenmessung [RIV]
kann keinem derselben nachgerühmt werden, ─ und während
die Dichter des Altertums, weil sie regelfest in der Quantitierung
übereinstimmen, sämtlich als prosodische Autoritäten gelten, fehlt unserer
poetischen Litteratur noch immer ein Werk, welches an Mustergültigkeit
den Alten zur Seite gestellt werden könnte.“ ─ Der verdiente Rud.
v. Gottschall geht in seiner Poetik über die Prosodik ziemlich rasch
hinweg. Aber seine Blätter s. lit. Unterh. (1854. Nr. 50) beklagen
den Mangel eines Werks, in welchem die Gesetze der Prosodie und
Metrik mit Klarheit, Bestimmtheit und Vollständigkeit zu
einem sicher leitenden Lehrbuch zusammengestellt und verarbeitet
wären. ─ Auch Freese (Griech.=röm. Metr. p. 138) und Minckwitz
(Lehrb. VIII) betonen das Fehlen einer deutschen Metrik. ─ Platen
nennt unsere Metrik roh, da wir, an das monotone Geklapper von
Jamben und Trochäen gewöhnt, beinahe den Sinn für eigentlichen
Rhythmus verloren hätten, und sich unsere ganze Metrik in einem
beständigen Langkurz oder Kurzlang auf das einförmigste fortbewege. ─
Goethe, durch Wilh. v. Humboldt auf die Fehler in Hermann und
Dorothea aufmerksam gemacht, erkennt das Bedürfnis einer deutschen
Prosodik rückhaltlos an und fordert Humboldt auf, im Verein mit
Brinkmann eine solche zu schaffen; „es wäre“ ─ so ruft er im Briefwechsel
mit Humboldt S. 57 aus ─ „kein geringes Verdienst, besonders
für Poeten von meiner Natur, die nun einmal keine grammatische
Ader in sich fühlen“. ─ ─
Die vorliegende Poetik strebte dieser Aufgabe nach Maßgabe
unserer Kraft im Sinne des elementaren Systems der Synthesis nahe
zu treten. Sie suchte ein Scherflein zu liefern, um in die Hallen der
deutschen Poesie selbst einzuführen, damit für die Folge kein Gebildeter
sei, welcher die Kunstpoesie in ihrem Aufbau nicht kenne, damit kein
talentvoller Naturalist, kein begabter Volksdichter ungerügt an den
Gesetzen des deutschen Versbaues vorübergehe, ja, damit auch unsere
besseren Dichter von den genialsten unserer poesiekundigen Großmeister
abstrahierend lernen, ihr Rhythmus- und Wohllautsgefühl bilden und
einer feineren Wägung in der rhythmischen Poesie sich befleißigen, um
für die Folge nicht nur die regellose oder schulmäßige Poesie für die
geniale oder vollendete zu halten. ─ ─
Jch begann diese Poetik mit Entwickelung der auch für jeden
Dichterfreund unentbehrlichen Vorbegriffe, woran ich unter Präcisierung [RV]
des Geistes und Jnhalts der Perioden unserer Litteratur einen erschöpfenden
Überblick über dieselben in chronologischer, streng sachlicher
Folge in der Absicht reihte, den Lernenden, der ja im Verlauf dieses
Werkes mit allen namhaften Erscheinungen der deutschen poetischen
Litteratur bekannt wird, zu befähigen, die Stellung der letzteren in
ihrer Zeit bestimmen zu können. Man soll nach meinem Vorgang
für die Folge keine Poetik ohne Litteraturgeschichte lehren!
Sodann ließ ich zum erstenmal in einer Poetik einen Grundriß der
Ästhetik mit Bezug auf Poesie und auf poetische Sprache folgen, um
für das ideale Geistesleben zu befähigen, neben dem, was die Poesie
in technischer Beziehung Großes schuf, auch das äußerlich und innerlich
Schöne beachten und empfinden zu lernen. (Jch erfreue mich in
diesem Punkte der ausgesprochenen Übereinstimmung und Anerkennung
eines der geistvollsten Ästhetiker der Gegenwart.) Nach dieser mehr
analytischen Propädeutik ging ich in synthetischer Weise in die eigentliche
Materie der Poetik ein. Jch entwickelte die Lehre von den
Tropen und Figuren unter Klassifizierung, Benennung, Erläuterung
und Herleitung der Metaphern aus dem Wesen der Sprache (§ 36)
und belegte sie mit den bezeichnendsten Beispielen aus allen Dichtern.
Sodann gab ich eine auf deutsche Accentgesetze basierte deutsche Prosodik
und Rhythmik als Betonungslehre, wobei ich u. a. zum erstenmal ein
deutsches Quantitätsgesetz im Gegensatz zu den nicht ganz zutreffenden
Ansichten Westphals und Schmidts aufstellte und im § 80 begründete.
Daran reihte ich eine deutsche Metrik, welche nach Darlegung des
Verhaltens der antiken Maße zum deutschen Versbau in einer eingehenden
Studie (§ 116─122) die noch nirgends genügend gewürdigten
deutschen Accentverse behandelte. Die Lehre vom Reim und namentlich
die nur von wenigen für möglich gehaltene Entwickelung einer
eigenartigen deutschen Strophenlehre entrollte ich in einer Form,
welche eine Vergleichung zuläßt und den überraschenden Reichtum
deutsch=nationaler Strophenformen zum erstenmal dem erstaunten Blicke
erschließt. Die von mir vorgeschlagenen Strophenbenennungen, die ja
einer Vervollkommnung fähig sind, möge man als berechtigte Neuerung
anerkennen und zugeben, daß unsere deutschen Strophen mindestens
das Recht haben, im neuen Deutschland ebenso benannt und bekannt
zu werden, als dieses Vorrecht bis jetzt nur die mit klingendem Namen
versehenen antiken und fremden Strophen für sich ausschließlich in [RVI]
Anspruch nahmen. Die Benennung unserer Strophen hat nebenbei
den nicht zu unterschätzenden didaktischen Zweck, durch bekannte Namen
sofort die Vorstellung von der Strophenform mit dem verständnisweckenden
Lichte der Erinnerung zu übergießen. Man möge an der
einzigen S. 682 mit dem Namen Geibelstrophe belegten Form, welche
eine von mir nachgewiesene ganze Litteratur hervorrief und durch Dichter
wie Berend, Solitaire, Prutz, Droste-Hülshoff und Fitger bearbeitet
wurde, die Bedeutung einer endlichen wissenschaftlichen Betrachtung
der deutschen Strophik erkennen! Dieser Strophik, welche nebenbei
bemerkt den ermutigenden und begeisterten Beifall namhaftester Dichter
und Gelehrter fand, wird sich im zweiten Bande die Darstellung und
Entwickelung sämtlicher Dichtungsgattungen und =formen unter Berücksichtigung
der gesamten Bearbeiter anreihen und den theoretischen
Auf- und Ausbau einer echt deutschen Poetik zum Abschluß bringen.
Ein dritter kurzer Supplementband endlich soll mit Erfolg in die
Technik der Poesie durch eine praktische Anleitung zum Versebilden
einführen, wodurch ich mindestens der Legion jener Gebildeten und
Strebenden einen Dienst zu erzeigen hoffe, welche sich im Gelegenheitsdichten
versucht haben oder versuchen möchten. Es lag der ernst
didaktische Zweck zu Grunde, durch diese streng methodischen Übungen
den Sinn für Ordnung und Gesetzmäßigkeit zu wecken, Überhebung
oder Tändelei im sog. Versemachen abzuschneiden, das Jnteresse für
die Form der edlen Poesie zu begründen und durch praktisches kritikforderndes
Schaffen und Begreifen der Gesetze zu befähigen, auch
die zur Bescheidenheit mahnenden Vorzüge und Feinheiten alter und
neuer Muster zu ahnen. Der Kenner fremder Sprachen wird außerdem
noch eine präzise Anleitung zur Übersetzung, z. B. aus dem
Englischen, Französischen, Jtalienischen, Schwedischen &c., vorfinden.
So habe ich denn lebensvolle Theorie mit selbstthätiger
Praxis zu verbinden gesucht und ein allseitiges Gesetzbuch der
deutschen Poesie zu entwerfen gestrebt, welches von dem durch
Fischart (S. 215) angedeuteten, von Opitz (S. 231) ausgesprochenen
Gesetz ausgehend auf urdeutscher Metrik aufgebaut, in Geist
und Wesen unserer heutigen Poesie durch ihre Materie einführt und sich
seine eigenartige Stellung durch methodische Anlage sowie durch Anschaulichkeit
und pädagogische Brauchbarkeit sichern möchte. Möge
es als ein Beitrag erkannt werden, im neu erstandenen Deutschland [RVII]
auch in der Poesie die Befreiung vom deutschwidrigen Fremdentum
zu erringen und Vorschub zu leisten der Pflege und Verallgemeinerung
deutschen Geistes! ─
Die Lernenden werden es mir Dank wissen, daß ich nach dem
bewährten Satze „exempla docent“ im Gegensatz zum unerquicklichen
Regelwerk dürrer Abstraktionen jeden Satz, jeden Reim, jede Versart,
jede Strophenform &c. von den Anfängen unserer Litteratur bis in
die Gegenwart durch vorzügliche Beispiele unserer besten Dichter unter
Ausschluß der geringeren belegte und zu allen Übungen und Aufgaben
des dritten Bandes poetische Lösungen gab. ─ Die Lehrenden aber
mögen bemerken, daß ich den wesentlichen Teil eines jeden Paragraphen
gewissermaßen als Lehrsatz und als das für Repetition und für Diktat
Geeignete mit größerer (Garmond=) Schrift drucken ließ, wozu das
jeweilige Kleingedruckte die Erläuterung oder die Ausführung bietet,
─ daß ich somit dem Werke jene methodische Einrichtung zu wahren
suchte, die ich in meinen philosophischen Grundlinien „Erziehung zur
Vernunft“ (Wien, Braumüller. 3. Aufl.) forderte. Den Lehrern und
Schülern höherer Unterrichtsanstalten und den Freunden der alten
Klassiker wird es erwünscht sein, daß ich auch die alten und fremden
Bezeichnungen (zumeist mit Übersetzung für den Nichtsprachkundigen)
beigab, und alle wichtigen Aussprüche und Erklärungen aus den alten
Klassikern berücksichtigte. Ein Verzeichnis der von mir gewissenhaft
benützten Quellen aus der gesamten einschlägigen Litteratur bieten die
Paragraphen 3 und 4 d. B., wobei ich ausdrücklich bemerke, daß
einige kleinere im Buch verarbeitete Citate aus den von mir ebenso
sorgfältig verfolgten Fachblättern, Vorträgen, Zeitungen &c. im Register
des II. Bandes erwähnt sind.
Die Schwierigkeit meiner umfassenden Arbeit wird der Wissende
würdigen. Diese ist das Werk unermüdlichen, opfervollen Forschens,
Ringens, eigener Selbstbelehrung und Selbstvertiefung, wie des ehrlichen
Strebens, der Wissenschaft der Poesie ein umfassendes, festbegründetes
Werk zu liefern. Sie wurde nur möglich durch Benützung der besten
deutschen Bibliotheken, von denen ich besonders der Stuttgarter gedenke,
deren zuvorkommende Beamten mir manchen Vorschub leisteten, sowie
durch thätige Ermutigung bedeutender deutscher Dichter, gelehrter
Freunde und eines für diesen Gegenstand ehrlich begeisterten Verlegers.
Sollte ich hie und da meine Kräfte überschätzt haben, so rechne [RVIII]
ich auf die Nachsicht Besserwissender und schärfer Kombinierender, die
frei vom Dünkel splitterrichtender oder verdienstloser neidischer Halbwisser
den guten Willen mit der Erwägung anerkennen, daß etwas
in dieser Art Zusammenhängendes und Erschöpfendes in unserer
Litteratur noch nicht vorhanden ist!
Alle Dichter und Gelehrte aber bitte ich dringendst, etwaige
Verbesserungen in Anordnung und Materie für eine neue Auflage
mir zugehen zu lassen, oder mich auf Unrichtigkeiten aufmerksam zu
machen.
Mein schönster Lohn würde es sein, wenn auch Fachmänner wahrhaft
bereichernde Daten in meiner Arbeit finden und dieselbe als Lehrmittel
empfehlen möchten, damit die Schulbehörden des deutschen
Reiches endlich Veranlassung nehmen, dem Unterrichte in der deutschen
Poetik mit Litteraturgeschichte eine oder zwei wöchentliche Lehrstunden
in den oberen Klassen aller besseren Anstalten einzuräumen. Jch verspreche
mir ein Aufblühen des Geschmacks unseres Volkes im Großen,
wenn schon die strebende Jugend befähigt wird, die Feinheiten der
Kunst in unseren Dichtungen zu empfinden, die Formen und Mittel
zu verstehen, die Technik zu handhaben oder zu durchschauen, wie ich
insbesondere die Poetik bei richtiger Behandlung für geeigenschaftet halte,
in die obersten und letzten Disciplinen aller höheren Unterrichtsanstalten
einzuführen: in Logik und Psychologie!
Zweifelsohne wird der Lernende, welcher den erfrischenden Gang
durch eine begriff- und lebenzeugende Poetik erfolgreich gemacht hat,
mindestens die Poetik als Philosophie der Poesie und
ihrer Geschichte auffassen lernen: als die ─ so zu sagen
─ ein historisch entwickelndes Verfahren beobachtende
Naturgeschichte der Poesie, die dem ganzen Fache konkreten
Gehalt, Leben, Gestalt und Reiz verleiht!
Stuttgart, am Enthüllungstage des Hamburger Lessing-Denkmals 1881.
Dr. C. Beyer.
[RIX]Jnhalts-Verzeichnis. ──────
Deutsche Poetik. Erster Teil.
Deutsche Verslehre.
- Erstes Hauptstück: Vorbegriffe.
- Seite
- § 1. Wesen der Poetik 1
- § 2. Die Poetik ein Bedürfnis für Jeden 2
- § 3. Geschichte der Poetik bis Schiller und Goethe 3
- § 4. Geschichte der Poetik bis in die Gegenwart. Litteratur und Quellen
dieses Buches 6 - § 5. Die Künste im Verhältnis zum Gegenstand der Poetik 8
- § 6. Freie Künste in gleicher Beziehung 9
- § 7. Gegenstand der Poetik: die Dichtkunst 10
- § 8. Die Schwesterkünste der Poesie im Verhältnis zur Poesie 13
- § 9. Poesie und Prosa 16
- § 10. Ursprung und Alter der Poesie 18
- § 11. Etymologische Notiz über die Namen der Poesie 24
- § 12. Wer ist ein Dichter? 25
- § 13. Die Zeit und ihr Einfluß auf den Künstler 34
- § 14. Der Dichter und sein Jahrhundert 37
- § 15. Die echte Kunst ist ewig 39
- § 16. Die dichterischen Stoffe 39
- § 17. Entstehung des Gedichts (Poetische Disposition und Komposition) 41
- § 18. Einführung in das Stoffliche der Poetik: Die Litteraturgeschichte.
Historische Übersicht und Jnhalt der deutschen poetischen Litteratur.
10 Perioden 42
- Zweites Hauptstück: Ästhetik.
- § 19. Begriff und Entwickelung der Ästhetik 75
- § 20. Das Schöne an sich 78
- § 21. Erkenntnis des Schönen 82
- 1. Wechsel der Form (Rhythmus) 83
- 2. Proportionalität (der goldene Schnitt) 84
- 3. Gewicht ersetzt die Maße 84
- § 22. Verhältnis des Ästhetischen zum Ethischen 85
- § 23. Das Charakteristische im Schönen 86 [RX]
- Seite
- 1. Der Stil 86
- 2. Der Geschmack 87
- Das Klassische (Vollschöne) 88
- Das Romantische 88
- Das Naive 89
- 3. Das Schaffen des Schönen 90
- § 24. Gegensätze des Schönen 90
- 1. Das Häßliche 90
- 2. Das Furchtbare 91
- 3. Das Grausige 91
- § 25. Erscheinungsformen des Schönen 92
- 1. Das Lachbare 92
- 2. Das Reizende (Anmutige) 92
- 3. Das Erhabene und seine Unterarten 93
- a. Das Feierliche und Majestätische 95
- b. Das Pathetische 97
- c. Das Prächtige 98
- d. Das Edle und Würdevolle 99
- e. Das Wunderbare 99
- f. Das Tragische 100
- 4. Das Komische 102
- a. als Naives 103
- b. als Groteskes 103
- c. als Witz mit den Formen 103
- α. Wortwitz 104
- β. Sachwitz 104
- γ. Klangwitz 104
- δ. Bildlicher Witz 104
- ε. Jronie und Sarkasmus 104
- d. als Humor 105
- e. Das Komische in der Posse 106
- f. Das Niedrigkomische 106
- g. Das Komische in anderen Künsten 106
- Die poetische Sprache.
- § 26. Anforderungen des Schönen an poetische Sprache und poetischen Stil 107
- 1. Ordnung, Treue, Vollständigkeit, Kürze 107
- 2. Bestimmtheit, Deutlichkeit, Klarheit des Begriffs 108
- 3. Natürlichkeit 108
- 4. Mannigfaltigkeit und Einheit. Symmetrie 109
- 5. Neuheit 110
- 6. Ästhetische Farbengebung 111
- 7. Reinheit 111
- a. Barbarismus 111
- b. Archaismus 112
- c. Provinzialismus 113
- d. Neologismus (Fremdwörter &c.) 113
- § 27. Das Schöne bei Bildung und Gebrauch der Wörter 116
- § 28. Das Schöne in der Lautmalerei. Klangschönheit 119
- § 29. Das dichterisch Unschöne 130
- 1. Hiatus 130
- 2. Elision 133
- 3. Zusammenziehungen 135
- 4. Dichterisch unschöne Vokalhäufungen und unpoetische Elemente 135
- Seite
- § 30. Das Schöne im Gebrauch des wichtigsten Ausschmückungs-Elements 137
- § 31. Das Schönheits-Jdeal. Jdealismus und Realismus in der Poesie 140
- § 32. Das schöne Kunstwerk als Endziel und Jdeal der Ästhetik 142
- § 26. Anforderungen des Schönen an poetische Sprache und poetischen Stil 107
- Drittes Hauptstück: Tropen und Figuren.
- § 33. Allgemeines über Tropen und Figuren 147
1. Erklärung der Begriffe Tropen und Figuren 147
2. Entstehung, Zweck und Bedeutung der Tropen und Figuren 148
3. Aus den Tropen erblühte die Mythologie 150 - I. Tropen oder Bilder.
- § 34. Einteilung der Tropen 152
- A. Tropen im engeren Sinne.
- § 35. Vergleichung und Gleichnis 153
- a. Vergleichung 153
- b. Gleichnis 155
- § 36. Die Metapher 156
- 1. Erklärung des Begriffs Metapher 157
- 2. Die Metapher als Teil des Satzes oder des Satzgefüges 158
- a. Ein einzelnes Wort als Metapher (Wortarten) 158
- b. Einen Satz umfassende Metaphern 160
- c. Mehrere Hauptsätze zur Darstellung ein und derselben
bestimmten Metapher 160
- 3. Einteilung der Metaphern 161
- a. Vergeistigende Metapher 161
- b. Versinnlichende Metapher 162
- c. Die materiale Metapher 163
- d. Die geistreiche Metapher 164
- § 37. Unterarten der Metapher 164
- 1. Die Metonymie 165
- 2. Die Synekdoche 167
- 3. Elliptische Metapher und Antonomasie 169
- § 38. Die Personifikation 169
- § 35. Vergleichung und Gleichnis 153
- B. Tropen im weiteren Sinne.
- § 39. Die Allegorie 173
- § 40. Die Distribution 176
- § 41. Gesetze für den Gebrauch der Tropen 178
- Katachresis 179
- II. Figuren.
- § 42. Begriff und Einteilung der Figuren 180
- Grammatische Figuren.
- § 43. Ausruf (Exclamatio) 181
- § 44. Die Anrede oder Apostrophe 181
- § 45. Die Frage (Interrogatio) und der Dialogismus 182
- § 46. Das Polysyndeton 184
- § 47. Das Asyndeton 184
- § 48. Die Wiederholung (Repetitio) 185 [RXII]
- Seite
- Formen der Wiederholung.
- 1. Anaphora (Wiederholung des Anfangs) 185
- 2. Epiphora (Wiederholung des Schlusses) 186
- 3. Anadiplosis 187
- 4. Epanalepsis 187
- 5. Epanodos 188
- 6. Epizeuxis 188
- 7. Polyptoton 189
- 8. Symploke 190
- 9. Annominatio 191
- 10. Antanaklasis 193
- Rhetorische Figuren (Sinnfiguren).
- § 49. Begriff der rhetorischen Figuren 194
- § 50. Die Antithese 194
- § 51. Unterarten der Antithesis 196
- α. Die Stichomythie 196
- β. Das Oxymoron 197
- γ. Das Paradoxon 198
- § 52. Die Jronie 199
- § 53. Unterarten der Jronie 200
- 1. Euphemismus 200
- 2. Sarkasmus 200
- 3. Diasyrmus 201
- 4. Mimesis 201
- § 54. Die Onomatopöie 202
- § 55. Die Klimax 203
- § 56. Nebenarten der Klimax 204
- 1. Antiklimax 204
- 2. Häufung 205
- § 57. Die Hyperbel 206
- a. Die naive Hyperbel 206
- b. Hyperbel der Reflexion 207
- § 58. Nebenarten der Hyperbel 208
- 1. Litotes 208
- 2. Emphasis 208
- § 59. Die Negation (Verneinung) 208
- § 60. Die Sentenz 209
- a. Einfache Sentenzen 209
- b. Zusammengesetzte Sentenzen 210
- § 61. Die Präsensfigur 210
- § 62. Die Jnversion oder Wortversetzung 211
- Unterarten der Jnversion 212
- 1. Das Hysteron-Proteron 212
- 2. Hypallage 212
- § 63. Die rhetorischen Figuren der Einschaltung, Auslassung und Zusammenhangslosigkeit 212
- 1. Parenthese 212
- 2. Ellipse 213
- 3. Anakoluthie 214
- 4. Aposiopesis 214
- § 33. Allgemeines über Tropen und Figuren 147
- Viertes Hauptstück: Betonungslehre (Prosodik und Rhythmik).
- Seite
- § 64. Grundbegriffe der Betonungslehre 215
- I. Deutsche Prosodik.
- § 65. Die deutsche Prosodik oder Tonmessung im Gegensatz zur altklassischen 216
- § 66. Der deutsche Accent als Element unserer Prosodik 218
- § 67. Das accentuierende Prinzip war geschichtlich das ursprüngliche 219
- § 68. Accent und Quantität im Althochdeutschen 221
- § 69. Accent und Quantität im Mittelhochdeutschen 225
- § 70. Accent und Quantität in der Neuzeit und Verurteilung quantitierender
Bestrebungen 228 - § 71. Das ursprüngliche deutsche Betonungsprinzip, Entdeckung, Konsequenzen
und Beachtung desselben und unsere Dichter 231 - § 72. Grundgesetz unserer gegenwärtigen Prosodik 233
- § 73. Tongrade 234
- § 74. Prosodische Jnkorrektheiten 236
- a. Thetische, sprachwidrige Behandlung der Tonsilben 237
- b. Arsische Stellung unbetonter, also leichter Silben 238
- § 75. Prinzipien und Ursachen der verschiedenen Tonstärke der Silben 240
- § 76. Deutsches Silbensystem 244
- 1. Schwere Silben 244
- 2. Mitteltonige Silben 245
- 3. Leichte Silben 246
- § 77. Die Betonung zusammengesetzter Wörter 246
- § 78. Betonungsgesetz für die Fremdwörter 248
- § 79. Arten des deutschen Accents 249
- Silben- und Wortaccent 250
- Satzaccent 250
- Versaccent 251
- Die übrigen Accentarten 252
- Das ästhetische Tonlesen (Deklamieren) 252
- § 80. Der deutsche Accent bedingt eine deutsche Silbenquantität (Versuch
eines deutschen Quantitätsgesetzes) 253 - § 81. Wichtige Konsequenzen aus unserem Quantitätsprinzip für den Dichter 256
- § 82. Geist unserer accentuierenden Prosodik 257
- II. Deutsche Rhythmik.
- § 83. Begriffliches 260
- § 84. Unterschied zwischen Metrum und Rhythmus 262
- § 85. Der rhythmische Takt oder Fuß 263
- § 86. Arten des Rhythmus 264
- 1. Quantitierender Rhythmus 265
- 2. Versrhythmus 265
- 3. Freier Rhythmus (urdeutscher Rhythmus) 265
- 4. Steigender und fallender Rhythmus 266
- § 87. Prinzip des ursprünglichen urdeutschen Rhythmus und seine Wandlung 266
- § 88. Rückkehr zum urdeutschen Rhythmus 267
- § 89. Die rhythmische Reihe 268
- § 90. Der große Rhythmus 269
- § 91. Rhythmische Pausen 270
- Seite
- § 92. Kompositionen aller möglichen rhythmischen Reihen 272
- A. Zweisilbige Metren 273
- 1. Trochäische Kompositionen 273
- 2. Jambische Kompositionen 273
- B. Dreisilbige Metren 274
- 1. Daktylische Kompositionen 274
- 2. Anapästische Kompositionen 274
- A. Zweisilbige Metren 273
- § 93. Rhythmische Malerei 275
- Fünftes Hauptstück: Deutsche Verslehre (Metrik).
- § 94. Einteilung der Verslehre 283
- I. Lehre von den Verstakten.
- § 95. Verstakt und Satztakt 283
- § 96. Cäsur und Diärese 285
- 1. Jn Hinsicht auf Satz- und Verstakte 285
- 2. Jn Hinsicht auf rhythmische Reihen 287
- 3. Jn Hinsicht auf ihre geregelte Wiederkehr 288
- § 97. Über Metrum und Metren 290
- § 98. Eintaktige (monopodische) und zweitaktige (dipodische) Messung 290
- § 99. Skandieren, Skansion 291
- II. Lehre von den Versen.
- § 100. Begriffliches über den Vers (Verszeile) 293
- § 101. Versbau und Satzbau 294
- § 102. Die Elemente des deutschen Versbaues 296
- 1. Der Jambus 296
- 2. Der Trochäus 297
- 3. Der Daktylus 297
- 4. Der Anapäst 298
- 5. Der Spondeus 299
- § 103. Elemente des griechisch=römischen Versbaues 300
- 1. Zweiteilige Maße 300
- 2. Dreiteilige Maße 300
- 3. Vierteilige Maße 301
- § 104. Verhalten der antiken Maße zum deutschen Versbau 303
- § 105. Klassifikation der deutschen Verse nach ihrem Schlußmetrum 305
- 1. Vollzählige (akatalektische) Verse 305
- 2. Unvollzählige (katalektische) Verse 305
- 3. Überzählige (hyperkatalektische) Verse 306
- III. Lehre von den streng gemessenen Versarten.
- § 106. Einteilung der deutschen Verse 306
- § 107. Jambische Verse 307
- 1. Eintaktige jambische Verse (jambische Eintakter) 307
- 2. Zweitaktige jambische Verse (jambische Zweitakter) 308
- 3. Dreitaktige jambische Verse (jambische Dreitakter) 308
- 4. Viertaktige jambische Verse (jambische Viertakter) 309
- Seite
- 5. Fünftaktige jambische Verse (jambische Fünftakter) 310
- α. Der gereimte jambische Fünftakter 310
- β. Der reimlose jambische Fünftakter (Blankvers) 311
- 6. Sechstaktige jambische Verse (jambische Sechstakter) 315
- a. Der Alexandriner 315
- b. Der neue Nibelungenvers 317
- c. Der neue Senar 320
- d. Hinkejamben (Choliambus) 321
- 7. Siebentaktige jambische Verse (jambische Siebentakter) 322
- 8. Achttaktige jambische Verse (jambische Achttakter) 323
- § 108. Schreibweise längerer jambischer wie auch trochäischer Reihen 324
- § 109. Trochäische Verse 324
- 1. Eintaktige trochäische Verse (trochäische Eintakter) 324
- 2. Zweitaktige trochäische Verse (trochäische Zweitakter) 325
- 3. Dreitaktige trochäische Verse (trochäische Dreitakter) 327
- 4. Viertaktige trochäische Verse (trochäische Viertakter. Spanischer
Trochäus) 327 - 5. Fünftaktige trochäische Verse (trochäische Fünftakter. Serbischer
Trochäus) 329 - 6. Sechstaktige trochäische Verse (trochäische Sechstakter) 330
- 7. Siebentaktige trochäische Verse (trochäische Siebentakter) 330
- 8. Achttaktige trochäische Verse (trochäische Achttakter) 331
- § 110. Kretische und trochäisch=jambische Verse 332
- A. Der kretische Vers 332
- B. Choriambische Verse 332
- 1. Asklepiadeischer Vers 333
- 2. Glykonischer Vers 333
- § 111. Daktylische Verse 333
- 1. Eintaktige daktylische Verse (daktylische Eintakter) 334
- 2. Zweitaktige daktylische Verse (daktylische Zweitakter) 334
- 3. Dreitaktige daktylische Verse (daktylische Dreitakter) 336
- 4. Viertaktige daktylische Verse (daktylische Viertakter) 336
- 5. Fünftaktige daktylische Verse (daktylische Fünftakter) 337
- 6. Sechstaktige daktylische Verse (daktylische Sechstakter) 338
- 7. Siebentaktige daktylische Verse (daktylische Siebentakter) 338
- 8. Achttaktige daktylische Verse (daktylische Achttakter) 338
- § 112. Trochäisch=daktylische Verse 339
- 1. Adonischer Vers 339
- 2. Der Hendekasyllabus oder Elfsilbner und der phaläkische Vers 339
- 3. Der pherekratische Vers 340
- 4. Der kleine logaödische Vers 341
- 5. Der große logaödische Vers 341
- 6. Der priapische Vers 341
- 7. Der sapphische Vers 341
- § 113. Anapästische Verse 341
- 1. Eintaktige anapästische Verse (anapästische Eintakter) 342
- 2. Zweitaktige anapästische Verse (anapästische Zweitakter) 342
- 3. Dreitaktige anapästische Verse (anapästische Dreitakter) 343
- 4. Viertaktige anapästische Verse (anapästische Viertakter) 343
- 5. Fünftaktige anapästische Verse (anapästische Fünftakter) 345
- 6. Sechstaktige anapästische Verse (anapästische Sechstakter) 345
- 7. Siebentaktige anapästische Verse (anapästische Siebentakter) 345
- 8. Achttaktige anapästische Verse (anapästische Achttakter) 346
- § 114. Jambisch=anapästische Verse (gemischte oder logaödische Anapäste mit
steigendem Rhythmus 347 [RXVI]- Seite
- A. Deutsche jambisch=anapästische Verse 347
- B. Der alcäische Vers 348
- § 115. Mit Spondeen gemischte Verse 348
- A. Der Hexameter (Sechstakter) 348
- Kleists anapästische Hexameter 353
- Zur Litteratur und Geschichte des Hexameters 353
- Über Verwendbarkeit des Hexameters in der deutschen Poesie 355
- B. Der Pentameter oder das Elegeion 357
- C. Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter im Distichon 358
- D. Weitere Verbindung des Hexameters mit anderen Versen 360
- A. Der Hexameter (Sechstakter) 348
- IV. Lehre von den freien Versarten (Accentverse).
- § 116. Erklärung und Entwickelung der Accentverse 361
- § 117. Einteilung sämtlicher deutschen Accentverse 369
- § 118. Symmetrische Accentverse (Silbenzählungsverse) 370
- § 119. Strophisch vereinte Accentverse 373
- § 120. Freie Accentverse (Neuhochdeutsche Leiche) 376
- § 121. Deutsche Hebungsverse 380
- § 122. Freie Volksverse (Knüttelverse) 382
- Sechstes Hauptstück: Die Lehre vom Gleichklang (Reim).
- § 123. Grundbegriffe des Gleichklangs oder Reimes 388
- § 124. Zur Entstehungsgeschichte des Gleichklangs im allgemeinen 390
- § 125. Der Reim als Element und Charakteristikum unserer deutschen
Dichtersprache 392 - § 126. Einteilung der Gleichklangsformen, sowie der im Volksmund lebenden
sprichwörtlichen Formeln 394 - I. Der Stabreim oder die Allitteration.
- § 127. Gesetz und Wesen des Stabreimes und seine Bedeutung für die
deutsche Accententwickelung 396 - § 128. Metrische Bedeutung des Stabreimes 400
- § 129. Die Allitteration als Schönheitsmittel wie als lautmalende Figur 403
- § 130. Formen des deutschen Stabreimes 407
- 1. Der vokalische Stabreim 407
- 2. Der konsonantische Stabreim 408
- a. Schwache Allitteration 408
- b. Starke Allitteration 409
- c. Volle Allitteration 410
- d. Verschlungene Stabung 410
- e. Trennende Allitteration 411
- f. Reiche Allitteration 411
- § 131. Der Stabreim innerlich aufgefaßt 411
- 1. Stabreim für verwandte Vorstellungen 411
- 2. Stabreim für kontrastierende Vorstellungen 412
- 3. Stabreim für indifferente Vorstellungen 412
- § 132. Historische Entwickelung des Stabreims 412
- § 127. Gesetz und Wesen des Stabreimes und seine Bedeutung für die
- II. Der Ausklang.
- § 133. Wesen des Ausklangs und seine Verwendung 417
- III. Die Assonanz oder der Vokalreim.
- Seite
- § 134. Wesen der Assonanz und Anforderungen 417
- § 135. Arten der Assonanz 418
- 1. Freie Assonanz (onomatopoetische Assonanz) 418
- 2. Versgliedernde Assonanz am Ende der Verszeilen 420
- § 136. Geschichtliche Entwickelung der Assonanz 423
- IV. Der eigentliche Reim oder Vollreim.
- § 137. Wesen und Bedeutung des Vollreims 424
- § 138. Arten des Vollreims 425
- 1. Männlicher (jambischer, stumpfer) Reim 425
- 2. Weiblicher (trochäischer, klingender) Reim 426
- 3. Gleitender (daktylischer) Reim 426
- 4. Schwebender (spondeischer) Reim, und 5. Doppelreim 428
- 6. Jdentischer Reim 430
- 7. Der reiche Reim (Ghaselenreim) 431
- 8. Mehrfacher Reim 432
- 9. Der Anfangsreim 433
- 10. Der Binnenreim 434
- 11. Der Mittelreim 435
- 12. Der Kettenreim 436
- 13. Das Echo 436
- 14. Kehrreim oder Refrain (Rundreim == versus intercalaris) 438
- a. Einfachste Art des Kehrreims und der unterbrechende Kehrreim 439
- b. Feste und flüssige Kehrreimsformen 442
- c. Flüssiger Kehrreim 443
- d. Didaktischer Kehrreim 445
- e. Goethesche Kehrreime 445
- f. Uhlands Kehrreime 446
- g. Rückertscher Kehrreim 447
- Rückertscher Ghaselenrefrain 449
- h. Auswahl aus den Kehrreimen anderer Dichter 450
- i. Der Schaltvers 453
- 15. Der Schlußreim 454
- § 139. Stellung und Aufeinanderfolge des Schlußreims 454
- 1. Gepaarte Reime oder Reimpaare (Dilettantenreime) 454
- 2. Schlagreim 456
- 3. Gekreuzte Reime 457
- 4. Umarmende Reime 457
- 5. Verschränkte Reime 457
- 6. Unterbrochene Reime 458
- § 140. Anwendungsfähigkeit des Reims 458
- § 141. Auswahl der Reimart 460
- § 142. Architektonik des Reims 461
- § 143. Anforderungen an den Reim 463
- I. Reinheit des Reims 463
- 1. Gleichartigkeit des reimenden Klanges der Diphthonge
und der Vokale 463 - 2. Gleichartigkeit der reimenden Konsonanten 464
- 3. Gleichheit der Silbenquantität 469
- 1. Gleichartigkeit des reimenden Klanges der Diphthonge
- II. Neuheit des Reims 470
- III. Wohlklang des Reims 471
- IV. Würde des Reims 474
- I. Reinheit des Reims 463
- Seite
- § 144. Zur ältesten Entwickelungsgeschichte des deutschen Vollreims 475
- § 145. Erstarkung des mittelhochdeutschen Reims und seine Weiterbildung
bis in die Neuzeit 477 - § 146. Unterschied zwischen unserem und dem Otfriedschen Reime 479
- § 147. Vorzüge unseres Reims gegenüber dem Reime anderer Sprachen 486
- Siebentes Hauptstück: Die Lehre von den Strophen.
- § 148. Begriffserklärung von Strophen und Alter derselben 489
- § 149. Analogien der Strophe 493
- Bau der Strophen.
- § 150. Abgrenzung des für eine Strophe nötigen Materials 497
- § 151. Abgrenzung der Strophe nach Jnhalt (Enjambement) 498
- § 152. Strophisches Charakteristikum 499
- I. Der Refrain für Strophenteilung 500
- II. Zeilenverschiedenheit als strophisches Charakteristikum 500
- III. Reimverschiedenheit als strophisches Charakteristikum 503
- IV. Wechsel im Tongrad als strophisches Charakteristikum 504
- V. Wechsel des Reimvokals als strophisches Charakteristikum 504
- VI. Wechsel des Rhythmus als strophisches Charakteristikum 504
- VII. Abwechselung der Kola 507
- § 153. Bedeutung des künstlichen Reims für den Bau längerer Strophen 507
- § 154. Gleichmäßige (symmetrische) und ungleichmäßige (unsymmetrische)
Strophen 509 - § 155. Strophenglieder 512
- Symmetrische Strophenglieder 513
- Unsymmetrische Strophenglieder 513
- § 156. Doppelstrophen und abwechselnde Strophen 513
- § 157. Höhere Stropheneinheit im größten Meisterwerke deutscher Poesie 515
- § 158. Einteilung sämtlicher Strophen 516
- I. Antike und antikisierende Strophen.
- § 159. Begriff dieser Strophen und ihre Bestandteile 517
- A. Antike Strophen.
- § 160. Die kürzeste antike Strophe: das Distichon und die Systeme verschiedener
Takte 518 - § 161. Vierzeilige antike Strophen 519
- 1. Die sapphische Strophe 519
- 2. Die alkäische Strophe 521
- 3. Die asklepiadeischen Strophen 522
- 4. Die pherekratische Strophe 523
- 5. Die glykonische Strophe 523
- 6. Die phaläkische Strophe 524
- § 160. Die kürzeste antike Strophe: das Distichon und die Systeme verschiedener
- B. Antikisierende Strophen.
- § 162. Aus antiken Metren und Versen zusammengesetzte Strophen neuer
deutscher Erfindung 524 [RXIX]- Seite
- 1. Klopstocksche antikisierende Strophen 525
- 2. Platens antikisierende Strophen 525
- 3. Schillers gereimte Griechenstrophe 526
- 4. Geibels antikisierende Strophen 526
- § 163. Über Verwendbarkeit und Reim antiker und antikisierender Strophen 527
- § 162. Aus antiken Metren und Versen zusammengesetzte Strophen neuer
- II. Fremde moderne Strophen und Dichtungsformen (südliche Formen).
- § 164. Erklärung und Einteilung 530
- A. Provençalisch=italienische Formen.
- § 165. Das Sonett 531
- Erklärung und Bau 531
- Teile 532
- Jnhalt 533
- Das englische Sonett 534
- Geschichtliches über das Sonett 535
- Plattdeutsche Sonette 540
- Sonettenkranz 540
- § 166. Die Terzine 543
- § 167. Ritornelle 545
- § 168. Sestine 547
- § 169. Die Oktave oder Stanze 550
Verschiedenartig gebaute Oktaven.- a. Wielandsche Oktaven 552
- b. Schillersche Oktaven 553
- c. Avé=Lallemantsche Oktaven 554
- d. Die Spenser-Stanze 555
- § 170. Die Siciliane 556
- § 171. Die Kanzone 558
- § 172. Die Vierzeile 564
- § 165. Das Sonett 531
- B. Spanische Formen.
- § 173. Die Decime 565
- § 174. Die Glosse 567
- § 175. Die Tenzone 571
- § 176. Kancion 574
- § 177. Seguidilla 575
- C. Französische Formen.
- § 178. Das Madrigal 576
- § 179. Akrostichon und Akrostrophe 577
- § 180. Das Triolet (Dreiklangsgedicht) 578
- I. Einstrophige Triolete 579
- II. Zweistrophige Triolete 579
- III. Dreistrophige Triolete (Rondel) 580
- IV. Abarten einstrophiger Triolete 580
- § 181. Das Rondeau (Ringelgedicht, Rundgedicht) 581
- D. Französisch=deutsche Strophen.
- § 182. Die Alexandrinerstrophen 583
- a. Rückerts Alexandriner-Distichon 583
- b. Geibels 9zeilige Alexandrinerstrophe 583
- c. Freiligraths 6zeilige Alexandrinerstrophen 583
- § 182. Die Alexandrinerstrophen 583
- E. Orientalische Formen.
- Seite
- § 183. Persische Vierzeile (Rubaj, Rubajat) 584
- § 184. Das Ghasel und die Kasside 585
- § 185. Malaisches Kettengedicht 589
- § 186. Die Makame 589
- Zur Geschichte der Makamen 590
- Jnhalt der Rückertschen Nachbildungen 590
- Zur Kritik der Rückertschen Makamen 591
- Zur Geschichte der nicht arabischen Makamen 592
- § 187. Der Sloka 596
- III. Althochdeutsche und mittelhochdeutsche Strophen.
- § 188. Die althochdeutschen Reimpaare 599
- § 189. Übergang zur Strophik der mittelhochdeutschen Zeit 600
- Strophen der mittelhochdeutschen Zeit.
- § 190. Die mittelhochdeutsche Nibelungenstrophe 601
- § 191. Verwendung der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe in der Neuzeit 603
- § 192. Die Gudrunstrophe 607
- § 193. Übervierzeilige Strophen der Minnesinger. Begründung der Strophik
durch die Kunstpoesie 608- a. Titurelton 609
- b. Marners langer Ton 610
- c. Frauenehrenton von Reinmar von Zweter 610
- d. Abgespitzter Ton Konrads von Würzburg 611
- e. Gesangweise Boppes 611
- f. Der Guldenton Kanzlers 612
- g. Frauenlobs grüner Ton 612
- h. Eine Tanzweise des von Liechtenstein 612
- i. Eine Reihe Nitharts 612
- k. Der Hildebrandston 613
- l. Bernerton 614
- § 194. Das Gesetz der Dreiteiligkeit im mittelhochdeutschen Strophenbau
als Vorrecht deutscher Gründlichkeit 614 - § 195. Die Dreiteiligkeit der Strophen bei den neueren Dichtern 616
- § 196. Die Leiche 619
- § 197. Strophik der Meistersänger 628
- IV. Die deutsch-nationalen Strophen der Gegenwart.
- § 198. Erklärung und Einteilung 633
- § 199. Zweizeilige Strophen 634
- § 200. Dreizeilige Strophen 635
- Falsche Terzinen 637
- Assonierende dreizeilige Strophen 638
- § 201. Vierzeilige Strophen 638
- Neue Nibelungenstrophe 640
- Dilettantenstrophen 641
- Persische Vierzeilenstrophe 643
- Rückerts Kynaststrophe 643
- § 202. Fünfzeilige Strophen 644
- Nithartstrophe 647
- Seite
- Rückerts Vollendungsstrophe 647
- Alte Titurelstrophe 648
- Schubarts Kapliedstrophe 649
- Körners Gebetstrophe 650
- Rückerts Duftstrophe 651
- König Oskars Bildstrophe 652
- § 203. Sechszeilige Strophen 653
- Rückerts Reimspielstrophe 654
- Schillers Lehr- und Anapästenstrophe 655
- Schillers Polykratesstrophe 657
- Geibels Sehnsuchtstrophe 658
- Wilh. Müllers Noahstrophe 660
- Theobald Kerners Christnachtstrophe 660
- Alexis Aars Herbstliedstrophe 661
- Niggelers Traumstrophe 661
- Max Remys Vorwärtsstrophe 661
- § 204. Siebenzeilige Strophen 664
- Herloßsohns Schwalbenstrophe 665
- Roquettes Rosenstrophe 666
- Rudolph v. Gottschalls Desmoulinsstrophe 666
- Rückerts Klanggeisterstrophe 666
- Rückerts Lenzschauerstrophe 666
- Herweghs Flottenstrophe 667
- Geibels Geniusstrophe 667
- Schmidt-Cabanisstrophe 667
- Kirchenliedstrophe 668
- Neue Titurelstrophe 669
- Goethes Vanitasstrophe 670
- Rückerts Triniusstrophe 671
- Rückerts Kinderstrophe 672
- Pinzgauerstrophe 672
- E. Albrechts Blumenstrophe 673
- Mosens Hoferstrophe 673
- Mailiedstrophe 674
- Bettelliedstrophe 674
- Oswald Marbachs Frühlingsstrophe 675
- Herweghs Rheinweinliedstrophe 675
- Körners Lützowstrophe 676
- Goethes Heidenrösleinstrophe 677
- Goethes Veilchenstrophe 677
- Scherenbergs Fischerstrophe 678
- Luthers Psalmenstrophe 678
- § 205. Achtzeilige Strophen 679
- Hildebrandstrophe 680
- Geibels Abschiedstrophe 683
- Geroks Heimstrophe 685
- v. Gottschalls Liebesklängestrophe 687
- Simon Dachs Treuestrophe 688
- Yankee-Doodle=Strophe 688
- Rückerts Ernteliedstrophe 689
- Rückerts Trommelstrophe 690
- Viktor Blüthgens Kinderliederstrophe 690
- v. Wickenburg-Almásy=Strophe 690
- Wachtelwachtstrophe 693
- Ganzhorns Volksstrophe 695
- § 206. Neunzeilige Strophen 696
- Rückerts Erwartungsstrophe 696
- Luthers Reformationsstrophe 697
- Knapps Prüfungsstrophe 701
- Goethes Hochzeitliedsstrophe 701
- § 207. Zehnzeilige Strophen 702
- Kopischs Trompeterstrophe 704
- König Ludwigs Künstlerstrophe 705
- Marseillaisestrophe 705
- Berangerstrophe 706
- Feodor Löwes Schwesternstrophe 710
- Schillers Habsburgstrophe 710
- Körners Kynaststrophe 711
- Rückerts Schnitterengelstrophe 712
- Rückerts Lebensweisheitsstrophe 713
- § 208. Eilfzeilige Strophen (Undezimen) 713
- Körners Sturmstrophe 715
- Geibels Nachtstrophe 717
- Maßmanns Turnerstrophe 717
- Dingelstedts Seestrophe 718
- Schefers Gewitterstrophe 720
- Bodenstedts Frühlingsstrophe 720
- § 209. Zwölfzeilige Strophen (Duodezimen) 720
- Nicolais Türmerstrophe 722
- Goethes Recensentenstrophe 723
- Geibels Spielmannsstrophe 725
- § 210. Dreizehnzeilige Strophen 729
- Schefers Liebesstrophe 733
- § 211. Vierzehnzeilige Strophen 733
- Sallets Rosenstrophe 735
- Heinzelmännchenstrophe 736
- Bodenstedts Russenstrophe 737
- Rückerts Guckkastenstrophe 738
- Hoffmanns v. F. Unkenstrophe 738
- Rittershausens Freimaurerstrophe 739
- § 212. Fünfzehnzeilige Strophen 739
- Pfarrius Winterstrophe 741
- § 213. Sechzehnzeilige Strophen 741
- Herm. v. Löpers Weinstrophe 743
- Konrads v. Würzburg Musterstrophe 744
- Otto Roquettes Jlsestrophe 745
- § 214. Siebenzehnzeilige Strophen 746
- Rückerts Goldbergstrophe 747
- § 215. Achtzehnzeilige Strophen 748
- § 216. Neunzehnzeilige Strophen 750
- § 217. Zwanzigzeilige Strophen 751
- § 218. Überzwanzigzeilige Strophen 754
- § 219. Freie Strophen von verschiedener Länge 756
- § 220. Eine Zukunftsform 760
- § 221. Rückblick auf die sämtlichen Strophen 762
- § 222. Schlußfolgerungen, Vorsätze, Wünsche 764
- Schluß des 1. Bandes 765
Deutsche Verslehre.
[RXXIV]Heinrich Heine.
Platen.
Erstes Hauptstück.
Vorbegriffe. ──────
§ 1. Wesen der Poetik.
Poetik ist die Lehre von dem Wesen, von den Grundsätzen,
Regeln, Formen und Formeln der Dichtkunst, oder die wissenschaftliche
Betrachtung der Poesie. Als Wissenschaft der Dichtkunst ist sie
ein Teil der Ästhetik, nämlich die auf Poesie angewandte Ästhetik.
Schon in frühester Zeit hat man versucht, aus den Gebilden der Poesie
Regeln zu abstrahieren und die Formen und Formeln der Poesie zu untersuchen,
um sich ihrer Gesetze klar zu werden. Das auf diese Weise entstandene
Regelwerk ist die Poetik. Sie abstrahiert ihre Gesetze ebenso aus der Philosophie
der schönen Künste, wie aus der Betrachtung mustergültiger Dichtungen.
Demgemäß macht uns die Poetik mit den Gesetzen des Schönen, mit der
Lehre des poetischen Stils und mit der äußeren Form und den Gattungen der
Poesie &c. bekannt.
Die Kenntnis der Poetik erleichtert dem Dichter vor allem seine schöpferische
Thätigkeit. Die Poetik erschließt aber auch demjenigen, der nicht Dichter
ist, ein tieferes Verständnis der dichterischen Schöpfungen; sie macht es möglich,
das Schöne und Erhabene leichter erkennen und würdigen zu können; sie strebt,
den Sinn für das Schöne zu wecken und zu beleben; sie sucht ästhetische Bildung
zu fördern. Jhre Kenntnis ist das unerläßliche Vorstudium zur Einführung
in einen Dichter, wie in die gesammte Litteratur.
Bisher waren unsere Poetiken nur denen genießbar und verständlich, die
schon besaßen, was ein Dichter braucht. Eine Poetik der Neuzeit soll aber
─ angesichts des hohen Bildungsstandes unseres Jahrhunderts ─ nicht nur
ein Unterricht im Dichten für Dichter sein, (was früher etwa die Skaldenschulen,
oder die Dichterschulen zur Zeit der Minnesinger oder die Tabulaturen
der Meistersänger &c. waren); sie soll auch nicht nur eine Einweisung in das
Verständnis der fertig gestalteten poetischen Formen bieten: sondern sie soll [2]
auch in letzter Jnstanz ein Mittel bilden, die Philosophie der Poesie und
ihre Geschichte zu begreifen und eine Vorstufe (Propädeutik) der höchsten Disciplinen
(Psychologie und Logik) zu werden.
Lateinisch heißt Poetik: ars poetica, griechisch ποιητική sc. τέχνη.
§ 2. Die Poetik ein Bedürfnis für Jeden.
Der Jnspirationsglaube und das Vorurteil der älteren Philosophie,
daß der Dichter und der Künstler geboren werden, sind auf ein bestimmtes
Maß zurückzuführen. Die Dichtkunst ist Allen je nach dem Grade der
menschlichen Urvermögen zugänglich. Einführung in dieselbe ist Bedürfnis
für denjenigen, der die Geistesschätze seiner Nation verstehen
und genießen will, der ein Gefühl vom Werte deutscher Dichterschöpfungen
und deutschnationales Selbstgefühl erlangen soll.
Eine jede aus Jntuition hervorgehende Arbeit, ─ sei sie ein Bildwerk,
ein Gebäude, eine musikalische Komposition, eine Dichtung ─ erscheint in ihrer
Vollendung selbst gebildeten Personen nicht selten als die Ausführung einer
höheren Eingebung. Und doch ist sie meist weiter nichts, als die spekulative
Einheit oder das Produkt der tiefsten Kenntnis der bezüglichen Empirie oder
des vollständigen Details einer Sache. Gerade der klarste Empiriker ist nicht
selten auch der klarste spekulative Philosoph, oder, wie Rückert, der bedeutendste
Weisheitsdichter. Man darf eben nicht vergessen, daß zwischen dem ersten
Gedanken und der vollendeten Ausführung einer jeden Aufgabe ein oft lebenslängliches
Studium, die vielseitigste technische Ausübung, ein eminenter Fleiß
und eine gewaltige Lebenserfahrung in der Mitte liegen muß.
Bis in die Neuzeit glaubte man an das geborene Genie, das man
wie ein höheres Wesen, wie eine besondere Gattung des Menschen ansah, und
dem man Nichtbeachtung der äußeren hergebrachten Formen in Kleidung und
Manieren gern nachsah. Aber nur der angehende Künstler wird geboren,
nicht der vollendete. (Vgl. Goethe, Werke Bd. XXII, S. 222. Lessing
B. IV S. 310, sowie in meinen philosophischen Grundlinien „Erziehung zur
Vernunft“ [Wien, Braumüller 3. Aufl. S. 22] das Kapitel „Genie“.) Es
giebt eine Krystallisation des Werdens, aber es giebt keine Wunderkinder. Nur
in der Kräftigkeit der Urvermögen oder Anlagen ist ein Unterschied, ebenso
wie in der äußeren körperlichen Gesundheit. Anlage zur Poesie ist in jedem
Menschen, sie äußert sich aber bei Verschiedenen verschieden, also bei dem Jndianer
anders, als bei dem Europäer, bei dem Bauernburschen anders, als bei
dem Studierenden, beim Handlanger anders, als beim Gelehrten, bei der gebildeten
Jungfrau in ebenen Gegenden anders, als bei der naturwüchsigen Sennerin
auf hoher Alp. Aber nur bei Wenigen erscheint die Poesie als Kunst
ausgeprägt. Um als Kunst sich äußern zu können, muß das Können d. h.
die Geschicklichkeit erreicht sein. Dazu gehört Unterricht, Studium, Arbeiten. (Vgl.
Rückerts Ringen und seinen Ausspruch in meinen „Neuen Mitteilungen“ [3]
Bd. I. S. 55, ferner noch Hüffers Mitteilung aus dem Leben H. Heines
[Berlin, 1874], nach welcher Heine außerordentliche Mühe auf die Form seiner
Schöpfungen verwandte und gerade die scheinbar am flüchtigsten hingeworfenen
Lieder am meisten gefeilt habe u. s. w.) Wie der Lernende an Wohllaut
und an ästhetisch Schönes gewöhnt werden kann, so auch an eine äußere poetische
Sprachweise, wenn die betreffenden Regeln und Gesetze verständnisvoll
aus der Sprache selbst entwickelt werden. Da jedem normal angelegten gesunden
Menschen ein richtiges Denken und Fühlen anerzogen werden kann,
(jede Schule hat dies Klassenziel im Lehrplan) da ihm ferner die Form mitgeteilt
wird, in der er sein Denken und Fühlen äußert, so muß jeder gut
beanlagte Mensch so weit fortgebildet werden können, um den Dichter nicht nur
dem Jnhalt, sondern auch der Form nach würdigen und verstehen zu lernen.
Freilich gehört hierzu Kenntnis der seither in allen Lehrbüchern der Poetik übersehenen
Ästhetik, der wir das 2. Hauptstück dieses Buches gewidmet haben, und die
wir so wichtig erachten, weil eine Wirkung wie eine Kritik des Kunstwerks
ohne absichtsvolle ästhetische Bildung dem Zufall anheimgegeben ist.
§ 3. Geschichte der Poetik bis Schiller und Goethe.
Wie bei den Griechen und Römern eine Wissenschaft der Poesie
erst möglich wurde, nachdem die Poesie im Drama zur Blüte gelangt
war, so mußte auch in andern neueren Staaten ─ namentlich in
Deutschland ─ die Poesie verschiedene Stadien durchlaufen, bevor
die Poetik erstand und gepflegt wurde. Die hauptsächlichsten Begründer
der Poetik bei den Alten waren Aristoteles und Horaz.
Aristoteles von Stagira (384─322 v. Chr.) war der erste, welcher
die Grundsätze der einzelnen Dichtungsgattungen auseinandersetzte und in seiner
Poetik namentlich den Unterschied zwischen der epischen und dramatischen Poesie
darlegte. Er ist der Euklides der Poesie. Nach ihm wurde die Poetik nur
eine Art ‘Receptirkunde'. Eine solche schrieb wenigstens Horaz († 8 v. Chr.)
in seiner „Epistola ad Pisones“ oder „ars poetica“. Sie behandelt
hauptsächlich die Aufgabe der Dramatik, giebt reiche Fingerzeige über die dichterische
Technik und weist die damaligen Dichterlinge in Rom ernst humoristisch
zurecht. Nach ihm schrieb u. a. Longin 250 n. Chr. „Über das Erhabene“
(Ausgabe von Jahn, 1867) und gleichzeitig Plotin „Über Schönheit“.
Mehr als 1200 Jahre später wurde erst in Frankreich, dann England, den
Niederlanden und Deutschland die Poetik gepflegt, und zwar infolge der
humanistischen Studien, die nach der Eroberung von Konstantinopel 1453 sich
verbreiteten und der Roheit und Unwissenheit des Mittelalters bald wirksam
entgegentraten. Der römische Bischof Vida († 1566) gab am Anfang des
16. Jahrhunderts eine Poetik in Hexametern heraus, in welcher er hauptsächlich
Virgil citirt. Darauf folgte die Poetik des Franzosen Boileau-
Despréaux (de l'art poétique 1674), ein Codex des guten Geschmacks, der [4]
lange Zeit der bezüglichen Litteratur als Richtschnur diente und seinem Verfasser
den Ehrennamen „législateur du Parnasse“ einbrachte. Der Jtaliener
Scaliger, der sich 1528 in Frankreich naturalisieren ließ, gab 1561
in Lyon 7 Bücher „De arte poetica“ heraus.
Von den Deutschen war ─ abgesehen von dem § 1 erwähnten Versuch
der Meistersänger ─ Friedrich Spee von Langenfeld (1591─1635, einer
der ersten Lyriker seiner Zeit) darauf bedacht, der deutschen Poesie eine Metrik
zu schaffen. Sodann gab das Haupt der Schlesischen Dichterschule Martin
Opitz 1624 eine kleine Poetik: „Buch von der deutschen Poeterei“ heraus.
(Diese vielgenannte Schrift, von der ein Neudruck 1876 in Halle erschien,
umfaßt 60 Seiten und lehrt u. A.: „Kap. 1. Die Poeterei wurde eher
getrieben, als man je von derselben geschrieben. Die Schriften der Poeten
kommen aus göttlichem Antrieb her. Kap. 2. Die Poeterei war anfänglich
eine verborgene Theologie und Unterricht von göttlichen Sachen. Die ersten
Väter der Weisheit haben die bäuerischen und fast viehischen Menschen zu einem
höflicheren und besseren Leben angewiesen. Nach Strabo haben die Alten
gesagt, die Poeterei sei die erste Philosophie, eine Erzieherin des Lebens von
Jugend auf, welche Sitten &c. lehre. Ein Weiser sei allein ein Poet. Der
Sittsamkeit und nicht der Erlustigung wegen unterwiesen die Griechen in den
Städten die Knaben in der Poesie. Kap. 3. Entschuldigung der Vorwürfe.
[Man nenne Poeten denjenigen, welchen man verächtlich machen wolle. Grund:
die Gelegenheitsgedichte. Es werde kein Buch, keine Hochzeit, kein Begräbnis
ohne solche gemacht. Äschylus habe Sophokles vorgeworfen, der Wein habe
seine Tragödien gemacht. Nachlässiger Wandel der Poeten. Die Poeterei
ist nicht gegen den Glauben &c.] Kap. 4. Wir sollen nicht vermeinen, daß
unser Land unter einer so rauhen und ungeschlachten Luft liege, daß es nicht
zur Poesie tüchtige ingenia tragen könne. Tacitus bezeuge, daß die Deutschen
alles Merkenswerte in Reime und Gedichte faßten. Opitz erinnert an Walther
von der Vogelweide. Es sei eine verlorene Arbeit, wenn sich jemand an unsere
Poeterei machen wollte, ohne in den griechischen und lateinischen Büchern bewandert
zu sein und aus denselben den rechten Griff erlernet zu haben &c.
Kap. 5. Dichtungsgattungen: heroisches Gedicht, Tragödie, Komödie, Epigramm,
Eklogen, Hymnen, Lyriken &c. Kap. 6. Von der Zubereitung und
Zier der Wörter [Fremdwörter, neue Wörter, Figuren, Tropen &c.]. Kap. 7.
Von den Reimen, ihren Wörtern und Arten der Gedichte. Bei Belehrung
über den jambischen und trochäischen Vers giebt Opitz die Grundlage unserer
accentuierenden Metrik: „Wir können nicht auf Art der Griechen und
Lateiner eine gewisse Größe der Silben in Acht nehmen, sondern
wir erkennen aus den Accenten und dem Tone, welche Silbe
hoch und welche niedrig gesetzt soll werden.“ Dieser von ihm zum
erstenmal ausgesprochene Satz sei so wichtig, als es nötig war, daß die Lateiner
nach den quantitatibus oder Größen der Silben ihre Verse richten und
regulieren. Kap. 8. Er erwartet von seiner [in 8 Tagen niedergeschriebenen]
Schrift, daß sie beitragen werde, der Poesie den berechtigten Glanz zu geben. [5]
Die Bevorzugten, die mit Ovid sagen können: „Est Deus in nobis, agitante
calescimus illo“ [deutsch: Es ist ein Geist in uns und was von uns
geschrieben, gedacht wird und gesagt, das wird von ihm getrieben,] müssen
Übung und Fleiß anwenden. Auch Übersetzungen aus griechischen und lateinischen
Poeten empfiehlt Opitz, um Eigenschaft und Glanz der Wörter, Menge
der Figuren kennen zu lernen und das Vermögen zu erlangen, dergleichen
zu erfinden &c. Plinius gestehe in der 17. Epistel des 7. Buches, daß ihn
diese Gewohnheit nicht reue; er nennt es den schönsten Lohn des Poeten, in
fürstlichen Zimmern Platz zu finden, von großen und verständigen Männern
getragen, von schönen Leuten geliebet [denn auch das Frauenzimmer lese den
Dichter und pflege ihn oft in Gold zu binden], in Bibliotheken einverleibet,
öffentlich verkauft und von jedermann gerühmt zu werden. Hiezu komme die
Hoffnung künftiger Zeiten, in welchen sie fort und fort grünen und in der
Nachkommen Herzen bleiben. Diese Glückseligkeit erwecke bei aufrichtigen Gemütern
solche Wollust, daß Demosthenes sagt, es sei ihm nichts Angenehmeres,
als wenn auch nur zwei wassertragende Weiblein sich zuflüstern: „Das ist
Demosthenes“. Neben dieser Hoheit des guten Namens ist auch die unvergleichliche
Ergötzung, welche wir empfinden, wenn wir der Poeterei wegen so
viel Bücher durchsuchen: wenn wir die Meinungen der Weisen erkundigen &c.
Für diese Ergötzung haben Viele Hunger und Durst gelitten und ihr Vermögen
daran gesetzt. Zoroaster hat für Aufsetzung seiner Gedanken in poetischer
Sprache 20 Jahre in Einsamkeit zugebracht. Alle Wollüste zergehen unter
den Händen, Reue und Ekel zurücklassend; nur der Umgang mit der Poesie
schafft ein Vergnügen, das uns durchs ganze Alter begleitet, das unsern Wohlstand
ziert und in Widerwärtigkeiten ein sicherer Hafen ist. Die Verächter der
göttlichen Wissenschaft der Poetik haben das Schicksal jener Personen in der Tragödie,
die ob ihres Unverstandes und ihrer Grobheit weinen und heulen müssen.)
Dieses mit Sachkenntnis errichtete Gebäude von Opitz stellte Regeln hinsichtlich
des Versbaus auf, die heute noch gelten, weshalb er als Vater der
deutschen Poesie immerhin Beachtung verdient. Jhm folgten Phil. Harsdörffer
(der poetische Trichter; die deutsche Reim- und Dichtkunst in
6 Stunden einzugießen. 2 Teile 1647─48. Jnhalt: 1. Die Poeten, 2. Die
deutsche Sprache, 3. Der Reim, 4. Die Reimarten, 5. Erfindung neuer Reimarten,
6. Zierlichkeit der Gedichte und ihre Fehler). ─ Sigm. v. Birken
(Deutsche Rede=, Bind- und Dichtkunst, Nürnberg 1679). ─ Christ. Rotth
(Vollständige deutsche Poesie, 1688). ─ Christian Weiße (Kuriose Gedanken
von deutschen Versen, 1691). ─ Christoph Gottsched (Versuch einer kritischen
Dichtkunst, Leipzig 1730 und verbessert 1751. Beiträge zur kritischen Historie
der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, 1744. Nötiger Vorrat
zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst, 1757). ─ Joh. Jak.
Breitinger (Kritische Dichtkunst, Zürich 1740). ─ Joh. Jak. Bodmer
(Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, 1741).
Nachdem Prof. Alex. Gottl. Baumgarten in Frankfurt a. O. als
Vollender der Wolff'schen Philosophie durch seine Schriften: „Anfangsgründe aller [6]
schönen Wissenschaften“, 3 Bde. 1750, sowie besonders „Ästhetica, Frankfurt
1750─58. 2 Bde.“, die Ästhetik als Wissenschaft begründet
hatte und seine Nachfolger J. G. Sulzer (Allgemeine Theorie der schönen
Künste. Leipzig 1786), F. A. Eberhard (Handbuch der Ästhetik in Briefen.
Halle 1803─1805), sowie Friedr. Bouterwek (Ästhetik 1806; Jdeen
zur Metaphysik des Schönen, 1807; Geschichte der Poesie und Beredsamkeit &c.,
1819) der Ästhetik ein weites Feld erobert hatten, waren es die Jdentitätsphilosophen
Kant, Fichte, Hegel, Schelling, welche ihre Kraft auf Begründung
der Schönheitsgesetze richteten und der Ästhetik neue Bahnen öffneten. Gleichzeitig
traten unsere klassischen Dichter mit ihren Meisterwerken auf: ein Lessing,
Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul &c. und ermöglichten eine klassische
Poetik. Herder, der in den zugänglich gemachten Werken fremder
Völker zur Vergleichung anregte, stellte (namentlich in „Fragmente über die
neuere deutsche Litteratur, 1767“ und „Vom Geist der hebräischen Poesie,
1782 &c.“) neue Prinzipien auf, ebenso Lessing (in „Abhandlungen über
die [äsopische] Fabel, 1759.“ „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei
und Poesie, 1766.“ „Hamburgsche Dramaturgie, 1767. 1768.“ „Zerstreute
Anmerkungen über das Epigramm, 1771“).
§ 4. Geschichte der Poetik bis in die Gegenwart.
Litteratur und Quellen dieses Buches.
Schiller und Goethe brachten die Jdee der Schönheit zur Geltung
und gaben durch ihre Dichtungen wie durch ästhetisch=theoretische
Arbeiten (Schiller: Über die tragische Kunst, Über das Erhabene,
Über Anmut und Würde &c.; Goethe: Die Propyläen, Über Kunst
und Altertum, vgl. auch seine Briefe und die von Eckermann 1836
herausgegebenen Gespräche) neue Gesichtspunkte, indem sie zugleich
die Grundsätze künstlerischen Schaffens und des künstlerischen Produkts
vermittelten. Jean Paul lieferte in seiner humoristisch gehaltenen
„Vorschule der Ästhetik“ (1804) neue originelle Beiträge für
Erkenntnis des dichterischen Stils und der dichterischen Produktion.
Von den Romantikern, die uns Shakespeare einbürgerten und lebensfähige
Bilder unseren Dramaturgen lieferten, wirkte besonders der ästhetischkritische
Vertreter der romantischen Schule A. W. Schlegel durch seine
„Vorlesungen über dramatische Kunst“, sowie der Vollender dieser
Schule Ludw. Tieck durch seine dramaturgischen Arbeiten (1826).
Außer Ferd. Solgers Vorlesungen über Ästhetik (1829), Christian
Herm. Weißes Ästhetik (1830), Krauses Abriß der Ästhetik (1837), Rosenkranz'
Geschichte der Poesie und Ästhetik des Häßlichen (1853), Ferd. Schleiermachers
Ästhetik (1842), Hegels Ästhetik (1840), Börnes dramaturgischen
Blättern (in denen er wie Lessing neben Jnhalts-Tiefe zugleich Natur
und Wahrheit der dramatischen Gedichte fordert), Wienbargs ästhetischen [7]
Feldzügen (1833) und Dramatikern der Jetztzeit (1839), Theodor Mundts
Dramaturgie (1847) und Ästhetik (1845), Schopenhauers, Laubes, Gutzkows
Arbeiten sind für unser Jahrhundert besonders nennenswert:
des bahnbrechenden Fr. Theod. Vischers Ästhetik (4 Teile, 1846 bis
1857), Über das Erhabene und Komische (1837), Kritische Gänge (1844.
Neue Folge, 1875. 6 Teile), Kuno Fischers Diotima, die Jdee des Schönen
(1849), Die Entstehung und Entwicklungsformen des Witzes (1871), Moritz
Carrieres Das Wesen und die Formen der Poesie (1854), Ästhetik (1859),
Die Kunst im Zusammenhang mit der Kulturentwickelung und die Jdeale der
Menschheit (1874, 3 Bde.), Rudolph Gottschalls verdienstliche Poetik
(1858), und mehr oder weniger die nachstehend in chronologischer Folge
aufgezählten, von uns beim Aufbau dieses Werkes benützten Bücher:
1800. Hermann, J. Gottfr. Jak., Handbuch der Metrik. ─ 1802.
Voß, Joh. Heinrich, Zeitmessung der deutschen Sprache. ─ 1809. Petri,
Vorkenntnisse der Verskunst für Deutsche (Pirna). ─ 1811. Wolf, F. Aug.,
Über ein Wort Friedrichs II. von deutscher Verskunst (Berlin). ─ 1812.
Bothe, F. G., Antikgemessene Gedichte, eine ächt deutsche Erfindung (Berlin).
─ 1813. Besseldt, Beiträge zur Prosodie und Metrik (Halle). ─ 1815.
Moritz, Karl, Deutsche Prosodie (2. Aufl., Berlin). ─ Grotefend, Georg
Friedr., Anfangsgründe der deutschen Verskunst (Gießen). ─ 1816. Apel,
Aug., Metrik (Leipzig). ─ 1817. Meinecke, Verskunst der Deutschen (Quedlinburg).
─ 1820. Heyse, Karl, Kurzer Abriß der Verskunst &c. (Hannover).
─ Gotthold, Kleine Schriften über die deutsche Verskunst (Königsberg).
─ 1826. Döring, Lehre von der deutschen Prosodie (Dresden). ─
1827. Garve, der deutsche Versbau (Berlin). ─ 1831. Grimm, Jakob,
Deutsche Grammatik (Göttingen). ─ 1834. Zelle, Kritische Geschichte der
Prosodie, cf. Programm d. Berl. Gymnas. z. grauen Kloster, Untersuchg. z.
deutsch. Metrik. ─ 1835. Hoffmann, K. J., Principien der wissenschaftlichen
Metrik (Berlin). ─ Erk, M., Zeitmessung (Wiener Jahrb. d. Lit.
Bd. 71. p. 102─143). ─ 1836. Poggel, Grundzüge einer Theorie des
Reims &c. mit besonderer Rücksicht auf Goethe. ─ 1837. Freese, Deutsche
Prosodie (Stralsund), ferner: Griechisch=römische Metrik (Dresden 1842). ─
1838. v. d. Hagen, Minnesinger. ─ 1839. Dilschneider, Deutsche Verslehre
(Köln). ─ 1842. Edler, Deutsche Versbaulehre (Berlin). ─ 1843.
Büttner, Friedr., Bemerkungen über die Quantität der deutschen Sprachlaute
(Havelberg). ─ 1845. Knüttel, Aug., Die Dichtkunst und ihre Gattungen.
─ 1845. Wackernagel, Phil., Auswahl deutscher Gedichte. 4. Aufl. (Berlin).
─ 1846. Thiersch, Allgemeine Ästhetik (Berlin). ─ 1854. Minckwitz,
Joh., Lehrbuch der deutschen Verskunst. 3. Aufl. (Leipzig). ─ 1859. Gruppe,
Deutsche Übersetzungskunst (Hannover). ─ 1860. Viehoff, Heinr., Vorschule
der Dichtkunst. ─ 1862. Benedix, Roderich, Das Wesen des deutschen
Rhythmus (Leipzig). ─ 1863. Köstlin, Karl, Ästhetik. ─ 1864. Freytag,
Gust., Die Technik des Drama. ─ 1865. Lemcke, K., Populäre
Ästhetik. ─ 1865. Zeising, Ad., Ästhetische Forschungen. ─ 1866. Cajus [8]
Silius Jtalikus, Punika, metrisch übersetzt mit Vorwort über deutsche
Vers- und Silbenmessung (Braunschweig). ─ Jordan, Wilh., Strophen
und Stäbe. ─ 1868. Jordan, W., Der epische Vers der Germanen &c.
ferner Nibelunge (1874 und 1875). ─ 1870. Bonnell, H. C., Auswahl
deutscher Gedichte im Anschluß an ein Lehrbuch der Poetik. ─ Vilmar, A.
F. C., Die deutsche Verskunst, bearb. von Grein. ─ 1872. Wagner, Rich.,
Gesammelte Schriften und Dichtungen (Leipzig). ─ 1873. Wackernagel, Wilh.,
Akademische Vorlesungen (Halle). ─ 1874. Seyd, Wilhelm, Beitrag zur
Charakteristik und Würdigung der deutschen Strophen, (eine treffliche, die
2─8zeiligen Strophen behandelnde Schrift). ─ 1876. Fechner, Th., Vorschule
der Ästhetik. ─ Goethes Briefwechsel mit den Gebr. v. Humboldt
(Leipzig). ─ Simrock, Edda. ─ Keiter, H., Versuch einer Theorie des
Romans. ─ 1877. Westphal, Rudolf, Theorie der neuhochdeutschen Metrik
(Jena). ─ Huß, Hermann, Lehre vom Accent (Altenburg). ─ 1878.
Brinkmann, Friedr., Die Metaphern, Studien &c. ─ König, Robert, Deutsche
Litteraturgeschichte (Leipzig). ─ 1879. Hahn, Werner, Deutsche Poetik (Berlin).
─ Kleinpaul, Ernst, Poetik (1. Aufl. 1852). ─ Bartsch, Deutsche Liederdichter
des 12. bis 14. Jahrhunderts. 2. Aufl. ─ 1880. Palleske, Emil,
Die Kunst des Vortrags. ─ Du Prel, Karl, Psychologie der Lyrik. ─
Andere Schriften sind im Text genannt.
§ 5. Die Künste im Verhältnis zum Gegenstand der Poetik.
Das Verhältnis des Stoffes zur darzustellenden Schönheitsidee
(vgl. §§. 20 und 31) und der Unterschied der Anschauungsorgane bedingt
die Abstufung der Künste, die sich in zwei Gruppen von je
drei ebenbürtig gegenüberstehenden Stufen gliedern. Die erste Gruppe,
welche auf der Raumanschauung fußt und Werke von bleibender
Dauer bietet, umfaßt die bildenden Künste: a. Die Baukunst,
b. die Bildhauerkunst und c. die Malerei. Die zweite Gruppe,
welche auf der Zeitanschauung fußt und ihre Werke in successiver
Folge zur Darstellung gelangen läßt, umschließt die musischen Künste:
a. Die Mimik, b. die Musik und c. die Dichtkunst.
Für das Verständnis der Stellung der Poesie als Kunst haben wir einen
orientierenden Blick auch auf die entfernter verwandten Künste zu werfen.
Nach alter Praxis teilt man die Künste a. in niedere Künste ein, wie
Reitkunst, Fechtkunst &c., b. in nützliche Künste, wie Goldschmiedekunst, Gartenkunst,
Bergbau &c., welche nur insoweit auf künstlerischer Basis beruhen, als
sich mit dem praktischen Ziele die Richtung auf die ästhetisch schöne Form verbindet.
Von diesen niederen und nützlichen Künsten, die man füglich als Techniken
bezeichnen sollte, scheidet man c. die obigen schönen Künste im engern
Sinn ab, da diese (die niedere Baukunst ausgenommen,) kein praktisches Ziel [9]
haben, vielmehr lediglich die Darstellung des Schönen (vgl. 2. Hauptstück)
durch menschliche Thätigkeit erstreben.
Das Wort Kunst (griechisch τέχνη von τεκεῖν) ist von können abzuleiten,
wie Gunst von gönnen, Brunst von brennen. Die Resultate der
niederen Künste nennt man Kunststücke, Produktionen, Aufführungen,
Darstellungen, Leistungen, die der schönen Künste Kunstwerke, Kunstschöpfungen.
Die schöne Kunst der Poesie kann nur mit ihresgleichen in Verhältnis
gebracht werden. Betrachten wir das Verhältnis der schönen Künste, so entspricht
die Baukunst oder Architektur (welche Schlegel gefrorene Musik nennt)
der Musik in ihrem entwickelnden Werden. Der Bildhauerei (Skulptur)
mit ihren ideenreichen, den menschlichen Körper darstellenden Formen entspricht
die bewegliche Plastik der Mimik. Der im Material so leichten, in den Jdeen
so reichen Malerei entspricht nur die Poesie im Ganzen wie in den Teilen,
nämlich der Historienmalerei das Drama, der stimmungsvollen Landschaft
die stimmungsreiche Lyrik, dem deskriptiven Genre das Epos.
Den Mangel an natürlichem Leben in den Kunstschöpfungen verdeckt der
künstlerische Schein, d. h. ein Hindurchschimmern der Jdee durch die
Form (§§. 19 und 20), welche nach Hegel das Wesen der Kunst bildet.
Das poetische Kunstwerk, wie auch das musikalische und das mimische wird
erst durch Aufführung und Recitation wirklich. Hierzu ist eine sekundäre
Reihe von Künsten nötig, die wir reproduktive Künste nennen. Der
Komponist bedarf des praktischen Musikers, der Dichter des Deklamators und
des Schauspielers. ─ Bei den räumlichen Künsten bedeutet reproduktiv die
Übertragung eines Originalwerks in eine andere Technik, z. B. eines Ölgemäldes
in Holzschnitt- oder Kupferstichnachbildung. Eine Kopie als Nachbildung
im gleichen Material ist nicht unter den Begriff des Reproduktiven
zu subsumieren. ─ Den Zusammenhang der Kunst mit der Kulturentwicklung
eines Volks hat die Kunstgeschichte nachzuweisen, die somit bestimmte Kunstepochen
verzeichnet. Die Philosophie der Kunst als Abteilung der Ästhetik erforscht
das Wesen der Kunst in ihrer Beziehung zum geistigen Organismus
des Menschen und stellt den gedanklichen Jnhalt ihres auf die Verwirklichung
des Schönen gerichteten Umfangs systematisch dar.
§ 6. Freie Künste in gleicher Beziehung.
Freie Künste im eigentlichen Sinne sind: 1. Bildhauer-Kunst
oder Plastik (aus dem griech. πλαστική sc. τέχνη von πλάσσω bilden,
formen, gestalten, lat. ars statuaria, franz. sculpture). 2. Malerei
(griech. ζωγραφική Zeichenkunst). 3. Musik und 4. Poesie.
Jnsofern die Baukunst den praktischen Jnteressen der Bequemlichkeit, der
Sicherheit und der Annehmlichkeit dient, wird sie abhängig und verwirkt ─ freilich
nur in dieser Beziehung ─ die Ausnahmestellung einer freien Kunst gleich der [10]
Mimik, welche weder durch Schrift noch durch Farbe bleibend gemacht werden
kann und zur künstlerischen Technik oder zur sekundären Kunst herabsinkt. Die
freien Künste der Bildhauerei und Malerei darf man im Hinblick auf ihre
Beziehung zum Stoff reale Künste (von res == Sache) nennen. Dagegen sind
Musik und Poesie ideale Künste (von idea == Bild, Begriff, Vergeistigung
in der Seele). Die realen Künste (Bildhauerei und Malerei) beschränken sich
auf Darstellung eines fertigen Zustandes oder eines bestimmten Moments in einer
Entwicklung oder in einer Bewegung. Die idealen Künste (Musik und Poesie)
dagegen charakterisieren Gefühlszustände und Gedanken in ihrem Werden, in
ihrer Entfaltung. Die obigen realen Künste sind objektiv, insofern sie die
räumlichen Objekte in bestimmten Erscheinungen zur Anschauung bringen. Die
idealen Künste dagegen sind subjektiv, sofern sie inneren subjektiven Empfindungen,
Gefühlen und Betrachtungen im Tone und Worte als den formalen Darstellungsmitteln
von Gedanken und Empfindungen Ausdruck verleihen. Die
realen Künste sind an die Körperwelt, an den Stoff und die Verhältnisse nach
Ausdehnung und Form gebunden. Die idealen Künste hängen nur vom
Subjekt und seinem Geistesleben ab, vom Grade der inneren Empfindung, von
Freude, Lust, Schmerz, Erhebung, Begeisterung, Erregung &c.
§ 7. Gegenstand der Poetik: die Dichtkunst.
Poesie ist die Darstellung des Schönen in Worten und hörbaren
Gedanken: das freie Spiel der schöpferischen Phantasie und des
Gemüts durch die Rede und die sinnlichen Formen derselben, ─ ein
Jdeales in solch vollendeter Form, daß es auch im Beschauer oder
Hörer angenehme Empfindungen hervorruft und ihm Genuß bereitet.
Wir gehen mit dieser Definition einen Schritt weiter, als Schiller, der
unter Poesie die Kunst versteht, uns durch einen freien Effekt unserer
produktiven Einbildungskraft in bestimmte Empfindungen zu
versetzen, ─ denn diese Definition paßt ebenso auf die Malerei wie auf
die Musik.
Die bildenden Künste der Malerei, Bildhauerei und Baukunst führen ihre
Anschauung in unbelebten, plastischen Stoffen vor. Die Musik fixiert ihre Anschauung
fürs Ohr in bewegten Tönen, der Tanz und die Schauspielkunst
fürs Auge in beweglicher Gestalt des lebenden Körpers. Die Poesie oder die
Kunst der idealen Vorstellungen bedient sich des Abdrucks der innern Anschauung
─ der Sprache. Schiller sagt von ihr in „Huldigung der Künste“:
und Goethe (in Torquato Tasso 5. 5) meint, dem Dichter allein unter den
Künstlern habe ein Gott gegeben zu sagen, was er leide.
Da die Poesie die plastische Anschaulichkeit der sämmtlichen bildenden
Künste mit der Jnnerlichkeit der Musik vereint, muß sie als Perle unter den
schönen Künsten gelten oder, wie Vischer sagt, als Totalität der Künste,
als die Kunst der Künste. Die Verbindung des leichtesten Darstellungsmittels
(Sprache) mit dem umfassendsten Darstellungsinhalt (der gesammten
Vorstellungswelt) erhebt sie zur höchsten aller Künste. Lemcke sagt treffend
von ihr (an den Dialog „Phädrus“ von Platon erinnernd):
Die Sprache der Poesie gleicht dem sonnenbeglänzten blumigen Wiesenteppich;
sie schmückt sich mit jeder Zier, um das vollendete Bild des Schönen
zu sein. Daher sind die Ausschmückungsmittel: Tropen, Figuren,
Reim &c. Gegenstände der Poetik.
Der Naturmensch stimmte mit dem ersten Gebrauch der Töne sein Lied an, zu
welchem ihm die Natur den Text lieferte. Die erste Poesie war also rein lyrisch
und individuell. Die epischen Formen entfalteten sich, als die Ereignisse des
Lebens Stoff zum Besingen boten. Diese erste Poesie war Natur= oder Volkspoesie.
Erst nach langer Übung gewann man die Fähigkeit, das ewig Schöne
regelrecht darzustellen, die Jdee des Schönen kunstvoll zu verkörpern. Es entstand
die Kunstpoesie. Sie ist die zielbewußte Poesie, die einen idealen
Gedanken erfaßt und ihn darstellt. Ein solcher idealer Gedanke ist z. B. die wunderbare
Macht des Gesanges, welche göttlichen Ursprungs ist und über Vernichtung
und Unsterblichkeit gebietet. Uhland hat diese herrliche Jdee veranschaulicht
in der einfachen, aber großartigen Komposition seiner Ballade „Des Sängers
Fluch“, welche durch ihre plastische Anschaulichkeit, sowie durch das Erschütternde
des Stoffes und der mit anmutendstem Wohllaut vereinten Gewalt der Sprache
jeden fesseln wird. ─ Ein solcher idealer Gedanke ist beispielshalber auch die
Anschauung Rückerts, daß Deutschlands Macht in seiner Einheit liege. Er verkörpert
diesen Gedanken z. B. in „der hohlen Weide“, wie namentlich in den „drei [12]
Gesellen“, in welchen er zeigt, daß wir weder Preußen noch Österreicher, sondern
eben nur Deutsche sein dürfen, wenn wir andern Nationen ebenbürtig gegenüber
stehen wollen.
Zum Kunstwerk des Kunstgedichts gehört beides: Die schöne Form
und der schöne Jnhalt.
sagt Rückert. Und Geibel:
Die Poesie nimmt ihre Stoffe aus allen Gebieten der Welt, wie des
Geistes- und Gefühlslebens. Jhr weites Feld ist vor allem der Menschengeist,
das große Gebiet der Gedanken und des Gemüts. Jndem sie solche
Stoffe wählt, will sie nicht belehren, nicht erklären, nicht begründen, nicht einteilen,
wie es der Denker erstrebt. Nicht dem Wahren dient sie, wenn sie
es auch keineswegs verletzen will. Es ist ihr nur nicht Zweck, nur Konsequenz,
denn aus Schönheit erblüht die Wahrheit. Die höchste Wahrheit anderseits
ist die höchste Schönheit. Die Poesie will vor allem der Spiegel des Herzens
sein, der Widerschein des verklärt entgegen tretenden Lebens. Dadurch erreicht
sie doch indirekt die nicht beabsichtigte Belehrung, dadurch wirkt sie anregend
auf unser Thun, sittlich=bildend, verschönend=versöhnend. Dadurch gewährt sie
reinen Genuß.
Das Darstellungsmittel der Sprache gestattet die Aufrollung des im stäten
Werden begriffenen Poesiebildes, dessen Zweck ist, erhalten zu bleiben, um in
seiner Darstellungsform bei dem Betrachtenden wieder die schöpferisch bewegende
Anschauung zu erzeugen, ─ um zu erfreuen. Zweck der Poesie ist also ─
Hinführung zum Schönen. ─ Eine Hauptforderung ist das Maßhalten,
denn durch das Maß verkörpert sich das Schöne in der Begrenzung. Sophokles
wußte das klassische Maß inne zu halten. Die Dichter der schlesischen
Schule (§ 18) und die Romantiker wie auch die Jungdeutschen überschritten
es zuweilen. Goethe, Schiller, Rückert, Platen, Uhland, Gottschall, Geibel &c.
zeigten, daß unsere Sprache, wie die griechische, zur Höhe des Schönen recht
wohl gelangen könne. ─ Die Darstellungsform verlangt rhythmische Gliederung
und metrische Gestalt. Die metrische Gestalt ist die Verbindungskette zwischen
Poesie, Musik und Tanz. Da wo sich Poesie und Musik trennten, sind prosaische
Romane und Dramen entstanden. Jn der antiken Poesie herrscht Einheit,
bei uns deckt Mannigfaltigkeit die Einheit. Den Griechen genügte
der Rhythmus (gesetzmäßiger Wechsel von Längen und Kürzen); wir verlangen
noch dazu die bunteste Ausschmückung z. B. durch Allitteration, Assonanz,
Reim &c. Die Alten konnten etwa ein Epigramm mit einer Zeile bilden;
bei uns verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten, weshalb infolge [13]
dieses zweigliedrigen Gleichklangs der Parallelismus der Gedanken bei uns weit
vorherrschender ist, als bei den Alten. (Die hebräische Poesie kannte kaum
eine rhythmische Gliederung der poetischen Rede, wohl aber den auf Tautologien
und Antithesen beruhenden Parallelismus der Gedanken. Den Reim übt
sie nur als Wortspiel. Vgl. hiefür Gesenius-Rödigers hebr. Grammatik § 15.)
Poesie (lat. poësis, franz. poésie, engl. poetry) stammt vom griechischen
ποίησις == Bilden, Schaffen des Dichters, ferner Dichtwerk, Dichtkunst. Daher
Poet, Poetin == Dichter, Dichterin. Poeta laureatus == lorbeergekrönter
Dichter. Poetaster == schlechter Dichter. Poeterei bei Opitz soviel als Poetik,
sonst auch Fertigkeit im Versebilden.
§ 8. Die Schwesterkünste der Poesie im Verhältnis
zur Poesie.
Mit der Baukunst hat die Poesie architektonische Gliederung gemein,
(man spricht von Bau und Architektonik der Dichtungen), mit der
Skulptur festumgrenzte plastische Gestalten (Homers poetische Gestalten
nennt Schlegel Skulpturbilder), mit der Malerei aber farbenvolle
Behandlung des gesammten Stoffes und Beachtung des anschaulichen
Prinzips; endlich mit der Musik, die wie die Poesie dem Gefühle sinnlichen
Ausdruck verleiht, rhythmische Bewegung und Wohlklang. Nach
diesem ist die Poesie der Malerei und der Tonkunst am nächsten verwandt.
Was zunächst die Musik anbetrifft, so ist zwar der Zauber und der Reichtum
der Töne für des Dichters Absicht und Zweck nicht da; aber ihm tönt
musikalisch die Anmut der Form, der Wohlklang des Reims, die bestimmte
Abwechslung betonter und unbetonter Silben, die Mannigfaltigkeit des symmetrischen
Accents, der Artikulation, der Modulation, der taktmäßige Rhythmus.
Wenn sich die Musik mit der Dichtkunst verbindet, wie das z. B. beim
Gesang der Fall ist, erreicht sie durch unendliche Steigerung und Modulation
die größte Wirkung; durch Töne erhöht sich die Macht der dichterischen Worte,
durch Töne erhält die dichterische Empfindung einen kräftigeren, herzinnigeren
Ausdruck. Ein Lied, ein Hymnus zwar bedarf scheinbar keiner Musik; aber
doch ist die Musik nur für denjenigen unnötig, der beim Lesen in seinem
Jnnern die Musik der Worte ertönen hört, der sich seine eigene Melodie macht,
ohne es zu beabsichtigen. Für die Übrigen ist die Musik etwas recht Wesentliches,
─ ein Mittel des verstärkten Ausdrucks.
Eine noch höhere, den Eindruck vermehrende Aufgabe hat die Malerei,
wenn sie sich mit der Poesie vermählt. Sie macht den Gegenstand so anschaulich=plastisch,
daß er unserer Jllusion in einem Grade nahegebracht wird,
dessen nur das materielle Gemälde fähig ist, oder aber auch, dessen das
materielle Gemälde nicht fähig ist.
Als selbständige Kunst stellt sich nämlich die räumliche Malerei der zeitlichen
Dichtkunst insofern entgegen, als sie eben nicht im Stande ist, das Nacheinander [14]
in der Zeit, das Fortschreitende zur Geltung zu bringen, insofern
sie ─ um ein Beispiel zu geben ─ den belvederischen Apoll nur darstellen
kann, wie dieser Gott so eben geschossen hat und nun, in stolzer Ruhe zurückgetreten,
dem Pfeil nachblickt, es dem Zuschauer überlassend, ob er im Geiste
den Drachen sieht, dem der Pfeil zufliegt. ─
Das ausgeführteste, täuschendste Gemälde des Pandarus im 4. Buche der
Jlias (Δ 105 ff.) wird für den Maler unmöglich sein. Von dem Ergreifen des
Bogens bis zu dem Fluge des Pfeils ist jeder Moment gemalt, und alle Einzelheiten
sind in ihrer Folge so unterschieden, daß, wenn man nicht wüßte, wie mit
dem Bogen umzugehen wäre, man es nach Lessing (vgl. Laokoon XV) aus diesem
Gemälde lernen könnte. Pandarus zieht seinen Bogen hervor, legt die Sehne
an, öffnet den Köcher, wählt einen ungebrauchten, wohlbefiederten Pfeil, setzt
den Pfeil an die Sehne, zieht die Sehne mit dem Pfeil unten an dem Einschnitt
zurück, die Sehne nähert sich der Brust, die eiserne Spitze des Pfeils
dem Bogen, der große gerundete Bogen schlägt tönend auseinander, die Sehne
schwirrt; ab springt der Pfeil, und gierig fliegt er nach seinem Ziele.
Das ist ein vortreffliches Gemälde, das aber trotz der sichtbaren Gegenstände
nur der Dichter liefern kann, weil er die sichtbar fortschreitende zeitliche
Handlung darzustellen hat, während der Maler lediglich eine sichtbar stehende,
im Nebeneinander des Raumes sich fixierende Handlung darstellen kann.
Um dies noch an einem anderen Beispiele zu zeigen, so kann z. B. ein Maler
den Bogen des Pandarus treu malen, wie er vollendet in der Hand desselben
ruht, nimmermehr aber, wie er entstanden ist. Homer fängt mit der Jagd
des Steinbocks an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht wurde; Pandarus
hatte dem Steinbocke in den Felsen aufgepaßt und ihn erlegt; die Hörner
waren von außerordentlicher Größe; deshalb bestimmte er sie zu einem Bogen;
sie kommen in Arbeit, der Künstler verbindet sie, poliert und beschlägt sie.
(Il. Δ 105─111.) Und so sehen wir beim malenden Dichter entstehen,
was wir bei dem malenden Maler nicht anders als entstanden sehen können
(vgl. Lessing a. a. O. XVI): Wir sehen das Koexistierende in ein
Konsekutives sich verwandeln.
Die poetische Malerei versteht am besten Walter Scott, weniger die
nachahmenden Genies, die ihre Helden von Kopf zu Fuß ohne Ziel malen
und bei den Schuhschnallen länger verweilen als beim Antlitz. Um ein Beispiel
der Malerei eines deutschen Dichters zu bieten, erinnern wir an die Entstehung
des Drachenbildes in Schillers „Kampf mit dem Drachen“ in der
9. Strophe (Auf kurzen Füßen wird die Last des langen Leibes aufgetürmet
u. s. w.), besonders aber an folgende Strophe Schillers:
Hier ist anschauliche Malerei, dichterische Malerei, die in jeder
Zeile den ganzen Menschen zeigt, in jeder Zeile ein Bild giebt. Der Maler
kann nur Teile aus der Schlacht geben, der Dichter schildert die Schlacht in
ihrer Vorbereitung, in ihrem Beginn, ihrem Werden und Verlauf. Er hat
den Vorzug, den objektiven Gegenstand mit der subjektiven Anschauung überhauchen
zu können.
Wie ergreifend weiß der Dichter selbst Einsamkeit und Stille und deren
Eindruck auf Gemüt und Phantasie seinem Gemälde aufzuhauchen: Wie anschaulich
weiß er dem Bewußtsein nahe zu bringen: 1. leise, meist unbeachtete
Klänge (Die Grillen noch im Stillen zirpen. Salis), 2. jenes laute Geräusch,
das in der Regel überhört wird (z. B. fernes Glockengeläute)!
Beispiel zu 1.
(Rückert.)
Vgl. noch den Löwenritt von Freiligrath, dieses anschauliche Gemälde
einer mondbeglänzten öden Sandwüste mit der so schauerlichen Episode aus
dem Tierleben (Und das Herz des flüchtgen Tieres hört die stille Wüste
klopfen). Ebenso: Die Vögelein schweigen im Walde. (Goethe.)
Beispiel zu 2.
(Uhland.)
Der Maler bedarf eines materiellen Stoffes, während der Dichter seine
Anschauung in hörbar werdenden Worten bildet, die selbstverständlich wohllautend
sein müssen.
Dafür ist das dichterische progressiv und successiv fortschreitende Kunstwerk
verhallend, vorübergehend, während das fixierte Gemälde, wie alle bildende
Kunst, Dauer im Wechsel hat. Die Malerei, deren sich der Dichter bedient,
teilt das Schicksal des poetischen Kunstwerks. Dafür ermöglicht sie die Verbindung
mit der Musik in der sog. rhythmischen Malerei.
Wie auf der griechischen Bühne Musik, Poesie und Tanz insofern verbunden
waren, als der tanzende Chor seine Lieder sang, und wie es in früheren
Jahrhunderten auch mit der deutschen Poesie war, so treten Musik und Malerei
zur Poesie in der rhythmischen Malerei in ein Verhältnis, den Empfindungen
und Gefühlen der Poesie ein sinnliches Substrat verleihend.
Lessing hat in seinem Buche „Laokoon, oder über die Grenzen
der Malerei und Poesie (1766)“ den Unterschied der bildenden Kunst und
insbesondere der Malerei und der Poesie dargethan und die umfassende Aufgabe
der letzteren gezeigt; namentlich hat er darauf hingewiesen, wie die
bildende Kunst nur einen einzigen Moment festhalten kann, um denselben der
äußeren Anschauung vorzuführen, wie dagegen die Poesie eine ganze Reihe
solcher in ihrem Nacheinander den Verlauf einer Handlung bildender Momente
zur inneren Anschauung zu bringen vermag, wie sie ebenfalls Bilder
schafft, die wir mit der Phantasie umfassen und reproduzierend in uns wiederbilden,
wie also die Poesie zugleich auch als eine Art Malerei auf dem malerischen
Prinzip beruhe. Man lese ihn!
§ 9. Poesie und Prosa.
Dem Worte Poesie (gebundene Rede == oratio alligata metris)
setzt man gewöhnlich die Prosa entgegen. Sie ist der durch Phantasie
wenig veränderte sprachliche Ausdruck der Lebenswirklichkeit, der Begriffe
und des Willens. Das Wort Prosa kommt her von prorsa
(aus proversa oratio, geradeausgehende, durch die Hemmnisse der Metrik
nicht gehinderte Rede), d. i. == ungekünstelte Rede, ungebundene,
gelöste (oratio soluta), zu Fuß gehende (oratio pedestris). Prosa ist
also die Rede, wie sie im gewöhnlichen Leben gesprochen wird.
Poesie und Prosa haben mit einander das Darstellungsmittel
─ die Sprache gemein. Aber bei der Poesie wird von der sprachlichen Darstellung
insbesondere Schönheit gefordert, während das Hauptgesetz der Prosa
Verständlichkeit und Deutlichkeit ist; dort ist die Phantasie, hier der
Verstand vorherrschend. Die Poesie will mehr auf Gemüt und Phantasie
wirken als auf Verstand und Willen. Die Poesie giebt das Empfundene,
die Prosa das Gedachte. Deshalb zeichnet sich auch die Poesie durch schöne
metrische Gestaltung aus. Bei der Prosa ist metrische Form ausgeschlossen;
die Perioden und Sätze haben sich lediglich durch Klarheit auszuzeichnen, wozu
allerdings bei einer stilvollen Prosa (z. B. in Reden) auch ein Analogon
des Rhythmus (der oratorische) und eine architektonische Gliederung des Satzbaues
kommt.
Das Jdeale ist für die Poesie; ─ das Reale, Verstandesmäßige für
die Prosa. Wer nicht im Stande ist, das Leben von seiner idealen Seite
zu malen, ideal zu sehen, ideal zu denken, der schildert eben in Prosa. Ein
Schriftsteller, der sich alle erdenkliche Mühe giebt, uns ein nacktes Bild
der Stube, der Küche, des Stalles und der Düngergrube zu geben, in die
sich noch die Dienstmädchen hineinstoßen (vgl. Jeremias Gotthelf: Uli der
Knecht), schreibt Prosa. Der Romanschriftsteller, der in 4 Bänden ein Religionsgeheimnis
entrollt und mit derselben umständlichen Breite ohne idealen Geistesflug
erzählt, ─ er schreibt Prosa. Der Historiker, der nicht erfindet, dessen [17]
Ziel eben lediglich die Wahrheit ist, und der daher Bedeutungsloses neben Bedeutungsvolles
setzen muß, dessen Grenzen vom Zufall abhängen, ─ er
schreibt Prosa, die erst der wirkliche Dichter (wie im historischen Drama) durch
ideale Auffassung und Gruppierung eines bestimmten Stoffes für ein harmonisches
Ganzes zur Poesie gestaltet, nicht aber jener Dichter, der die historische Treue
höher hält als die poetische. (Damit soll nicht gesagt sein, daß der Dichter das
historisch entscheidende Faktum oder auch nur die historische Wahrscheinlichkeit
verletzen dürfe.) Der Redner, dessen Prosa halbe Poesie ist, (man vgl. z. B.
die Prosa des Demosthenes) steuert am meisten zu einer Gemeinsamkeit
in der Gefühlsäußerung hin. Daher haben Dichter und Redner Tropen
und Figuren gemeinsam, obwohl die Tropen mehr der Poesie, die Figuren
mehr der Rhetorik angehören. Der Redner hat es eben mehr auf den Willen
durch das Medium des Verstandes abgesehen, der Dichter auf die Anschauung
durch Vermittelung der Phantasie. Allerdings wendet sich der Dichter in gewissen
Gattungen, z. B. in manchen politischen Gedichten an den Willen (man
vgl. die bezüglichen Gedichte eines Pindar, Tyrtäos, Arndt, Körner, Schenkendorf,
Rückert, Freiligrath, Herwegh). Nicht selten sind wesentliche Stellen von
hervorragenden Dichtungen rhetorisch (man vgl. Schillers und Shakespeares
Tragödien). Jmmerhin ist dieses Rhetorische, das zur Charakteristik der betreffenden
Person nötig ist, nicht direkt an uns gerichtet, sondern an die
Personen im Drama, und es geht der Appell an den Willen in den politisch
patriotischen Lyriken nicht direkt uns an, sondern den Kreis, für den eben
geschrieben ist.
Das Unterscheidende von Poesie und Prosa liegt besonders in
ihren Zwecken und in der Wahl der zu denselben führenden Mittel. Die
Prosa hat es mit wissenschaftlichen Gegenständen aller Art zu thun. Jhr
Zweck ist, durch Gründe und Beweise zu überzeugen und das
Wahre zu erstreben, ganz abgesehen davon, ob es schön und gut sei,
während die Poesie, wie erwähnt, das rein Verstandesmäßige flieht und keinen
andern Zweck verfolgt, als Versinnlichung des Schönen. Deshalb wählt die
letztere nur diejenigen Gegenstände, die einer dem Prinzip des Schönen entsprechenden
Behandlung fähig sind. Sie hat es eben mit Empfindung und
Phantasie zu thun. Abstrakt Verstandesmäßiges umkleidet die Sprache der
Poesie mit Bildern, und anstatt ethischer Anregungen und Sentenzen giebt sie
Gleichnisse, Handlungen, dem einzelnen es überlassend, sich seine Lehre selbst
auszuziehen. Trotz ihrer anschaulichen Sprache wird sie freilich in ihren Gemälden
nicht so anschaulich bilden können als die Natur oder die Künste der
Plastik, Malerei, Architektonik. Das ist aber auch nicht ihr Zweck. Nicht
wiedergeben oder ersetzen und verdrängen will sie die Natur, sondern lediglich
veranschaulichen, Vorstellungen übertragen und das thätige Seelenleben und
seine Äußerung zum Ausdruck bringen. Daher strebt sie nach größtmöglicher
Lebhaftigkeit, Sinnlichkeit und Anschaulichkeit der Rede und des Ausdrucks,
um in schöner Form den Reiz des Schönen zu veranschaulichen. Bindewörter,
Formwörter, welche die Prosa nötig hat, verträgt sie nicht. Sie liebt kurze, [18]
klare Sätze, während die Prosa nicht selten lang ausgesponnene Perioden
bringt u. s. w.
Die Gesetze der Prosa werden durch die Rhetorik erörtert, wie die der
Poesie durch die Poetik. Freilich haben beide, da ihr Ausdrucksmittel die
Sprache ist, in dieser Richtung viele Regeln mit einander gemein, welche in
der Stilistik zu behandeln sind.
§ 10. Ursprung und Alter der Poesie.
1. Die Poesie ist so alt als die Einbildungskraft der Menschen.
Spuren der Poesie finden sich in der mythischen Geschichte eines jeden
Volkes. Die meisten Völker leiten nachweislich die Poesie von den
Göttern her.
2. Die Prosa trat erst nach der Poesie auf.
1. Es ist wahrscheinlich, daß die Poesie mit der Sprache selbst entstanden
ist. Ohne Zweifel haben schon die ersten begabten Menschen sich poetisch
geäußert, wenigstens ist nachweislich Poesie die älteste Sprache der Menschen.
Jst doch auch in der Jugend des einzelnen Menschen die Sprache nicht selten
mehr Gesang als Sprache im bestimmten Sinne. Bei der Menschenfamilie
im Ganzen und Großen war es ebenso: Dichten und Singen ging mit
einander Hand in Hand; eines bedingte das andere. Bei den
Griechen übte der kaum geborene Hermes schon als erster Musiker Poesie.
Seine Gesänge auf die Liebe des Zeus und der Maja und auf seine eigene
Geburt begleitete er auf einem Jnstrument, das er sich herstellte, indem er die
Schale der Schildkröte mit Saiten bezog, die durch ein Plektron geschlagen wurden.
Ein sagenhaft ältester Dichter der Griechen, Linos, Sohn Apollo's und
einer Muse, soll die ersten Trauerlieder gesungen und damit den dichterischen
Gesang und den dichterischen Rhythmus erfunden haben.
Gräber dieses Linos fanden sich in Theben, Chalkis, Argos und an andern
Orten. Der alte Sänger Pamphos soll den Klaggesang am Linosgrab
zuerst angestimmt haben. Nach der Sage der Argiver war Linos ein Knabe
göttlichen Geschlechts, der bei Hirten unter Lämmern aufwuchs und von wütenden
Hunden zerfleischt wurde. (Otfr. Müller, Geschichte der griech. Litter.
2. Aufl. Band I. S. 28 u. 29.) Aus einem Verse Homers (Jl. XVIII. 569)
ist bekannt, daß der Linosgesang bei der Traubenlese angestimmt wurde. Auch
bei Festen wurde Linos von den Sängern und Kitharoden beklagt, wobei der
Ausruf: „Ailine“ Anfang und Schluß des Gesanges bildete. (Nach einem
Fragment Hesiods bei Eusthatius S. 1163. edit. Gaisford. Nach neuerer
Erklärung soll dies ein Mißverständnis des Refrains orientalischer Klaggesänge
um den hinsterbenden Sommer sein, welcher hebräisch
„wehe uns“
lauten würde, dialektisch ai line. Daraus machten die Griechen den Namen
des Beklagten.) Ein Analogon zu dem griechischen Linoslied (αἴλινος oder [19]
οἰτόλινος von ὁ οἶτος Geschick, Unglück; beide überall nur den Trauergesang
bezeichnend, während λίνος z. B. bei Euripides allgemein nur Lied bedeutete)
fand sich in dem Lityerses (Λιτυέρσης) der Phrygier, sowie dem Manerosgesange
der Ägypter und dem Bormos der Mariandyner. (Die Mariandyner,
östliche Nachbarn der Phrygier, klagten um den schönen, in der Jugendblüte
vom Tod entrafften Knaben Bormos, der den Schnittern Wasser bringen sollte,
aber von den Nymphen des Baches in die Flut gerissen wurde.) Da die Ägypter
und verschiedene arische Volksstämme die gleiche Art Trauergesang haben, so kann
man wohl glauben, daß der Linosgesang aus Asien stamme ─ vielleicht aus
Jndien.
Von dem ältesten Gesange der Ägypter berichtet Herodot (II. 79):
„Die Ägypter haben unter andern merkwürdigen Stücken einen Gesang,
welcher in Phönizien, Cypern und anderwärts gesungen, aber bei jedem Volke
anders genannt wird. Er hat viele Ähnlichkeit (συμφέρεται) mit dem,
welchen die Griechen unter dem Namen Linos singen. Wie ich mich über Vieles
in Ägypten wundere, so wundere ich mich auch darüber, woher sie nur den
Linosgesang haben mögen; denn es scheint mir, daß er von jeher bei ihnen
gebräuchlich war. Linos wird auf ägyptisch Maneros (Μανέρως) genannt und
war, wie sie erzählen, der einzige Sohn des ersten ägyptischen Königs, und
es wurde sein früher Tod in Trauergesängen beklagt.“ Das soll ihr erster
und einziger Gesang gewesen sein. Dieser Linos- oder Manerosgesang, die
süßtönende Klage über das rasche Hingehen der blühenden Jugend, über das
rasche Verblühen des Lenzes, zieht sich, wie bereits angedeutet, durch das
ganze Altertum als Totenklage um Adonis, Linos, Lityerses, Attis, Maneros,
die in der Schönheit ihrer Jugendblüte gewaltsam hingerafft wurden. Die
Lieder, von denen Herodot hier spricht, sind augenscheinlich Volkslieder.
Die alten Araber hatten schon lange vor Muhamed ihre sieben großen
Dichter, deren Dichtungen im Tempel zu Mekka aufgehängt wurden. Die
Araber nennen Adam den ersten Dichter (s. Latifi's Nachrichten von türkischen
Dichtern, v. Th. Chabert v. 6). Beim Tode Abels sang er, vom Schmerz
der Sterblichkeit und Vergänglichkeit erfaßt u. s. w.
Wen Wang, der Lehensfürst des kleinen Staates Tscheu im 12. Jahrhundert
v. Chr., fing an, kleine Volksgedichte zu sammeln. Auch seine Nachfolger
pflegten die Poesie, und die Statthalter mußten jährlich die Volkslieder
in die Archive einsenden. Confucius, welcher während der Dynastie Tscheu
(550 v. Chr.) lebte, sammelte in sechs Büchern diese eingeschickten Lieder,
deren drittes, Schi-King, von Fr. Rückert deutsch umgedichtet wurde. Diese
alte chinesische Poesie hat einen pedantischen Zug, wie die chinesischen Gartenanlagen
und romantischen Scenen, die an Jean Pauls Lilar (im Titan) mit
seinem Elysium und Tartarus erinnern; ihre Schauerscenen sind freilich oft sinnreicher
angelegt als die kleinlichen Tartarusschrecken Lilars. Dabei zeigt sich in der
Poesie der Chinesen viel öfter das Absonderliche und Fratzenhafte, als das Anmutige.
Auch an den Kamihöfen in Japan liebte man es in der ältesten Zeit,
sich mit Musik und Gesang zu ergötzen, mit Versemachen u. s. w. (Vgl. Ambros [20]
Gesch. d. Mus.) Otto von Kotzebue beschreibt in einem seiner Reiseberichte die
Aufführung eines Drama zu Nagasaki, am Feste des schützenden Stadtgottes
Suwa. Das kindliche Stück war eine Liebes- und Heldengeschichte in Versen,
in welcher zwei Prinzen um einen Thron und eine Geliebte stritten. Die unterbrechenden
musikalischen Töne waren die reine Katzenmusik.
Die Finnen schreiben die Erfindung der Harfe, des Gesangs und der
Dichtkunst Wäinämöinen, dem lichten Gotte des Guten zu. (Vergl. Schröter,
Finnische Runen S. 69─73.) Jhre Litteratur ist die jüngste, wie die
Schrift Dr. v. Tettaus „Über die epischen Dichtungen der finnischen Völker“
(Erfurt) beweist. Nur Dichtungen (Runen) haben sich dort im Volksmunde
fortgepflanzt; aus ihnen wurde durch Lönnrot das finnische Nationalepos,
Kaliwala, zusammengesetzt, dem Max Müller (Vorlesungen über die Wissenschaft
der Sprache I. 269) seinen Platz neben der Jliade und den vier bekannten
Nationalepen anweist. ─
Nach der jüngeren Edda (6. Aufl. S. 298 u. 299.) erschlugen
die Zwerge Fialar und Galar das weiseste aller Wesen, den Kwasir, worauf
sie aus seinem Blute mit Honigzumischung Met bereiteten, der jedem, welcher
davon kostete, die Gabe der Dichtkunst verlieh. Später wurde ein Riese,
Suttung, der Besitzer dieses Met, bis Odhin sich im Berg bei der Riesen=
Tochter Gunnlöd listig einschlich, den Met erhielt und austrank und dann
als Adler davon flog. Jn derselben Gestalt verfolgt ihn der Riese bis in die
Nähe der Götterwohnungen, wo der stark bedrohte Odhin den Met in die
Gefäße der Asen speit. Der Met gehört jetzt dem Göttergeschlechte der Asen,
wie den Menschen, die nun im Stande sind, zu dichten. Daher heißt die
Skaldenkunst Odhins Fang und Gabe und der Asen Getränk.
Valmiki, der Dichter des Mahabharata, brach über den Tod eines
Reihers in rhythmisch sich ordnende Klagen aus, worauf ihm Brahma befahl,
in dieser Form ein Epos zu verfassen u. s. w. ─
Das alte Jndien ist das Land überschwenglicher Poesie. Lange vor
Kalidasa hatte Jndien Dichter, deren Bedeutung durch hyperbolische Schilderung
der Wirkung ihrer Gedichte illustriert wird. „Zur Zeit Akbers“, heißt es,
(W. Ouseley, Orient. collect. I. S. 74) „wurde der Sänger Naik-Gobaul,
ob er gleich bis an den Hals im Flusse Djumna stand, vom Feuer verzehrt,
als er auf Befehl des Herrschers den zauberkräftigen Raya sang. Eine andere
Melodie bewirkte, daß Wolken aufstiegen und Regen herabströmte; eine Sängerin
rettete dadurch Bengalen vor Mißwachs und Hungersnot. Wieder eine andere
Melodie machte die Sonne verschwinden und verbreitete Finsternis: Mia=
Tu-Sine, ein Sänger Akbers, bewirkte dieses Wunder, der Palast wurde
durch seinen Gesang sogleich in tiefes Dunkel gehüllt“ u. s. w.
Auch die Erfindung des Schauspiels wird von den Hindostanern in die
mythische Zeit verlegt. Bharata faßte Schauspiele in eine Sammlung von
Sutra zusammen und führte sie vor den Göttern selbst in Tänzen auf.
Brahma hatte die Vorschriften dafür aus den Veden zusammengestellt und
teilte sie dem Bharata mit (Lassen, ind. Altertumskunde, Bd. II. S. 502). [21]
Eine andere Mythe läßt das „Sangita“ (== aus Gesang, Musik und Tanz
zusammengesetzte Darstellungen) von Krischna und den ihn umgebenden Hirtenmädchen
ausgehen. (Lassen a. a. O. 504.) Als ältestes Denkmal hindostanischer
Dichtkunst ist unter den Vedas (Bücher der liturgischen Gebete,
Hymnen &c.) der Rigveda (d. i. Lob- und Preisveda) erhalten, dessen Gesänge
mit den Namen der Priester oder Sänger bezeichnet sind, denen sie zugeschrieben
werden. Es ist darin nur vom Fünfstromlande und dem Landstriche
am Jndus als Wohnsitz der Arja die Rede.
Da nun die Arja schon um 1300 v. Chr. Besitz vom Gangeslande
nahmen, so läßt sich auf das hohe Alter dieser Gesänge schließen.
Ein uraltes Sprichwort des geistreichen, feurigen, poesieliebenden, ritterlichen
Stammes der Araber heißt: singender sein als die beiden Heuschrecken
Moaawijes. (Der Fürst Moaawije Ben Bekr hatte nämlich zwei Sängerinnen,
die er seine zwei Heuschrecken nannte, da die Cikaden als gesangreiche Tiere galten.)
Geschickte Sänger hatten großen Einfluß. Harun al Raschid wurde durch den
Sänger Jshak el Mashouli mit Gesang umgestimmt, als er seine
Geliebte Maride, die ihn erzürnt hatte, hart bestrafen wollte. Er verzieh ihr
und belohnte den Sänger überreich.
Aus den Skulpturen der asiatischen, insbesondere der semitischen Völker
erfahren wir, daß Gesang zur Verherrlichung der Macht und Pracht ihrer
Herrscher diente. Von Astyages wird erzählt (Athenäus XIV. 33), daß sein
Sänger Angaras einen Gesang mit den Worten schloß: „Jn den Sumpf
wird entsendet ein wildes Tier, wilder als der Eber im Walde. Es wird sein
Revier behaupten und dann gegen viele leichtlich kämpfen.“ Astyages fragte,
was das für ein wildes Tier sei, und der Sänger erwiderte: „Cyrus der Perser“.
Dieser war nämlich kurz vorher nach Persien abgereist, und der erschrockene
Astyages befahl nun, den Cyrus zurückzurufen.
Unter allen semitischen Völkern hatten die Hebräer den meisten poetischen
Schwung und Sinn. Die hebräische Poesie hat uns Schätze hinterlassen, deren
dichterischer Wert den Gesängen der Griechen in keiner Weise nachsteht, ja, welche
die griechischen Gesänge an Schwung religiöser Begeisterung, an Tiefe der Anschauung,
an Hoheit und Erhabenheit übertreffen, wobei sie ihnen freilich an
leuchtender Klarheit und plastischer Abrundung weit nachstehen.
Die griechische Litteratur hat nichts, was an Erhabenheit z. B. dem Buch
Hiob zur Seite gestellt werden könnte; dagegen konnte Jsrael keinen Sophokles
hervorbringen. Die hebräischen Spruchdichter übertreffen die griechischen
Gnomiker, welche nicht selten eine nur oberflächliche Lebensweisheit predigen.
Jnteressant ist es, den Ton der Psalmen z. B. mit den Hymnen Pindars
zu vergleichen. Herder ist der erste, der die früher bloß theologisch=exegetisch
behandelten Bücher des alten Testaments auch in ihrer unvergleichlichen poetischen
Schönheit gewürdigt hat. Welche Zeit mag vergangen sein, bis ein Volk im
Stande war, Poesie von so unvergänglichem Werte zu schaffen! Welche unbekannt
gebliebenen Dichterschulen mögen vorausgegangen sein!
2. Wohin wir in die geschichtliche Verdämmerung der Völker blicken, überall [22]
und in allen Geschichtsepochen ist die Prosa jünger als die Poesie, überall sind
die Anfänge der Litteraturen poetischer Art: bei den Griechen, deren historische
Zeit mit der dorischen Wanderung um 1000 v. Chr. beginnt, bei den übrigen
Kulturvölkern, wie besonders bei den Ariern, die wir als Stammeltern
der Völker und der Poesie anzusehen berechtigt sind.
Jmmer mit dem beginnenden Verfall der Poesie erstand erst die Prosa.
Es kam auch Herodot in Griechenland lange nach Homer. Alle uns erhaltenen
frühesten Aufzeichnungen und Überlieferungen waren meist Verse. Es wird
beispielsweise von den Gesetzen verschiedener griechischer Volksstämme gemeldet,
daß sie in Versen abgefaßt waren (Strabo III. 139). Auch fast alle Philosophen
lehrten anfangs in Versen, z. B. Pythagoras, gewisser noch Xenophanes,
Parmenides, Empedokles, von welch letzterem wir noch echte Fragmente haben.
Ja, selbst die Verordnungen Lykurgs sollen in poetischer Form abgefaßt und
später von Terpander in Musik gesetzt worden sein (Otfr. Müller, Dorier, I. 134,
II. 377).
Bei uns Deutschen war es nicht anders. Wir besitzen sogar noch aus
dem 12. Jahrhundert eine halb in Poesie ─ in Reim und Allitteration ─
abgefaßte Rechtsschrift (vgl. Wackernagel 14, 187). Alle unsere historischen
Gedichte des 12., 13. und 14. Jahrhunderts waren in Versen geschrieben.
Erst im 15. Jahrhundert, als die Blütezeit der Poesie bereits vorüber war,
brach sich bei uns die Prosa Bahn, ─ besonders als das Volk eine höhere
Mittelbildung durch die Buchdruckerkunst erlangt hatte.
Jn neuester Zeit fanden wir bei den Littauern, Serben und andern
Volksstämmen ohne Litteratur Lieder auf, aber keine einzige Schrift in
Prosa.
Den besten Beweis, wie die Sprache der Poesie bei allen Menschen zuerst
sich findet, liefert der Umstand, daß sogar jene Buschmänner, bei deren
Anblick dem Menschen um seine Gottähnlichkeit bange werden möchte, und die
noch keine Litteratur haben, der Poesie nicht entraten und gewisse Gesänge
besitzen (sowie, nebenbei bemerkt, ein primitives Musikinstrument: das aus einer
durch einen Federkiel gezogenen Schafdarmsaite bestehende Gongom).
Die an den Nilkatarakten wohnenden dunkelfarbigen Barabra begleiten
mit der aus dem Altertum überkommenen Lyra ihre meist sanften, melancholischen,
in der Landessprache „Ghuma“ genannten Gesänge in eigentümlicher Weise.
Graf Johann Potocki hörte 1797 bei dem Kalmückenfürsten Tumen
einen Sänger mit Begleitung eines, Jalgha genannten, Saitenstrumentes verschiedene
Lieder singen, von denen eines sehr an das Savoyardenliedchen
„rammonezci, rammonezla“ erinnerte. Also Lied und Gesang sogar bei
diesem unstäten, tiefstehenden Nomadenvolke!
Wilhelm Jordans Ansicht über die Entstehung der Poesie (vgl.
Supplement zu seinem Epos Nibelunge S. 4─6) verdient hier reproduziert
zu werden. Nach ihm beruht alles Gedenken und Sich-Erinnern auf einer
sinnlichen oder ursächlichen Verkettung der Vorstellungen (z. B. Wind und
Wetter, Haus und Hof, Kind und Kegel, Saus und Braus sind ihm [23]
Vorstellungspaare, deren erstem Gliede das zweite von selbst nachkommt); diese
Verkettung der Vorstellungen führte nach ihm zur Bildung stehender Wortpaare,
Sprüche und Redewendungen, und zwar zunächst unbewußt, später bewußt.
Das unwillkürliche Wachsen jedem geläufiger Formeln der Erkenntnis
lernte man mit Absicht nachahmen, um neue Kenntnisse ebenso geläufig auszudrücken
und ihre Vererbung zu sichern. Man ordnete das von Geschlecht
zu Geschlecht zu Überliefernde in eine Kette sich ursächlich rufender Glieder, in
einen symmetrischen Parallelismus. Man verband die behaltenswerten Worte
mit einem bestimmten Ton, mit einer festen Vortragsweise, mit Melodie und
Rhythmus. Man sang sie. Aus der Länge der Satzteile, der Cäsur, aus
dem Bedürfnisse des Taktes entwickelten sich die Wortgruppen zu dem, was
wir Vers nennen. Das Ohr oder der Sinn des Sprachgedächtnisses empfand
bald die einprägende Wirkung der Lautwiederholung, der Tonverwandtschaft
und der Übereinstimmung des Klanges. Nach der Erfahrung an zufällig vorgefundenen
Beispielen lernte man sie künstlich herbeiführen zum Einprägen
wichtiger Vorschriften und Erlebnisse. Die Hebungen, die Ruhepunkte, die
Hauptschlüsse der Melodie wurden auch im Texte lautlich ausgezeichnet. Zum
Verse traten hinzu der gleiche Anlaut (z. B. Wind und Wetter), der Anklang
(z. B. Haus und Baum), endlich der Gleichklang oder Reim. ─ ─
So wurde die poetische Form als Gedächtnismittel
Vertreterin der noch fehlenden Schrift.
Dadurch erklärt Jordan, daß in allen Litteraturen das ursprüngliche,
erste Poesie, das spätere Prosa sei. Er nennt die Prosa das Kind der
ausgebildeten Schreibekunst, die Poesie die ursprüngliche Ohrenschrift.
Jener Gesamtschatz geistigen Eigentums, der durch die poetische Form
im Gedächtnis der Völker befestigt war und durch einen eigens dafür organisierten
Priester- und Sängerstand verwaltet wurde, ist das Epos im weitesten Sinne.
Zu ihm gehören u. A. auch Gebete zur Götteranrufung, Gesetzesformeln,
Ackerbauregeln, Arzneivorschriften u. s. w. Jn diesem Sinne würden also
als Überreste des altdeutschen Epos zu betrachten sein auch der Bienensegen,
der Hundesegen, die beiden Merseburger Zaubersprüche.
Unter Epos im engeren Sinne versteht dann Jordan die an die Göttergeschichte
anknüpfende Sagengeschichte des Volkes von den ersten Anfängen bis zum
Beginn der historischen Zeit, sofern sie niedergelegt ist oder einst niedergelegt
war in ursprünglich nicht aufgeschriebenen, sondern von Mund zu Mund überlieferten
Liedern. Endlich aber nennt er Epos im eigentlichen und engsten
Sinn eine Dichtung, in welcher ein bestimmter Poet einen Teil dieses Sagenschatzes
zur Kunstform der poetischen Erzählung für den öffentlichen, freien
Vortrag eingerichtet hat. Die Griechen teilten ihre Litteratur ein in ἔπη
und γράμματα, d. h. in Werke, die ursprünglich nur als gesprochene Worte
vorhanden waren, und solche, die sogleich niedergeschrieben wurden: also in
Sagen und Schriften. Somit ist unser Wort Sage eine deckend
genaue Wiedergabe des griechischen Epos und Frithiof-Sage, Sigfried-Sage
bedeutet: Das Epos von Frithiof, von Sigfried. Die älteste der poetischen [24]
Formen zur Bewahrung des Wissenswerten im Gedächtnis scheint der Doppelspruch
gewesen zu sein, dessen zweites Glied ungefähr dasselbe sagt wie das
erste, wenn auch mit andern Worten: Der sogenannte Parallelismus
der Glieder. Jordan führt aus, wie ihn die Ägypter anwandten und nach
ihnen die Hebräer, die ihn zum rhythmischen Satzpaar, zur Strophe (sogar
zur gereimten) ausbildeten.
§ 11. Etymologische Notiz über die Namen der Poesie.
Die Bezeichnungen für Dichtkunst oder Poesie sind bei den verschiedenen
Völkern verschieden, ─ je nachdem man die Beziehung der
Poesie zur Sprache, zur Musik &c. dadurch ausdrücken wollte.
Die bei uns gebräuchlichsten Worte: dichten, Dichter, Gedicht sind
hergeleitet vom altdeutschen tihten, tihtaere, getihte, oder dem lateinischen
dictare, welches auch diktieren, bei Horaz schon dichten bedeutet; es ist Jntensivum
und Frequentativum von dicere (im Mittelalter soviel als schriftlich
aufsetzen). Das Wort Dichtkunst, welches schon Harsdörffer (1648), Birken
(1679) u. A. anwandten, bleibt seit Gottsched (1730) in Gebrauch, wozu
noch durch Lessing und Herder das Wort Poesie in Aufnahme kam.
Bei Homer ist jeder Dichter zugleich auch Sänger, weshalb er für dichten,
Gedicht, Dichter dasselbe Wort wie für Singen, Gesang, Sänger hat. (ἀείδειν,
ἀοιδή, ἀοιδός! ἀ-Ϝείδ-ω, wovon auch ἀϜηδών == ἀηδών Nachtigall
== die Sängerin.) Erst späterhin, als Dichtung und Musik auseinander gingen,
brauchte man diese Ausdrücke lediglich vom Singen und bezeichnete nur höchstens
noch durch ᾠδή ebenso Gesang, wie eine bestimmte Gattung lyrischer Gesänge.
Dafür kommt allmählich für Dichter der besondere Ausdruck Poet (ποιέω,
ποιητής, ποίημα, ποίησις) auf, den wir erst bei Herodot finden, wo das
Dichten als ein Schaffen bezeichnet wird. Die Römer haben die den Griechen
entlehnten Bezeichnungen ebenso angewendet wie die lateinischen carmen, canere,
vates. Mit carmen hängt die lateinische Bezeichnung der Göttin der Dichtkunst
Camena zusammen. (Die ältere Form war Casmena, Particip == die
Sängerin.) Vates ist bei den Römern Weissager oder Dichter. Das Wort
vates ist vielleicht gleichen Stammes mit sanskrit. gâ == singen, verkünden, gâtu
Gesang.
Was unsere deutschen Bezeichnungen betrifft, so ist bekannt, daß im
Altdeutschen und Altsächsischen für Dichten == Singen oder Sagen (Singen und
Sagen) gebraucht wurde. Die altsächsische Evangelienharmonie Heliand (V. 32)
erwähnt von den Evangelisten, sie hätten gesagt und gesungen. Nach der
Trennung von Poesie und Musik galt sagen nur noch von einem zum Lesen
bestimmten Gedichte, singen von einem zum musikalischen Vortrag bestimmten;
das erstere hieß buoch, das letztere sanc, liet.
Die älteste Bezeichnung für Dichter ist scof, von der Wurzel schaffen,
(Schaffer, Schöpfer). Jm Altnordischen heißt der Dichter Skald (Schelter), [25]
vielleicht von skaldan fortschieben. Jn diesem Sinne wäre Dichter jemand,
der die Tradition durch Gesänge weiterschiebt. Das Wort Skald ist dunkler
Abkunft; vielleicht ist es verwandt mit dem ahd. scald, sgalt heilig. Vgl.
Grimm, Mythol. S. 83 u. 852 f.
Der Name Barde ist nur bei den Galliern vorhanden.
(Des Tacitus barditus, vom altnordischen bardit der Schild, weil diesen
die alten Deutschen zur Verstärkung des Schalles vor den Mund hielten, hat
mit Barde, irisch bard, keine Verwandtschaft.)
Ein Bardiët, (dreisilbig) gebildet nach jenem barditus, war ursprünglich
ein Kriegsgesang, eine Todesweihe.
Da das Singen Begabung und Schulung fordert, so bildete sich frühzeitig
ein Sängerstand, der aus dem Vortrag epischer Dichtungen eine
Art Beruf machte. Die Sänger sangen selbst vor Königen dasjenige, was
jedermann schon kannte, was im Volke beliebt war. Sie waren die Wortführer
der Thaten Einzelner. (Bei den Griechen waren es nach Homer die
ἀοιδοί; Hesiod nennt sie [Theogon. 95] κιθαρισταί.) Die Serben haben
ihre Sänger heute noch. Es sind meist Blinde wie bei den Deutschen des
Mittelalters. Jmmer wurde den alten Sängern nur ein Hauptereignis in den
Mund gelegt: dem Demodokos der Mythus von Ares und Aphrodite und die
Sage vom trojanischen Pferd, dem Phemios die Sage von den heimkehrenden
Achäern. Da der Sänger die Bekanntheit seines Stoffes bei den Zuhörern
voraussetzte, so ging er meist sogleich zur Sache. Z. B. Hildebrand und Hadubrand
forderten sich zwischen zwei Heeren ohne weiteres zum Zweikampf heraus.
Jeder kannte die beiden Helden als Vater und Sohn, die sich unbekannt einander
ähnlich entgegen standen wie im Persischen Rostem und Suhrab. Die
Mitteilung durch lebendigen Gesang mag etwas Ergreifendes, Anfeuerndes
gehabt haben. Daß diese Mitteilung Mittel der Gedächtnispflege wurde, weshalb
man den Epen eine bestimmte technische Einrichtung gab, darf hier nur angedeutet
werden. (Mnemosyne ist die Mutter der Musen. Bei den Kelten wurde keine
Schrift geduldet. Den Druiden galt: Multa milia versuum ediscere, Beleg
s. bei Caes. bell. gall. XIV. 2.)
§ 12. Wer ist ein Dichter?
Dichter ist (nach Goethe im „Götz von Berlichingen“), wer ein
volles, ganz von einer Empfindung volles Herz hat; oder (nach Geibel)
wer schön sagt, was er dachte und empfand.
Zur Erschöpfung des Begriffs muß man sagen: Dichter ist, wer
nie nach dem Priesterrocke der Poesie zu suchen braucht, wer von
Begeisterung für das Schöne und Erhabene durchdrungen ist, wem das
Schönheitsideal jederzeit die Seele weit macht, wer sich im Drange
poetischen Schaffens immerfort inspirirt fühlt, wem Reim und Rhythmus
nie unbequeme Hindernisse sind, vielmehr durch Gewohnheit unent= [26]
behrlich gewordene Kunstmittel, durch die ihm neue, seinen Schwung
beflügelnde Gedankenreihen erblühn.
Goethes Worte in Torquato Tasso charakterisieren den Dichter:
Die Frage: wer ist ein Dichter, wurde mit großer Lebhaftigkeit in
der Mitte des vorigen Jahrhunderts erörtert. Die eine Partei (Gottsched und
seine Anhänger) empfahl die Franzosen als Muster und fand zu einem guten
Gedicht nichts weiter nötig, als regelrechten Vers und fließende Sprache. Die
andere Partei (Bodmer und Breitinger) behauptete dagegen mit schließlichem
Erfolge, daß zwar die Form in der Poesie nichts Gleichgültiges sei, daß aber
besonders eine glückliche Phantasie und Fülle der Gedanken
den wahren Dichter ausmache (vgl. hierzu das beachtenswerte Urteil
des Horaz: Sat. I, 4, 43, sowie I, 4, 54). Jnzwischen haben die anerkanntesten
Dichter unserer Nation Stellung zu dieser Frage genommen. Schiller
sagt: „Jeden, der im Stande ist, seinen Empfindungszustand in ein Objekt zu
legen, so, daß dieses Objekt mich nötigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen,
folglich lebendig auf mich wirkt, nenne ich einen Dichter.“
Jn den „vier Weltaltern“ setzt er hinzu:
Rückert beweist den Dichter, indem er definierend ausruft:
Freilich finden wir durch diese Aussprüche nur bestätigt, daß die in der
Vorstellung reflektierende Sinnenwelt der Stoff für den Dichter ist, welcher erst
Gedicht wird, wenn er mit der Empfindung des Dichters, mit seinem Gemüt
verschmolzen, vom Dichter die schöne Form erhalten hat. Mit anderen Worten:
Wir wissen, welche Anforderungen man an den Dichter
machen kann. Wenn aber behauptet wurde, daß der wahre Dichter sich
durch Genialität auszeichnet, daß er selbst Genie ist, daß nur deshalb seine
Kraft Neues, Großes, ewig Gültiges und Vorbildliches zu schaffen vermöge,
daß er nur deshalb der Kunst die Regeln zu geben wisse, so muß hier die im
§ 2 schon gestellte Frage näher beleuchtet werden: Jst der Dichter eine
besondere Species des Menschen oder nicht? Für illustrierende
Beantwortung dieser Frage will ich vorerst dem Dichter des „Nibelunge“
Wilhelm Jordan folgende Geschichte nacherzählen.
Eine Dame drückte ihr Erstaunen darüber aus, wie ein Maler eine
solche Menge von Gestalten aus der Phantasie heraufbeschwören könne und er
ferner die Erscheinungen seines Jnnern mit solcher Genauigkeit sehe, daß er
sie mittelst einigen Farbestoffes mit dem Scheine handgreiflicher Wirklichkeit zu
umkleiden vermöge.
„Einiges Wunder“, gab Jordan zur Antwort, „ist wirklich im Spiel.
Einen Teil der Zauberei kann ich Jhnen begreiflich machen.“ Er führte sie
zum norwegischen Maler Tidemann. Anfangs schaute die Dame nach einem
herrlichen Gemälde, auf welchem den Mittelpunkt einer gestaltenreichen und
dramatisch bewegten Gruppe ein Verwundeter bildete, der getragen wurde. Dann
aber, als sie umherschaute, malte sich in ihren Zügen in rascher Folge Entsetzen,
Ärger, Enttäuschung.
Sie erblickte nämlich menschliche Gliedmaßen, Körperteile von Gips, Puppen
und Gestelle, behangen mit allerlei Zierat und Gewändern, aufgeschlagene
Kostümbücher, schauderhaft getreue anatomische Zeichnungen der Muskulatur
und Knochenstellung von Armen und Beinen, Schultern und Hüften. Dann
einen hölzernen Gliedermann an Schnüren von der Zimmerdecke herabhängend,
genau in derselben Haltung wie der verwundete Mann auf dem Bilde und
genau so gekleidet, wie jener; endlich das für sie Allerentsetzlichste: ein auf
den Maler wartendes lebendiges Modell, ein Frauenzimmer,
in gleicher Tracht wie die weibliche Hauptfigur des Gemäldes und
dieser frappant ähnlich, nur mit hochtragischer Veredlung ihres etwas gewöhnlichen
Gesichtsausdrucks. Da rief die Begleiterin: „O hätten Sie mir das
nicht angethan; meine Jllusion, meinen Glauben an die schöpferische Macht des
Genius haben Sie mir geraubt, unbarmherzig vernichtet. Die göttliche Kunst [28]
haben Sie mir aufgelöst in mühselige Menschenarbeit, welche mit kleinlichem
Ameisenfleiße von Plunder und Kehrichthaufen Schalenbröckchen zusammenträgt,
um sie aneinander zu leimen und uns damit vorzulügen, daß der Mensch aus
sich heraus die Natur verschönert wiedergebären könne.“
W. Jordan fragt: „Hatte ich wirklich unrecht gethan, meine Freundin
in die Werkstatt des Meisters einzuführen? Hatte sie wirklich Wertvolles an
ihrer Jllusion verloren? Jst ihr die Malerei für immer verleidet, der Maler
für immer herabgedrückt geblieben zum bloßen Sammler und Abschreiber, seit
ihm der Nimbus eines Hexenmeisters vom Kopfe verschwunden war?“ Und er
antwortet: „Jm Gegenteil! Sie ist seitdem längst genesen zu einer ungleich
würdigeren, wenn auch minder überschwenglichen Vorstellung von seiner Kunst.
Sie weiß nun, daß das Bilden aus ewig vorhandenem Stoff und mit ewig
vererbten Kräften wie das Sonnenlicht ─ und dennoch wie dieses auf tiefstem
Grunde ein göttliches Geheimnis, ein weit höheres und edleres Wunder ist,
als die geträumte stofflos waltende Magie. Sie hat nur das wertlose Staunen
des Aberglaubens an eine mittellose Schöpfung aus Nichts eingebüßt.“
Unter der gleichen Jllusion lag seither mehr oder
weniger die Poesie. Man ahnt oft kaum, daß die Poesie nur durch
die Summe der ihr eigentümlichen Mittel, wie Malerei und Skulptur wirkt,
um eine bildende Kunst für die Einbildungskraft der Leser und Hörer zu werden.
Daher haben wir so viele „Nebenbeipoeten“, die im Wahne befangen
sind, daß ihnen Uhlands Worte gelten: „Singe, wem Gesang gegeben
in dem deutschen Dichterwald“, die dann ihr Spottdrosselgepfeife und ihr
Rabengekrächze über den Nachtigallengesang stellen und denen die Verse Catulls
gelten: qui modo scurra Aut siquid hac retritius videbatur, Idem
infaceto'st infacetior rure, Simul poëmata attigit, neque idem unquam
Aeque'st beatus ac poëma cum scribit: Tam gaudet in se tamque
se ipse miratur.
Seitdem die Sprache durch unsere Klassiker vorgebildet ist, tönt sie jedem
Reimschmiede, der von dem Wesen der Poesie oft so wenig Einblick sich verschafft
hat, die Anforderungen an den Dichter oft gar nicht zu ahnen vermag
und sich lediglich aufs Gefühl verläßt.
sagt Schiller so treffend.
Die Nachahmer und Stümper verhalten sich zu den wahren Dichtern wie
jemand, der aus Brosamen ein Männlein zu kneten versteht, sich zu einem
Canova verhält.
Es ist thöricht oder boshaft, das Ringen und die ausdauernde Arbeit
des nie verzweifelnden, nie ermüdenden Künstlers nicht anerkennen zu wollen,
die bedeutendsten Dichterleistungen einer mühelosen Zauberkraft zuzuschreiben
und diese für das alleinige Wesen des Genies zu halten. „Selbst der Künstler
und Dichter, obgleich beide nur für das Wohlgefallen bei der Betrachtung
arbeiten, können nur durch ein anstrengendes und nichts weniger als reizendes [29]
Studium dahin gelangen, daß ihre Werke uns spielend ergötzen.“ (Schiller.)
Jm Unmute hat einer unserer großen Geister einmal erzürnt ausgerufen:
Genie, und immer nur Genie! Was ist Genie? Genie ist Fleiß!
Es gab eine Zeit, wo man ganz allgemein den Dichter für einen Erfinder
hielt, der, unbekümmert um die Welt und ihren Lauf, alle Schätze der
Dichtkunst fertig in seinem Geiste trage. Noch heute giebt es Leute, die jeden
einen Verräter an der Dichtkunst schelten, der diesen Glauben nicht teilt.
Jhnen ist der Ausspruch Goethes entgegenzustellen: „Man sagt wohl zum
Lobe des Künstlers, er habe Alles aus sich selbst. Wenn ich das
nur nicht wieder hören müßte! Genau besehen sind die Produktionen
eines solchen Original-Genies meistens Reminiscenzen: wer Erfahrung hat,
wird sie einzeln nachzuweisen wissen.“ ─ „Angenommen“, sagt Keiter in Versuch
einer Theorie des Romans 1876, S. 79, „der Dichter schöpfe alles aus sich
selbst, so bleibt doch die Frage bestehen, woher hat er diesen Reichtum? Angeboren
ist er ihm nicht. Er hat ihn eben durch die Erfahrung erworben.
Die Eindrücke sind von außen gekommen, das Gedächtnis hat sie ihm treu
bewahrt, die Phantasie gestaltet sie zum Gedicht.... Wer will das Hangen und
Bangen in schwebender Pein, das Himmel=hochjauchzen und zum Tode=betrübtsein
der Liebe schildern, der nicht selbst ihre Leiden und Freuden gekostet? Je
reicher demnach der Erfahrungsschatz des Dichters, um so mannigfaltiger sein
Werk, um so lebensvoller und lebenswahrer wird er veranschaulichen können.“
Allerdings wäre es zu weit gegangen, wenn man behaupten wollte, daß
Fleiß das einzige wäre, was den großen Dichter bildet. Es gehört Gesundheit
des Geistes oder, wie wir es im § 2 nannten, eine hohe Urkräftigkeit
der Anlagen dazu, die dann allerdings durch Fleiß und Studium zum Ziele
führt. Alle großen Denker, Dichter und Künstler haben bewiesen, daß nur
ein gesteigertes Arbeiten und Aufnehmen der Resultate ihrer Vorgänger in
Wissenschaft und Kunst sie zur Höhe führte.
Der scheinbar mühelos schaffende Goethe mußte es sich nach seinem eigenen
Geständnis „recht sauer werden lassen!“ (Vgl. auch Horaz.) „Die Kunst zu
lernen“, war Platen „nie zu träge“; Heine konnte sich nie genug thun in der
sorgsamsten, fast ängstlichen Feile seiner leichten Lieder! Schiller, Rückert, Uhland,
Geibel, Gottfr. Keller, Heyse u. A. bezeugen, was sie der Kunst und ihrer
Pflege schulden. ─ Rudolph Gottschall sagt in Bl. f. lit. Unterh. 1854,
Nr. 57: Unsere mit Haut und Haar zur Welt kommenden Genies vergessen
nur zu sehr, daß die Poesie eine Kunst ist und jede Kunst die fertige
Technik zu ihrer Voraussetzung bedarf. Es hat mit der Kunsthöhe eine eigentümliche
Bewandtnis; man kann die Leiter fortwerfen, wenn man oben ist, doch
ohne die Leiter kommt man nicht hinauf. Der Gedankenschwung braucht
den rhythmischen Schwung zum Träger, sonst kommt er nicht vom Fleck.
Das sogenannte Genie ist gewiß bei sehr vielen vorhanden. Aber das
Talent, dieses Genie zur Entfaltung zu bringen, das blitzartige Denken, das
sich seine Objekte wählt, blieb in Folge ungünstiger Verhältnisse bei vielen
eben ungepflegt.
So erzählt Kinkel, daß ein Mitschüler weit schönere Verse gemacht habe,
als er selbst, und doch ist aus demselben kein Dichter geworden. Er ist stecken
geblieben. Es lag wahrscheinlich an der geringeren Urkräftigkeit der Anlagen
oder der nicht fortgesetzten Übung. Anlage und Arbeit fügen beim gewordenen
Genie eben nach und nach jenes geheimnisvolle Etwas hinzu,
das, wie Bodenstedt sagt, später den Poeten mache, und für welches er
noch in keinem Lehrbuche der Ästhetik und Poetik den treffenden Ausdruck
gefunden habe, oder mit den Worten Gottschalls: „jenen unsagbaren geistigen
Duft, der uns gefangen nimmt mit eigentümlicher Trunkenheit und das Gefühl
giebt, wir leben in einer Welt, die der Genius schuf!“
Lessing spricht in seiner Hamb. Dramaturgie 1767 gelegentlich einer Kritik
von Marmontels Drama Soliman vom erfinderischen, entwickelten Dichtergenie,
wobei mancher Satz als fermentum cognitionis im Sinn des 95. Stücks der
Dramaturgie (am Schluß) erscheinen könnte, als Anerkennung einer besonderen
Species des homo nobilis, ja, als Widerspruch zu seinem von uns S. 2 d. B.
citierten Ausspruches, nach welchem wir das Genie durch die Erziehung bekommen
müssen. Man vgl. z. B. die Stelle im 34. St.: „Dem Genie ist es vergönnt,
tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß“ bis zum
Schluß: „Was wir besser wissen, beweist bloß, daß wir fleißiger zur Schule
gegangen, als der Genius, und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht
vollkommene Dummköpfe bleiben wollten“ &c. Der Zusammenhang, und nachstehende
Sätze zeigen jedoch, daß Lessing seiner 8 Jahre früher ausgesprochenen
Ansicht treu blieb: „Mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was
das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet.... Es ist wahr, mit dergleichen
leidigen Nachahmungen fängt das Genie an zu lernen; es sind
seine Vorübungen.... Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger
Mensch, der erst in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie
schildern.... Das größte (komische) Genie zeigt sich in seinen Jugendwerken
hohl und leer. Selbst von den ersten Stücken des Menander sagt Plutarch,
daß sie mit seinen späteren und letzten Stücken gar nicht zu vergleichen gewesen“
u. s. w.
Jean Jacques Rousseau scheint wohl das geborene Genie anzunehmen,
kann aber ─ wenn man seine Ansicht mit unseren Augen mißt ─,
doch nichts weiter als einen gut beanlagten Menschen gemeint haben. Er
sagt: „Frage nicht lange, junger Künstler, was Genie sei. Hast du Genie,
so weißt du schon, was es ist; hast du keines, so lernst du es nie kennen.
Das Genie des Musikers herrscht mit seiner Kunst über das ganze Universum;
es malt alle Scenen in Tönen, dem Stillschweigen selbst leihet es Sprache;
es giebt Jdeen in Empfindungen, Empfindungen in Tönen; es malet Leidenschaften,
und indem es sie malt, entstehen sie in den Herzen der Zuhörer.
Freude malt das Genie in neuen Reizen, der Schmerz, den es ertönen läßt,
zwingt uns Geschrei ab, es wallt vollständig über und verzehret sich niemals.
Es malt mit Wärme die Kälte und den Frost, und, selbst wenn es die
Schrecken des Todes vor die Seele des Hörers stellt, teilt es dem Hörer ein [31]
Lebensgefühl mit, das nie verlischt und große Thaten zu seinem Herzen bringt,
damit er sie fühlen kann. Doch ach! Es weiß denjenigen gar nichts zu sagen,
in denen es nicht sproßt, und die Wunder, die es thut, sind nicht vorhanden
für den, der sie nicht nachahmen kann.
„Willst du aber wissen, ob irgend ein Funke dieses verzehrenden Feuers
deine Seele belebe? Eile, fliege nach Neapel, und höre die Meisterwerke
eines Leo, eines Durante, eines Jomelli, eines Pergolese. Füllen sich deine
Augen mit Thränen, schlägt dir das Herz, wirft es dich hin und her, erstickt
die Zurückhaltung deinen Atem; so ergreife den Augenblick,
arbeite! Jhr Genie wird das deinige entzünden, du wirst nach
ihrem Vorbilde erschaffen. Das ist Genie. Bald werden die Augen deiner
Zuhörer dir die Thränen wieder zollen, die deine Meister dir abforderten.
Lassen dich aber die Reize dieser großen Kunst in Ruhe, fühlst du dich weder
verwirrt noch entzückt, entdeckst du gar nichts, was dich erschüttern könnte;
so sei nicht zudringlich, und frage nicht weiter, was Genie sei; du bist ein
Mensch von gemeinem Schlage, du entweihst dies heilige Wort.“
Jn der Stelle: „erstickt die Zurückhaltung deinen Atem, so gehe hin
und arbeite!“ tritt Rousseau unbewußt auf unseren Standpunkt. Gefühl,
Kunstsinn, Talent macht noch nicht das Genie. Dieses ist, wie gesagt, das
Resultat der Arbeit, die freilich bei großer Urkräftigkeit der Anlagen
zur höheren Kunststufe führen wird. Es ist durchaus nötig, daß man viel
sehe und ─ wie Fröbel will ─ viel mache, arbeite!
Bei richtigem interessevollem Arbeiten entdeckt man dann in einem Tage
Vorteile und Kunstgriffe, die ihren Erfindern jahrelange Untersuchung und
Mühe kosteten.
Was hatte Michel Angelo gearbeitet, ehe er im Stande war, die
Majestät Gottes mit dem Charakter göttlicher Hoheit zu malen! Rafael, der
an demselben Problem studierte, sah heimlich seines Nebenbuhlers Kunstwerk,
und sofort malte er die göttliche Majestät, daß uns ehrfurchtvolles Schaudern
ergreift. (Siehe das Gewölbe der Galerie, welche zu den Zimmern des II. Stockes
im Vatikan führt.) An Giorgione lernte er kolorieren. So wurde er erst
nach und nach das Genie Rafael. Vervollkommnet wird das Genie in unserem
Sinne nur durch vieles Arbeiten und Sehen, durch Vermehrung der Kenntnisse,
durch Veredlung des Geschmacks.
Es ist eine leichtfertige, für die Dauer unhaltbare Meinung, daß die Natur
beim Genie alles thut, und daß es das Genie lähmen heißt, wenn man es
den Regeln des Geschmacks und der Kunst unterwirft. Die großen Genies
haben am meisten gearbeitet, und Homer ist nicht seiner Originalität wegen
allein, er ist auch seiner Regelmäßigkeit wegen Muster.
Dem Genie wird häufig auch eine angeborene, nur ihm eigene Begeisterung
(„Wahnsinn“) vindiziert. Man nennt den genialen Dichter „begeistert“,
„trunken“, „des Gottes voll“.
Plato geht zu weit, wenn er den Sokrates (p. 533 E.) sagen läßt:
„Wie die korybantischen Tänzer nicht im bewußten Zustand tanzen, so dichten [32]
auch die Lyriker ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie
in Ton und Takt hineingeraten. Der Dichter ist ein leichtgeflügeltes, geweihtes
Wesen und nicht eher zum Dichten fähig, als bis er begeistert, unbewußt und
von Sinnen ist. (Vgl. Plat. Apolog. Socr. 22 B.) Ebenso Plato im Phädrus.
(S. 245 vgl. § 20 dieses Buches.)
Diesen Wahnsinn ─ oder (wie man es übersetzen sollte) diese aus der
dichterischen Jntuition stammende Begeisterungsfähigkeit halten auch wir für sehr
wesentlich. Aber wir glauben nicht, daß sie von den Musen kommt, oder, wie
unsere Jdentitätsphilosophen phantasierten (was aber dasselbe ist), angeboren ist.
(Vgl. hierzu Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten von Dr. Eduard
Müller 1834, I, S. 53.) Der Begeisterung muß sich Besonnenheit vermählen,
die Besonnenheit des gebildeten Geistes. (Vgl. Schiller über Bürgers Gedichte.
Aristoteles Poet. c. 17 sagt: διὸ εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν ἤ μανικοῦ!
τούτων γὰρ οἱ μὲν εὔπλαστοι, οἱ δὲ ἐξεταστικοί εἰσιν. Horatius A. P.
309: Scribendi recte sapere est et principium et fons. Vgl. auch
Horat. A. P. 295 ff.)
Vom gewordenen Dichter gilt, was Goethe verlangt: „Wenn ihr's nicht
fühlt, ihr werdet's nicht erjagen“, und: „Gebt ihr euch einmal für Poeten,
so kommandiert die Poesie“. Man hat oft die Ansicht aussprechen hören, daß
der Lyriker im Wald und im Gebirge, in der unentweihten Natur seine Stoffe
sich zu holen habe. Aber die Erfahrung lehrt, daß dieser Weg, der doch
höchstens Naturschilderungen oder Betrachtungen einzubringen vermöchte, wohl
zum Dilettantismus, nie aber zur Höhe der Kunst führt. Unsere Genies
haben von jeher Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften in den Bereich ihrer
dichterischen Thätigkeit gezogen. Sie haben sich mit Energie den eingehendsten
wissenschaftlichen Studien hingegeben, sie alle haben auch wissenschaftliche Werke
geliefert, deren Bearbeitung ihren Geist in neue, ungeahnte Bahnen lenkte,
und sie auf dem Niveau der Bildung des Jahrhunderts erhielt oder darüber
hinausragen ließ. Wie der Student der Neuzeit durch feineres Wesen sich vom
Musensohne mit langen Haaren, staubigem Flaus, zerfetztem Schlafrock vorteilhaft
unterscheidet, so verlangt man vom Dichter der Neuzeit höhere wissenschaftliche
Bildung und Geist, so muß er sich unterscheiden von jenen
ignoranten Naturlyrikern, die ─ wie schon Horaz sagt, (weil Demokrit das
Genie höher stellt, als die mühsame Kunst und die besonnenen Dichter
vom Helikon ausschloß) „sich Nägel und Haare wachsen lassen, Einöden aufsuchen,
Bäder meiden“ u. s. w. So ist man denn zurückgekommen von jener
Ansicht, die in den langen, nachlässig gekämmten Haaren, im altdeutschen
Rock das Kriterium der dichterischen Begabung, des dichterischen Genies erblickt,
so verlangt man auch vom Dichter, daß er sich mit dem praktischen Leben
versöhne und den Vorwurf des idealen Schwärmers von sich abwehre.
Um moderner bedeutender Poet zu sein, ist die Poesie der wissenschaftlichen
Erkenntnis und die wissenschaftliche Erkenntnis der
Poesie nötig. Um den Vorbildern es gleich zu thun, muß man ihre
Gesetze, ihre Methode kennen, ─ ja man muß die Resultate aller Wissenschaften [33]
begreifen, um poetische Bilder wahr zu machen, um enthüllte Gesetze
der Natur einzuflechten, um das Jdeal dichterisch anzudeuten, nach dem die
Nation zu steuern hat. Uhland äußerte in dieser Beziehung einmal sehr treffend
zu Professor Chr. Schwab: „Große Dichter wirken nicht nur durch ihre Poesie,
sie ziehen auch andere, eigentlich der Poesie fremde Gebiete, wie Philosophie,
Geschichte, Naturwissenschaft in ihren Gesichtskreis, wecken dadurch Jnteresse und
imponieren.“ Über die Poesie herrschten namentlich zur Zeit der Romantiker
so verschwommene Ansichten, daß ein Dichter, welcher der Uhlandschen Forderung
hätte genügen wollen, in Gefahr kam, als nicht geborenes Genie verketzert zu
werden. Er sollte aus leerem, Kantischreinem Genie ein Weltbild aus
Nichts schaffen, bei Mondscheinbeleuchtung schwärmen, am Fluß, im Haine
fabulieren und diese Gedanken aufs Papier werfen, leicht, flüssig, ─ genial!
Man liebte und glaubte eben an die aus Nichts schaffende Wunderthätigkeit
des geborenen Genies. Jordan sagt: „Jn unserer gewaltigen Epoche des durch
wissenschaftliche Erkenntnis triumphierenden Menschengeistes war die Poesie zu
einem Spiel mit liebenswürdigen Kleinigkeiten ausgeartet, es war ihr fast
mythisch geworden, daß auch sie wie jede andere Kunst die ungeteilte Kraft,
den angestrengten Fleiß eines Lebens für sich allein verlange, daß
sie nicht minder als Architektur, Malerei, Skulptur, Musik eine mühselige Technik,
eine Schule des Handwerks erfordere, und eben deshalb gleich notwendig wie
diese Künste als alleiniger Lebensberuf zugleich ein Gewerbe sein müsse.“
Wir schließen diese Erörterung durch Mitteilung der vom Begründer der
poetischen Satire Joachim Rachel († 1669) schon im 17. Jahrhundert an den
Dichter gerichteten Anforderungen, die manches Zutreffende auch für unsere Zeit
enthalten. (Wer die Quellen nachlesen will, findet Belege für unsere Ansicht
bei Plato, Aristoteles, Boileau u. A. Über erstere vgl. E. Müllers Geschichte
der Theorie der Kunst bei den Alten. Bd. I, S. 90 ff. und Bd. II, S. 109 ff.)
Der Poet.
§ 13. Die Zeit und ihr Einfluß auf den Rünstler.
Jede Kunst ist das Resultat ihres bestimmten Jahrhunderts und
trägt die Signatur desselben. Jedes Jahrhundert hat seine bestimmte
Summe von Erfahrungen wie von Können. Die Summe des Könnens
und der Einsicht bedingt die Bildungshöhe des Jahrhunderts, seine
theoretische und praktische Vernunft, wie seine Kunst. Keine Form ist
ewig. Jede hat ihre Zeit, zu der sie paßt, in der sie wirkt, und wieder
ihre Zeit, wo sie dem Drange des neuen Lebens ─ dem gewordenen
Genie ─ weichen muß. Das Genie, das die Bildungshöhe des Jahr= [35]
hunderts überragt und schöpferisch, tonangebend für's folgende Jahrhundert
wird, wirft seinen Lichtglanz gleich einer Sonne weit voraus
auf die folgenden Jahrhunderte. Die Durchschnitts-Vernunft des
Jahrhunderts begreift das Genie nur in seltenen Fällen, und doch
ist es nur aus dem Einfluß der Zeit und des Jahrhunderts erblüht.
Es ist hier der Ort, dies an einigen Bahnbrechern und Revolutionären
auf den Gebieten der Kunst in der Gegenwart generell nachzuweisen und deren
Abhängigkeit von der Zeit und ihre Bedeutung für die Zukunft zu würdigen,
zugleich auch dadurch das Gemeinsame des Fortschritts aller Künste in unserer
Zeit zu illustrieren, endlich darzuthun, wie die bahnbrechenden, gewordenen
Genies der unserem kritischen Blick zugänglichen Gegenwart in ihrer vorbildlichen
Thätigkeit sich gleichen.
Die neueste Zeit ist eine Zeit der Unruhe, des Drängens und Treibens
auf allen Gebieten, des alten und des neuen Glaubens, der Erfindungen
und industriellen Umwälzungen. Was Wunder, daß auch die Kunst zur Deckung
ihres Deficits an Muße die allgemeine Unruhe als Element in sich aufnimmt?
Wir greifen drei beliebige Vertreter heraus, wobei wir freilich ─ ohne die Bekanntschaft
mit deren Werken voraussetzen zu können ─ anticipierend von den
letzteren ausgehen müssen, um den Schein willkürlicher Abstraktion zu meiden.
Man betrachte also beispielsweise unter den Dichtern neuerer Bestrebungen
den empordrängenden Hamerling, der wie ein umgekehrter, aus dem Reiche
der Erscheinungen in's Reich der Skepsis dringender Faust erscheint. Man
beachte ferner die sinnliche Derbheit unserer materialistischen Zeit in ihrem Einflusse
auf die ersten Gemälde des koloristischen Reformators Makart; man
würdige endlich den Einfluß der Zeit bei Richard Wagner, der mit seinem
grandiosen Werk „Ring des Nibelungen“ vom heutigen Theater sich lossagte.
Welch bewegtes Hasten, Erhitzen, Ringen, welch ruheloses fieberhaftes Hindrängen
der Dissonanzen zu Konsonanzen, der scheinbaren Melodielosigkeit zur Melodie!
Welch höchste Häufung und Steigerung der Mittel, welch luxuriöses Kolorit!
Hamerling ist ein aus der Zeit geborener, sie überragender philosophischer
Denker und Dichter; bewundernswert durch Kühnheit und Großartigkeit der
Phantasie. Makart ist der vom wilden Naturalismus zum Gedanken sich
emporwühlende, kulturhistorische Maler seiner Zeit, der durch seinen Farbenreiz
selbst Piloty hinter sich läßt und der Zukunft durch die Bravour
des koloristischen Vortrags (ich erinnere an seine Bilder Abundantia, Todsünden,
Katharina Cornaro, Die fünf Sinne, Karl V., Kleopatra) neue
koloristische Bahnen zeigt; Wagner endlich ist der Dichterkomponist, der nach Art
seiner Zeit die Gefühle in Gedanken umsetzt, indem sein Weg zum Herzen
durch den Kopf geht. Die Übereinstimmung dieser drei Revolutionäre und
ihre Wirkung liegt im großen Stil, in dem sie auftreten, in der Massenwirkung,
im philosophischen Überwältigen des Herkömmlichen, in der breiten
Pinselführung, im koloristischen Zauber, in der schneidenden unverhüllten Bestimmtheit
des Ausdrucks.
Hamerling in der Beschreibung des goldenen Hauses und der Dionysosfeier
in Neros Garten und neuerdings in der Aspasia, Wagner in
dem somnambulen Zug Sentas zum Holländer, in der Liebe Elsas zu
Lohengrin, in Tristan und Jsolde, in der Walküre durch Benützung der dämonischen
Elementargewalt der Liebe als eines hervorragenden dramatischen Leitmotivs
─ sie scheinen mit der hellblitzenden Farbe Makarts zu malen.
Hamerling gelangt durch Erfassung einer dichterisch geistigen Perspektive
zu seinem Ahasver und seiner Aspasia; Makart erringt nach Durchdringung
des sinnlichen Naturalismus seine Höhe, und Wagner, der malende Dichterkomponist,
kam erst nach Überfliegen der von Meyerbeer repräsentierten historischen
Oper über Rienzi und der zweiten Gruppe seiner Schöpfungen (fliegender
Holländer, Tannhäuser, Lohengrin) zu seinen großartigen Gesamtkunstwerken:
den Meistersängern, Tristan und Jsolde und dem Ring des Nibelungen.
Wie Hamerling die Sprache, wie Makart die Farbe, so
absichts voll für die Wirkung gebraucht Wagner sein Orchester.
Hamerling, der seinen Nero nach unschuldigem Menschenblut verlangen
läßt, dessen Herz so heiß ist, daß ein Dolch darin schmelzen könnte, ist in der
Empfindung überschwenglich, im Ausdruck genial. Makart, dem das schöne Auge
brennen, die Haut wie mit Magnesiumlicht leuchten muß, und der auch einmal ─
der Wirkung halber ─ die Krebse stahlblau malt: er korrigiert mit kühner Hand
scheinbar die Natur. Jn Wirklichkeit ist er der sichere Jnterpret der Lichtreflexe.
Wagners Behandlung der Leidenschaft hat etwas Grandioses. Was ist Gluckscher
und Mozartscher Haß oder deren Liebe, was deren Entsetzen, was Verdis
Kulissenempfindung gegen Wagnersche Leidenschaft, die doch nie die Grenzen
des allgemein Menschlichen verläßt, wenn auch das Empfinden, die Sinnlichkeit
u. a. übertrieben scheint. Solch ein Dreiklang, den dieser Genius durch sein
Orchester klingen läßt (wo z. B. Walter in den Meistersängern sein Lied beginnt)
─ er klingt wie ein Klang aus höheren Sphären, wie ein Zauberton, der den
Frühling bringt. Hamerling hat mit Makart und Wagner gemeinsam, daß
sinnliche Überschwenglichkeit nach übersinnlichen Äquivalenten sucht, welche sich
dem überreizten Willen nicht fügen wollen. Dadurch erhalten wir eine leidenschaftschwangere
Atmosphäre, die wie Opium betäubt, dämonisch wirkt. Dies ist
bei Wagner und Makart bekanntlich weit mehr der Fall, als bei Hamerling,
den das dichterische Maß vor Ausschreitungen schützt, obwohl er z. B. das Laster
malt mit Farben, welche die Augen blenden, mit Lichtern, die wie Sonnenstrahlen
wirken, obwohl Vieles bei ihm Verzückung, fieberhafter Rausch, Krampf, Genuß
bis zur Übersättigung ist. Makart hat sich nicht einmal durch den Hinblick
auf den Kaulbachschen Jdealismus (der idealen Linienschönheit) in Verfolgung
seines Ziels beirren lassen; aber den idealen Cornelius, den weichempfindenden
Overbeck scheint er in sich verarbeitet zu haben, um weit mehr als ein Tintoretto,
Paul Veronese &c. Repräsentant des Realismus zu werden und, unbekümmert
um Allegorie, Reflexion und das geistige Moment, Stoffmalerei, Bravour
des Machwerks, frappierende Wiedergabe des Körperlichen zu erreichen. Es muß [37]
dies besonders von seinen „fünf Sinnen“ gesagt werden, welche die Verkörperung
göttlicher Nacktheit und des Liebreizes weiblicher Formenschönheit sind
und durch nie gehörte Farbenaccorde die glühende Phantasie des in erster Reihe
durch Farbe und Licht, dann durch Kontour und Form, zuletzt durch den Stoff
wirkenden wahrhaft antiken Meisters beweisen, der durch unschuldigen Formenreiz
das Auge berauscht, ohne es zu ─ sättigen. Jst Hamerling die Konsequenz
der Räuber, des Tell und des Faust, so ist Makart die Konsequenz eines
Tintoretto, wie uns dieser im Eingangsbild des Dogenpalastes zu Venedig oder in
der protestantischen Kapelle zu Schleißheim so überwältigend entgegentritt, so ist
endlich Wagner die Konsequenz der Euryanthe, in welcher Oper die Detailmalerei
bereits begonnen hat. Alle sind aber das Resultat der von ihnen
vorgefundenen Kunst ihres Jahrhunderts. Mit jedem neuen Werke
dieser Genies wird man sich neu beschäftigen, weil man in jedem als Signatur
des fieberhaft pulsierenden Zeitgeistes der Gegenwart einen Fortschritt erblickt,
weil man von ihnen doch Bahnbrechendes, nicht für die Zeit Geschriebenes,
Originelles, Mustergültiges, Ewigbestehendes, Niedagewesenes, Unerhörtes erwartet
und findet. Vom genialzeichnenden Hamerling ist kühn zu behaupten, daß er
in seinen letzten Werken ein zweiter Goethe und zwar ein Goethe seiner Zeit
geworden ist; von Makart ist bekannt, daß er die Natur korrigiert, um seinen
realistischen Zweck zu erreichen, und von Wagner glaubt man, „daß er das
Firmament umkomponieren möchte, da ihm die Fixsterne mit ihren ehernen
Gesetzen gar zu authentisch sind“, und daß er keinen Anstand nehmen würde,
die Kontrabässe mitten ins Publikum zu stellen, wenn er sich für Verwirklichung
seiner Jntentionen Vorteil davon verspräche, wie er ja schon im Rheingold (wo
er das Orchester im symphonischen, im al fresco-Stil verwendet und durch Tieferlegung
des Orchesters die Schallwirkung idealisiert und die Sänger ohne Anstrengung
selbst bei instrumentalen Massen singen läßt) mit der Einteilung der
Oper in Akte bricht und eine den Abend füllende Oper in einem Aufzug
schreibt (vgl. L. Ehlerts bez. Abhandlung).
Natürlich kann ein reformatorisches Genie nicht die bequemen Bahnen des
Herkommens wandeln. Jeder aus seiner Zeit erwachsene Reformator ist ein
Usurpator, der auch im Negieren den Einfluß seiner Zeit für eine durch ihn
veranlaßte neue Ära beweist.
§ 14. Der Dichter und sein Jahrhundert.
Der Dichter ist ─ wie erwähnt ─ das Produkt seines Jahrhunderts.
Er vereinigt in sich alle Elemente des Jahrhunderts, aber
er überragt die Durchschnittsbildung desselben und wird dem nachfolgenden
Jahrhundert ein neuer Lichtpunkt, von welchem Leben und
Wärme ausströmt, zu dem es sich emporschwingt, dessen Jdeen es [38]
assimiliert. Die Forderung an ihn ist: Aus dem Geist der Zeit heraus
für die Zukunft zu wirken.
So war es bei den Orientalen, bei den Dichtern des Mahabharata, des
Ramajana, des Schah Nameh, wie der Sakuntala und der Urwasi (Kalidasa),
so war es bei den Griechen (bei Homer, bei Sophokles), so war es bei den
Römern (Horaz, Ovid, Tibull, Properz, Virgil), so war es in der romantischen
Periode unseres Volks im Mittelalter, bei den Dichtern der Nibelungen mit den
prächtigen Frauengestalten der Brunhild und der Kriemhild. So war es aber
nicht bei den romantischen Dichtern, von denen Dante der Homer und Hesiod,
Tasso der Virgil und Ariost der Ovid des Mittelalters genannt wurden;
so war es nicht mehr in der Zeit der neueren Romantik, die eine Wiedererstehung
der mittelalterlichen Romantik versprach; so ist es auch zum Teil
nicht in der neuesten Zeit, wo die Dichtweisen aller Völker des Erdenrunds
entfremdend wirken, wo so viele im Geiste orientalischer Lyrik dichten, anstatt
aus dem Geiste derselben heraus. So war es aber bei Schiller und Goethe,
die ─ wo sie sich nicht von der Antike beherrschen ließen ─ aus ihrer Zeit
schöpften und nach Art des Genies das in die Jahrhunderte hinaustönende
Weltorgan ihres Jahrhunderts wurden.
So muß es für die Folge bei jedem Dichter werden, der für sein Jahrhundert
werden soll, was Homer, Horaz, Firdusi, Goethe den ihrigen gewesen
sind. Die Forderung ist: Aus der Zeit heraus, aus dem Geist derselben
─ nicht im Geist derselben zu dichten! Der wahre Dichter, der aus
dem Geist der Zeit heraus schreibt, der scheinbar kein Publikum hat und nur
für sich dichtet, er schreibt und lebt für die Zukunft. Viele, die sich
Dichter nennen, schreiben nur im Geist der Zeit und suchen der Zeit zu huldigen.
Nicht Poesie ist es, was sie schreiben, vielmehr bahnen sie sich durch platte
Prosa, Nüchternheit, hausbackene Alltäglichkeit den Weg zum Herzen eines
Publikums, das nicht besser ist als sie. Aber alle diese Schoßkinder der
Popularität werden fallen, von den Wellen der neuen besseren Zeit überflutet,
sobald man höhere Geschmacksbildung erstrebt oder erworben hat. Ewige
Dauer hat nur die echte Poesie; ihre Formen veralten nie, ihr Jnhalt
leuchtet in Jugendfrische wie von Anbeginn; ─ auf wessen Vers nur einer
ihrer Strahlen fiel, der wird nicht gänzlich sterben: „Non omnis moriar!“
darf auch er von sich sagen. Wohin sind Clauren und Tromlitz und der
wirklich gediegene Spindler (dem Goedecke im Grundriß [III. 738] ein schönes
Denkmal setzt) und dieses ganze Geschlecht gekommen, die doch in ihren Tagen im
Sonnenscheine des Ruhmes schwelgten? Transite ad inferos! Aber Rückert ─
der Einsame lebt. Wenn die Popularitäten des Tages verrauscht sind, wird
man sich noch lange des Einen oder Andern erinnern, der in einem Zeitalter,
das auf andere als Dichterziele gerichtet war, ohne Wunsch und ohne Hoffnung
um ihrer selbst willen die heilige Flamme nährte, des schönen Wortes Sidneys
eingedenk: „Sieh in dein Herz und schreibe; wer für sich selbst
schreibt, schreibt für ein unsterblich Publikum.“
§ 15. Die echte Kunst ist ewig.
Das Leben entsteht, wächst, nimmt ab, erlischt. Die Kunst nur
vermag das Schöne durch ihren Schein für alle Zeiten zu fixieren.
Hinübergegangen sind die herrlichen Frauen, die den Schöpfer der Mediceischen
Venus, der Ariadne auf Naxos, der Hebe; die einen Rafael, Leonardo da
Vinci, Correggio, Battoni (büßende Magdalena) zu ihren unsterblichen Werken
begeisterten. Homer, Goethe, Rückert, Mozart, Beethoven ─ sie sind tot. Aber
die durch sie geübte Kunst besteht in vollstrahlender Schöne.
Das Leben ist vergänglich, ─ die Kunst allein ist unsterblich, ewig. Sie
gestaltet die Jdeale frei. Wie in einem Krystallisationspunkte läßt sie alles
Schöne zusammenschießen. Und dies Alles thut sie durch die frei waltende
Phantasie, die durch Freude gepflegt wird und die Freude erzeugt. Schiller,
dessen Kunst alle Schaumgebilde überdauert hat, sagt: „Alle Kunst ist der Freude
gewidmet und es giebt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die
Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten
Genuß schafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüts in dem
lebendigen Spiel aller seiner Kräfte. Die wahre Kunst hat es nicht bloß auf
ein vorübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr ernst damit, den Menschen
nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern
ihn wirklich und in der That frei zu machen; auf der Wahrheit selbst, auf dem
tiefen Grunde der Natur errichtet sie ihr ewiges Gebäude.“
§ 16. Die dichterischen Stoffe.
1. Fragen wir nach der Verschiedenheit der dichterischen Stoffe,
so erscheint uns der Mensch als der vorzüglichste Gegenstand aller
Poesie. Seine Liebe (vgl. Rückerts Amaryllis, Agnes, Liebesfrühling),
seine Freundschaft (vgl. Schillers Bürgschaft, Goethes Jphigenie,
Orestes und Pylades), seine Gefühle (vgl. Goethes Egmont, Schillers
Jungfrau von Orleans), seine Mythen, seine Religion, das Zauberhafte
(das nur nicht wie in der Romantik sich für den Kern der Poesie
ausgeben soll), das Wunderbare &c. sind Stoffe, die von jeher dichterisch
behandelt wurden.
2. Die Stoffe werden durch die Thätigkeit der Phantasie und der
Einbildungskraft ins Unendliche vermehrt.
3. Die Behandlungsweise des Stoffs macht den Dichter.
1. Schon Dante fordert: „Gegenstand des Gedichts sei der Mensch, wie
er in Folge seiner Willensfreiheit gut oder schlecht handelnd der ewigen Gerechtigkeit
anheimfällt. Der Zweck des Gedichts sei, den Menschen aus dem
Zustande des Elends zu befreien und zur Glückseligkeit zu leiten.“ Durch die
Höllenfahrt der Selbsterkenntnis also, durch die Sehnsucht nach Frieden und [40]
Ruhe, soll die Welt aus der Unruhe und Gottentfremdung zur Heimkehr in
sich selbst und in Gott als ihrem Grunde und ihrem Ziele berufen werden.
2. Man bemerke, wie z. B. die französischen Neuromantiker ─ voran
ihr Meister Victor Hugo ─ durch eine Rückkehr zur nackten, grellen
Wirklichkeit das Gebiet der poetischen Stoffe erweiterten; wie nach ihrem Vorbilde
vorzüglich der durch seine französische Abkunft dazu berechtigte Chamisso
auch die deutsche Poesie durch solche der Wirklichkeit des Lebens entnommene
Stoffe bereicherte; wie Freiligrath das Verlangen nach neuen Stoffen ─
dem doch schon Rückert durch Einführung in den Osten und Erschließung
einer Weltlyrik im großen Stil genügt hatte ─ in wahrhaft frappanter Weise
befriedigte, indem er seine Stoffe sogar aus den Urwäldern und Savannen
Amerikas, aus der glühenden Tropenwelt Afrikas, aus dem brennenden Wüstensande
Arabiens und der wunderreichen Welt des Meeres holte.
Rückert erschloß die innere Seite des morgenländischen Lebens, Freiligrath
in seiner weniger didaktischen als deskriptiven Epik führt uns das Morgenland
auch in seiner Phantastik, Wildheit und äußeren Energie vor. Man kann
nunmehr sagen: Der Stoff des Dichters, durch die Phantasie
dem Menschenleben und allen Gebieten der Natur und der
Künste entstammend, ist ein unbegrenzter.
Ein Gewitter, ein Sturm, ein Sonnenaufgang, ein Sonntagsmorgen, eine
Blume &c. können Veranlassung zur Verschmelzung der dichterischen Empfindung
mit dem Object geben.
3. Alles liegt beim Dichter an der Behandlungsweise der Stoffe.
Mit Recht sagt daher Schiller („Über Matthissons Gedichte“): „Es ist
niemals der Stoff, sondern die Behandlungsweise, was den Künstler und
Dichter macht.“
Wir geben hiezu einige Beispiele: Rückert haucht z. B. in seine sterbende
Blume den Gedanken des vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin,
die Sonne. Er giebt der Natur Leben und spiegelt so in ihr sein Gemüt, das
ja dem Stoffe nicht eigen ist. Die Sonne schaut bei ihm der Blume ins
Antlitz, bis ihr Strahl ihr das Leben gestohlen, worauf der Dichter den Gedanken
inniger Ergebung, die auch im Tode noch ein Lächeln für den geliebten Gegenstand
hat, Ausdruck verleiht.
(Vgl. auch „Das Veilchen“ von Goethe.)
Wie es eine gemeine Behandlung erhabener Gegenstände giebt, so kann
umgekehrt dem niedrigsten Stoffe noch Hoheit und Würde verliehen werden. [41]
Vom Standpunkt der Kunst aus ist daher auch die Lehre irrig, die von modernen
und unmodernen Stoffen spricht. Um z. B. an das Gebiet
des Drama zu denken, so wäre es thöricht, zu fordern, daß der Dramendichter, welcher
ein Stück Geschichte nimmt, uns in irgend einem realen Sinn und Körper
die Substanz derselben wiedergeben sollte. Zweck und Aufgabe jeder künstlerischen
Schöpfung, die sich eines historischen Vorwurfs bemächtigt, kann
doch nur sein, denselben in seiner geistigen Eigenart zu erfassen und zur
Erscheinung zu bringen; es giebt keine anderen als die geistigen Mittel des
Rapports zwischen uns und ihm; was jenseits liegt, gehört der Kulissenmalerei,
dem Kostümschneider, dem Regisseur an. Wie kann man von modernen
und unmodernen Stoffen reden? Die Wahrheit ist, daß es gewisse
Themata giebt, welche heute modern sind, weil sie mit gewissen Tendenzen der
Zeit zusammenfallen, und morgen aufgehört haben, es zu sein, sobald neue
Tendenzen an Stelle der alten getreten sind; daß es aber andere Themata
giebt, welche niemals veralten, weil sie nicht die Frage eines Geschlechts, sondern
die der Menschheit behandeln. Jedes echte Kunstwerk wird sich um
eine solche Jdee von unvergänglicher Geltung krystallisieren, mag der Dichter
sie aus dem 19. oder 11. Jahrhundert genommen haben. Sie wird von
seinem Atem belebt, von seiner Wärme durchzogen, auch in seiner Sprache
zu uns reden. ─ Dies gelte von allen dichterischen Stoffen!
§ 17. Entstehung des Gedichts. (Poetische Disposition
und Komposition.)
Hat die dichterische Phantasie einen Stoff ausgewählt, so bildet
sie daraus das Kunstwerk. Den Stoff nennt man, sofern derselbe die
Anregung zum Gedichte giebt, das dichterische Motiv.
Der erste Akt der Geistesthätigkeit, den das dichterische Motiv verursacht,
ist die dichterische Konception, d. i. die Vereinigung dieses Motivs mit seinem
subjektiven Erfassen: also der Akt durch den es Eigentum des Dichters
wird. Jetzt ist der Dichter ─ dessen Geistesflug ihn von der Verwertung
des Stoffes zur Jdee emporhebt ─ im Stande, eine Skizze zu entwerfen, durch
die er zunächst seinen Stoff in nüchterne Prüfung nimmt. Dies ist die
poetische Disposition.
Das Arbeiten beginnt, der Dichter erkennt in der Skizze Schwierigkeiten,
welche (weniger im kleinen lyrischen Gedicht, bei welchem ja Konception und
Ausführung eins sind, als vielmehr bei größeren Kunstwerken) die Ausführung
hemmen oder verzögern.
Die Ausführung ist die eigentliche Komposition. Jhr fällt die künstlerische
Gestaltung des Stoffes, die Ausscheidung, Sichtung, Gruppierung zu. Beim
Drama ist es die Einteilung der Handlung in Akte und Scenen, die Ausscheidung
der Nebenhandlung, des Kontrastes, die psychologische Motivierung, [42]
Anlage und Durchführung der Charaktere, der Rhythmus des Ganzen u. s. w.,
was zu beachten ist.
Die Art und Weise der Auffassung des Stoffs und der Ausführung der
Dichtungen, deren Technik die Poetik lehrt, beweist den Dichter, der in Anordnung,
Aufstellung, Fortleitung, in Beachtung von Satz und Gegensatz, in
Darlegung des Jdealen, Symbolischen und Wirklichen, in Entfaltung der seinem
Genius entquellenden Formeigentümlichkeiten &c. poetische Jdee und poetische
Disposition vereinigen und seinem Kunstwerk den Stempel des Ewigen
und Schönen aufdrücken wird. (Um den Bau eines lyrischen Gedichts praktisch
zu illustrieren, empfehlen wir das so durchsichtig angeordnete Beispiel des
Majestätischen von Kleist [s. § 25. 3 α. β], dem wir behufs einer Veranschaulichung
seines Baus einige bezügliche Anhaltepunkte beigefügt haben,
worauf wir am Schluß des Drucks die dichterische Disposition folgen ließen.
Ebenso verweisen wir auf das Schillersche Gedicht: „Der Tanz“. S. unsere
Analyse § 26. 4.)
§ 18. Einführung in das Stoffliche der Poetik: die
Litteraturgeschichte.
(Historische Übersicht und Jnhalt der deutschen poetischen Litteratur.)
Wir verzeichnen zwei Blüteepochen unserer Litteratur. Die erste
zur Zeit der Minnesinger (1150─1300) zeigt das Deutschtum mit dem
Christentum verschmolzen. Die zweite, Ende des vorigen und anfangs
dieses Jahrhunderts, zeigt das Deutschtum im Lichte klassischer Bildung.
Wir teilen die Geschichte der deutschen Litteratur in 10 Perioden ein.
I. Periode circa 360─1150 n. Chr.
Überblick und Charakter der Periode.
Vor 360 unserer christlichen Zeitrechnung findet der Forscher nur
Weniges: einige Runenschriften, einige Andeutungen, die Tacitus in
der Germania giebt. Das älteste bekannte deutsche Wort andbahts
Beamter (andbahti, Ambet, Amt) war lange vor Chr. in Rom bekannt.
Bis zu Karl dem Großen ist wenig Litterarisches erhalten. Von da ab
(vielleicht richtiger von Ludwig dem Frommen an) ist Geistliches vorherrschend.
Jnhalt der 1. Periode.
Ältestes schriftliches Denkmal: Bibelübersetzung des Ulfilas
(Vulfilas == Wölfchen) um 360. Der gothische Bischof ergänzt das vorhandene
Runenalphabet aus dem Griechischen von 16 auf 26 Zeichen. Codex
argenteus. Probe: Atta unsar thu in himinam veihnai namo thein.
(Vater unser &c.) Zweifelsohne waren einst auch gothische Lieder vorhanden.
Aus dem 5., 6. und 7. Jahrhundert besitzen wir keine Spur eines litterarischen Erzeugnisses.
Die nächsten litterarischen Denkmäler sind erst aus dem 8. Jahrhundert.
1. Ein Bruchstück des Hildebrantliedes. (hilde == Kampf. Allitterierend.
Jnhalt: Hildebrant, Waffenmeister Dietrichs von Bern, kehrt aus dem
Hunnenlande zurück, muß mit seinem Sohne Hadubrant [Haderbrand], der ihn
nicht kennt, kämpfen. Erkennungsscene.)
2. Bëowulf. (Ein König besteht wunderbare Kämpfe mit den Seeungeheuern
Grendel, dessen Mutter und einem Drachen. Lückenhaft. Sprache ags.)
Hierher gehörig, wenn auch erst im 10. Jahrhundert aufgezeichnet, sind:
3. Die Merseburger Zaubersprüche. (Eiris sâzun idisi etc.)
4. Das Walthari-Lied. (Lateinische Nachbildung eines angelsächsischen
Gedichts. Bruchstück. Altepischer, an den Bëowulf anklingender Ton. Es ermöglicht
─ nach V. Scheffel, der 1876 eine Übersetzung des Gedichts in
Nibelungenversen erscheinen ließ ─ eine Vorstellung, in welcher Art und Gestalt
lange vor der lateinischen Nachbildung ein deutsches Stabreimlied von Walther
und Hiltgunde bekannt gewesen sein mag.)
Geistliche Poesie:
5. Das Wessobrunner Gebet. (Um 900. Es war vielleicht der Anfang
einer poetischen Bearbeitung einer biblischen Geschichte. Allitterierend.
Jnhalt: Gottes Gnade gegen die Gläubigen. „Gott gieb Glauben und guten
Willen und Kraft &c., Teufeln zu widerstehen und arg zu vertreiben und deinen
Willen zu wirken“ u. s. w.)
6. Der Hêliand (== Heiland; eine altsächsische Evangelienharmonie, die
Messiade des IX. Jahrhunderts. Allitteration).
7. Muspilli (ags: mud-spelli == Weltbrand, Feuer des jüngsten
Tages; stammt aus der Zeit Ludwigs des Deutschen und schildert das Ende
der Welt; steht ─ nach Vilmar ─ an Erhabenheit der Schilderung nur der
H. Schrift nach).
8. Otfrieds Evangelienharmonie: Krist (liber evangeliorum
Evangelienbuch; Ludwig dem Deutschen vom Benedictiner Otfried in Weißenburg
868 gewidmet. Es ist das erste metrische und gereimte Gedicht. Strophe
4zeilig. Reimpaare. Verwerfung der alten Allitteration. Unvolksmäßig, unpoetisch).
9. Das Ludwigs-Lied. (Auf den Sieg des Westfranken-Königs
Ludwig III. über die Normannen bei Saucourt 881 gedichtet. Zu den geistlichen
Gesängen insofern zu rechnen, als Ludwig dem Dichter als Gottesstreiter
erscheint.)
II. Periode 1150─1300.
Überblick und Charakter der Periode.
Sie ist die erste goldene Periode und bietet Volkstümliches und
Ritterliches; nämlich Nationalepos und Minnesang. Durch die Kreuzzüge
wurde der geistige Horizont der Denkfähigen erweitert. Das [44]
Deutschland der großen Hohenstaufen (1138─1254) erstarkte immer
mehr, und die deutsche Litteratur, die aus den Händen der Geistlichen
in die des Volks überging, nahm raschen Aufschwung. Die Reihe der
Sagen vereinigte sich zum Heldengedichte. Sodann entfaltete sich die
Lyrik zur Blüte. Alle Schriftwerke entstanden in schwäbischer oder mittelhochdeutscher
Sprache. (Die Baukunst erreichte ihren Höhepunkt.
Malerei wurde in Malerschulen gepflegt.) An die lyrische Poesie reihte
sich die didaktische in ihren Anfängen.
Jnhalt der 2. Periode.
A. Epische Poesie.
a. Volksepos. 1. Das Nationalepos Nibelungenlied. (Es zerfällt
in 2 Teile: I. Siegfrieds Tod, II. Der Nibelungen Not oder Kriemhildens
Rache. Jnhalt: I. Siegfried wirbt um Gunthers Schwester Kriemhild. Gunther
sagt unter der Bedingung zu, daß Siegfried die Brunhild [Walküre] auf Jsenstein
[Jsland] ihm erkämpfe. Dies geschieht mit Hilfe der Tarnkappe. Siegfried
begeht die Thorheit, ihr in einem zweiten Kampfe Gürtel und Ring zu
nehmen und dieselben der Kriemhild zu schenken. Diese rühmt sich bei einem
Streit mit Brunhild dieser Geschenke, worauf Siegfried von dem seiner Herrin
getreuen Hagen meuchlerisch ermordet wird. II. Kriemhild vermählt sich mit
dem Hunnenkönig Etzel, ladet die Burgunder zu Besuch ein und nimmt
fürchterliche Rache. ─ Die Nibelungenklage schildert Etzels, Dietrichs und
Hildebrands Schmerz, die den Kampf gegen die Burgunden überlebten.)
2. Gudrun. (Zweites großes Volksepos aus dem 13. Jahrhundert.
Jnhalt: Hagen, von einem Greif geraubt, tötet diesen, heiratet die ebenfalls
geraubt gewesene Hilde. Beider Tochter, die junge Hilde, wird durch König
Hetels Helden entführt. Der Letzteren Tochter ist nun Gudrun, welche vom
Normannen Hartmut geraubt wird. Von dessen Mutter wird die spröde Gudrun
sehr schlecht behandelt, weil sie verschmäht, Hartmuts Weib zu werden. Da
erscheint Gudruns Geliebter und befreit kämpfend Gudrun.)
Kleinere Volksepen aus dem Sagenkreis der Völkerwanderung
sind:
3. Der große Rosengarten. (Jnhalt: Dietrichs Kampf um den
von 12 burgundischen Helden, darunter Gunther, Volker und Siegfried, verteidigten
Rosengarten Kriemhildens. Verwüstung durch den Riesen Jlsan. Die
Berner, darunter Dietrich, siegen. Kriemhild giebt allen Siegern einen Rosenkranz
und einen Kuß.)
4. Ortnit. (Eroberung einer heidnischen Prinzessin mit Hilfe des Zwerges
Alberich; später wird der Held von einem Drachen verschlungen.)
5. Hugdietrich. (Er gewinnt durch List die schöne Hildburg; sein Sohn
heißt Wolfdietrich.)
6. Wolfdietrich. (Kämpfe gegen seine drei Brüder, gegen einen Drachen,
Befreiung seiner Kriegsleute.)
7. König Rother. (Jnhalt: Seine Brautwerber am Hofe in Konstantinopel
werden gefangen genommen. Er löst sie und entführt die Geliebte.
Ein Spielmann bringt sie zurück nach Konstantinopel. Abenteuer bis zur
Wiedererlangung.)
8. Rabenschlacht. (Jnhalt: Dietrichs Kampf vor Ravenna, wo Etzels
Söhne fallen).
9. Biterolf und Dietleib. (Jnhalt: Biterolf geht ins Hunnenland
und dient unerkannt Etzel, bis er von den Polen gefangen wird. Er wird
befreit. Dietleib, der Sohn, sucht seinen Vater. Erst sind sich beide
feindlich. Erkennung. Sie erhalten von Etzel das Steierland (Steiermark).
NB. Die unter 5─8 erwähnten Erzählungen sind im Nibelungenvers
geschrieben.
b. Romantisches Epos (Kunstepos).
α. Sagenkreis Karls des Großen.
1. Das Rolandslied vom Pfaffen Konrad. (Jnhalt: Karls Zug nach
Spanien gegen die Araber. Ganelon, der sich dem Tode geweiht glaubt, verrät
das Frankenheer. Scheinbar unterwerfen sich die Araber. Der heimkehrende Karl
läßt den Roland zurück, der nun im Thale Ronceval überfallen wird. Neuer
Kampf Karls. Bestrafung Ganelons.)
2. Malagis. (Wie dieser das Roß Bayart aus der Hölle holt.)
3. Wilhelm von Oranse von Wolfram von Eschenbach. (Kämpfe
gegen die Heiden. Wilhelm kommt der Gattin in Oranse zu Hilfe, nimmt
Rennewart in seinen Dienst, der als Bruder der Gattin erkannt wird und
später fällt.)
4. Reinalt oder die Haimonskinder. (Karls Kampf mit Haimons
vier Söhnen, unter denen Reinalt mit dem Rosse Bayart, das später als Preis
dem Karl überlassen wird, der bedeutendste.)
5. Flos und Blankflos von Konrad Flecke. (== Rose und Lilie. Jnhalt:
Der König Feinir bemerkt, daß sein Sohn Flos die gefangene Blankflos liebt.
Flos muß hierauf nach Mantua, Blankflos wird verkauft. Flos sucht sie und
läßt sich in einem Blumenkorb zu ihr tragen. Gerettet wird sie sein Weib;
die Tochter des Paares ist Karls des Großen Mutter Bertha.)
β. Sagenkreis von König Artus und vom heiligen Gral.
König Artus sammelte auserlesene Ritter ─ die sog. Tafelrunde ─ um
sich, nicht über 50. Der h. Gral war die Abendmahlsschüssel, aus welcher
Christus das Osterlamm aß und mit der Josef von Arimathia das Blut Christi
auffing. Jm Tempel Montsalwatsch leuchtete sie wunderbar und gab göttliche
Befehle kund. Die edelsten Ritter ─ die sog. Templeisen ─ hüteten sie.
Viele Gedichte stehen mit dieser Sage in Beziehung:
1. Tristan und Jsolde. (Von Gottfried von Straßburg.)
2. Jwein, der Ritter mit dem Löwen. (Hartmann von Aue.)
3. Wigalois, der Ritter mit dem Rade. (Wirnt von Grafenberg.)
4. Wigamur, der Ritter mit dem Adler. (Dichter unbekannt.)
5. Lanzelot vom See. (Ulrich von Zatzikhoven.)
6. Titurel. (Wolfram von Eschenbach) und
7. Parzival. (Von demselben. Sein Meisterwerk. Der Grundgedanke
ist: Parzival, des abenteuerlichen Herumtreibens überdrüssig, zieht sich von
der Welt zurück, läutert sein Jnneres, gewinnt Gottvertrauen und erlangt das
Königtum im Gral.)
8. Lohengrin (der Sohn Parzivals). Dichter unbekannt. NB. Richard
Wagner hat diesem Sagenkreis die Stoffe zu seinen Musikdramen entlehnt.
γ. Vereinzelte Sagen und poetische Erzählungen.
a. Umarbeitungen griechischer Sagen: 1. Alexanderlied (vom
Pfaffen Lamprecht um 1170). 2. Eneit (Äneide von Heinrich von Veldeke,
Vater des Minnesangs. Er wendet zum erstenmal kurze Reimpaare
an). 3. Lied von Troja (von Herbort von Fritzlar um 1200). 4. Der
trojanische Krieg (von Konrad von Würzburg um 1250).
b. Sagen und Erzählungen: 1. Die Sage vom Herzog Ernst.
(Ernst, Stiefsohn Kaiser Konrads II., tötet den verleumderischen Pfalzgrafen
Heinrich. Verbannt nimmt er das Kreuz. Abenteuer im Lebermeer, beim
Magnetstein u. s. w. Rückkehr. Versöhnung.) 2. Die Sage vom Tannhäuser.
3. Der arme Heinrich. (Aussätziger Ritter, den nur das Herzblut
einer Jungfrau retten kann. Eine solche will sich opfern. Heinrich rettet
sie vom Messer des Arztes. Als ihn Gott dann gesunden ließ, heiratet er sie.)
4. Der gute Gerhard. 5. Der Pfaffe Amîs (vom Stricker; ist eine
Sammlung von lustigen Schwänken).
δ. Legenden.
1. Das Annolied (um 1180, geht vom ersten Menschen Adam aus,
um endlich den heiligen Erzbischof Anno von Köln zu feiern). 2. Marienleben
(vom Mönch Wernher von Tegernsee 1173). 3. Barlaam und
Josaphat von Rudolf von Hohen-Ems um 1220. (Die alte, erst in der
Neuzeit wieder aufgefundene Quelle: das sanskr. Lalita-Vistara.) 4. Gregorius
auf dem Steine. 5. Der heilige Alexius und der Sylvester
(von Konrad von Würzburg).
ε. Das Tierepos.
Die schon aus frühester Zeit stammende Sage von Reinhart dem Fuchs
ist später mehrmals bearbeitet worden, zuerst von Heinrich dem Glichesäre um
1150.
B. Lyrische Poesie (Minnesang und Minnelied).
a. Beginn und Entwickelung der höfischen Lyrik durch Dichter
der Kunstepik, z. B. Dietmar von Aist, Heinrich von Veldeke u. A. Wir
haben Lieder von Kaisern, Fürsten, Rittern, z. B. von Barbarossas Sohn
Heinrich VI., von Konrad dem Jungen (Konradin, in Neapel hingerichtet), von
König Wenzel, Otto von Brandenburg, besonders von den unsterblichen Dichtern
Hartmann von der Aue, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide,
Ulrich von Liechtenstein, deren Zuhörer Ritter, edle Frauen und Fräulein
waren, und die den Minnesang zur Blüte brachten. Außerdem sind zu nennen:
Gottfried von Straßburg; Reinmar von Zweter; Nithart aus Bayern (begründet
die höfische Dorfpoesie, welche besonders Hadlaub aus Zürich vervollkommnete).
b. Ausklingen höfischer Lyrik. Ulrich von Liechtenstein („Frauendienst“,
1255 gedichtet), Heinrich von Meißen (genannt Frauenlob, † 1318 zu Mainz),
Barthel Regenbogen (Schmied, führt das bürgerliche Element in die Lyrik ein)
u. s. w. (Man vergl. das umfassende 4bändige Werk: Minnesinger von
F. von der Hagen, Leipzig 1838.)
C. Didaktische Poesie (Lehrgedicht, Sprüche, Fabeln und sog. Büchlein).
1. König Tyrols von Schotten Lehren an seinen Sohn Friedebrant.
2. Der Winsbeke und die Winsbekin, Lehren an Sohn und
Tochter (um 1250).
3. Freidanks Bescheidenheit, die weltliche Bibel genannt. (Eine
hatzgrube von Volksweisheit.)
4. Hugo von Trimbergs Renner (der Verfasser aus dem Dorf
Trimberg bei Würzburg stammend, stellte 1309 unter der Allegorie eines
Birnbaumes, dessen Früchte auf verschiedene Weise zu Grunde gehen, das Leben
und den Fall der Menschen dar).
5. Der wälsche Gast von Thomasin von Zirklaere (weist den
Bestand und Unbestand aller Tugenden und Laster nach).
6. Strickers Welt (eine Sammlung moralischer Erzählungen).
7. Bonerius' Edelstein (Sammlung von 99 Fabeln).
8. Jtwitz oder der Frauen Buch von Ulrich von Liechtenstein klagt
über Verfall des ritterlichen Frauendienstes.
9. Schachzabelbuch von Konrad von Ammenhausen reiht an Gang
und Bedeutung der Schachbrett-Figuren moralische Lehren.
D. Dramatische Poesie.
Nachdem die Nonne Roswithe zu Gandersheim in lateinischer Sprache
dem Terenz nachgebildete Schauspiele über biblische Gegenstände, Legenden &c.
geschrieben hatte, entstand um 1300 der Sängerkrieg auf der Wartburg
als erster Versuch eines deutschnationalen Dramas.
Es findet sich am Anfang des II. Bandes der Minnesinger, herausgegeben
von F. v. d. Hagen.
III. Periode 1300─1517.
Überblick und Charakter der Periode.
Schwinden des Poetischen. Überhandnahme des Prosaischen. Absterben
der ersten Blüte deutscher Litteratur. Meistersänger. Formbestrebung.
Didaktische Poesie. Universitäten.
Jnhalt der 3. Periode.
A. Epische Poesie.
a. Bearbeitung älterer Epen.
1. Kaspar von der Rön bearbeitete im Heldenbuch mehrere kleinere Volksepen
(1473). Dieses Volksbuch ist 1867 von Ad. v. Keller neu herausgegeben
worden. ─ 2. Ulrich Furterer erzählt im Buch der Abenteuer
die Sagen von Artus und vom heiligen Gral (1478).
b. Erzählungen: 1. Das Buch von den sieben weisen Meistern.
Erzählt von Hans dem Büheler. Stoff aus dem Jndischen. Jnhalt: Der
unschuldig verklagte Diokletian wird durch Erzählungen seiner Lehrer siebenmal
gerettet. ─ 2. Peter von Staufenberg und die Meerfey um 1450
(Vorbild zu Fouqué's Undine).
c. Allegorische Erzählungen: 1. Die Mörin von Hermann von
Sachsenhausen († 1458. Jnhalt: Reise in den Venusberg, Treue des „treuen
Eckart“). ─ 2. Der Teuerdank. (So genannt, weil der Held an Abenteuer
denkt. Jnhalt: Geschichte seiner Jugend unter dem allegorischen Bilde
einer Brautfahrt des Teuerdank zur Ehrenreich, des Königs Ruhmreich Tochter,
oder besser: Werbung um Ehrenreich, die schöne Tochter Ruhmreichs, d. i. Karls
des Kühnen von Burgund, Abenteuer &c. Verfasser ist des Kaisers Maximilian I.
Kanzler Melchior von Pfinzing aus Nürnberg. Jn dieser Stadt steht noch gegenüber
der Sebalduskirche der reichverzierte Erker, in welchem der Teuerdank geschrieben
wurde.)
B. Lyrische Poesie.
a. Letzte Minnesinger: Hugo von Montfort († 1423) und Oswald
von Wolkenstein († 1445).
b. Meistersänger: Michael Beheim († 1469); Heinrich von Mügeln
(um 1400) und Andere, welche unter didaktischer Poesie &c. zu nennen sind.
c. Volksliedersammlung der Klara Hätzlerin aus Augsburg (1471).
d. Geistliche Lieder: Heinrich von Lauffenberg († 1458).
C. Didaktische Poesie.
a. Spruchdichtungen und Priameln. Peter Suchenwirt (um 1377).
Heinrich der Teichner von Wien (um 1377.) Rosenblüt (um 1450.) Hans
Folz (um 1450.)
b. Satiren. Seb. Brant (Narrenschiff). Thomas Murner (um 1500;
Narrenbeschwörung und die Schelmenzunft. Gedruckt 1512. Murner ist Gegner
Luthers und gehört auch der folgenden Periode an).
c. Fabeln und Lehrgedichte. Gerhard von Minden (niederd. um 1370.)
D. Dramatische Poesie.
Religiöse Texte. Aufführungen derselben im Freien. Vermischung des
Ernsten mit dem Komischen. Mysterien aus der Heiligengeschichte. Erhalten
sind uns:
1. Drei Schauspiele (1. Mariä Himmelfahrt; 2. Christi Auferstehung
und Fronleichnam; 3. Alsfelder Passionsspiel. Verfasser unbekannt).
2. Fastnachtsspiele von Hans Rosenblüt und Hans Folz.
3. Das Spiel von Frau Jutten (Päpstin Johanna) vom Geistlichen
Theod. Schernbergk.
IV. Periode 1517─1624 (Luther bis Opitz).
Überblick und Charakter der Periode.
Eindringen fremdländischer Kultur, Studium des klassischen Altertums
(Melanchthon, Erasmus). Erste Zeichen einer neuen Entwicklungsweise
der deutschen Litteratur. Absterben der epischen Poesie. War
es bisher der nationale litterarische Stoff, um den sich die Schriftsteller
gruppierten, so treten nunmehr litterarische Persönlichkeiten in den
Vordergrund, an welche die mancherlei schriftstellerischen Leistungen sich
anlehnen. Erwachende Malerkunst &c.
Jnhalt der 4. Periode.
A. Epische Poesie.
a. Volksbücher im Prosagewande. 1. Till Eulenspiegel (1538).
2. Die Sage vom ewigen Juden. 3. Faust. 4. Lalenbuch (Schildbürger).
b. Erzählungen und Schwänke. Hans Sachs († 1576). Joh.
Fischart († 1590; das glückhaft Schiff). Joh. Pauli (Schimpf und Ernst, 700 Erzählungen,
1522).
c. Tierepos. Fischart (Floh-Hatz). Rollenhagen († 1609. Sein
„Froschmäuseler“ bespricht der Frösche und Mäuse wunderbare Hofhaltung;
satirisch=allegorisch). Spangenberg (der Ganskönig, 1607).
B. Lyrische Poesie.
a. Das Kirchenlied. Dr. M. Luther. Paul Speratus († 1554). Justus
Jonas († 1555). Ph. Nicolai († 1608). B. Ringwaldt († 1598) u. A.
b. Weltliches Lied. Geistlos von den Meistersängern weiter gepflegt
(viele Beispiele abgedruckt in Hoffmann von Fallersleben Gesellschaftsliedern des
16. Jahrhunderts).
c. Freie Bearbeitung der Psalmen im Geiste der Minnesinger.
Burkart Waldis (der Psalter). Paul Melissus (Umdichtung von 50 Psalmen.
Dichtete die ersten deutschen Sonette und Terzinen).
C. Didaktische Poesie.
a. Fabeln. Burkart Waldis († 1556). Erasmus Alberus aus Hessen
(† 1553).
b. Satiren. Ulrich von Hutten († 1523. Satiren gegen den Papst und
Gesprächsbüchlein). Joh. Fischart. (Der Bienenkorb; Jesuitenhütlein). Kaspar
Scheidt (des Vorigen Lehrer † 1565. Der Grobianus).
c. Lehrgedichte. Hans Sachs (Landsknechtsspiegel). Joh. Fischart
(Ehezuchtsbüchlein). Ringwaldt (Lautere Wahrheit; Warnung des treuen Eckart).
D. Dramatische Poesie. (Erstes stehendes Hoftheater.)
Paul Rebhun (die gottesfürchtige und keusche Frau Susanna, ein geistliches
Spiel). Hans Sachs (Fastnachtsspiele). Jakob Ayrer († 1605), kais. Notar zu
Nürnberg, schrieb Schauspiele, Fastnachtsspiele, Singspiele. Niclas Manuel
von Bern († 1530. Fastnachtsspiele). Nicod. Frischlin von Tübingen († 1590.
Tragödien und Komödien). Herzog Heinrich Julius von Braunschweig († 1613)
schrieb: Komödie vom Vinc. Ladislaus, Satrap von Mantua. Er errichtete
das erste stehende Hoftheater. ─ Übersetzungen aus dem Griechischen und
Lateinischen; die ersten aus dem Englischen. ─ Auf protest. Schulen und
kathol. Jesuitenschulen bildete sich die Schulkomödie aus, deren Gegenstände
der Bibel, der Geschichte und der Legende entstammten.
V. Periode 1624─1756.
Überblick und Charakter der Periode.
Von Opitz bis Klopstock (30jähriger Krieg bis 7jähriger Krieg).
Überhandnahme des Fremdländischen infolge Verwilderung durch den
30jähr. Krieg; Verschmelzung desselben mit dem Deutschen. Sprachgesellschaften,
sowie erste und zweite schlesische Dichterschule suchen zum
Nationalen zurückzuführen. Kirchenlied bleibt national. Die didaktische
Poesie gedeiht. Die epische verstummt. Jm Drama Schäferspiel,
welches den Übergang von dem sinnlich rohen Fastnachtsspiele zum edleren
Drama bildet (Gryphius). Zuletzt Verdrängung des französischen
durchs englische und durch die Alten. Für die Periode ist bezeichnend
die Bildung von Sprachgesellschaften. ─ a. Die fruchtbringende Gesellschaft
oder der Palmenorden, gestiftet 1617 durch Kaspar von Teutleben
zu Weimar. ─ b. Die deutschgesinnte Genossenschaft (Rosen= [51]
gesellschaft) von Philipp von Zesen aus Anhalt 1643 gegründet. ─
c. Der Elbschwanenorden von Johann Rist aus Holstein 1667. ─
d. Der gekrönte Blumenorden, oder Gesellschaft der Hirten an der
Pegnitz (Pegnitzschäfer), 1644 zu Nürnberg von Klai (Pfarrer in
Kitzingen) und Harsdörffer gegründet. (Letzterer schrieb: Der poetische
Trichter &c.) ─ e. Die poetische Gesellschaft in Leipzig, 1722
von Menke gestiftet.
Jnhalt der 5. Periode.
Vorläufer der 1. schlesischen Schule: 1. Georg Rud. Weckherlin
(Sprache und Stil gewählt; er führt das Sonett ein). 2. Friedr. Spee von
Lengenfeld (Streben, der Poesie eine Metrik zu schaffen).
Erste schlesische Schule. (Verständigkeit, Nüchternheit, Vorliebe für
den Alexandriner.) Martin Opitz († 1639 an der Pest. Führt 1624 statt
Silbenzählung die Silbenmessung ein. Vater der deutschen Poesie. Führer
der Schule). Paul Flemming († 1640, bester Lyriker der 1. schlesischen
Schule). Andr. Gryphius († 1664; ihr bester Dramatiker). Fr. v. Logau
(† 1655, Hauptsinndichter des Jahrhunderts, gegen 3000 Sinngedichte).
Andr. Tscherning († 1659 als Professor in Rostock).
Vorläufer der 2. schlesischen Schule. Dietrich von dem Werder
(† 1657. Pflegt die epische Poesie. Zeit-Roman Diana. Dichtet Sonette).
Simon Dach (Dichter des „Ännchen von Tharau“ &c., † 1659). Johann
Rist († 1667). Geistliche Lieder dichteten: Paul Gerhardt. Georg Neumark.
Joh. Heermann. Joh. Scheffler (Angelus Silesius). Sigm. von Birken.
Joachim Neander. Chr. Knorr. Kaspar Schade († 1698). Martin Rinckart
aus Eilenburg. Sam. Rodigast u. A.
Joachim Rachel war der Schöpfer der poetischen Satire in Deutschland.
Zweite schlesische Schule. Sie verabscheut das Verständige, erstrebt
vielmehr das Gefühlvolle und verschmäht selbst das Schlüpfrige nicht. Jhr
Kriterium ist weniger Reinheit der Form, als schwülstige oder gesuchte Wortmalerei.
Vertreter: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau († 1679.
Er fand leicht Beifall, da durch den 30jährigen Krieg gänzliche Geisteserschlaffung
eingetreten war). Daniel Kaspar von Lohenstein († 1683. „Lohensteinscher
Schwulst“ war sprichwörtlich. Er schrieb den besten Roman seiner Zeit:
„Hermann und Thusnelda“).
Reaction gegen diese Schule und Dichter des Übergangs.
Christian Wernicke (bekämpft die 2. schlesische Schule. Die Komödie
Hunolds „der schwärmende Poet“ beantwortet er mit dem satirischen Heldengedicht
„Hans Sachs“). Fr. Rud. Ludw. von Canitz. Heinrich Brockes (bilderreicher
Naturdichter). J. Christ. Günther († 1723; Goethe nennt ihn einen Dichter
im vollsten Sinne des Wortes). Joh. von Besser († 1729. Hofpoet in Berlin,
französ. Geschmack).
A. Epische Poesie.
a. Roman. Phil. von Zesen. Andr. Heinrich Bucholtz (Wundergeschichten).
v. Lohenstein (Hermann und Thusnelda). Heinr. Anselm von Ziegler (Die Asiatische
Banise oder blutiges, doch mutiges Pegu). Christoffel von Grimmelshausen
(Anfangs des 30jährigen Kriegs zu Gelnhausen geboren, schrieb den humorreichen,
bedeutenden Simplicissimus. Der Held dieses Zeitbildes ist ein wunderliches
Gemisch von tölpischer Einfalt und Eulenspiegelscher Verschmitztheit, von
Edelmuth und Gemeinheit, der am Ende seines Lebens das traurige Geständnis
ablegt, sein Leib sei müde, sein Verstand verwirrt, seine Unschuld dahin
und die Zeit verloren. Der Roman schildert naturwahr die Zeit des 30jährigen
Kriegs. ─ 1862 durch Adalbert von Keller neu herausgegeben).
b. Die Schäfereien oder Schäferromane. Durch Opitz' „Schäferei
von der Nymphe Hercynia“ hervorgerufen und von den Pegnitzschäfern gepflegt.
B. Lyrische Poesie.
Hauptsächlich von Dichtern geistlicher Lieder im Kirchenlied gepflegt. (Vgl.
S. 51 d. B., sowie Bd. II. § 70.)
C. Didaktische Poesie.
Sie gedieh in dieser Periode am meisten.
a. Satire. Hans Wilmsen Laurenberg (plattdeutsch). Hans Mich.
Moscherosch († 1669, aus dem Elsaß, schrieb: Gesichte Philanders von Sittewald.
Er nahm alle Stände zur Zielscheibe). Abraham a Santa Clara
(Judas der Erzschelm in 4 Bänden).
b. Spruchdichtung und Epigramm. Fr. von Logau. Chr. Wernicke.
Joh. Grob. Joh. Scheffler (Cherubinischer Wandersmann). Zincgref († 1635.
Scharfsinnige Sprüche der Deutschen).
c. Lehrgedicht. Opitz (Zlatna, von der Ruhe des Gemüts. Der Vesuvius).
D. Dramatische Poesie.
a. Schäferspiele. Sie wurden durch Opitz' Daphne eingeführt. J. von
Besser. Jak. Schwieger.
b. Drama. Übersetzungen englischer Dramen (Durch Dan. Schwenter,
Professor zu Altdorf, † 1636). Übersetzung des Seneka (durch Opitz). Erfreuliches
leistete Gryphius, der aus den gewöhnlichen Volks- und Fastnachtsspielen
das Drama herausarbeitete. Christ. Weise (schrieb Schuldramen).
c. Singspiel, begründet durch J. G. Staden († 1636), gepflegt durch
Opitz' Übersetzungen aus dem Jtalienischen.
VI. Periode 1756─1772.
Überblick und Charakter der Periode.
Von Klopstock bis Herder, Schiller, Goethe. Geltendmachung
des Christlichen, Nationalen und Altklassischen. Verdrängung des [53]
Französischen durch das Englische und die Alten. Entwicklung der
durch Wernicke vorbereiteten Kritik. Malerkunst, Bildhauerkunst, Musik.
Vorbereitung der zweiten Blüte deutscher Litteratur. Anerkennung des
Neuhochdeutschen.
Jnhalt der 6. Periode.
a. Streit der Leipziger und Schweizer über das Wesen eines
guten Gedichts (vgl. §. 12 d. B.).
Joh. Christoph Gottsched, Professor in Leipzig († 1766), wandelte
die poetische Gesellschaft dort in die deutsche Gesellschaft um. Er reinigte die
Sprache, verbannte den Hanswurst vom Theater und bekämpfte das Geistlose
der Oper. Seine Frau Luise († 1762) besaß mehr Geschmack als er, pflegte
das Lustspiel, schrieb z. B. die Hausfranzösin, übersetzte Pope &c.
Anhänger Gottscheds: Johann Joachim Schwabe, Christian Naumann
und Christoph Otto von Schönaich († 1805. Verfasser der Heldengedichte „Hermann“
und „Heinrich der Vogler“).
J. J. Bodmer († 1783. Munterte junge Dichter auf. Gab heraus:
Die Minnesinger, die Nibelungen). ─ Anhänger: J. J. Breitinger († 1776.
Feiner Kritiker. Siegte in Gemeinschaft mit Bodmer über Gottsched).
b. Selbständige Dichter: Friedrich von Hagedorn († 1754. Schöpfer
des heiteren, leichten Liedes). Albr. v. Haller († 1777, Mediciner, bedeutend
in der Lehrdichtung).
c. „Bremer Beiträger“. Jm Gegensatze zu Schwabes Schrift „Belustigungen
des Verstandes und Witzes“ gründeten sie ─ ihren Lehrer Gottsched
verlassend und sich an Hagedorn anlehnend ─ 1744 in Bremen die Zeitschrift:
„Neue Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes“, daher ihr Name
Bremer Beiträger ─ oder nach dem Vaterlande der besten unter ihnen
Sächsische Schule. K. Christian Gärtner († 1791, leitete die Auswahl der
Beiträge für obige Zeitschrift, in der kein persönlicher Angriff erfolgen durfte).
─ Gottlieb Wilh. Rabener († 1771; Satiren, Briefe; geißelt Landjunker, Betschwestern
&c.). Friedr. Wilh. Zachariä († 1777, komische Heldengedichte). Die
Brüder Schlegel. a. Johann Elias Schlegel († 1749, schrieb acht Trauerspiele).
b. Joh. Adolf Schlegel († 1793, schrieb Kirchenlieder). Friedr. von
Cronegk († 1758 als 27jähriger Jüngling; Preis-Trauerspiel: Codrus). J. A.
Ebert († 1795, übersetzt Youngs Nachtgedanken). Nik. Dietr. Giseke († 1765,
dichtet Liebesglück in drei Gesängen). Joh. Andr. Cramer († 1788. Wochenschrift:
Der Jüngling). Chr. Fürchtegott Gellert († 1769. Volksdichter.
Fabeln und geistliche Lieder).
d. Fabel- und Lehrdichter. M. G. Lichtwer († 1783). J. G.
Willamow († 1777). Gottlieb Konr. Pfeffel († 1809, heitere Fabeln).
Fr. von Creuz († 1770; „Die Gräber“ sind Youngs Nachtgedanken nachgebildet).
Joh. Phil. Lor. Withof († 1789). Joh. Jak. Dusch († 1787;
„Die Wissenschaften“, ein Lehrgedicht).
e. Geistliche Liederdichter. Benj. Schmolck († 1737). L. Laurentii
(† 1722). J. A. Freylinghausen († 1739). E. Neumeister († 1756; dichtete
über 700 Lieder). K. H. von Bogatzky († 1774; über 400 geistliche Lieder).
Ph. Fr. Hiller († 1769). J. J. Rambach († 1735).
f. Halberstädter Dichterkreis. Mittelpunkt desselben war J. W. L.
Gleim in Halberstadt. Weil die Mitglieder desselben fast alle in Preußen
wohnten und Friedrich den Großen feierten, nannte man sie auch Preußische
Dichter. Nach dem Vorbilde des heiteren Anakreon priesen sie Liebe, Wein,
fröhliche Lebenslust, daher ihr zweiter Name: Anakreontiker. Ludwig Gleim
(† 1803, dichtete gute Lieder und Fabeln. Nachbildung der Minnesinger und
Petrarkas. Eigentümliche kurze Lehrgedichte im roten Buche oder Halladat als
Ergebnis seines Studiums des Korans). Ewald Christ. von Kleist († 1759
an den in der Schlacht bei Kunersdorf erhaltenen Wunden). Johann Peter
Uz († 1796). K. W. Ramler († 1798, Oden und Kantaten). J. G. Jacobi
(† 1814). Joh. Nik. Götz († 1781). Joh. Benj. Michaelis († 1772. Fabeln,
z. B. Milchtopf). Klamer Schmidt († 1824). Günther von Göckingk († 1828;
Lieder zweier Liebenden). Anna Luise Karschin († 1791. Jmprovisatrice).
g. Klopstock mit den Barden und Jdyllendichtern.
Fr. Gottl. Klopstock (1724─1803) Verschmelzung des Deutschen, Christlichen
und Altklassischen. Als Lyriker bereitet er die 2. Blüteperiode unserer Litteratur
wesentlich vor. Schiller verdunkelte ihn bald und zeigte das Steife seiner
Poesie. Die Barden: K. Fr. Kretschmann († 1809). Joh. Mich. Kosm.
Denis († 1800). Karl Mastalier († 1795).
Die Jdyllendichter: Sal. Geßner († 1787). Franz Xav. Bronner
(† 1850).
h. Lessing. Gotthold Ephraim Lessing, der zweite große Geist, der die
deutsche Litteratur neu gestalten half († 1781 zu Braunschweig).
i. Satiriker: Christian Ludw. Liskow († 1760. Gegen die Vielschreiberei).
Aloys Blumauer († 1798. Travestierte Äneis). J. J. Pyra;
J. Casp. Rost; S. Gotth. Lange (richteten Satiren gegen Gottsched).
k. Dramatiker: J. J. Engel († 1802). A. Wilh. Jffland. Aug.
v. Kotzebue. Chr. Felix Weiße. Brüder Schlegel und J. Fr. v. Cronegk.
W. von Brawe. Wilh. Gotter. Wilh. v. Gerstenberg († 1823. Ugolino
ist die von Dante erzählte Hungertodsgeschichte in dramatisierter Form). Cornel.
Herm. von Ayrenhoff. J. Fr. Bretzner (Lustspiele). Fr. Ludwig Schröder.
l. Wieland und die Ritterdichter.
Christoph Martin Wieland († 1813. War dem französischen Geiste zugethan,
phantasiereich. Jn Prosa wie in Poesie gleich fruchtbar. Schrieb
meist für die feine gebildete Welt. Glättete unsere Sprache. Gab durch
Übersetzen Einblick in fremde Litteraturen. Schuf den philosophischen Roman
(Agathon). Wurde Vorbild der Ritterdichter und Romanschreiber. Ritterdichter:
von Nicolay, von Alxinger (Doolin von Mainz), Fr. Aug. Müller
(Richard Löwenherz).
m. Musäus und Hermes. (Schufen den empfindsamen Roman, wie Wieland
den philosophischen. Sie haben mit Wieland überhaupt die ersten vollkommenen
deutschen Romane geschrieben. Gellerts „Schwedische Gräfin“ ist nur Versuch.)
Musäus († 1787. Physiognomische Reisen, Grandison der Zweite, Volksmärchen).
Hermes († 1821. Seine Romane sind Spiegel für die Frauen).
n. Göttinger Dichterbund (Hainbund). Jn einem Hain bei Göttingen
am 12. September 1772 bei Vollmond gestiftet. Verehrung Klopstocks
und des Vaterländischen, Bekämpfung des Französischen &c.
Boie († 1806, Haupt des Vereins, Musenalmanach und deutsches Museum).
Gottfr. Aug. Bürger († 1794. Bedeutender Volksdichter). Ludw.
Heinr. Cph. Hölty († 1776. Elegiker). Joh. Heinr. Voß († 1826. Dichter
und Übersetzer. Jdyllen z. B. Luise und Der 70. Geburtstag). Die Brüder
Stolberg. a. Christian († 1821); b. Friedr. Leopold († 1819); dichtete „Sohn,
da hast du meinen Speer“. Joh. Ant. Leisewitz († 1806). Mathias Claudius
(† 1815, Volksdichter. „Wandsbecker Bote“, ein Volksblatt). Chr. Adolf Overbeck
(† 1821, zarte Lyriken). Joh. Martin Miller († 1814, sentimentale Romane,
wozu Goethes „Werthers Leiden“ das Muster war) und der Pfälzer J. Ph. Hahn.
o. Nachfolger des Hainbunds. (Sie folgten der lyrischen Richtung desselben.)
Joh. Gaudenz von Salis-Seewis († 1834). Friedr. v. Matthisson
(† 1831, seine Poesie hat zu viel Mosaik == Schmuck). Joh. Gottfr. Seume
(† 1810). Cph. Aug. Tiedge († 1840. Hauptwerk: das Lehrgedicht „Urania“).
Ludw. Theobul Kosegarten († 1818, idyllische Epen). Jens Baggesen († 1826,
das idyll. Epos: Parthenais). K. Philipp Conz († 1827, Lyriker und Übersetzer
des Seneka, des Tyrtäus, des Äschylus und des Aristophanes &c.). Chr.
Ludwig Neuffer († 1839 in Ulm. Jdyllen). Siegfr. Aug. Mahlmann († 1826.
Das schöne Vaterunser „Du hast deine Säulen“; 2 Bände Lyriken). Luise
Brachmann († 1822 in der Saale). Jos. Cph. Friedrich Haug († 1829, Epigrammatiker).
Fr. Christoph Weißer († 1836 in Stuttgart).
p. Dialektdichter dieser und der späteren Perioden. Bahnbrecher
war J. H. Voß durch seine niedersächsischen Jdyllen de Winterawend und de
Geldhapers Nr. 5 und Nr. 7 der Jdyllen. J. Peter Hebel († 1826. Gedichte
in schwäbischer Mundart, von ihm „allemannische Gedichte“ genannt). Außer
ihm in schwäbischer Mundart: Sailer und Weitzmann. Jn mittelschwäbischer
Mundart: Adolf Grimminger. Jn Frankfurter Mundart: Fr. Stoltze. Jn
plattdeutscher Mundart: Wilhelm Bornemann, Klaus Groth und Fr. Reuter.
Jn schlesischer Mundart: Karl Eduard von Holtei. Jn Nürnberger Mundart:
Konrad Grübel (1730─1809). Jn schweizerischer Mundart: Martin Usteri
(† 1827), Stutz und Hittnau. Jn bayrischer und pfälzischer Mundart: von
Kobell (1803 in München geboren). K. Ch. G. Nadler († 1849). Jn österr.
Mundart: Castelli, Seidl, Joh. Nep. Vogl, von Klesheim, Stelzhammer und Rosegger.
Jn Wupperthaler Mundart: Fr. Storck.
q. Epische Dichter, welche sich ebenso an Voß anreihen, wie die oben
genannten Dialektdichter.
A. Gottlob Eberhard († 1845. Hannchen und die Küchlein, idyll. Epos).
Franz Anton von Sonnenberg († 1805 durch Selbstmord, Donatoa). Karl Andr.
v. Bogulawsky († 1817. Xanthippus). Ladislaus Pyrker († 1847. Tunisias).
Valer. Wilh. Neubeck († 1850, Gesundbrunnen). Konrad Arnold Kortum
(† 1824. Jobsiade). Karl Gottlieb Prätzel (Feldherrnränke, ein Epos).
Adolf Friedrich Furchau (Arkona). Krug von Nidda (Skanderbeg).
r. Die Stürmer und Dränger. Als nach Klopstocks Leistungen (in
Ode und Messias) der Hainbund in jugendlicher Begeisterung geschwärmt, traten
noch eine Reihe „Kraftgenies“ auf, die den Dichterparnaß gleichsam erstürmen
wollten. Nach Klingers Schauspiel „Sturm und Drang“ erhielten sie ihren
Namen. Es sind: J. G. Hamann, Reinhold Lenz, Reinhold Forster und
J. G. Forster, Heinr. Jacobi, Wilh. Heinse († 1803 in Aschaffenburg; berühmt
ist sein Roman „Ardinghello“, der die Malerei und Bildhauerkunst behandelt),
Jung-Stilling († 1817), Maler Müller († 1825, Dramen: Niobe, Genovefa),
Max. von Klinger († 1831; die falschen Spieler, Vorbild zu Schillers Räubern
&c.), J. Kasp. Lavater († 1801, berühmt durch seine physiognomischen
Fragmente), Christ. Fr. Dan. Schubart († 1791), Basedow, Campe, Salzmann,
Pestalozzi (letztere vier Philanthropen, Reformatoren auf erziehlichen Gebieten).
Selbst Herder, Goethe, Schiller gehören in ihren Jugendperioden zu den Stürmern
und Drängern, wie ja fast die sämmtlichen Dichter dieser kurzen Periode auch
der folgenden 7. Periode angehören. Teilweise wurden sie in der 6. Periode
wegen ihrer inneren Verwandtschaft zur betreffenden Schule vorneweg aufgezählt.
VII. Periode 1772─1813.
Überblick und Charakter der Periode.
Von Herder, Schiller, Goethe bis Fr. Rückert nebst den Dichtern
der Befreiungskriege. Harmonie des Deutsch-Christlichen und Altklassischen,
Vollendung der zweiten Blüte der deutschen Litteratur.
Allseitigkeit und Selbständigkeit.
Jnhalt der 7. Periode.
Weimars Musenhof. Nach Rücktritt seiner Mutter Anna Amalia
übernahm in Weimar Karl August die Regierung und berief die berühmtesten
litterarischen Persönlichkeiten an seinen Hof, wo er ihnen persönliche Freundschaft
bewies und Weimar zum Sammelplatz der größten Geister der Zeit erhob. ─
Wieland (1733─1813) war schon durch Anna Amalie gerufen und ist
somit der Älteste des Musenhofes. Jhm folgte:
Joh. Gottfried von Herder (1744─1803). Er öffnete die Schätze
des Auslandes und regte die Weltlitteratur an; sein Vorzüglichstes ist: Stimmen
der Völker in Liedern; Cid; Parabeln und Paramythien.
Friedr. v. Schiller (1759─1805. Liebling der Nation. Erster Dramatiker.
Entwickelung: a. Zeit der jugendlichen Naturpoesie bis 1787, Räuber &c. [57]
b. Wissenschaftliche Läuterung bis 1795. Geschichtliche Schriften, z. B. Abfall
der Niederlande &c. c. Gereifte Kunstpoesie bis 1805. Klassicität in der
nationalen Lyrik und im nationalen Drama. Hervorragendstes: Die Glocke,
Wallenstein, Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, Tell &c.).
Wolfgang von Goethe. (1749─1832. Deutschlands Dichterfürst.
Muster als Prosaist, Epiker und Lyriker. Entwickelung: a. Zeit des Sturms
und Drangs bis 1786. Götz. b. Jdeale Schöpfung bis 1807. Egmont,
Tasso, Jphigenia. c. Elegante Periode bis 1832. Wahlverwandtschaften,
westöstl. Divan).
Zum Musenhof gehören noch: K. Ludw. v. Knebel († 1834, lyrisch; Übersetzungen
aus Properz &c.). Karl Aug. Böttiger († 1835). D. Johannes Falk
(† 1826). Christoph Bode († 1793. Übersetzt Sternes Yorik; Goldsmiths
Dorfprediger &c.). Friedr. Justin Bertuch († 1822. Übersetzungen von Don Quixote;
Bilderbuch in 237 Heften). K. Sigm. von Seckendorf († 1785; liefert
portugiesische Übersetzungen, Trauer- und Singspiele, Lieder). Fr. Hildebrand von
Einsiedel († 1828, Übersetzung des Terenz &c.). Amalie von Helvig († 1831,
Malerin und Schriftstellerin, schrieb z. B. „Die Schwestern von Lesbos“, übersetzte
die Frithjofs-Sage).
A. Lyriker.
J. H. Wilhelm Witschel († 1847, religiöse Lyriken). Karl Lappe († 1843,
religiöse Lyrik). J. Baptist von Albertini († 1831, religiöse Lyrik). Wilhelm
Justi († 1846; religiöse Lyrik). K. Bernh. Garve († 1841, religiöse Lyrik).
Jgn. Heinr. K. von Wessenberg (religiöse Lyrik). Friedr. von Meyer († 1849;
religiöse Lyrik). Christian Kuffner († 1846; Lyrisches und Didaktisches). Chr.
Hohlstett (zarte Lieder). Al. Wilh. Schreiber († 1841; Lieder, Sagen).
Karoline Rudolphi († 1811) und Elisa von der Recke († 1833) schrieben
lyrische Gedichte; desgl. Friederike Brun († 1835). Helmine von Chezy († 1856;
Lyriken und Legenden).
B. Didaktische Dichter.
Jm Musenhof war das didaktische Element durch Herder, Bertuch und
Falk vertreten. Außerdem durch Fr. Adolf Krummacher († 1845, Parabeln und
Paramythien). Agnes Franz († 1843. Parabeln und Paramythien ähneln denen
von Krummacher; ihr Lehrgedicht „Christbaum“ erinnert an Schillers Glocke).
C. Dramatische Dichter.
Die wenigsten Dichter wagten es neben Goethe und Schiller das höhere
Drama zu bearbeiten. Sie wandten sich lieber dem Ritterschauspiel und dem
Familiendrama zu, ahmten entweder im ersten Fall Goethes Götz, oder im
letzteren Goethes Stella und Schillers Kabale und Liebe nach.
Jos. Aug. Graf von Törring († 1826, Agnes Bernauerin). Frz.
Jos. Maria v. Babo († 1822, Otto von Wittelsbach). Otto Heinrich von Gemmingen [58]
(† 1822, Pygmalion). J. Friedr. Jünger († 1797, auch kom.
Romane). J. Chr. Brandes († 1799. Der geadelte Kaufmann, sowie das
erste Melodrama „Ariadne“). Fr. Kind († 1843, Wilhelm der Eroberer.
Text zum Freischütz &c.). Aug. Ernst von Steigentesch († 1826, Mißverständnisse).
K. Wilh. Contessa († 1825). Pius Alex. Wolff († 1828. Der Hund
des Aubry). Karl Gottfr. Theod. Winkler († 1856; Strudelköpfchen &c.).
K. Gottfr. Samuel Heun (pseud. Clauren. Der Abend im Posthause). Aug.
Wilhelm Jffland († 1814, z. B. Die Jäger, sein bestes Schauspiel). Aug.
von Kotzebue (1819 von Sand ermordet; schrieb über 200 Schauspiele).
D. Epische Dichter.
Sie bewiesen sich besonders in der prosaischen Gattung des Romans.
Wielands Agathon, Musäus witzelnder Grandison, Hermes moralisierende Sophiens
Reise, Goethes und Millers erste sentimentale Romane, Engels und Stillings
Familienromane wirkten bahnbrechend. Außer ihnen sind zu nennen: Jean Paul
Fr. Richter († 1825) der bedeutendste Humorist Deutschlands; ist gewissermaßen
die Ergänzung Schillers, der ein sittliches, und Goethes, der ein ästhetisches
Bildungsziel verlangt, indem er die Harmonie des Gemüts betont. Während
die beiden Heroen Schiller und Goethe dem altklassischen Geiste dienten, wandte
sich Jean Paul dem modernen Leben zu und begründete die Periode der Romantiker
(Gefühlstiefe, poetischer Schwung, Witz, Satire mit Metaphernüberfluß &c.
Titan, Flegeljahre, Siebenkäs &c.). Aug. von Thümmel († 1817, Roman:
Reisen in die mittäglichen Provinzen Frankreichs; komische Heldengedichte;
Erzählungen, z. B. Jnoculation der Liebe). Th. Gottlieb v. Hippel († 1796,
launige Romane, z. B. Lebensläufe nach aufsteigender Linie, und Kreuz= und
Querzüge des Ritters A. bis Z.; geistliche Lieder). Chr. Ernst Graf von
Bentzel-Sternau († 1849; launige Romane). Ulrich Hegner († 1840. Roman:
die Molkenkur). Gottwert Müller († 1828; Siegfried von Lindenberg, der den
geistig beschränkten Landadel höhnt &c.). Adolf von Knigge († 1796; heitere
Romane; Über den Umgang mit Menschen &c.). Aug. Fr. Ernst Langbein
(† 1835; Balladen, Erzählungen und launige Romane). Aug. Heinr.
Julius Lafontaine († 1831. ein deutscher Lieblingsschriftsteller; Romane, z. B.
Die Familie von Halden). Gustav Schilling († 1839, Familien-Romane). A.
Gottlieb Meißner († 1807, geschichtliche Romane, z. B. Alcibiades). Jgnatz
Aurel. Feßler († 1839, geschichtliche Romane, z. B. Mark Aurel). K. Gottlob
Cramer († 1817, Ritter- und Räuberromane). Chr. Heinr. Spieß († 1799,
abenteuerliche Romane, z. B. die Löwenritter). Chr. August Vulpius (Rinaldo
Rinaldini &c.).
VIII. Periode 1813─1830.
Überblick und Charakter der Periode.
Von Rückert und den Romantikern bis zum „jungen Deutschland“.
Bestreben, die durch Schiller und Goethe empor gehobene Poesie, die
man als sonnig klare, klassisch kühle Gelehrtenpoesie bezeichnete, dem [59]
Volksleben zu nähern, sie inniger, gefühlswärmer durch Entnahme des
Stoffes aus dem romantischen Mittelalter zu machen. Das Abenteuerliche
der Ritterzeit, der Glanz des Südens kam schon durch die
südlichen Formen des Sonetts, der Terzine &c. zum Ausdruck, wie auch
im Gegensatz zu Goethe und Schiller spanische, englische, italienische
Dichter Vorbilder wurden, wie Calderon, Petrarka, Shakespeare. Die
Romantik ist in dieser Periode herrschend.
Jnhalt der 8. Periode.
Romantiker. A. W. v. Schlegel († 1845 in Bonn, kritischer Begründer
der Schule; Übersetzer Calderons, Shakespeares &c.; Sonette, Elegien). Friedrich
von Schlegel († 1829 in Dresden. Über die Sprache und Weisheit der
Jnder). Ludwig Tieck († 1853 in Berlin, Haupt der Schule, Lyriker,
Dramatiker. Übersetzer lyrischer und epischer Gedichte der Minnesinger; Bearbeiter
vieler Märchen, z. B. gestiefelter Kater, Rotkäppchen, Blaubart).
Wilh. Heinr. Wackenroder († 1798). Fr. v. Hardenberg (genannt Novalis,
† 1801, Verschmelzung des Gläubigen mit der Poesie. Roman: Heinr.
v. Ofterdingen, eine dithyrambische Verherrlichung der Poesie &c. Den Romantikern
verwandt.) Friedrich de la Motte-Fouqué († 1843, Pseudonym:
Pellegrin. Heldengedichte, z. B. Sigurd, der Schlangentöter. Märchen, z. B.
Undine; Dramen, z. B. Eginhard und Emma). Clemens Brentano († 1842,
Märchen, z. B. Gockel, Hinkel und Gackeleia; Lyrisches, Dramatisches &c.).
Achim von Arnim († 1831, Lyrisches; die Novellensammlung Wintergarten;
Romane; Dramatisches). Ernst Schulze († 1817; Psyche; Cäcilie; die bezauberte
Rose). Adalb. von Chamisso († 1838, bedeutend nach Form und
Jnhalt. Frauenliebe und Leben; Das Riesenspielzeug; Peter Schlemihl).
Josef v. Eichendorff († 1857; bedeutender Lyriker. Roman: Aus dem Leben
eines Taugenichts. Dramen). Friedrich Hölderlin († 1843 als geisteskrank;
Lyriken; klassische Form; romantischer Jnhalt; gefühlsinnig; Hyperion, Roman
in Briefen). Varnhagen von Ense († 1858, Gedichte und Biographien). Seine
Gattin Rahel († 1833; Buch des Andenkens für ihre Freunde, aus ihrem
Nachlaß veröffentlicht).
Übersetzer romantischer Poesien des Mittelalters. J. Dietrich Gries
(† 1842; Tasso; Ariost &c.). Karl Streckfuß († 1844; Ariost und Dante).
K. Ludw. Kannegießer († 1861; Dante). Otto von der Malsburg († 1824;
Calderon).
Dramatiker der Romantik.
Heinr. von Kleist († 1811; Hermannsschlacht, Der zerbrochene Krug,
Käthchen von Heilbronn). Ad. Öhlenschläger († 1850, Correggio, zartsinniges,
kunstschwärmerisches Drama). August Graf von Platen-Hallermund
(† 1835, Anfangs Romantiker, was seine Komödien Der gläserne Pantoffel,
Der Schatz des Rhampsinit beweisen. Er brach der modernen Lyrik die
Bahn. Meister der Form. Oden; Polenlieder; Die Abbassiden &c.). Karl Jmmermann
(† 1840, entzog sich, wie der ihn unter dem Namen „Nimmermann“ [60]
höhnende Platen, erst später dem Einflusse der Romantik. Lustspiele und
Trauerspiele, z. B. Das Auge der Liebe; das Trauerspiel in Tyrol). K.
Fr. Gottlob Wetzel († 1819, Jeanne d'Arc, Hermannfried. Er hat
Schillers Pathos und zum Teil Shakespeares kecke Sprache). Die Brüder Collin
aus Wien († 1818 und 1824; Jambentragödien); ferner Klingemann aus
Braunschweig († 1831, Dramen, z. B. Cortez) ahmten Schillers Manier nach.
Folgende vier Dichter mit romantischer Färbung schrieben Schicksalstragödien:
Zacharias Werner (Der 24. Februar). Adolf Müllner (Die Schuld). Franz
Grillparzer (Ahnfrau). E. von Houwald (Der Leuchtturm, das Bild).
Romanschreiber der Romantik.
Durch den Einfluß der Romantik wird der Roman auf das christlich=mystische
Gebiet hinüber gelenkt. Ernst Wagner († 1812; Romane z. B. Wilibalds
Ansichten des Lebens). Amadeus Hoffmann († 1822; grausige Romane,
z. B. Elixiere des Teufels). Heinrich Steffens († 1845; phantasiereiche,
gefühlvolle Romane, z. B. Malkolm). Heinr. Zschocke († 1848, segensreich
wirkende volkstümliche Romane, z. B. Branntweinpest, der Freihof von Aarau &c.).
Wilh. Jacobs († 1847, Frauenromane, z. B. Rosaliens Nachlaß). Stephan
Schütze († 1839, launige Romane, z. B. Der unsichtbare Prinz). L. Aug. Kähler
(† 1855. Ernste Romane, z. B. Hermann von Löbeneck). Benedikte Neubert
(† 1819; sie schrieb u. A. die Roman-Erzählung: Thekla von Thurn, aus
welcher Schiller für den Wallenstein entlehnte). Karoline Pichler († 1843,
historische Romane, z. B. Agathokles). Johanna Schopenhauer († 1838,
Gabriele). Henriette Hanke († 1862; bürgerliche Romane, z. B. Ehen werden
im Himmel geschlossen).
Dichter der Befreiungskriege und der Übergangszeit. Sie preisen
die Freiheit als höchstes Gut und bilden den Übergang zur modernen Poesie.
Ernst Moritz Arndt (1769─1860, dichtete Vaterlandslieder). Max von Schenkendorf
(† 1817, er ist den Romantikern am meisten verwandt). Theodor Körner
(† 1813, Lieder in „Leier und Schwert“ gesammelt, Erzählendes, Dramen,
z. B. Zriny, Hedwig, Toni, Der Nachtwächter &c.). von Stägemann († 1840,
Kriegsgesänge). Die Brüder Follen (a. Adolf † 1855, und b. Karl † 1839).
Fr. Rückert († 1866, geharnischte Sonette; Zeitgedichte).
Schwäbische Dichterschule und verwandte Dichter.
Sie erinnern an die Romantiker durch viele ihrer Stoffe. Durch Anmut,
schwäbische Gemütlichkeit, Volksmäßigkeit bilden sie mit Rückert den Übergang zur
modernen Lyrik. Ludwig Uhland (1787─1862, bedeutend als Lyriker, groß
als Epiker, besonders als Balladendichter). Gust. Schwab († 1850; Lieder,
z. B. Bemooster Bursche zieh ich aus; Balladen und Romanzen, z. B. Der
Reiter und der Bodensee). Justinus Andreas Chr. Kerner († 1862; Volksdichter.
Weltliche und religiöse Lieder, z. B. Stille Thräne. Sängers Trost. Wohlauf
noch getrunken. Balladen. Romanzen. Poetische Erzählungen, z. B. Kaiser
Rudolfs Ritt zum Grabe &c.). Eduard Mörike († 1875, Kerners Geistesverwandter.
Feiner Humor; liebt das Wunderbare. Vorzügliche weltliche und [61]
geistliche Lieder z. B. Wo find ich Trost; Charwoche; Zum Neujahr. Episches,
z. B. Jdylle vom Bodensee. Maler Nolten &c.). Gustav Pfizer (geb. 1807,
Der Wälsche und der Deutsche, sowie Lyrisches und Balladen). Karl Friedr.
Hartmann Mayer († 1870, Lyrisches). Wilh. Waiblinger († 1830, südliche
Glut, vier Erzählungen aus Griechenland, Bilder aus Rom, Trauerspiel: Anna
Bullen). Emanuel Fröhlich († 1865, Fabeln). Wilhelm Müller († 1827,
seine bedeutenden Griechenlieder stehen Platens Polenliedern gleich. Seine
sonstigen Lieder, Müllerlieder, sind fast sämmtlich komponiert). Balthasar Wilhelm
Zimmermann († 1878; Gedichte. Dramen, z. B. Masaniello). Chr.
Jos. Matzerath (geb. 1815; Lyriken und Balladen im Tone Uhlands; die
Jdylle Erntemahl &c. &c.).
IX. Periode 1830─1870.
Überblick und Charakter der Periode.
Vom jungen Deutschland bis zum neuen Deutschen Reich. Moderne
Bestrebungen der Litteratur. Wahl des Stoffes aus der Gegenwart
und Behandlung desselben im Geiste der Gegenwart. Die Dichter
dieser Periode haben nicht geleistet, was die Klassiker erreichten, aber
durch Hinneigen zum frischen Leben der Gegenwart haben sie den richtigen
Weg eingeschlagen.
Jnhalt der 9. Periode.
Das junge Deutschland. Junge Schriftsteller, die mit kecker Ungeniertheit
Staat, Kirche, Sitte und Sittlichkeit angriffen und in der öffentlichen Meinung
ihre Stütze suchten, proklamierten die Emanzipation des Fleisches, die Herrschaft
des rein Menschlichen. Die Vorläufer derselben wurden Börne und Heine.
Ludwig Börne († 1837, Prosaist, geißelte mit ätzender Schärfe in seinen
aphoristischen Schriften das Regierungssystem in Deutschland, ferner Wolfg.
Menzel, den Franzosenfresser &c. &c.). Heinrich Heine († 1856). Dieser eminente
Lyriker (Buch der Lieder) geißelt in „Deutschland ein Wintermärchen“ humoristischsarkastisch
deutsche Zustände am Faden einer Reise von Paris nach Hamburg.
Sein „Atta Troll“ parodiert die plumpen unkünstlerischen Gesinnungspoeten.
Der „Romanzero“ ist witzig, frivol, voll Blasphemieen.
Repräsentanten des jungen Deutschlands sind:
Ludolf Wienbarg († 1872; widmete seine „Ästhetischen Feldzüge“ dem
jungen Deutschland und gab ihm dadurch den Namen). Karl Gutzkow († 1878.
Sein Roman Wally zog ihm in Folge der Denunziation Menzels 3 Monate
Gefängnis zu wegen der Angriffe auf Religion und Ehe. Er war das bedeutendste
Talent des jungen Deutschland. Seit 1839 hat er das von den Romantikern
verlassene Drama für die Bühne erobert. Statt Fernliegendem bringt
er interessante Lebensfragen auf die Bühne; liebt den Effekt, wirkt verstandesmäßig.
„Urbild des Tartüffe“ ist eine treffliche Spiegelung der Heuchelei.
„Uriel Akosta“ zeigt den Kampf des freien Denkens mit der Satzung wie mit [62]
des Herzens Pietät. „Lenz und Söhne“ geißelt die Wohlthätigkeitsmanie.
Das historische Lustspiel „Zopf und Schwert“ bietet ein erheiterndes Bild des
Zeitalters des Königs Fr. Wilhelm I. Ein herrliches Kulturgemälde der Gegenwart
ist der 9bändige Roman: Die Ritter vom Geist). Heinrich Laube (geb.
1806, das Haupt der Stürmer, ist im Gegensatz zum grübelnden, gedankenerfindenden
Gutzkow ein lebensprudelnder Realist. Romane; Reisenovellen;
Dramen, z. B. Die Karlsschüler, Graf Essex). Theodor Mundt († 1861,
der Doktrinär des jungen Deutschland, weil seine Romane gelehrten Anstrich
haben, z. B. Thomas Münzer, Die Matadore). Seine Gemahlin Louise
Mühlbach († 1873; schrieb geschichtliche Romane ohne tieferen litterarischen
Wert). Gustav Kühne (geb. 1806; hat glänzenden Stil; Novellen, Romane,
Dramen, Reisebeschreibungen, z. B. Sospiri beschreibt einen Aufenthalt in Venedig).
Herm. Marggraff († 1864; Lyriken, Dramen, launige Romane, z. B. Gebrüder
Pech, Johannes Mackel). Ernst Willkomm (trieb die Richtung des
jungen Deutschland auf die Spitze, z. B. Die Europamüden). Jhm ähnelt
Jean Charles (== Braun von Braunthal in seinen den Materialismus predigenden
Romanen, z. B. Schöne Welt). Wolfgang Menzel († 1873; wurde später
aus dem Freunde der ärgste Widersacher der Jungdeutschen. Romantische
Märchen. Rübezahl. Narzissus &c.).
A. Lyrische Dichter.
a. Politische Lyriker. Sie sprachen sich trotz Strafen und Amtsentsetzungen
rücksichtslos gegen die Regierung aus und wurden Vorboten der
Umwälzung von 1848. Georg Herwegh († 1875; Gedichte eines Lebendigen).
Heinrich Hoffmann von Fallersleben († 1874; Unpolitische Lieder, Deutsche
Lieder aus der Schweiz). Robert Prutz († 1872; Rheinlied, Gedichte. Sein
Roman „Das Engelchen“ behandelt das gedrückte Verhältnis der Fabrik-Arbeiter.
Dramen. Das satyrische Lustspiel: Die politische Wochenstube). Franz von Dingelstedt
(† 1881; Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters; Romane, z. B. Licht und
Schatten in der Liebe). Ferdinand Freiligrath († 1876; Ein Glaubensbekenntnis.
Neue politische und soziale Gedichte. Zwischen den Garben. Übersetzer von V.
Hugo's Oden &c.). Gottfr. Kinkel (Lyriken. Märchen. Sagen. Legenden. Das
romantische Epos: Otto der Schütz). Moritz von Strachwitz († 1847; Lieder
eines Erwachenden. Die patriotische Hymne: Germania). Max Waldau
(† 1855; Canzonen. Eine derselben „O diese Zeit“ beklagt die Parteizerrüttung
des Vaterlandes).
b. Orientalische Lyriker. Sie strebten den orientalischen Geist in
orientalischen Formen dem deutschen Geiste zu vermählen. Rückert war in
seinen östlichen Rosen, in seinen Ghaselen und morgenländischen Epen Bahnbrecher
und Begründer dieser Schule, zu welcher folgende zählen:
Leopold Schefer († 1862, tiefe Empfindung. Laienbrevier. Hafis in
Hellas. Koran der Liebe. Novellen. Romane). Friedr. Daumer († 1875,
feiert den Muhammedanismus vor dem Christentume und bekennt sich zum [63]
Frauenkultus, das Weib als göttlichstes Naturwunder verherrlichend. Liederblüten
des Hafis). Heinr. Stieglitz († 1849 an der Cholera. Seine Frau hatte sich
1834 selbst getötet, um ihres Mannes Tiefsinn zu heilen. Er schildert die
äußere Natur des Orients in: Bilder des Orients). Friedrich Mart. von
Bodenstedt (geb. 1819. Tausend und ein Tag im Orient. Mirza-Schaffy).
Alex. Graf von Württemberg († 1844, Gedichte. Lieder des Sturms).
Ludwig Wihl (geb. 1807. Westöstl. Schwalben). Julius Hammer († 1862.
Gedichtsammlungen. Roman: Einkehr und Umkehr). Ed. Boas († 1853.
Sprüche und Lieder eines nordischen Braminen).
c. Philosophische Lyriker. Poesie des Gedankens, kräftige Sittlichkeit
ist ihr Ziel. Julius Mosen († 1867, Epen, z. B. Ahasver; Novellen, z. B.
Der Gang nach dem Brunnen; Dramen, z. B. Cola Rienzi). Friedr. von
Sallet († 1843, Laien-Evangelium. Lustspiele. Märchen. Novellen). Titus
Ullrich (geb. 1813; das hohe Lied). Wilhelm Jordan (geb. 1819; Dichter des
Nibelunge. Sein Demiurgos ähnelt Goethes Faust, betrachtet alle Phasen
moderner Entwicklung und führt den Gedanken durch: Zwar ist der Weltlauf der
beste, doch soll der Mensch selbstthätig sein Ziel sich setzen und erreichen). Rud.
v. Gottschall (geb. 1823; ein kräftig feuriger, bahnbrechender Geist, allseitig. Lieder
der Gegenwart. Madonna Magdalena und die Göttin. Diese Gedichte behandeln
die Frauenemanzipation und stellen den Gegensatz der Sinnlichkeit gegenüber
dem christlichen Spiritualismus dar. Viele Dramen). Arnold Schlönbach (Weltseele,
sich anlehnend an die neuesten Resultate der Naturwissenschaft).
d. Die österreichischen Lyriker. Freiheitssehnsucht, Gemüt, Humor ist
ihr Charakter.
Jos. Christian von Zedlitz († 1862, Totenkränze, abgeschiedene Geister
verherrlichend. Soldatenbüchlein, patriotische Gedichte. Wanderungen des
Ahasver. Waldfräulein. Dramen). Nik. Nimbsch Edler von Strehlenau,
genannt Nik. Lenau († 1850 im Jrrenhaus; Tiefe und Zartheit der Empfindung.
Der größte Elegiker. Lyriken. Lyrisch=episch ist Faust. Savonarola und die
Albingenser). Graf Alex. v. Auersperg, genannt Anastasius Grün († 1876;
Blätter der Liebe. Spaziergänge eines Wiener Poeten. Schutt. Die Nibelungen
im Frack &c.). Karl Egon Ebert († 1876; Böhmens bedeutendster
Lyriker und Balladendichter, z. B. Frau Hitt). Karl Beck († 1880; Lieder.
Tragödie Saul &c.). Joh. Gabr. Seidl († 1875; Lieder. Novellen). Joh.
Nepomuk Vogl (geb. 1802. Lyriken, z. B. Die beiden Sänger). Ludw.
August Frankl (geb. 1810, Lyriken, z. B. Waldtrost. Heldengedicht: Christoforo
Colombo). Adolf Franckel (Wiener Gräber). K. Ferd. Dräxler-Manfred
(† 1879, die Liedersammlung Blumensonntag. Novellen). Adolf von
Tschabuschnigg (geb. 1809. Humoristische Novellen &c.). Heinr. von Levitschnigg
(† 1862, Sammlung vermischter Gedichte, z. B. Rustan; Die
letzte Fee &c.). Eduard Duller († 1853, Lyriken, z. B. Der Fürst der Liebe.
Romane, z. B. Loyola). Moritz Saphir († 1858, hieß früher Moses;
Satiriker). Ernst von Feuchtersleben († 1849. Philosophische Lyriken. [64]
Lieder, z. B. Es ist bestimmt in Gottes Rat). Alfred Meißner (geb. 1822.
Böhmische Elegien. Lyrisch=episch: Ziska. Dramen. Die Satire Sohn des
Atta Troll &c.). Moritz Hartmann († 1872, die Sammlung Kelch und
Schwert. Jdyllen. Reimchronik des Pfaffen Mauritius). Herm. Rollet (geb.
1819; Liederkränze. Wanderbuch eines Wiener Poeten). Johannes Nordmann
(geb. 1820. Lyriken. Novellenbuch. Roman: Aurelie). Ludwig Foglar
(geb. 1820; Zypressen, Strahlen und Schatten. Elegische Gedichte, Romane, Novellen).
Fr. Bach. Betty Paoli. Karl Hugo (Dramen). Otto Prechtler (Dramen).
Karl Ziegler (Gedichte). Rudolf Hirsch († 1872, Balladen). Karl Paul. Karl
Guntram. Adolf von Pichler. Franz Adf. Fr. von Schober (geb. 1798, reflexive
Lyriken). W. Constant (geb. 1818, Pseud. für C. v. Wurzbach. Erzählende Gedichte).
Rob. Hamerling (geb. 1830, einer der bedeutendsten. Erotische Lyriken.
Epen, z. B. Ahasver).
e. Die norddeutschen Lyriker. Lyrik der Empfindung. Emanuel
Geibel (geb. 1815, beliebtester Lyriker der Neuzeit). Philipp Spitta
(† 1859, Psalter und Harfe). Robert Reinick († 1852, Liederbuch für deutsche
Künstler). Franz von Gaudy († 1840, modernfrivol. Episches, z. B. Der
Mönch Peter Forschegrund). Franz Kugler († 1858; Skizzenbuch, Dichterleben
&c.). Georg Phil. Schmidt von Lübeck († 1849, volksmäßige Lieder,
z. B. Jch komme vom Gebirge her &c.). Leberecht Dreves († 1870; Lieder
eines Hanseaten &c.). Eduard Schulz, genannt Ferrand († 1842, Lyriken,
Novellen). Viktor von Strauß (geb. 1809, religiöse Lyriken; Romane, z. B.
Theobald. Schauspiel Gudrun). Julius Sturm (geb. 1816, religiöse Lieder,
z. B. Nimm Christum in dein Lebensschiff). Fr. Wilhelm Rogge (geb. 1809,
Lyriken und Dramen, z. B. Heinrich IV.). Wilhelm Smets († 1849. Lyrische
Gedichte. Trauerspiel: Tassos Tod). Karl von Hülsen (geb. 1808, Lyriken,
Romane: Liebe und Chimäre). Phil. von Nathusius († 1872, Lyriken). Guido
Theodor Apel († 1867; Lyrisches; Schlachtenbilder.) Theod. Hermann Ölckers
(† 1869; Lieder, Romane, Dramen). Ferd. Stolle († 1872, Dorfbarbier, sinnige
Lyriken &c., Blumenengel). Dilia Helena (geb. 1816, Lieder). Paul Heyse
(geb. 1830, Lyrisches. Novellen. Jdyllen. Epopöen, z. B. Hermen. Dramen
z. B. Meleager. Sabinerinnen). Cäsar von Lengerke († 1855, Lyrisches
und Didaktisches). Heinr. Möwes († 1834, geistliche Lieder). Ludwig Knak
(geb. 1806, religiöse Lieder). Gustav Pfarrius (geb. 1800. Das Nahethal
in Liedern. Waldlieder). Heinrich Viehoff (geb. 1804. Lyrische Gedichte &c.).
Friedr. Engstfeld († 1848, religiöse Lieder). Adolf Ellissen († 1872; Lieder
und Elegien). Theod. Creizenach (geb. 1818. Lyrische Gedichte). Gust.
Freytag (geb. 1816. Gedichte im Volkston). Adolf Peters († 1872. Gesänge
der Liebe &c.). Viktor Precht (geb. 1820. Lyriken). F. Ruperti († 1868.
Lyrisches &c.). Ed. Kauffer († 1874. Lyrisches). Karl Aug. Georgi († 1857.
Lyrisches). Wilh. Gerhard († 1858, Lyriken und Novellen). Joh. Georg
Keil († 1857, Lyra und Harfe). Johannes Minckwitz (geb. 1812, berühmter
Odendichter. Übersetzer der attischen Dichter). Eduard Maria Öttinger
(† 1872). Ferd. Bäßler. Herm. Besser (geb. 1807). C. F. Günther. [65]
Fr. Förster. Max von Ör († 1846). Robert Waldmüller (geb. 1822. Lyriken.
Jdyllen. Romane). Jul. Schrader (geb. 1818. Lyrisches und Episches). Herm.
Grimm (geb. 1828. Lyriken. Novellen. Drama). Adf. Schöll (geb. 1805).
Aug. Wolf († 1864). Rob. Wendt. Karl Goedeke (geb. 1814. Lyrisches. Novellen.
Lustspiel &c.). Friedr. Hofmann (geb. 1813. Lyriken. Deklamationen. Märchen.
Lustspiele &c.). K. Wilh. Osterwald (geb. 1820. Lyrisches. Episches. Dramen).
Gottfried Fink († 1846, religiöse Lieder. Balladen und Romanzen). Heinr.
Pröhle (geb. 1822. Lieder und Oden. Märchen. Romane). Lola Milford
(Lyrische Gedichte). Konrad Müller von der Werra († 1881, viel komponierter
Lyriker. Buch der Lieder, Amoranthos). Emil von Colbe (Lyriken.
Novellen. Romane). Luise Hensel († 1876. Religiöse Lyriken).
f. Süddeutsche Lyriker. Sie kultivieren das harmlose Lied. Albert
Knapp († 1864, christliche Gedichte. Geistliche Lieder. Sammlung. Herbstblüten.
Patriotische Hohenstaufen-Gedichte). Karl Grüneisen († 1878,
patriotische und religiöse Lieder und Romanzen). Herm. Kurz († 1873,
Gedichte. Romane. Novellen). Karl Hagenbach († 1874. Fromme Gedichte).
G. Scheurlin († 1872, zarte Lyriken). Wilhelm Zimmermann
(geb. 1807. Lieder, Romanzen, Novellen). Adolf Stöber (geb. 1810, religiöse
Gedichte). Aug. Stöber (geb 1808. Lyriken heiteren Charakters). Aug.
Schnezler († 1853, religiöse Lieder). Annette von Droste-Hülshoff († 1848,
eigentlich Westfalin, siedelte 1841 nach der Schweiz und Süddeutschland über,
wo ihre Muse das Herrlichste schuf. Balladen, religiöse Lyriken). Luise von
Plönnies († 1872, Lieder, Balladen, Romanzen, Sonettenkränze). König Ludwig
von Bayern, gedankenreich († 1868. 4 Bände lyrischer Gedichte, darunter
sehr gehaltvolle, z. B. Jm Spätherbste; die Elegie Pompeji). J. G. Fischer
(geb. 1820. Volkstümliche Lyriken. Dramen. Episch=lyrische Bilder vom
Bodensee). Friedr. Beck (geb. 1806. Lieder. Romanzen. Episches. Tragödie:
Telephos &c.). Karl Weichselbaumer († 1871. Lieder. Historische Novellen.
Erzählungen. Dramen). Ludw. Rochholz (geb. 1809. Lieder. Sagen. Legenden).
Christian Schad († 1872. Lyriken). Jgnaz Hub. Paul Schönfeld
(Lyrisches).
B. Epische Dichter.
Außer den schon unter den Lyrikern genannten: Kinkel, Grün, Lenau, Beck,
Meißner, Bodenstedt &c. haben sich als Epiker hervorgethan: Ludw. Bechstein
(† 1860. Haimonskinder, Luther, Faustus). Adolf Bube († 1873. Naturbilder).
Karl Simrock († 1876. Wieland der Schmied). Wolfgang Müller von Königswinter
(† 1873. Lorelei, Rheinfahrt, das satirische Märchen Germania &c.). August
Kopisch († 1853. Historie von Noah. Die Heinzelmännchen). Adolf Böttger († 1873.
Frühlingsmärchen. Till Eulenspiegel. Drama: Agnes Bernauer &c.). Otto
Roquette (geb. 1824. Waldmeisters Brautfahrt. Romane. Dramen). Oskar
von Redwitz (geb. 1823; lyrisch=episch: Amaranth. Dramen, z. B. Philippine
Welser). Christian Scherenberg (geb. 1798. Epen: Waterloo, Ligny,
Leuthen, Abukir, Hohenfriedberg &c.). Theod. Fontane (geb. 1819. Balladen. [66]
Epische Dichtung: von der schönen Rosamunde). Otto Gruppe (geb. 1804,
epische Dichtungen, z. B. Alboin &c.). Friedr. v. Heyden († 1851. Königsbraut,
Reginald, der Schuster von Jspahan. Dramen). Gustav von Meyern
† 1878, Welfenlied. Dramen). Herm. Neumann († 1875. Nur Jehan.
Jürgen Wullenweber u. A.). Moritz Horn († 1874. Pilgerfahrt der Rose,
Magdala &c.). Adolf Stern (geb. 1835. Sangkönig Hiarne. Poetische Erzählungen.
Romane.) Arnold Schlönbach († 1866. Hohenstaufen) &c. &c.
C. Dramatische Dichter.
a. Das originelle Kraftdrama. Es erinnert an Shakespeare, an die
Stürmer und Dränger, liebt markige Gestaltung und großartige Zeichnung.
Christian Grabbe († 1836, Schöpfer dieser Gattung, z. B. Herzog von
Gothland. Hermannsschlacht &c.). Friedr. Hebbel († 1863, zieht die sozialen
und psychologischen Jnteressen in das Bereich seiner Behandlung. Tragödien,
z. B. Maria Magdalena, Herodes und Marianne, die Nibelungen &c.). Robert
Griepenkerl († 1868, Tragödien, z. B. Robespierre. Schauspiel: Jdeal
und Welt, das die sozialen Konflikte behandelt). J. L. Klein († 1876. Dramen,
z. B. Maria von Medici, und das humoristische Lustspiel: Die Herzogin).
Georg Büchner († 1837, Tragödie: Dantons Tod). Otto Ludwig († 1865.
Tragödien, z. B. Agnes Bernauer). Elise Schmidt (geb. 1827. Tragödien,
z. B. Judas Jscharioth). Albert Dulk (geb. 1819. Orla; Jesus der Christ).
Arnold Schlönbach († 1866. Der letzte König von Thüringen &c.). Ferd.
Gregorovius (geb. 1821, Tod des Tiberius). Ferd. Kürnberger (geb. 1823,
Catilina). Braun von Braunthal († 1867, Faust und Don Juan).
b. Deklamatorische Jambentragödie. An Schiller anlehnend; antik
im Stil; idealistischer als das originelle Kraftdrama; eintönig durch den jambischen
Quinar; lyrisches und rhetorisches Element vorkehrend.
Eduard von Schenk († 1841, Belisar). Michael Beer († 1833, Klytämnestra).
Friedr. von Uechtritz († 1875, Rom und Otto III.). E. Sal.
Raupach († 1852. Jsidor und Olga. Die Hohenstaufentragödien. 8 Bände
dramatisierter Geschichte. Lustspiele). Josef von Auffenberg († 1857, 26 Dramen,
z. B. Die Flibustier). Friedr. Halm († 1871, pseud. für v. Münch-Bellinghausen.
Dramen. Sohn der Wildnis, Fechter von Ravenna &c.). Graf Julius
von Soden († 1831. Medea &c.). August von Maltitz († 1837. Schwur
und Rache). Hans Köster (geb. 1818, Ulrich von Hutten &c.). Hermann
Theodor Schmid († 1880, Camoens &c.). Alex. Rost († 1875, Friedrich
mit der gebissenen Wange). Wilh. Genast (geb. 1822, Herzog Bernhard von
Weimar &c.). Emil Palleske († 1880, Achilles, König Monmouth). Otto
Prechtler (geb. 1813, Die Rose von Sorrent &c.). Wollheim da Fonseca
(geb. 1810. Künstlerdrama: Rafael Sanzio). Alb. Lindner (geb. 1831,
Brutus und Collatinus &c.). Heinr. Kruse (geb. 1815. Wullenweber. Brutus.
Seine Tragödie „Die Gräfin“ erhielt den Schillerpreis. Humoristisches, z. B. Der
Teufel in Lübeck, ein Fastnachtsschwank).
c. Das künstlerisch moderne Bühnendrama. Feind der Eintönigkeit
der Jambentragödie und der Formlosigkeit des originellen Kraftdramas,
sucht es die Jdeen der Jetztzeit in künstlerischer wie volkstümlicher Form zur
Darstellung zu bringen. Außer den genannten: Gutzkow, Laube, Mosen, Prutz,
Meißner sind zu erwähnen: A. E. Brachvogel († 1878, Narziß, Ali-Sirrha,
Jean-Favrat, Arzt von Granada, Harfenschule). Gustav Freytag (geb. 1816,
Graf Waldemar, die Journalisten). S. Herm. Mosenthal († 1877; Sonnwendhof,
bekämpft den Kommunismus). Max Ring (geb. 1817; Die Genfer &c.).
Elisabeth Sangalli (Die Macht des Vorurteils). Carl Gaillard († 1851. Cola Rienzi).
d. Das bürgerliche Schauspiel, Lustspiel, Posse.
Die Dichtungen dieser Gattungen machen nicht gerade auf besonderen Kunstwert
Anspruch. Jhr Zweck ist, dem schaulustigen Publikum zu dienen. Hier
ist in erster Reihe zu nennen: Charlotte Birch-Pfeiffer († 1868. Sie verstand
es, aus dem litterarischen Schatze die besten Stoffe effektvoll zu dramatisieren,
z. B. Dorf und Stadt, Waise von Lowood). Ähnlich hatte die Frau von
Weissenthurn († 1847) eine Herrschaft über die Bühne ausgeübt (z. B.
mit: Die Erben, Das letzte Mittel &c.). Die eigenen Produktionen der Birch
stehen mit denen von Jffland und Kotzebue auf gleicher Stufe (z. B. Hinko,
Ein Billet, Ein Ring &c.). Eduard Devrient († 1878, Das graue Männlein.
Lustspiel: Die Gunst des Augenblicks). Prinzessin Amalie von Sachsen († 1870,
Die Fürstenbraut. Lustspiele: Vetter Heinrich, Der Majoratserbe). Julius von
Voß († 1832, Künstlers Erdenwallen). August Lebrun († 1842, in französischem
Geiste, z. B.: Ein Fehltritt). Karl Schall († 1833, Unterbrochene
Whistpartie). Karl Blum († 1844, Ausländische Stoffe, z. B. der Ball zu
Ellerbrunn, nach Notas la fiera; Vicomte von Letorières, nach Bayard &c.).
Karl Töpfer († 1871, Die blonden Locken; Bube und Dame; Rosenmüller
und Finke). Eduard v. Bauernfeld (geb. 1802. Bürgerlich und romantisch;
Reichsversammlung der Tiere). Roderich Benedix († 1873, Doktor Wespe;
Liebesbrief; Das Lügen &c.). Wilh. Hackländer († 1877, Lustspiele, z. B.
Der geheime Agent; Magnetische Kuren). Jgnaz Castelli († 1862, Lustspiele:
Tot und lebendig, Der satirische Schicksalsstrumpf gegen die Schicksalstragödien).
Feodor Wehl (geb. 1821. Blondes Haar, Die Tante aus Schwaben, Ein
Pionier der Liebe, Hölderlins Liebe &c.). Gustav zu Putlitz (geb. 1821,
Badekuren). Ludwig Deinhardstein († 1859, Die rote Schleife, Ehestandsqualen,
Das Sonett). Karl von Holtei († 1880, Die Wiener in Berlin,
Staberl als Robinson, Die Majoratsherrn, Lorbeerbaum und Bettelstab).
Ferdinand Raimund († 1836, Der Bauer als Millionär, Der Verschwender &c.).
Johann Nestroy († 1862, Lumpacivagabundus). Herm. Grimm (geb. 1828.
Werner; Armin; Demetrius).
Jn der Posse und im Lustspiel außerdem:
Franz von Elsholtz, Berger, Zahlhas, Robert Bürckner, Louis Schneider,
Angely, Elmar, Friedrich Kaiser (Stadt und Land), David Kalisch († 1872.
Berlin bei Nacht), Friedrich Röder (geb. 1819. Weltumsegler wider Willen), [68]
C. F. Görner, J. Schrader, W. Friedrich (Er muß auf's Land), A. Wilhelmi
(Einer muß heiraten), J. von Plötz (Der verwunschene Prinz), Julius Rosen
(geb. 1833. O diese Männer, Das Damoklesschwert), Joseph Mendelssohn
(† 1856. Überall Jesuiten), Hugo Bürger (Pseud. für G. Lubliner, geb.
1846), Lehmann u. A.
D. Romanschriftsteller.
Jm Romane, dieser Grenzgattung zwischen Prosa und Poesie, wurde
Nennenswertes geleistet. Viele Romanschriftsteller haben sich an Walter Scott
angelehnt und sog. historische Romane geliefert. Andere haben ähnlich dem
französischen Sozial- und Tendenzromane den sogenannten Zeitroman und Salonroman
eingeführt. Weitere Arten sind der ausländische und der Seeroman,
wie besonders der durch Jean Paul bearbeitete humoristische Roman &c.
Der historische Roman. Franz van der Velde († 1824, Begründer
dieser Gattung: Eroberung von Mexiko &c.). Friedrich v. Witzleben (ps. Tromlitz;
† 1839, Die Pappenheimer &c.). Karl Spindler († 1855, Der Jesuit &c.). Jos.
v. Rehfues († 1843, Scipio Cicala &c.). Heinrich Häring (gen. Willibald
Alexis, † 1871, Der falsche Waldemar, Der Roland von Berlin). K. Braun=
Wiesbaden (Neue Erzählungen von Erckmann-Chatrian). Ludwig Storch († 1880,
Vörwerts Hans, Geschichte eines Wunderdoktors, Ein deutscher Leineweber &c.).
Robert Heller († 1871, Der Prinz von Oranien &c.). Karl Herloßsohn († 1849,
Die Mörder Wallensteins &c.). A. E. Brachvogel († 1878, Der Fels von
Erz). Ludwig Rellstab († 1860. Das Jahr 1812). Heinrich König († 1869,
Die Klubbisten in Mainz). Ferd. Stolle († 1872, Elba und Waterloo &c.).
Theodor Mügge († 1861, Die Erbin). Luise von François (geb. 1817,
Die letzte Reckenburgerin &c.). Adolf Stahr († 1876. Republikaner in Neapel).
Otto Müller (geb. 1818, Die Mediatisirten, Charlotte Ackermann &c.). Henriette
v. Paalzow († 1847, Jakob van der Nees &c.). Amalie Schoppe († 1858.
Polixena, Geier von Geiersberg &c.). Max Ring (geb. 1817, Berlin und Breslau,
John Milton und seine Zeit &c.). Ludwig Köhler († 1862. Thomas Münzer &c.).
Ernst v. Brunnow († 1845. Ulrich von Hutten). Johannes Scherr (geb.
1817. Prophet von Florenz). Bernd von Guseck (Pseud. für Gustav K. v. Berneck,
† 1871, König Murats Ende &c.). Eduard Schmidt-Weißenfels (geb. 1833,
Fürst Polignac, Pascal Paoli &c.).
Der Zeitroman. Außer den früher genannten: Prutz, Gutzkow und Luise
Mühlbach, besonders Levin Schücking (geb. 1814, Königin der Nacht, die
Emancipation des Jndividuums betonend). Ed. Mörike († 1875, die Zeit=
Novelle Maler Nolten &c.). Robert Giseke (geb. 1827, Kleine Welt und große
Welt &c.). Gottfried Keller, geb. 1819 bei Zürich, der Shakespeare der deutschen
Erzähler, wie ihn Paul Heyse nennt; wirkliche Klassicität. Der grüne Heinrich.
Neu aufgelegt 1879. Einer der besten Romane der neueren deutschen Literatur.
Poetisch psychologische Tiefe, Frische, Reiz des Vortrags zeichnen ihn aus. Die
Leute von Seldwyla ist eine Sammlung humoristischer, wie tragischer Novellen,
deren Perle Romeo und Julie auf dem Lande. Züricher Novellen. Legenden. [69]
Novellen-Cyklus: Das Sinngedicht in deutsche Rundschau 1881). Fanny Lewald
(geb. 1811; betont freie geistige Bildung der Frauen; Eine Lebensfrage &c.).
Philipp Galen (geb. 1813. Pseud. für Lange, Der Jnselkönig &c.). Ludwig
Schubar (Mysterien von Berlin). Heribert Rau († 1876, Die Pietisten &c.).
Karl Gutzkow († 1878, Der Zauberer von Rom &c.). Gustav Kühne (geb.
1806, Die Freimaurer &c.). Franz Lubojatzky (geb. 1807. Die Neukatholischen).
H. Temme (geb. 1798, Kriminalromane, Anna Hammer &c.). Heinr. A. Noë
(geb. 1835, Die Brüder). Amalie von Klausberg (Schloß Bucha &c.). Wilhelm
Raabe (geb. 1831, Der Dräumling, Der Hungerpastor). Gustav vom See
(† 1875. Ps. f. Struensee, Krieg und Frieden &c.). Julie Burow († 1868,
Frauenlos &c.). Amely Bölte (geb. 1814, Biographische Romane, z. B. Winckelmann
&c.). Aug. Silberstein (geb. 1827. Glänzende Bahnen).
Salonroman. Al. von Ungern-Sternberg († 1868, Lessing, Der Missionär,
Diana, Paul, welch' letzterer Roman die Regeneration des Adels durch
innere Charakterkraft behandelt). Rud. v. Keudell († 1871. Lätitia). Gräfin
Jda Hahn-Hahn († 1880, Gräfin Faustine, Zwei Frauen, Sybille &c.). Jda
von Düringsfeld († 1876, Esther &c.). Therese von Bacharacht (Pseud. f. Lützow,
† 1852, Falkenberg &c.).
Ausländischer und Seeroman. Charles Sealsfield (Pseud. f. Karl
Postel, † 1864, transatlantische Skizzen). Fr. Gerstäcker († 1872, Mississippibilder,
Flußpiraten &c.). Fürst Hermann Pückler-Muskau († 1871, Tutti=
Frutti &c.). Otto Ruppius († 1864, Der Prärieteufel &c.).
Der humoristische Roman. Nach Jean Paul, Thümmel, Hippel,
Saphir u. A. besonders gepflegt von: Graf Ulrich v. Baudissin (geb. 1816;
Albatros; Graf Ulrich, Ronneburger Mysterien &c.). Adolf Glaßbrenner († 1876;
Berlin, wie es ißt und trinkt; Aus dem Leben eines Gespenstes &c.). Ludw.
F. Stolle († 1872, Deutsche Pickwickier &c.). A. v. Winterfeld (geb. 1824,
Garnisongeschichten, Drollige Soldatengeschichten &c.). Wilh. Meinhold († 1851,
Bernsteinhexe &c.). Wilh. Hauff († 1827, Mann im Monde, Mitteilungen
aus den Memoiren des Satans &c.). Friedr. Schulze (Pseud. Laun, † 1849,
Drei Tage im Ehestande). Aug. Lewald († 1871, Theaterroman, Klarinette &c.).
Eduard Maria Öttinger († 1872, Onkel Zebra &c.). Bogumil Goltz († 1870,
Typen der Gesellschaft &c.). Ludw. Walesrode (Unterthänige Reden). Ludwig
Kalisch (geb. 1814, Shrapnels). Ernst Kossak († 1880, Reisehumoresken &c.).
Fr. Wilh. Hackländer († 1877, Wachtstubenabenteuer &c.). Ernst Eckstein (geb.
1845, Die Gespenster von Varzin &c.).
X. Periode 1870 bis in die neueste Zeit.
Überblick und Charakter der Periode.
Vom Beginn des neuen Deutschen Reiches bis in die neueste Zeit.
Charakteristisch ist, daß sie als Element die Unruhe der bewegten
Gegenwart, aber auch ihr Empfinden und Streben in sich aufgenommen [70]
hat. Jhre Signatur ist das Deutsch-Nationale. Unter dem wie
Donnerhall erbrausenden Ruf zur Verteidigung des Vaterlandes erwacht
wie mit Zaubergewalt zunächst die politisch=patriotische Lyrik.
Die einzelnen Richtungen, Parteigetriebe, Schulen der vorigen Periode
sind mit einemmal versöhnt. Zum erstenmal genießen wir das erhebende
Schauspiel, Deutschlands Dichter in einem großen, einheitlichen, deutsch
vaterländischen Ziel vereint zu sehen. So ersteht mit der Wiedergeburt
des Deutschen Reiches eine einheitlich deutsch=nationale Dichtung. Die
Lyrik preist in jubelnden Accorden das Wiedererstehen deutscher Einheit,
deutscher Macht, deutscher Größe und Ehre. Die Epik verfolgt
in Zeitromanen und Novellen dasselbe Ziel und das Drama pflegt in
vielen seiner Gestaltungen deutschen Sinn und deutsch=nationales Streben.
Wir führen die hauptsächlichsten Vertreter dieser Periode in alphabetischer
Reihenfolge vor und nennen auch solche Namen, die sich oft nur durch eine,
vielleicht nur in Zeitschriften oder Sammelwerken erschienene, doch populär
gewordene poetische Leistung verdient gemacht haben. Ebenso wiederholen wir
die aus der vorigen Periode hereinragenden Dichter, wenigstens auf dem Gebiet
der Lyrik, da ja selbst mancher Epiker der vorigen Periode plötzlich zum Lyriker
und Vaterlandssänger wurde. Bei den einzelnen Dichtern haben wir ─ soweit
möglich ─ das Geburtsjahr angefügt, sowie bei den in dieser Periode verstorbenen
auch das Sterbejahr. Da bei den meisten Dichtern dieser Periode
die Nennung des Namens genügt, um an die eine oder andere ihrer der Gegenwart
angehörigen, im Gedächtnis gebliebenen Dichtungen zu erinnern und da
dieselben im 2. Bd. (mit den in diesem Paragraph nicht aufgeführten Dichtern) noch
erwähnt werden, so haben wir hier von Nennung ihrer Poesien absehen zu
sollen geglaubt.
Jnhalt der 10. Periode.
A. Lyriker.
Alexis Aar (1853). Fr. Ahrens (1834). Fr. Albrecht (1818). Engelbert
Albrecht (1836). Herm. Allmers (1821). L. Altenbernd (1818). K. Altmüller
(1833). Ludw. Anzengruber (1839). Patrizius Anzoletti (1838).
Berthold Auerbach (1812). Ludw. Auerbach (1840). Eufemia, Gräfin von
Ballestrem (1854). O. Banck (1824). Ernst Barre (1843). G. Emil
Barthel (1835). Ludw. Bauer (1832). Rud. Baumbach (1841). Eduard
Baumbach (1821). Heinr. v. Bautz (Ps. f. H. v. Ödheim). K. Fr. Wilh. Beyer
(genannt Rothenburger Einsiedler, 1803). K. Beck († 1880). Roderich Benedix
(1811 bis 1873, schrieb 1870 Soldatenlieder). Maximilian Bern. Konrad
Beyer (1834). Moritz Blanckarts (1839). Oskar Blumenthal (1852). Viktor
Blüthgen (1814). Fr. v. Bodenstedt (1819). Ludw. Bowitsch (1818). A. Emil
Brachvogel (1824─1878). Ferdinand Brunold (Ps. f. August Ferdinand Meyer
1811). Ad. Bube (1802─1873). Cajetan Cerri (1826). Ada Christen (1844).
Emil Claar (1842). Wilh. Constant (Ps. f. Konstantin v. Wurzbach, 1818). [71]
Felix Dahn (1834). Franz v. Dingelstedt († 1881). Mart. Drucker (1834).
Marie von Ebner-Eschenbach (1830). Ernst Eckstein (1845). Murad Effendi
(1836). Ludwig Eichrodt (1827). Bernhard Endrulat (1824). Helene
v. Engelhardt-Schnellenstein (1850). Johannes Fastenrath (1839). Joh. Gg.
Fischer (1816). Arth. Fitger (1840). Ludw. Foglar (1820). Theodor
Fontane (1819). Ludw. Aug. Frankl (1810). Ferd. Freiligrath (1810
bis 1876). K. Theod. Gaedertz (1855). Karl Gärtner (1821). Wilh.
Ganzhorn († 1880). Aug. Geib (1842). Emanuel Geibel (1815). Otto
Franz Gensichen (1847). K. v. Gerok (1815). Adolf Glaser (1829). Adolf
Glaßbrenner († 1876). K. Goedeke (1814). Rudolf Gottschall (1823). Julius
Graefe (1852). Hans Grasberger (1836). Ad. Grimminger. Josef Grönland.
Julius Grosse (1828). Klaus Groth (1819). Wilh. Grothe (1830). Josef
Grünstein (1841). Otto Fr. Gruppe (1804─1876). Robert Hamerling
(1830). Moritz Hartmann (1821─1872). Max Haushofer (1840). Dilia
Helena (1816). Seligman Heller (1828). Hans Herrig (1845). Georg
Herwegh (1817─1875). Wilh. Hertz (1835). Paul Heyse (1830). Edmund
Höfer (1819). Hoffmann v. Fallersleben (1798─1874). Fr. Hofmann
(1813). Joh. Jak. Honegger (1825). Hans Hopfen (1835). Angelika
von Hörmann (1843). Jgnaz Hub († 1880). Helene v. Hülsen (1829).
Georg Jäger (1826). Gust. Jahn (1818). Wilh. Jensen (1837). Wilh.
Jordan (1819). Max Kalbeck (1850). Alex. Kaufmann (1821). Gottfr.
Keller (1819). Theob. Kerner (1817). Gottfr. Kinkel (1815). Hermann
Kletke (1813). Josefine Freiin von Knorr (1827). Joh. Koch († 1873).
Karl Köchy (1800). Emil Kuh († 1876). Richard Leander (Ps. f. Richard
Volkmann, 1830). Otto v. Leixner-Grünberg (1847). Heinr. Leuthold
(† 1879). Hermann Lingg (1820). Peter Lohmann (1833). Hieron. Lorm
(Ps. f. Heinr. Landesmann, 1821). Feodor Löwe (1816). Rud. Löwenstein
(1819). Osw. Marbach (1810). Fr. Marx (1830). Alfred Meißner
(1822). Johann Meyer (1829). Stefan v. Milow (Pseud. für Stefan von
Millenkowics, 1836). Johannes Minckwitz (1812). Max Moltke (1819).
Kurt Mook (1847). Eduard Mörike (1804─1875). Sal. Herm. von
Mosenthal († 1877). Albert Möser († 1877). Müller von der Werra († 1881).
Wolfgang Müller von Königswinter (1816─1873). Rudolf Riggeler (1845).
Hugo Ölbermann (1832). Friedr. Oser (1820). Eduard Paulus (1837).
Betty Paoli (Ps. f. Elisabeth Glück, 1815). Heinr. Penn (1839). Adolf
Peters (1803─1876). Heinr. Pfeil (1835). O. Prechtler (1813). Heinr.
Pröhle (1822). Ernst Rauscher (1834). Oskar v. Redwitz (1823). Max
Remy (1839). Oskar Riecke (1848). Emil Rittershaus (1834). Julius
Rodenberg (1831). Hermann Rollett (1819). Otto Roquette (1824). Petri
Kettenfeier Rosegger (1843). Ferd. v. Saar (1833). Adf. Fr. v. Schack
(1815). Pauline und Julius Schanz (1828). Josef Viktor v. Scheffel (1826).
Ernst Scherenberg (1839). Georg Scherer (1824). Hermann Schmid (1815
bis 1880). Richard Schmidt-Cabanis (1838). Ludw. Schneegans (1842).
K. Schrattenthal. Johannes Schrott (1824). Franz Xaver Seidl (1845). [72]
Johann Gabriel Seidl (1804─1875). Adolf Seubert. August Silberstein
(1827). K. Simrock (1802─1876). Theodor Souchay (1832). Fr. Steinebach
(1821). Karl Stelter (1823). Adolf Stöber (1810). Ferd. Stolle
(1806─1872). Theodor Storm (1817). Moritz Graf v. Strachwitz († 1847).
David Fr. Strauß († 1874). Adolf Strodtmann (1829─1879). Julius
Sturm (1816). Eduard Grisebach (1845. Pseud. der neue Tannhäuser).
Eduard Tempeltey (1832). Albert Träger (1830). Titus Ullrich (1813).
Emile Mario Vacano (1842). Vogel von Glarus (1816). Robert Waldmüller
(Ps. für Charles Eduard Duboc, 1822). Johs. Wedde (1843). Feodor
Wehl (1821). F. G. Adolf Weiß (1839). K. Weitbrecht (1847). Wilhelmine
Gräfin von Wickenburg-Almasy (1845). Jos. Viktor Widmann (1842). Adolf
Wilbrandt (1837). K. Wörmann (1844). Julius Wolff (1834). Fr. Willib.
Wulff (1837). Heinr. Zeise (1822). Albert Zeller (1804). K. Zettel
(1831). Ernst Ziel (1841). M. Alex. Zille (1814─1872).
B. Epiker.
Bertha Augusti (1827). August Becker (1829). Ad. Bube (1802
bis 1873). Robert Byr (Ps. für Heinrich Beyer, 1835). Aug. Corrodi
(1826). F. Dahn (1834). Johannes von Dewal. v. Dingelstedt († 1881).
Dräxler-Manfred († 1879). Jda von Düringsfeld. Egon Ebert († 1876).
E. Edel (1825). Endrulat (1828). Emilie Erhard. C. Falk. Ludwig Foglar
(1820). Theodor Fontane (1819). Karl Frenzel (1827). Amara George
(1835). Glaßbrenner († 1876). Claire v. Glümer (1825). Julius Grosse
(1828). Karl Heigel (1835). Robert Hamerling (1830). G. Hesekiel (1819
bis 1874). Paul Heyse (1830). Edmund Höfer (1819). Hans Hopfen (1835).
Moritz Horn (1814─1874). Alex. Kaufmann (1821). Gottfr. Keller (1819).
Hieronymus Lorm (1821). Alfr. Meißner (1822). Ferd. Meyer (1811).
Melch. Meyr (1810─1871). Mar. Mindermann (1808). Anton Niendorf
(1826). Karl Wilh. Osterwald (1821). Emma Laddey (1841). Paul
Lindau (1839). Rudolf Lindau (1829). Luise Otto-Peters (1819). Otto
Roquette (1824). Rosenthal-Bonin (1840). Adf. Fr. v. Schack (1815).
Jul. Schanz (1828). Joseph Viktor v. Scheffel (1826). Ludwig Anzengruber
(1839). K. E. Franzos (1848). W. H. v. Riehl (1823). Fr. Uhl (1825).
Ad. Wilbrandt (1837). Fr. Spielhagen (1829). L. Storch (1803─1880).
Adolf Stern (1835). Edm. Sternau (Pseud. für Otto Risch). Ferd. Stolle
(1806─1872). Theodor Storm (1817). Mariam Tenger. Titus Ullrich
(1813). Robert Waldmüller (1822). Feod. Wehl (1821). Fr. Th. Vischer
(1807). B. Auerbach (1812). G. Ebers (1837). E. v. Dincklage (1825).
Julius Wolff (1844). Gust. Kastropp (1844) u. A. Die hier nicht aufgeführten
Epiker der letzten Periode sind unter Litteratur der einzelnen epischen
Gattungen Bd. II dieses Buches verzeichnet.
C. Dramatiker.
Auf dramatischen Gebieten wurden zum Teil früher geschrieben, jedoch
erst in der Zeit des neuen Deutschen Reiches gedruckt oder aufgeführt Dramen von:
Arn. Beer († 1880). A. E. Brachvogel (1824─1878). Ad. Calmberg
(1837). W. Duncker. Ludw. Eckart († 1871). J. G. Fischer (1816). Rud.
Gottschall (1823). Jul. Grosse (1828). K. G. Häbler (1829). W. Hosäus
(1827). Hans Köster (1818). Jul. Kühn (1831). B. v. Lepel (1818). Pet.
Lohmann (1833). Paul Lindau (1839). Herm. Lingg. Oswald Marbach (1810).
Gust. v. Meyern († 1878). Heinr. Kruse (1815). S. H. v. Mosenthal (1821).
Oskar v. Redwitz (1823). Fr. Spielhagen (1829). Jos. v. Weilen (1830).
Anna Löhn. Gust. Wacht. C. Byr. Ad. Wilbrandt (1837). Ludwig Anzengruber
(1839). Franz Nissel (1831). Karl Nissel (1819). Hippolyt
Schaufert (1835─1872). Feod. Wehl (1821) u. A. (Die hier nicht aufgeführten
Dramatiker dieser Periode finden sich bei den einzelnen dramatischen
Dichtungsgattungen verzeichnet, s. Bd. II d. B.)
Anhang zum § 18.
Volks- und Jugendschriftsteller dieser und zum Teil der
vorigen Perioden.
Wie in den beiden vorausgehenden Perioden bedeutende Männer durch
gehaltvolle Volks- und Jugendschriften sich ausgezeichnet haben (wir nennen
Gellert, Claudius, Musäus, Bürger, Arndt, Zschokke, Basedow, Campe, Salzmann,
Pestalozzi), so sind in der Neuzeit als Volks- und Jugendschriftsteller
besonders erwähnenswert:
Berth. Auerbach (geb. 1812, Schwarzwälder Dorfgeschichten &c.). Gg.
Scherer (geb. 1824, Jllustr. Deutsches Kinderbuch). Jeremias Gotthelf (für
A. Bitzius, 1797─1854, Leiden und Freuden eines Schulmeisters, Uli der
Knecht &c.). Adalb. Stifter (1806─1868, Studien, Bunte Steine &c.). Gust.
Jahn (geb. 1818, Franz Schwertlein &c.). Herm. Wagner. W. O. von Horn (für
Fr. W. Örtel, 1798─1867, Spinnstube &c.). Karl Stöber († 1865, Der
Kuchenmichel). Otto Glaubrecht († 1859, Leiningen in Dorfbildern). Heinrich
v. Schubert (1780─1860, Der neue Robinson). Friedr. Ahlfeld (geb. 1810,
Das verachtete Kind &c.). C. A. Wildenhahn († 1868, Erzgebirgische Dorfgeschichten).
Josef Rank (geb. 1815, Aus dem Böhmerwald &c.). Christof
v. Schmid (1768─1854, Rosa von Tannenburg, Blumenkörbchen &c.). Hans
Hopfen (geb. 1835, der alte Praktikant &c.). W. G. Becker-Leipzig (1735
bis 1813. Die fröhliche Reise nach Thüringen &c.). K. F. Becker-Berlin
(1777─1806, Weltgeschichte, Zerstörung Trojas &c.). Karl Steiger († 1850,
Das Gutleutehaus). P. Scheitlin (Sagen der Bibel). Gust. Nieritz (1795
bis 1876, Seppel, Das 4. Gebot &c.). Franz Hoffmann-Dresden (1814,
Jugendfreund, 31 Jahrgänge &c.). Th. Dielitz (Reisebilder). H. Kletke (geb.
1813, Der Savoyardenknabe &c.). Fr. Rückert (1788─1866, Kindermärchen &c.).
Franz Graf von Pocci (1801─1876, Michel, der Feldbauer &c.). Friedr.
Güll († 1879, Kinderheimat in Liedern und Bildern). Wilh. Hey (1789 bis
1854, Die sog. Speckterschen Fabeln). Richter-Dresden (Reisen zu Wasser und [74]
zu Land). A. W. Grube (geb. 1816, Biographien, Charakterbilder &c.). Heinr.
Jäde (geb. 1815, Helläuglein &c.). Thomas, Jäckel, Berthelt, Petermann,
Wiedemann und Ferd. Schmid. K. Beyer (geb. 1834, Arja, die schönsten Sagen
aus Jran und Jndien).
Von den Jugendschriftstellerinnen erwähnen wir: Fanny Lewald (geb. 1811),
Ottilie Wildermuth († 1877), Henriette Nordheim, Thekla von Gumpert,
Luise Pichler, Emma Niendorf, L. Reinhardt, Amalie Winter, Clara Cron,
Clementine Helm, Johanna Spyri (Heimatlos, Aus Nah und Fern, Heidi),
Kath. Diez, Emma Laddey (Jugendbibliothek).
(NB. Das Material zum § 18 entstammt eigenen Quellenstudien, sowie
Originalmitteilungen all' jener Dichter, deren Charakteristik ich für Pierers
Universal.=Lex. übernahm, ferner den Handbüchern der Gesch. d. deutsch. Nat.=L.
von Fr. Wernick, Gervinus, Scherr, Heinrich Kurz, Brümmers Dichterlexikon und
den im § 4 genannten Werken.)
Zweites Hauptstück.
Ästhetik.
Ad. Stöber.
──────
§ 19. Begriff und Entwicklung der Ästhetik.
Ästhetik ist die Wissenschaft des Schönen und der Kunst, also
auch der höchsten Kunst: der Poesie als des unmittelbaren Ausdrucks
des Schönen. Wie die Ethik das auf das Gute gerichtete
Wollen und die Philosophie (im engern Sinn) die Lehre vom Erkennen
des Wahren behandelt, so umfaßt die Ästhetik die das Schöne erzielende
Lehre der Empfindung. Das Wort Ästhetik stammt aus dem
Griechischen (ἡ αἰσθητική sc. τέχνη von αἰσθάνομαι ich empfinde,
nehme wahr). Alex. Gottlieb Baumgarten, der das Wort im Jahre
1750 zuerst gebrauchte, war der Begründer der Schönheits- und Kunstwissenschaft
(§ 3); ihr Vollender ist Friedr. Theod. Vischer (§ 4).
Der Jnhalt der Ästhetik gab schon den Alten reichen Stoff zu Betrachtungen.
Platon (427─347 v. Chr.) hat sich in seinem berühmten Dialog
Phädrus zuerst über das Schöne verbreitet. Jn seiner mehr ethischen Auffassung
des Schönen unterscheidet er formale, geistige und absolute
Schönheit. Er nennt die Kräfte des Empfindens, Erkennens und Denkens
drei in ihren Zielpunkten göttliche Kräfte, das einzige Vermögen der Menschen.
Das Ziel für das Erkennen ist ihm das Wahre, für das Wollen das Gute,
für das Empfinden das Schöne. Er verlangt Anstrengung aller Kräfte, um
durch diese Dreiheit zur Gottheit emporzustreben. Das Kunstschöne verwirft er
als schlechte Nachahmung des Naturschönen, während Aristoteles (384 bis [76]
322 v. Chr.), der die Nachahmung des Wirklichen eine Befreiung vom bloß
Zufälligen nennt, das Kunstschöne über das Naturschöne setzt. Jn diesem
Sinne ist sein bekannter Ausspruch zu verstehen, daß die Poesie philosophischer
sei, als die Geschichte. Die spätern Philosophen (Peripatetiker,
Stoiker, Epikureer, Eklektiker) haben sich mit Ausnahme des Plotinus und
Longinus (§ 3) nur sehr einseitig mit dem Schönen beschäftigt. Sie sind im
Vergleich zu Aristoteles höchst dürftig. So trat das Jnteresse für ästhetische
Fragen in den Hintergrund ─ und verlor sich besonders in der christlichen
Zeit. Die Welt des Schönen fand in den sittlichen Kämpfen der ersten christlichen
Zeit keinen Raum und keine Gelegenheit zum Hervortreten. Das Christentum
zog eben in seinem ursprünglichen gewaltigen Kampf gegen die Mächte
der alten heidnischen Welt das Schöne in das Gebiet des Glaubens völlig
hinein. Nur den geistigen Menschen (Seelenheil, Ertötung des Fleisches, Schrecknisse
des jüngsten Gerichts, Ketzerverdammung &c.) betrachtete man als wichtig.
Nach Verschüttung der alten klassischen Welt begannen nur einzelne frische
Keime des Schönen emporzuwachsen. Die große Periode vom Zerfall des
antiken Lebens bis zur Blüte des Mittelalters mit ihren Kämpfen
des Papsttums dauerte über 1000 Jahre. Mit dem bunten Leben der
welterschütternden Kreuzzüge begann ein selbständiger nationaler Geist zu erwachen.
Das Schöne in den neu entstehenden Domen, im Minnesang des
glanzvollen Adels, im Wiedersagen und Singen der alten Volkslieder fing an,
sein Haupt zu erheben. Das ausschließlich religiöse Prinzip war
im späteren Mittelalter durchbrochen. Man wollte der Zuchtrute
der Kirche und ihrer Vormundschaft sich entwinden und wieder frei empfinden,
wieder frei erkennen. Ja, man versuchte über die Wucht des Glaubens hinüber
das Dogma schüchtern zu bekämpfen, als den Grund der Scholastik, der
ja nicht die Wahrheit an sich Ziel war, sondern die Wahrheit oder die Richtigkeit
des Dogma. Das ästhetische Ringen konnte erst Bedeutung erlangen,
als es die Religion zu zieren begann. Der gotische Stil, das Aufblühen
der See- und Handelsstädte, das Streben der Troubadours, die Dichterthaten
eines Dante und Petrarka brachten das ästhetische Moment wieder zum Aufleben.
Und die deutsche Kirchenreformation mit ihrem ausgesprochen philosophischen,
im Forschen nach Wahrheit gipfelnden Prinzip ermutigte auf's Höchste,
ja verhalf zum Sieg, so daß es den Deutschen Mitte des 18. Jahrhunderts
vorbehalten blieb, die eigentliche Begründung der Ästhetik als
Wissenschaft zu vollziehen. Zwar beschäftigten sich auch andere Völker
(z. B. die an den Neuplatonismus anknüpfenden Engländer und Schotten
Home, Hogarth, Burke u. A., sowie die mehr eklektischen Franzosen Batteux,
Diderot &c.) mit ästhetischen Betrachtungen; aber ihr aphoristisches Vorgehen
blieb ohne jene weittragende wissenschaftliche Nachfolge, welche um 1750
Baumgarten, der Vollender der Wolffschen Philosophie, durch Einreihung
der Ästhetik in das Wolffsche philosophische System errang. Seine unmittelbaren
Schüler unter den sog. Popularphilosophen (z. B. Sulzer § 3) suchten
vor Allem das Schöne mit dem Ethischen zu vermitteln. Winckel= [77]
mann und Lessing erstrebten Zurückführung des Geschmacks auf die klassische
Antike. Desgleichen Herder, der die Naturschönheit betonte, und Goethe,
der die Kunstschönheit obenan setzte. Die Jdentitätsphilosophen gaben der
Ästhetik ihre Signatur. Kants Definition, daß das Schöne ohne Begriff
und ohne praktisches Jnteresse unbedingt gefallen müsse,
setzte das Schöne in bewußten Gegensatz gegen das Angenehme und gegen das
Gute. Als Quelle des künstlerischen Schaffens ─ im Gegensatz zum handwerksmäßigen
─ nimmt Kant angeborene Gemütslage an. (Schiller steht auf
Kantscher Basis, indem er die interessantesten ästhetischen Fragen mit Bezugnahme
auf Poesie geistvoll erörtert und als höchstes Schönheitsideal die Harmonie
der sinnlichen und geistigen Kräfte des Menschen fordert. Ebenso Jean Paul,
dessen phantasievolle Vorschule (§ 4) zur Theorie des Humors wurde.) Jn
Gegensatz zum Kantschen Kritizismus trat der Fichtesche Jdealismus, der
wohl als Hauptursache der romantischen Dichterschule und ihrer ästhetischen Begründung
(durch Schlegel) anzusehen ist. Schelling, an den sich namentlich
in seiner 3. Periode des Spinozismus die Mystiker anlehnten, stellte den Satz
auf, die höchste produktive Thätigkeit des Geistes beruhe in der
Einheit des Bewußten und Unbewußten; dies sei aber die künstlerische
Thätigkeit, weshalb die Spitze aller Philosophie die
Philosophie der Kunst sei. Seine ästhetische Schrift „Bruno, oder
über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge“ schuf ihm
Nachfolger. (Solger, Krause, Schleiermacher &c. § 4.) Hegel erhob endlich
die Ästhetik zu einer systematisch aufgebauten Disciplin im Schulsinn.
Seine systematische Behandlung des Naturschönen als Vorstufe des Kunstschönen,
sowie seine geschichtliche Betrachtung der Schönheitsidee als symbolische,
romantische und klassische Kunstform bildet eine sichere Basis zur Bestimmung
der Grundbegriffe des Schönen und zur Einteilung der Künste. Er verlangt,
das Schöne und dessen Verwirklichung durch die Kunst im höchsten, rein ideellen
Sinn zu begreifen. Das Schöne ist ihm Durchscheinen der Jdee durch
den Stoff. An Hegel lehnen sich 1) Weiße, der die Ästhetik die Wissenschaft
von der Jdee der Schönheit nennt und dann aus deren inneren
Widersprüchen die Begriffe des Erhabenen, Häßlichen und Komischen entwickelt;
2) A. Ruge; 3) K. Rosenkranz; 4) der Vollender der Hegelschen und
der Begründer der neuen Ästhetik Fr. Th. Vischer, der in seiner epochebildenden
Ästhetik (§ 4) den Gegensatz des Erhabenen und Komischen
entwickelt, als deren Einheit sich ihm das konkrete Schöne und daraus der
volle Reichtum aller Schönheitsformen ergiebt. Der Vollständigkeit wegen erwähne
ich noch, daß Herbart der idealistischen Ästhetik gelegentlich entgegentritt,
und zwar mit der Forderung eines Formalprinzips. Ästhetik
nennt er verschiedene Betrachtungen über das Schöne und
Häßliche, deren Veranlassungen sich in ganz ungleichartigen Künsten finden.
Seine Schüler: 1) Zeising, der das Rätsel der formalen Verhältnisse als
Grundprinzip des Schönen im sog. goldenen Schnitt (§ 21) findet und 2) Rob.
Zimmermann, dessen II. Band der Ästhetik dieselbe als Formwissenschaft [78]
behandelt, erklären jeden Jnhalt als indifferent oder doch unbedingt von der
Form abhängig, während doch Form und Jnhalt gleichberechtigt im Schönen
ohne Überwiegen des Einen oder Andern bestehen müssen.
Jn der Neuzeit hat sich im Gegensatz zum Jdealismus der Hegel=
schen wie zum Formalismus der Herbartschen Schule eine Richtung
geltend gemacht, welche die ästhetischen Fragen auf der Basis einer mehr naturwissenschaftlichen
Methode zu lösen versucht und die Ästhetik den Errungenschaften
der Gegenwart in Wissenschaft und Technik dienstbar machen will. Diese Bestrebungen
fallen mit Gründung des neuen Deutschland zusammen; man sucht
in der jüngsten Zeit auch das Empfindungsleben in Entfaltung deutscher Kunst zur
Blüte zu bringen. Jünger der Kunst und der Wissenschaft arbeiten sich mehr
als je neidlos in die Hände, um unsere Nation einer Blütezeit entgegenzuführen,
ähnlich der hellenischen im 5. Jahrh. und zu Anfang des 4. Jahrh.
v. Chr. Am besten führt den Laien in die Ästhetik: 1) Carrières Ästhetik;
2) Lemckes populäre Ästhetik und 3) Köstlins Ästhetik. Diese Schriften
scheinen mir am meisten geeignet, zu zeigen, wie die Ästhetik das Wissen des
Empfindens und des Könnens des Schönen umschließt, und wie sie daher ebenso
Lehre der Erscheinungen und Formen des Schönen (Formenlehre) ist, als
Philosophie des Schönen und der Kunst.
§ 20. Das Schöne an sich.
1. Man kann „schön“ von scheinen, wie von schauen ableiten.
(Vgl. Weigands Ableitung vom got. skiunan, mitth. scionan == schimmern,
verwandt mit dem mitth. scinan == scheinen.) Jn dieser Hinsicht
ist schön dasjenige, was angenehm erscheint, was angenehm anzuschauen
ist, was freundlichen Schein gewährt, dessen Anschauen
Freude erzeugt. Das Schöne an sich muß also das Wohlgefallen des
zu richtigem Geschmack und zur ästhetischen Beurteilung Befähigten
erregen, abgesehen von jeglichem Nutzen. Das dichterisch Schöne ist
die dichterische Jdee in äußerer sinnlicher Erscheinung, oder: die den
Gesetzen unseres Empfindungslebens entsprechende Form der Erscheinung
des dichterischen Begriffs.
2. Es ist das absolut Maßvolle. Sein Gegensatz ist das Häßliche.
3. Zwischen dem Schönen und dem Häßlichen giebt es viele
Zwischenstufen.
1. Platos Phädrus. Zur Entwickelung und Erklärung des Schönheitsbegriffs
geben wir auszugsweise den berühmten, mehr genannten als gekannten
Dialog „Phädrus“, da er als Ausgangspunkt des Schönen wie als älteste
Darstellung des Begriffs der Schönheit von jedem, der Poetik studiert, gekannt
sein muß. Plato zeigt in den beiden Teilen des Phädrus, daß neben der
sinnlichen Liebe jene auf dem Wahrscheinlichen beruhende sophistische Rhetorik
die nach Oben strebende Flügelkraft der Seele d. i. die auf das Schöne [79]
gerichtete Begeisterung hemme. Er läßt den Sokrates alle Arten von Begeisterung
(Wahnsinn) erörtern, wobei u. A. als dritte Art die von den Musen ausgehende
Besessenheit genannt wird, welche, nachdem sie eine zarte und unbefleckte
Seele ergriffen hat, dieselbe in der Dichtung erweckt und zum Ausdruck bringt,
hiebei aber unzählige Thaten der Voreltern verherrlichend die Nachkommen veredelt
und bildet. Von hier aus geht Plato auf die Seele über, welche er
als sich selbst bewegend und unsterblich bezeichnet (c. 24), indem er sie ihrer
Gestalt nach mit einem geflügelten Zweigespann nebst dem Wagenlenker desselben
vergleicht. Daran reiht er eine hochpoetische Schilderung des ursprünglichen
Verkehrs der Seelen mit der Götterwelt. Er sagt: Der Götter Rosse= und
Wagenlenker sind selbst gut und von guter Abstammung, die der übrigen Seelen
aber sind gemischt. Das eine Roß unseres menschlichen Seelengespanns ist vortrefflich,
das andere nicht, weshalb es schwer zu lenken ist. Die Seele ist
gefiedert. Die vollkommene schwebt in der Höhe, die entfiederte aber wird fortgerissen,
bis sie irgend einen festen Körper ergreift, worauf sie einen irdenen
Leib erhält, der sich infolge ihrer Kraft von selbst zu bewegen scheint. Nunmehr
ist ein sterbliches und ein unsterbliches Teil verbunden. Von Natur aus
ist die Kraft des Gefieders dazu bestimmt, das Schwere nach Oben zu führen,
dort in der Höhe schwebend, wo das Geschlecht der Götter wohnt, ─ teilzunehmen
am Göttlichen, welches das Weise, das Gute und das Schöne
ist, um sich an diesem zu nähren. Zeus, der große Führer im Himmelsgebäude,
zieht hier voran, indem er Alles ordnet und für Alle sorgt. Jhm folgt die
Schar der Götter und Dämonen in 11 Gruppen, um sich in seligen Scenen
und Umgängen beglückt zu bewegen. Da die Götter neidlos sind, so folgt
ihnen, wer nur will: alle Seelen und Geister. Wenn die Götter zum Mahl
gehen, so schreiten sie mit ihren wohlgezügelten Rossen am Rand unter die
himmlische Wölbung mit Leichtigkeit steil empor. Wenn sie am äußersten Rande
des Himmels angekommen sind, schreiten sie noch hinaus in die Sphäre des
Umschwungs der höchsten Dinge und verweilen auf dem Rücken des Himmels,
wo sie der Umschwung allmählich herum bringt: sie beschauen nun, was außerhalb
des Himmelsgebäudes ist. Ewige Schönheitsformen, ewig herrliche Wahrheiten
werden da erkannt: jene farb- und gestaltlose Wesenheit, welche in Wahrheit
ein Sein hat, die sich allein vom Verstande, dem Steuermann der Seele,
beschauen läßt. Da das Denken der Götter ─ wie das einer jeden Seele
─ vom Verstande und von reinem Wissen sich nährt, so gerät es beim Anblick
des wirklich Seienden in Freude; es nährt sich davon und empfindet Wohlbehagen.
Endlich kommt wieder der Umschwung im Kreise, der die Götter an
die vorige Stelle zurückbringt. Nun schlüpfen sie wieder in das Jnnere des
Himmelsgebäudes und kehren nach Hause zurück, wo der Wagenlenker den
Rossen Ambrosia und Nektar vorsetzt. Dieses ist die tägliche Lebensart der
Götter. Von ihr verschieden ist die Lebensart der menschlichen Seelen. Diejenigen
Seelen, welche einem Gotte am ähnlichsten sind, kommen wohl auch
zum äußersten Raum empor und werden auch im Umschwung mit herum geführt,
aber sie werden mit Gewalt vom widerstrebenden Rosse gestört, so daß [80]
sie nur mit Mühe einen Blick auf das Seiende zu werfen vermögen. So sehen
einige Seelen Einiges, andere sehen gar nichts. Die übrigen Seelen verlangen
wohl auch nach Oben; durch ihr Andringen entsteht Gedränge, Tumult, Kampf,
wobei Vielen das Gefieder beschädigt und zerknickt wird. So kehren sie ohne
die Nahrung, welche das Schauen des Seienden gewährt, zurück. Jene Seelen,
welche nie die Wahrheit sahen, gelangen nicht in menschliche Gestalt. Ein
Mensch muß seine Einsicht nach Maßgabe dessen, was man Jdee nennt, gewonnen
haben; die Jdee geht aber aus vielen Sinneswahrnehmungen als ein
in der Vernunft zusammengefaßtes Eines hervor; dies aber ist die Erinnerung
an Jenes, was unsere Seele einst gesehen, als sie mit einem Gott
umherwandelte und den Blick hoch über dasjenige erhob, was wir jetzt als
Seiendes bezeichnen. Jede Seele eines Menschen hat von Natur aus das
Seiende gesehen, aber wenige erinnern sich mehr daran. Die Wenigen, welche
sich erinnern, werden beim Anblick eines Abbildes des Dortigen durchzuckt,
durchschauert. Dem Abbilde wohnt kein Lichtglanz dessen bei, was für die
Seele ehrwürdig ist. Die Schönheit war nur damals glänzend zu schauen,
als Zeus wandelte und die Seele noch keinen Körper hatte. Die Schönheit
glänzte damals mitten im Einherschreiten ─ als das Liebreizendste. Der Eingeweihte,
der Vieles von dem damaligen geschaut, wird beim Anblick eines
gottähnlichen Antlitzes, das eine gute Nachahmung der Schönheit ist, zusammenschaudern;
es wird ihn eine der damaligen Furchtäußerungen überkommen; es
regen sich nun die Keime des Gefieders seiner Seele von Neuem; er wird
beim Hinschauen eine heilige Scheu wie vor einem Gott empfinden; am liebsten
möchte er durch ein Opfer seine weihevolle Stimmung zeigen. Die Erinnerung
an das Damalige ergreift ihn mächtig. Diese Erinnerung aber als
Abspiegelung und Widerglanz des in unser Erdenleben überschimmernden
Ewigen ist eben die Schönheit: das Schöne
an sich.
Solange eine Erinnerung an dieses Schöne bleibt, wird niemals die
Menschheit wieder völlig gegen die tierische, dunkle, jenem himmlischen entgegen
gelagerte Seite hinabgedrückt werden. Von der Erinnerung erwärmt, lebt
ewig in ihr die Sehnsucht, lebt die Begierde, wachsen die Flügel, sich dort wieder
hinaufzuschwingen. ─ ─ ─ (Soviel aus dem für unsere Poetik wichtigen ersten
Teil des Phädrus, in welchem Plato noch einmal mit allen Farben der Phantasie
den Kampf schildert, den der Wagenlenker gegen das eine der Rosse zu bestehen hat &c.
Der zweite Teil des Phädrus dreht sich um Reden, Redenhalten, Redenschreiben
als schriftstellerische Thätigkeit, rhetorische Technik und Dialektik und bietet nur
gelegentliche Aussprüche über Schönheit. So sagt er z. B. daß das Schöne zu
unternehmen bereits selbst schön sei. Er schließt: „O lieber Pan und
ihr übrigen Götter, so viele ihr hier seid, verleihet mir schön zu werden im
Jnneren; was ich aber Äußeres habe, soll mir dem Jnneren befreundet sein &c.“)
Man ersieht, daß Plato dem Begriff des Schönen in unserem Sinne
kaum die richtige Basis gab. Ebenso wenig haben Aristoteles (Poet. c. 7)
und Batteux, welche die Schönheit in Nachahmung der Natur setzen, oder [81]
Mendelssohn, welcher Einheit im Mannigfaltigen als den Charakter der
Schönheit angab, oder Hogarth, der die Wellenlinie für die Quelle der
Schönheit hielt, oder Burke, welcher meint, das Schöne werde in den Sinneswerkzeugen
allein empfunden, den Begriff des Schönen ganz erschöpft, in welcher
Beziehung erst Kant und der ideale Hegel (§ 19) dem Wesen desselben
am nächsten kamen.
Zur vollen Erkenntnis leitet unzweifelhaft der einfache Weg naturwissenschaftlicher
Empirie und Prüfung. Unsere Empfindungen in ihren Äußerungen
manifestieren sich in ihrem Verhalten zum Schönen als Gefallen oder
Mißfallen. ─ Das den höheren Sinnen des Gesichts und Gehörs Gebildeter
Wohlgefällige ist somit das Schöne. Obwohl das Schöne mit dem Guten
verbunden sein kann, hat das Schöne nichts mit diesem zu thun. (Z. B.
entscheidet bei Beurteilung der Schönheit des menschlichen Körpers nur der
Schein, == die Erscheinung: das Äußere.)
2. Bei Bestimmung des Schönen kommt es auf das Verhältnis des Beurteilenden
zum Objekt an, das beurteilt wird. Die Übereinstimmung bewirkt
Liebe und Freude am Schönen, also Anziehung; die Nichtübereinstimmung
bewirkt Abscheu, Mißfallen, Widerwillen, also Abstoßung. ─ Anziehen und
Abstoßen des Schönen und des Häßlichen lassen zwei Punkte erkennen, in
welchen beides aufgehoben zu sein scheint: Das Unbedeutende und das
Gleichgültige. Wenn das Schöne das absolut Maßvolle ist, so muß das
Häßliche das absolut Maßlose sein.
3. Zwischen dem Schönen und dem Häßlichen als Polen stehen das
Furchtbare und das Lachbare (nicht Lächerliche) sich gegenüber. Das Furchtbare
erhebt sich in der Wage ebenso hoch über das Maß unserer ästhetischen
Kraft, als das Lachbare unter dasselbe fällt. So werden das Furchtbare
und das Lachbare in ihrem Verhältnisse zum Schönen zu ästhetischen Grundbegriffen,
von denen jeder durch Zwischenstufen entweder zum Schönen emporleitet
oder zum Häßlichen niederführt. Solche Zwischenempfindungen in der
Windrose des absolut Schönen sind: 1. das Schönfurchtbare (das Schöne
einerseits, die Furcht andererseits, was wir Erhabenes nennen, das wir
uns als Trost denken, soweit wir ihm durch Liebe verwandt sind, das wir
aber fürchten, wenn wir das Aufhören der Liebe vermuten). 2. Das Furchtbar=Häßliche
(Furcht und Ekel in ihrem Zusammentreffen bewirken das
Grausige, Scheußliche, ─ oder bei Gleichgültigkeit ─ das Niedere als Gegensatz
zum Erhabenen). 3. Das Lachbar-Schöne (es ist das Reizende, das
uns fesselt, das uns aber doch nicht mit der magnetischen Gewalt des rein
Schönen anzieht).
Weitere leicht einzureihende und zu definierende Abstufungen sind noch das
Herrliche, das Schönerhabene, das Gewaltige, Entsetzliche,
Schreckliche, Gemeine, Liebliche u. s. w.
So entsteht eine Skala von dunklen Empfindungen, welchen selbstredend die
in Begriffe umzusetzenden Empfindungen als klare, klar gewordene Gefühle entsprechen, [82]
wie wir sie zur Anschaulichmachung in Parenthese dem nachfolgenden
Schema beigefügt haben. (Über klare Gefühle vgl. des Verf. philos. Grundlinien
„Erziehung zur Vernunft“. 3. Aufl. S. 45.)
Man ersieht hieraus, wie das Schöne in seinen vier hervorragenden
Abstufungen alles Anziehende, das Häßliche in seinen angrenzenden Gruppen
alles Abstoßende in sich vereint. Das Schöne erweckt Liebe, das Häßliche Haß
u. s. w. Der Umfang der Zwischenempfindungen reicht bis zu den Hauptempfindungen,
also das Grausige bis an die Grenzen des Häßlichen und
Furchtbaren. Bezüglich der Gefühle, welche das Unterliegen oder Siegen
der Empfindung hervorrufen, erzeugt z. B. der Sieg des Schönen Freude, sein
Untergang Schmerz. Der Sturz des Erhabenen wirkt tragisch (Zusammengesetztes
Gefühl aus Mitleid und Furcht) u. s. w. (Darüber mehr in § 24
und 25 dieses Buches, sowie in Lemckes Ästhetik Ziffer I und Köstlins Ästhetik Bd. I.)
§ 21. Erkenntnis des Schönen.
Das Schöne zu erkennen, setzt Kenntnis der uns innewohnenden
ästhetischen Gesetze wie der Gesetze der Erscheinung voraus.
Das Schöne enthüllt sich dem Gebildeten 1) im Wechsel der Form
(Rhythmus), 2) in der Proportionalität (goldner Schnitt), 3) in dem
die Maße ersetzenden Gewicht.
Die Kenntnis der ästhetischen Gesetze muß anerzogen, abstrahiert, geübt
und gelernt werden. Sie ist nicht angeboren. Die Wissenschaft soll uns lehren
und bilden. Der Dichter muß die Gesetze des Schönen von andern Dichtern
gelernt haben, wenn er sie üben soll. Er muß die Ordnung oder das regelnde
Gesetz erschaut haben, in welchem die Jdee entsteht und erscheint. Dann erst
kann er die in ihrer reinsten Gesetzmäßigkeit sich zeigende Jdee in der Erscheinung
(d. i. das Jdeal) erstreben. Wir sind heute im Gegensatz zu einer
früheren spekulativen Ästhetik so weit, um einzusehen, daß das Sehen und Hören
nach der physikalischen und physiologischen Seite, das Erfassen von Bewegung,
Licht, Klang, das erste Fundament für die gesamte ästhetische Thätigkeit abgiebt, und
daß allein das wissenschaftliche Beobachten zuverlässige Aufschlüsse und Erklärungen
über unser ästhetisches Auffassen und Urteilen liefert. Das ist ein
großer Fortschritt und lediglich das Resultat der naturwissenschaftlichen
Methode in der Ästhetik. Erst seit z. B. der Ton als eine Zusammensetzung
von Schwingungen aufgefaßt wurde, kann man sich sagen, daß eine
Vielheit, Verschiedenheit, Mannigfaltigkeit der Schwingungen zum Wohlgefallen
nötig ist, worin eine zahlenmäßige Einheit liegen muß, die das Ganze durchzieht
und die Summe der Beobachtungen gewissermaßen als Grundgesetz für
unser ästhetisches Empfindungsleben erscheinen läßt. Die Vielheit entsteht durch
Teilung der Einheit (z. B. in der Strophenbildung). Aus der Gruppierung
der Teile zur Einheit entsteht die Gliederung. Die Grenze liegt im ästhetisch
gebildeten Gefühl des Einzelnen, wie des bestimmten, ganzen Volks. (Man
vgl. griechische Kunst mit orientalischer.) Übertriebene Gliederung ist in jeder
Kunst unschön. Einheit bedingt Ganzheit, also Lückenlosigkeit, Vollständigkeit,
sowie Freiheit in der Entwicklung der Jdee zum schönen Ausdruck, zur
Schönheitsform. Jn dieser Beziehung könnte die nach naturwissenschaftlicher
Methode verfahrende Erkenntnis des Schönen dieses als Freiheit in der
Erscheinung bezeichnen, welche harmonische Bildung erstrebt und Werke
hervorruft, von denen man sagen kann: das Schöne ist das harmonisch
Gebildete.
1. Wechsel der Form (Rhythmus).
Es ist nicht nötig, daß gleiche Teileinheiten gleichmäßig zusammengesetzt
sind, vielmehr wirkt Wechsel der Form, bei welchem die vermittelten
Gegensätze in einander überfließen, wohlgefällig. Wir nennen
diesen Wechsel Rhythmus.
Rhythmus bedeutet für unser Ohr und Auge das durch den Wechsel erzeugte
Wohlgefallen. Hogarth nennt in dieser Beziehung die Wellenlinie wegen
des Rhythmus ihrer Bewegung die Schönheitslinie und macht sie zum
Ausgangspunkt seiner Ästhetik. Wie im Raume, so ist es in der Zeit. Ein
Wechsel entsteht durch Änderung der Zeitform, also etwa – ∪ (Trochäus) [84]
oder ∪ – (Jambus) oder ∪ ∪ – (Anapäst) oder – ∪ ∪ (Daktylus) &c.
(Näheres weiter unten.)
2. Proportionalität (der goldene Schnitt).
Die Stufe formeller Schönheit, welche den Gegensatz von Einheit
und Unendlichkeit, von Gleichheit und Verschiedenheit zur Harmonie
aufhebt, ist die Proportionalität.
Unter Proportion des menschlichen Körpers z. B. versteht man die Normalgrößen
der einzelnen Teile in Beziehung zu den übrigen, worauf die Gefälligkeit
und Schönheit der äußeren Bildung beruht. Am schönsten zeigt sich die
Proportionalität im sog. goldenen Schnitt (sectio aurea).
Soll eine Linie a b nach dem goldenen Schnitt geteilt werden, so setzt
man im rechten Winkel ½ a b == b d an, verbindet d mit a, trägt b d auf
d a über (== d e) und den Rest a e auf a b == a c. Dann giebt der Punkt c
die gesuchte Teilung und ist b c : c a == c a : a b, d. h. der kleinere Teil
der Linie verhält sich zum größeren, wie dieser zur ganzen
Linie, oder: der größere Teil ist in der stetigen Proportion zwischen dem
kleineren und der Ganzen das Mittelglied.
Das Gesetz des goldenen Schnittes zeigt sich in der ganzen Natur, vor
Allem in den Normalgrößen oder Proportionen des menschlichen Körpers. Der
Punkt c befindet sich hier im Nabel. Es verhält sich also der Oberkörper
zum längeren Unterkörper, wie dieser zur ganzen Körperlänge. Dasselbe Verhältnis
findet man, wenn man den Unterkörper allein betrachtet. Jn diesem
Fall ist der Punkt c in der Kniekehle. Betrachtet man den Oberkörper für
sich, so liegt Punkt c im Kehlkopf. Adolf Zeising, der Verf. der neuen Lehre
von den Proportionen des menschlichen Körpers, weist dies Gesetz auch in
Musik, Logik, Ethik und Religion nach. Es findet sich aber auch in der Dichtkunst,
z. B. im Drama, wo die Umkehr (Peripetie) an's Ende des 3. Aktes den
Punkt c setzt; im Sonett; in den dreigeteilten Dichtungen der Minnesinger &c.
3. Gewicht ersetzt die Maße.
Für das Schöne kommt das Gewicht und sein Verhältnis zum Maß,
zur Ausdehnung, in Betracht.
Der kürzere Teil muß bei einem Zusammengesetzten dem längeren das
Gleichgewicht halten. Das Bedeutende überwiegt und wird meist als ein [85]
Übergang in's Erhabene empfunden. Jch erinnere an den imponierenden Vorderkörper
des Löwen; an den gotischen Turm und das sich anschließende, dem
Löwenkörper von der Seite ähnelnde Langhaus; an den kleineren Teil in der
Laokoonsgruppe (der sterbende Sohn, der den größeren Teil durch die Bedeutung
aufwiegt). Jm Drama besteht ein gleiches Verhältnis. Man beachte nur die
beiden letzten Akte im Verhältnis zu den drei vorhergehenden. Jm lyrischen
Gedicht hält der kurze Abgesang den beiden Stollen des Aufgesangs die Wage;
in der Priamel die zusammenfassende letzte Verszeile allen übrigen vorhergehenden.
Man vergleiche auch das Epigramm; allenfalls auch den Refrain in der
Strophe. Jm zusammengesetzten Satz zeigt sich das maßersetzende Gewicht im
bedeutungsvollen Nachsatz. Ein einzelnes Wort kann eine langatmige Periode
aufwiegen. Jm Verstakt wie im Worttakt hält eine Hebung (–) beliebig
vielen Senkungen (∪∪∪) die Wagschale. Man vgl. Worte wie hērrl̆ichĕrĕ,
bēssĕrĕ, Fürstl̆ichkĕit̆en &c. Dies ist bei Bildung von Accentversen ungemein
wichtig.
§ 22. Verhältnis des Ästhetischen zum Ethischen.
Ein wesentliches ästhetisches Moment liegt in der Harmonie zwischen
Wesen und Erscheinung, zwischen Jnhalt, Tendenz und Form. Die
Kunst hat darauf Rücksicht zu nehmen bei Vernichtung des Stoffes
durch die Form oder bei Verarbeitung des rohen Stoffes in die
ästhetische Erscheinung.
Jeder Künstler muß durch ästhetische Kraft, Reinheit, Heiligkeit des künstlerischen
Sinnes wirken. So wird unter seinen Händen zum Meisterwerk sich
gestalten, was vom Stümper herrührend schamlos, abscheulich erscheint. Um
ein Beispiel zu geben, so muß der Dramendichter die objektive Erscheinung
geben, ohne den Beschauer ethisch zu bestimmen und ihm dadurch die ungetrübte
Freiheit ästhetischer Beurteilung zu rauben; er stellt sich sonst unter das ethische
Maß und verwirrt die ästhetische Beurteilung seiner Dichtung durch die
ethische. Daß die Tendenz eines schönen vollendeten Gedichts für die sittliche
Haltung gefährlich sei, darf uns das ästhetische Wohlgefallen an demselben
nicht alterieren. Die Bösewichte Edmund (im König Lear), Karl Moor (in
den Räubern), Macbeth &c. sind ästhetisch viel bedeutender als angekränkelte,
sentimental abgeblaßte, langweilende Tugendhelden oder Amaranthnaturen.
Das Gute, welches man nach seinen drei Hauptformen der Unschuld, der
Pflicht und des sittlichen Kampfes aufzufassen hat, ist eben nicht deshalb lobenswert,
weil es gut, sondern weil es schön ist; das Böse ist nicht deshalb
hassenswert, weil es schlecht, sondern weil es häßlich ist. Da das Schöne
dem Stoffartigen entrückt sein kann, so vermag es die Unschuld freier zu entfalten,
als dies im Guten geschehen kann. Daher ist auch das Schöne über
die dem gemeinen Leben der künstlerischen Unbildung vorgezeichneten Grenzen [86]
des Anstands und der Scham erhaben. (Jch erinnere an unbekleidete Statuen
im Gegensatz zu unbekleideten Menschen.) Mit Recht trennt man in der Kunst
das Ästhetische vom Ethischen. Man verdammt ─ um dies durch Beispiele
zu erhärten ─ Schillers Räuber nicht mehr als verbrecherische
Dichterverirrung; man streitet nicht mehr über Jnhalt und Form der Wahlverwandtschaften
Goethes; man nimmt keinen Anstoß mehr am Nackten
in der Plastik und in der Malerei (was bekanntlich unter Mühler in Preußen vergebens
versucht wurde); man verlacht dagegen den Feigenblattkultus Ungebildeter
und betritt so immer mehr den idealen, rein ästhetischen Standpunkt der Trennung
des Ästhetischen vom Ethischen, indem man das Ethische zwar nicht verkennt,
wohl aber demselben sein eigenartiges Gebiet anweist.
§ 23. Das Charakteristische im Schönen.
Wie das Zufällige als Gesetz im Schönen zu beachten ist, wenn
nicht das Kunstwerk tot, mechanisch sein soll, so muß das Schöne auch
charakteristisch sein, wenn es eigenartig ergreifen soll.
Für das Charakteristische im Schönen kommt 1) der Ausdruck desselben
im Stil, 2) die Aufnahme und Auffassung im Geschmack
und 3) das schöpferische individuelle Hervorbringen in Betracht.
Das Schöne kann man nicht absolut wägen, bestimmen oder messen,
da jede Schönheitsgattung verschiedene Stufen durchläuft und auf jeder Stufe
die sinnliche Gestalt sich ändert, somit auch die Zufälligkeit wächst und sich verändert.
Da aber nicht ein Wesen, nicht ein organisches Gebilde, nicht ein
Schönheitsmotiv, sofern es als Stoff entgegentritt, dem andern gleich ist, so
folgt daraus, daß jedes Schöne charakteristisch sein muß.
1. Der Stil.
Der charakteristische Ausdruck des Schönen kann als Stil bezeichnet
werden. Die reinen Stilarten erreichen das vorgesteckte Ziel
und befriedigen, die unreinen nicht.
Zu den unreinen, ästhetisch nicht befriedigenden, ja, nicht faßlichen Stilarten
z. B. in der Poesie gehört es, wenn das Dramatische episch breit erzählt,
wenn das Lyrische deskriptiv malend ist, wenn das Epische das subjektive
Gefühl des Dichters zeigt &c. Wie der bestimmte Stoff für eine bestimmte
Dichtung, so hat überhaupt jeder Stoff seinen besonderen Ausdruck und Stil.
Der Marmor des Bildhauers hat einen andern Stil als der Sandstein, Eisen
einen andern Stil als Gips. Nach dem Stil richtet sich die eigenartige Arbeit
bei Erzeugung eines Kunstwerks. (Auch im Staate können die Menschen als
Stoff für gewisse Formen ─ die ja hier keine Schönheitsformen zu sein brauchen
─ betrachtet werden. Je nachdem der Gesetzgeber die Menschen als willenloses
Material oder als ein mit Rechten ausgestattetes betrachtet, wird die [87]
Schöpfung seines Gesetzbuches charakteristische Färbung und Anlage wie Ausführung
erhalten. Vgl. Platos spartanische Republik, sowie römische und neudeutsche
Gesetzgebung.)
2. Der Geschmack.
Die durch Bildung erworbene richtige Empfänglichkeit und Neigung
des Geistes für das Schöne in seiner charakteristischen Form, sowie
die auf jene Empfänglichkeit sich gründende Art zu fühlen, zu denken
und zu handeln ist der ästhetische Geschmack. Schaut man das charakteristisch
Schöne als Sinnenwesen an, so sichert ihm das harmonische
Hinüberfließen seiner Wesenheit in das beschauende Subjekt den Namen
der Anmut, der Grazie, ─ oder bei geringem Stoffteile: der Zierlichkeit
und Niedlichkeit.
Die Grundgesetze des Empfindens zeigen, daß die richtige Empfindung
nicht willkürlich oder zufällig, daß sie vielmehr als ein Resultat der eigenartigen
Eindrücke, Erlebnisse und der Bildung des Einzelnen von seiner subjektiven
Eigentümlichkeit abhängig ist. Der Geschmack wird durch Eindrücke, durch
Wissen, durch Lebendigmachung der ästhetischen Urteilskraft veredelt. Also darf
man recht wohl von Bildung des Geschmacks sprechen, und es kann die
Ansicht von angeborenem Geschmack als überwundene philosophische Anschauung
gern über Bord geworfen werden. Der gute Geschmack ist ein Bildungsresultat, ein
durch Erfahrung geübtes Empfinden und Urteilen, wenn er auch ursprünglich
ein unbewußtes Urteilen über das war, was dem Schönheitsprinzip entspricht
(oder um mit Quintilian, Inst. or. VIII. 3 zu reden quaedam non tam
ratione quam sensu judicantur). Die Jdentitätsphilosophen behaupteten:
Der Mensch schaue alles Schöne an den Gegenstand hinan, in welcher Beziehung
die Objekte nicht an sich, sondern nur in der Vorstellung des subjektiven
Geistes schön wären und das Naturschöne zum Reflex des Geistigschönen
sinken würde. Aber unser Geist ist ja nur der Spiegel der Welt, nicht
ihr Hervorbringer. Die ästhetische Grundstimmung des das Schöne genießenden
Gebildeten ist reines Wohlgefallen, d. h. ein solches, welches
nicht reizt, wie z. B. sinnlich Aufregendes, sinnlich üppige Figuren, sinnliche
Musik &c., sondern welches sinnliches Jnteresse ausschließt. Der Geschmack bezieht
sich nicht auf die freie, d. h. absolute Schönheit, sondern auf die charakteristische,
anhängende. Das freie oder absolute Schöne, welches weder
von nationalen noch geschichtlichen Bedingungen abhängig ist, gefällt Allen, sofern
sie nicht fehlerhaft organisiert sind oder allzuwenig Anschauungen und Spuren
des Schönen in sich aufgenommen haben; das anhängende, charakteristische
Schöne erfordert Geschmacksbildung.
Der gebildete Geschmack nennt das Jdeale, das von Manier freie, lebensfähige
Stilvolle, das dem allgemeinen gebildeten Menschengeist zusagende Mustergültige
von bleibendem Werte, sofern es von höchster genialer Kraft und
Leistungsfähigkeit zeugt:
Das Klassische. (Classici waren Schriftsteller ersten Ranges nach dem
Kanon der alexandrinischen Grammatiker.) Der Maßstab des Klassischen und der
Klassizität (Mustergültigkeit) ist zwar auch von der Bildung des Jahrhunderts
der einzelnen Nationen abhängig, aber allmählich arbeiten sich auch die niedrigsten
Völker zu einer das Klassische anerkennenden höheren Geschmacksbildung heraus.
Die höher gebildeten Nationen stimmen bereits darin überein, den hervorragenden
Kunstleistungen des römischen und griechischen Altertums Klassizität
zuzugestehen und namentlich die aus der Blütezeit römischer und griechischer
Litteratur erhaltenen Dichter als Klassiker zu ehren. Uns ist das Vollschöne
das Klassische.
Das Romantische ist zweifelhaft, zuthatenfähig, gestört im gesunden
Zusammenhange. Es ist relativ schön und befriedigt nur (sofern es sich in der
Form dem Klassischen nähert) den dafür prädestinierten eigenartigen Geschmack.
Man könnte das Romantische als das Schöne ohne Begrenzung bezeichnen. Sein
Charakter ist der des Wunderbaren, Unerwarteten, Überraschenden, wie es die
Stoffe aus der Ritterzeit des christlichen Mittelalters bieten. Jn der sinnigen,
von den germanischen Völkern nach dem Süden gebrachten und dort christlich
fromm gewordenen keuschen Liebe der Frauen erreichte es seine Blüte. Eine
Venus ist klassisch schön, eine Madonna nur romantisch. Die deutsche
romantische Schule (von 1807 bis Ende der dreißiger Jahre) stellte sich in Gegensatz
zur klassischen Richtung, deren volle Schönheit in ihrem Verständnis
und Genuß dem wenig gebildeten Volksgeschmack zu fernstehend war. Sie erstrebte
lediglich oder vorzugsweise Gefühlsinnigkeit und volkstümliche, einer
kindlicheren Anschauungs- und Geschmacksweise eigenartige Wärme. Für ein
Beispiel des Tones der romantischen Poesie schreiben wir einige Strophen aus
der „Melusine“ des Vollenders der Romantik Ludwig Tieck her:
u. s. w.
Mangel an Absichtlichkeit, Natürlichkeit der Erscheinung, wird in der
Ästhetik als das Naive bezeichnet. Es ist dasjenige Kindliche, welches da
auftritt, wo man es nicht erwartet, weshalb es eben ─ der Kindheit nicht
zuzuschreiben ist. Das Naive in der Darstellung eines künstlerischen Motivs
muß das Gepräge der Unabsichtlichkeit tragen. Keinesfalls darf es den Eindruck
machen, als ob es für den Beschauer oder Beurteiler berechnet sei. „Man
merkt die Absicht und man wird verstimmt“, sagt Goethe vom erkünstelten
Naiven. Ohne Naivetät kein Klassisches. Das Naive oder der Anschein des
Naiven ist der höchste Kunstzweck.
Beispiel des Naiven:
(Rückert.)
[90](Schiller.)
Beispiel des Naiv-Koketten:
Finkchen:
(Gellert „Das junge Mädchen“.)
3. Das Schaffen des Schönen.
Die Grundlage für das Schaffen des charakteristisch Schönen ist
neben dem gebildeten Geschmack die Phantasie, in welcher die Eindrücke,
Spuren, Empfindungen zu geistigen Gestalten sich gruppieren, zu Bildern,
die gewissermaßen unter Kontrolle des Geschmacks aus der Phantasie
abgeschaut werden.
Jnsofern die Phantasie räumlich und stofflich unbeschränkt ist, kann sie
das höchste künstlerische Vorbild ─ das Jdeal ─ bilden. Je höher der
Künstler steht, desto vollendeter werden seine Bildungen sein. Je gebildeter
des Dichters Geschmack, und je lebhafter seine Phantasie ist, desto mehr wird
er den Namen des Poeten im buchstäblichen Sinn (ποιητής == Schöpfer) verdienen,
desto mehr wird er als ein Schöpfer des Schönen sich bewähren, weshalb
Horaz als erstes Erfordernis des Dichters die Schöpferkraft, die schaffende
Einbildungskraft, ingenium nennt. (Satir. I. 4, 43.) Der Schöpfer des
Schönen in seiner charakteristischen Eigenart wird im Sinne Lessings (Erziehung
des Menschengeschlechts), Schillers, Krauses (Urbild der Menschheit) &c.
zur ästhetischen Erziehung der Menschheit beitragen.
§ 24. Gegensätze des Schönen.
Als solche sind nach § 20 aufzufassen: 1. das Häßliche, 2. das
Furchtbare, 3. das Grausige.
1. Das Häßliche.
Dem Schönen entgegen gesetzt ist das Häßliche, welches im Gegensatz
zu dem durch die Schönheit hervorgerufenen Wohlgefallen Mißfallen
oder nach der Wortableitung Haß hervorruft. Es ist der Gegensatz
der objektiven Schönheit und kann füglich als Nichtübereinstimmung
der Form eines Gegenstandes mit seinem Zweck definiert werden.
Bewegung, Licht, Klang erfreuen, deren Mangel ist Tod. So ist das
Häßliche der Gegenpol des Schönen, das Gegenteil von Freiheit und Ordnung,
die Verzerrung des Symmetrischen und Proportionierten, welches dem Schönen
entgegengesetzte Empfindungen erweckt. Jm älteren Schulsinn der spekulativen
Ästhetiker giebt es kein Häßliches, vielmehr faßte man den Begriff des
Häßlichen als ein wesentliches Moment des Künstlerischen auf, sofern es dem
abstrakten Kunstideale das individualisierende Gepräge des Charakteristischen verleiht.
Jn solcher Weise definiert Aristoteles das Komische als ein Häßliches
ohne zerstörende Kraft. Das Tragische ist in ähnlicher Weise ein Häßliches,
welches als Mißstimmung Erregendes den eigentlichen Jnhalt des tragischen
Leidens bildet, also eine wesentliche und charakteristische Kunstwirkung bezweckt
und erreicht. Jm Widerspruch unserer einander drängenden Moderichtungen in
der Kunst dient das Häßliche nicht selten als Folie, um das Schöne lichtvoller
erscheinen zu lassen, als ein Kontrast, als ein Verkehren der Sätze des Schönen.
Homer hatte für solchen Kontrast den Thersites nötig, um die Erhabenheit
der übrigen Helden von Troja zu illustrieren. Aber nur einen Thersites
konnte er gebrauchen. Die Dichtkunst wie die Malerei darf das Häßliche für
ihre Zwecke nur mäßig anwenden; mit noch mehr Maß die Bildhauerkunst;
am wenigsten oder gar nicht die Architektonik.
2. Das Furchtbare.
Das Furchtbare ist das Maßlose, wie das Häßliche das Ungesetzmäßige.
Jm Furchtbaren wird unsere Subjektivität in ihrer
Kleinheit, Unbedeutendheit gezeigt oder aufgehoben, während sie im
Häßlichen nur zurückgestoßen wird.
Für die Veranschaulichung dieses Satzes diene die Stelle, wo Macbeth
Banquo's Geist erblickt (Shakespeares Werke, IX. S. 317):
Macbeth:
Mit solchem Schatten hört die Vergleichung und das Messen auf. Er
ist furchtbar und wirkt so.
3. Das Grausige.
Die Verbindung des Furchtbaren mit dem Häßlichen giebt das
Grausige, Abscheu erregende oder auch das Entsetzliche, Scheußliche,
das in hohem Grade Widrige.
Zur Verdeutlichung dieser Behauptung denke man an eine Schilderung
der vorschreitenden Pest, des Aussatzes oder an den widrigen Grendel im
angelsächsischen Gedicht Beowulf, der dreißig Helden zerreißt, ihr Gebein
zerknirscht, ihr Blut schlürft, bis ihn Beowulf tötet. Die Leute entfliehen, als
der unter der Hand des Gegners sterbende Grendel sein grausiges Totenlied
brüllt:
Die Besiegung des Furchtbaren, Grausigen, Schrecklichen schafft erst den
Zustand, den wir ästhetische Freiheit nennen.
Der Dichter darf das Häßlich-Furchtbare, Grausige &c. nur für den
Kontrast, also nur spärlich anwenden; immer muß er es besiegen lassen
oder es zu bändigen verstehen, um die ästhetische Freiheit zu retten. Ein
Shakespeare kann schon einmal das Grausige bieten, da er es zu bewältigen
vermag. Wenn aber mittlere Dichter Geister auf die Bühne bringen, die sie
nicht bannen können, so daß beim Zuschauer bange Erwartungen und grausige
Eindrücke mit dem Gefühl der Unwahrscheinlichkeit wechseln, so ist das Ungeschicklichkeit
und beweist (wie beispielshalber der R. Wagnersche Drache) die Wahrheit
des Napoleonschen Ausspruchs: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas.
§ 25. Erscheinungsformen des Schönen.
Als solche sind aufzuführen 1. das Lachbare, 2. das Reizende,
3. das Erhabene, 4. das Komische.
1. Das Lachbare.
Das Lachbare ─ nicht das Lächerliche ─ steht dem Furchtbaren
gegenüber und ist in der Ästhetik soviel als das Gleichgültige.
Das Lachbare grenzt an's Niedrige und dieses an's Gemeine, Plebejische, Niedrigkomische
(§ 20). Das gewöhnliche, keifende Marktweib, der Hanswurst im alten
Fastnachtsspiel, der Pöbel in den Shakespeareschen Dramen sind seine Typen &c.
2. Das Reizende (Anmutige).
Vom Lachbaren (Gleichgültigen) ist das Reizende zu unterscheiden.
Es offenbart sich durch abgerundete, gefällige Form und leicht verständlichen
Jnhalt und bringt unserem Gemüt den Eindruck des Angenehmen.
Seine Unterarten sind das Hübsche, Niedliche, Nette,
Zierliche, sowie das Rührende. Es hat stets den Charakter des Heiteren,
Kleinen, Zarten, Gefälligen, Sanften, Maßvollen.
Der tiefer Stehende ist schon durch das Niedliche befriedigt, während der
höher Gebildete zum Reizenden emporstrebt, um darüber hinweg zum rein [93]
Schönen zu gelangen, welches lieblich und reizend zugleich ist. Vorliebe für's
Reizende verrät Mangel an Kraft.
Das Rührende als Ausdruck des Weltschmerzes steht unter dem Reizenden.
Bildet jedoch sein Wesen jene ernst beschauliche Stimmung, die mit
stiller Wehmut und süßer Resignation verschwistert ist, so steht es über dem
Reizenden, z. B.:
(Fr. Rückert.)
Oder:
(Goethe.)
Das Reizende (Anmutige) wurde zuerst durch Schiller (in der Abhandlung:
Über Anmut und Würde) bestimmt. Hegel stellte den Begriff philosophisch fest.
Schiller nennt es die bewegte Schönheit, Schasler die Schönheit der Bewegung.
3. Das Erhabene und seine Unterarten.
1. Dem beweglichen Reizenden (Anmutigen) tritt das mehr starre,
durch seine Form imponierende Erhabene gegenüber. Zu seinem
Wesen gehört das Große, Gewaltige, Jmponierende, Würdevolle. Es
kann sich bis zum Furchtbaren oder Maßlosen steigern, von dem es
sich dadurch unterscheidet, daß es vom Maß beherrscht ist, wenn es
auch unseres gewöhnlichen Maßstabes spottet. Das Erhabene wirkt [94]
anfänglich auf unsere Anschauung niederdrückend; von der ästhetischen
Empfindung desselben ist ein Gefühl eigener Kleinheit und Unbedeutendheit
nicht zu trennen. Erst dann wird man zum Genuß des Erhabenen
in seiner reinen Schönheit befähigt, wenn man sich vom Gefühle der
Beklemmung und der physischen Furcht frei gemacht hat, um die Größe
der Erscheinung des Erhabenen objektiv und ruhig der Anschauung
vermählen zu können.
2. Das Erhabene hat mehrere Unterarten, von denen das Tragische
als Gegensatz der übrigen aufgefaßt wurde.
1. Man kann das Erhabene, welches physischer, moralischer und intellektueller
Natur sein kann, einteilen in das Mathematisch-Erhabene und (mit
Rücksicht auf Kraft) in das Dynamisch-Erhabene. Erhaben ist der
allmächtige, aber liebende Christengott; furchtbar der zürnende Judengott, welch'
letzterem gegenüber der Mensch Sklave ist. Der Griechengott ist erhaben, denn
wenn er auch die Welt erschüttern kann, so bedeutet doch der Olymp die
Ruhe, und das Maß thront auf seinem Götterantlitze. Man denke an den
von Phidias dargestellten olympischen Zeus. Der Donner, dessen Maß gegeben
ist, wirkt erhaben; eine Dynamitexplosion ist wegen ihrer maßlosen, vernichtenden
Wirkung furchtbar. Eine Dichtung, insoferne sie Erstaunen, Ehrfurcht,
Bewunderung &c. hervorruft, ist erhaben. Ein Hymnus, der die Größe
Gottes besingt, erzeugt das Gefühl des Erhabenen. Erhaben ist, aus der Ferne
gesehen, ein feuerspeiender Berg, erhaben ist die Unendlichkeit des ruhigen Oceans,
der unermeßliche Weltenraum, ein Gletscher, ein gewaltiger Wasserfall (z. B. der
Rheinfall), der gestirnte Himmel mit Fixsternen; ebenso ein riesiger, überhängender,
den Einsturz drohender Berg, sofern ich mir die Kraft vergegenwärtige, mit der
er niederstürzen muß. Erhaben ist die Weltregierung, erhaben können Menschenwerke
sein, z. B. der Kölner Dom, die Mailänder Kathedrale, die ägyptischen
Pyramiden. Erhaben ist der mit Riesengewalt kämpfende König Richard III.,
ebenso Julius Cäsar, der beim Seesturm dem erblassenden Steuermann imponierend
zuruft: „Du fährst Cäsar und sein Glück!“
Wer nicht den Trieb fühlt, sich zum Erhabenen emporzuschwingen oder
zum mindesten es zu begreifen, der wird „es in den Staub zu ziehen suchen“.
(Vgl.: Mephistopheles im Faust, Jago im Othello, Gottfried Kinkels „Cäsar“.)
Beispiel des Erhabenen:
(Aus „Die Worte des Glaubens“ von Schiller.)
Kant hat das Erhabene zuerst in seiner Kritik der Urteilskraft erörtert.
Nach ihm Schiller, Hegel, Vischer. Letzterer weicht von allen dadurch ab, daß [95]
er das Komische, welches doch den Gegensatz zum Tragischen als einer Abart
des Erhabenen bildet, als Gegensatz des Erhabenen darstellt.
2. Unterarten des Erhabenen. Mit dem Erhabenen verwandt ist:
a. Das Feierliche und Majestätische.
Es erzeugt eine würdevolle ernste, den Geist zur Ehrfurcht und
zur Erwartung bedeutender Dinge hebende Stimmung. Es haßt jede
Störung und ist einem der Anbetung ähnlichen Zustande verwandt.
Jn seiner Steigerung ist es das Majestätische. (Vgl. Hor. Od. 3, 1.)
Beispiel des Feierlichen:
u. s. w.(Körner.)
Beispiel des Majestätischen:
„Groß ist der Herr“.)
Auge ertrüge den Anblick des
ganzen Kleides!)
Lob Gottes reinigt das Herz.)
(E. Ch. v. Kleist.)
(Diese trefflich gegliederte Hymne hat folgende Teile: 1. Gott ist groß
und verdient gepriesen zu werden. 2. Darum preise ihn die ganze Natur.
3. Preise ihn besonders du, Mensch. 4. Jch, der Dichter, will ihn preisen.
5. Selbst im Traume schwebe mir das Bild der Majestät Gottes vor.)
Vgl. noch für das Majestätische Lavaters Rheinfall, oder Jehovahs Erscheinung
in der Messiade I. V. 138─145, oder Faust (Prolog im Himmel).
b. Das Pathetische.
Es ist jenes leidenschaftliche Bewegtsein des Gemüts, das durch
jeden heftigen großen Eindruck wie durch die Macht sittlicher Jdeen
hervorgebracht werden kann: die Selbsterhebung des vom feindlichen
Drange des Lebens (Schreck, Entsetzen, Abscheu, Rache)
in seiner Freiheit bedrohten Gemüts. Den mit Leidenschaft
verbundenen erhabenen Willen nennt man Pathos. (Gebet Heinrichs I.
vor der Schlacht bei Merseburg. Ein Ludwig XVI., der Alles über
sich ergehen läßt, wo er handeln sollte, wo pathetisches Aufflammen
am Platze wäre, ist unästhetisch.)
Beispiel des Pathetischen:
(Aus „Der ewige Jude“ von Schubart.)
c. Das Prächtige.
Es besteht in der Vereinigung des Erhabenen mit dem Jdealen.
(Aufgang der Sonne. Regenbogen. Nordlicht.)
Beispiel des Prächtigen:
Die Brautnacht von Wilhelm Müller.
d. Das Edle und Würdevolle.
Es ist der Ausdruck des guten Geschmacks und der gebildeten
Phantasie.
Gegen das Edle und Würdevolle verstoßen alle jene Gedichte, die sich
in niedrigen Bildern, in grellen Redensarten, gemeinen Wendungen und
prosaischen Ausdrucksweisen gefallen (z. B. Heine: „Und du bist ja sonst kein
Esel.“ Oder: „O welch ein Ochs bist du.“ Vgl. auch sein „Himmelherrgottsakrament“
(Stoßseufzer S. 57, im Nachlaß).
Beispiel des Edlen und Würdevollen:
Herbst von Lenau.
e. Das Wunderbare.
Es erblüht stets einer phantastischen Auffassung des Naturerhabenen
und ist daher namentlich in der epischen Poesie von großer
Wirkung.
Beispiel des Wunderbaren:
Belsazer von Heinr. Heine.
f. Das Tragische.
1. Dem Begriffe des Tragischen kommt das deutsche Wort Schicksal
am nächsten.
2. Das Tragische bedeutet ebenso wie Schicksal den Untergang
oder Sturz des subjektiv Erhabenen, d. i. des durch einen Helden
repräsentierten Erhabenen nach ernstem Kampfe. (Beispiel: der sterbende
Christus.)
Beim Sturz des Erhabenen ergreift uns gewaltiger Ernst und
das Gegenteil von Unlust (d. i. Lust und Ehrfurcht vor der absolut
sittlichen, höheren Macht, welche den Sturz des Erhabenen herbeiführte).
3. Zu unterscheiden von der tragischen ist die ethische Schuld.
1. Beim Unterliegen jedes Vollschönen empfinden wir Mitleid, beim
Unterliegen des Furchtbaren Furcht. Wenn das Erhabene zwischen dem Vollschönen
und dem Furchtbaren liegt, gewissermaßen also die Vereinigung vom [101]
Schönen und Furchtbaren ist, so müssen uns auch beim Sturz desselben
Mitleid und Furcht durchziehen. Daher ist ein Drama, welches diese Gefühle
nicht erzeugt, vielleicht ein Trauer- oder Schauerstück, welches rührt oder auch
ergreift, aber es ist kein tragisches Stück, keine Tragödie.
Den Sturz des Erhabenen muß eine höhere Macht herbeiführen. Daß
am Ende eines Drama der Held unterliegt, macht es nicht zur Tragödie.
Fällt der Held durch einen verachteten Gegner, so rührt uns das, so erweckt
es Trauer, Mitleid, aber es fehlt das tragische Moment. Entsetzlich wäre
z. B. das Schicksal Laokoons zu nennen, wenn wir nicht an die Gottheit
dächten; dadurch wird Laokoons Kampf erhaben, sein Geschick tragisch. Wir
trösten uns im Hinblick zur Gottheit mit dem Satz: Sein Schicksal hat
ihn erreicht.
2. Das tragische Moment erzeugt sich im Kampfe. Romeo und Julie
kämpfen gegen Staats- und Familienordnung. Jhre Liebe nimmt den äußersten
Kampf gegen die feindliche Übermacht auf. Es erreicht sie ihr Schicksal
dort in der Familiengruft; sie unterliegen ─ und dies wirkt tragisch.
Würde ein völlig schuldloser Charakter untergehen, so würden wir uns
empört, geängstigt, verletzt abwenden. Romeo hat den Vetter der Julie getötet.
Am Sarge der Geliebten läßt ihn der Dichter auch noch den Nebenbuhler
töten: nun wird das Schicksal tragisch, ─ es muß ihn
ereilen.
Die Schuld ist also für die tragische Wirkung durchaus wesentlich. (Der
freiwillige Tod Don Cesars in der Braut von Messina sühnt die Schuld.
─ Die Mutter tötet Pyrrhus, der ihren Sohn verfolgt. ─ Christus sühnt die
Schuld der Menschheit.)
Auch die über sich selbst hinüber gehende Leidenschaft ist für die tragische
Wirkung wesentlich. Der Dichter des Tragischen darf bei seinem Helden
nicht in Sentimentalität stecken bleiben, wenn seine Dichtung nicht in der Erweckung
von Wehmut und Trauer enden soll. Gleich dem Sturmwind muß
seine Leidenschaft die Herzen erschüttern, wie es z. B. Shakespeare that, wie
es Brachvogel im Narziß, Laube im Essex, Schiller in den Räubern vermochte,
welch letzterer die Strafe dadurch herbeiführt, daß er das Gewissen des Bösewichts
zur Selbststrafe hindrängen läßt.
Jn den meisten Stücken ist das Tragische des sittlichen Konflikts an den
einzelnen Helden geknüpft (z. B. Antigone, in welcher Bruderliebe und Ehrfurcht
vor dem Staatsgesetze den sittlichen Konflikt herbeiführen; vgl. auch Don
Carlos.) Es kann aber auch an zwei Helden, oder zwei Kämpfer verteilt
sein (z. B. Friedrich Barbarossa und Alexander, Julius Cäsar von Shakespeare.)
3. Zu unterscheiden von der tragischen ist die ethische Schuld. Bei der
tragischen, von den Göttern (d. i. dem Schicksal) bestimmten Schuld trifft den
Helden persönlich keinerlei Vorwurf, wohl aber bei der ethischen.
Man bemerke == tragische Schuld in Schillers Braut von Messina:
Jsabella. Alles dies
Franz Moors ethische, Don Carlos' ethische, Antigones tragische
Schuld &c. dienen zur näheren Bestimmung des Begriffs als Beispiele.
4. Das Komische.
1. Vischer hat für den Ausbau seines Systems das Komische
als Gegensatz des Erhabenen dargestellt, während es ─ meines Erachtens
─ nur der Gegensatz der Unterart des Erhabenen: des Tragischen
ist. Dem Begriffe nach ist es (nach Kant) die Verwandlung
einer gespannten Erwartung in Nichts. 2. Es zeigt sich als Naives,
Groteskes, Witz, Humor. 3. Seine Hauptdomäne ist die Posse.
4. Eine Unterart ist das Niedrigkomische. 5. Es zeigt sich auch in
andern Künsten, z. B. in der Musik.
1. Wenn zwei Kräfte gegen einander kämpfen, wie es bei Hervorrufung
der tragischen Wirkung der Fall ist (vgl. § 25. 3. f. 2), und der Ausgang
des Kampfes und der Anstrengung ist ein leeres Nichts, so wirkt dies
komisch; besonders dann, wenn die Erwartung eine hochgespannte war.
Die zum Sprichwort gewordene Formel für das Komische giebt das Horazische:
Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus. (Die Berge kreisen und
geboren wird eine lächerliche Maus, s. Hor. A. P. V. 139.) Man denke
an zwei, die mit Energie sich bekämpfen und sich auf den Boden werfen, dann
davon gehen ─ der eine hinkend sich die Hüften reibend, der andere das
beschmutzte Kleidungsstück betrachtend oder reinigend. Es tritt hier der plötzliche
Umschlag in das Gegenteil der Empfindung ein: Die komische Wirkung.
Ein anderes Beispiel komischer Wirkung ist der pathetische Redner, der uns die
Macht des Willens beweist und plötzlich in's Husten, Niesen oder Lachen verfällt.
─ Der Prahlende wirkt komisch, weil die Wirklichkeit der Erscheinung
im Kontrast mit seinem Gemälde, mit seiner Einbildung steht. Der Betrunkene,
der Leidenschaftliche ─ sie erscheinen komisch durch die Ohnmacht in Ausführung
einer bestimmten Absicht. Ein eklatantes Beispiel des Komischen ergiebt
die mit einer Verlobung endigende arge Balgerei des Sempronius mit der
Cyrilla in der vorletzten Scene des bekannten Scherzspiels Horribilicribrifax
von A. Gryphius. Jn Shakespeares Heinrich IV. findet sich eine ganze
Stufenleiter von Formen des Komischen. Einer lacht über den andern, der
Zuschauer am meisten.
Als Grund des körperlichen Lachens giebt Kant geistreich die getäuschte
Hoffnung an. Unser Geist ─ so meint er ─ durchmißt den Raum zwischen
dem Erwarteten und dem erhaltenen Nichts in gesteigerter, sich immerfort beschleunigender
Thätigkeit, durch welche schließlich die Eingeweide afficiert werden,
deren Vibration eben das Lachen hervorbringt. Daß diese Vibration der Eingeweide,
dieses Lachen uns angenehm ist, uns belustigt, ist Nebensache, ja, [103]
vielleicht nur Geschmackssache. Es ist also sehr unrecht, das allemal für wirklich
komisch zu halten, was uns belustigt, was uns guten Humor bringt. Die
ideale, philosophisch echte Komik erzwingt sich kaum unter Thränen ein Lächeln
oder noch weniger als das: sie läßt uns vielleicht von den Gipfeln jugendlicher
Begeisterung unter überwältigenden Schmerzen in den Abgrund nüchterner
Wirklichkeit zurückfallen.
2. Das Komische erscheint auf seinen verschiedenen Gebieten in verschiedenen
Gestalten:
a. als Naives.
Der Stoff des Komischen eröffnet sich oft mit dem Erhabenen des Subjekts,
indem man Unbewußtes erschaut, wo man Bewußtes erwartete. Das
Naive geht auch aus dem Kontrast hervor, den das Natürliche meist mit dem
Konventionellen bildet. Beispiel: Paul Werner, der seinem Major v. Tellheim
Geld borgen will und nach längerem „naiven“ Andrängen sein Ziel durch
die „naive“ Bemerkung erreicht: „Wer von mir nichts annehmen will, wenn
er's bedarf und ich's habe, der will mir auch nichts geben, wenn er's hat
und ich's bedarf. ─ Schon gut!“ (Vgl. Lessings Minna v. Barnhelm
3. Akt. 7. Auftritt.)
b. als Groteskes.
Das Naive in seiner Steigerung wird zum Grotesken.
Grotesk ist somit das Lächerliche in der Erscheinung, das übertrieben
Komische, welches synonym mit burlesk ist. Grotesk ist z. B. die Kostümierung
der englischen Clowns. (Grotesktänze nennt man gewisse Tänze
wegen der übertriebenen Komik der Bewegungen.) Ein Beispiel des
Grotesken ist der Esel im Sommernachtstraum &c.
c. als Witz.
Witz ist diejenige Form des subjektiv Komischen, welche irgend eine geläufige
Vorstellung durch den Schein eines inneren Widerspruchs aufhebt oder
auflöst. Er wirkt komisch durch Erschließung der Gegensätze, durch launige Bezeichnung
der Grenzen des Möglichen, durch Kontrast, durch Versöhnung mit
dem Widrigen, das plötzlich in eine andere Bahn gelenkt ist.
Der Witz gleicht dem Blitze, der das stehende Wasser vor Fäulniß bewahrt.
Er gehört ebenso der bildenden Kunst an, als der Sprache. (Jn
der bildenden Kunst zeigt er sich in der Karikatur.) Der sprachliche Witz kann
als freier und auch als treffender bezeichnet werden.
Ein freier Witz ist ─ beispielshalber ─ der Witz von Börne: „Als
Pythagoras seinen Lehrsatz erfunden hatte, opferte er eine Hekatombe; seitdem
zittert jeder Ochs, so oft eine neue Wahrheit entdeckt wird.“ Dieser Witz wird
sofort treffend (satirisch), wenn er mit einem Jgnoranten in Beziehung gebracht
wird, welcher den Namen Ochs führt. (Ein solcher Witz mit scharfer Pointe
ist ästhetisch unzulässig, weil er die Grenzen des Ästhetischen streift; noch mehr [104]
ist dies der Fall, wenn der Witz auf unverschuldete Gebrechen anspielt, z. B.
auf das Aussehen eines Krüppels, auf die Schmerzäußerungen eines Verunglückten
&c.)
Formen des Witzes. Der sprachliche Witz wird eingeteilt in Wortwitz,
Sachwitz, Klangwitz, bildlicher Witz, Jronie und Sarkasmus.
α. Wortwitz. Er bewerkstelligt den Widerspruch oder die Jdentität
durch Unterschiebung einer anderen Bedeutung des betreffenden Wortes.
Beispiel: „Die große Armut in der Stadt kommt von der großen Poverteh
her.“ (Fr. Reuter.)
Der Wortwitz ist häufig nur Scheinwitz und daher wohlfeil. Seine Domäne
ist der „Kladderadatsch“.
β. Sachwitz. Bei ihm liegt die Pointe weniger im Wortklang, als in
dem Begriffe des Wortes und zwar darin, daß zwischen verschiedenen Objekten
eine versteckte Ähnlichkeit plötzlich herausgefunden wird.
Beispiel ist Reuters Präsident Rein, der die Zeitungsente improvisiert,
„daß auf der Jnsel Ferro ein Aufstand wegen Verlegung des Meridians nach
Greenwich ausgebrochen sei, sowie ─ daß die Eskimos am Nordpol aus Mangel
an Thran sich weigerten, die Erdachse ferner einzuschmieren“. Ein anderes
Beispiel: „Die Welt ist rund und läuft herum, drum sind die Leute schwindeldumm.“
Die Domäne des Sachwitzes sind gegenwärtig die Münchener „Fliegenden
Blätter“.
γ. Klangwitz. Er liebt naive, akustische, den Klang nachahmende
Formen.
Beispiele: 1. Antigone? ─ Antik? O nee! 2. Si cum Jesuitis,
non cum Jesu itis; ─ si cum Jesu itis, non Jesuitis. 3. Müller
stellt seine Kinder vor: „Der Esel (Theresel), der andr' Esel (Andresl), Ach
'n Esel (Agnesl). 4. Anredender, an die Maske: „Wer bist Du?“ Hausmagd
im Kostüm der Amphitrite: „„Amphitrite.““ Anredender:
„Wohl, ich kenne dich am Vieh-Tritte.“ 5. Fallstaff zu Pistol: „Drücke dich
aus unserer Gesellschaft ab, Pistol!“ ist zugleich treffender Witz. 6. Mieter:
„Judicium == Jud i zieh um.“ Vermieter (Saphir): „Officium == O
Vieh zieh um!“
δ. Bildlicher oder vergleichender Witz. Er ist die höhere Form
des Witzes. Er wirkt durch die heitere Überraschung seiner oft drastischen Vergleiche
und Bilder. Zum Sachwitz verhält er sich, wie der Satz zum Wort.
Beispiel: 1. Er machte ein Gesicht, wie ein Hausknecht, der kein Trinkgeld
bekam, oder wie ein reitender Betteljude, mit dem ein Hengst durchgeht
(Jean Paul). 2. Die besten Sänger sind die Vögel, denn sie können vom
Blatt singen.
ε. Jronie und Sarkasmus. Nimmt der Witz den Schein an,
als ob der komische Gegenstand um seine Verkehrung wisse, lobt er zum Schein,
so heißt er Jronie.
Sie fordert, nach Jean Paul, den Schein des Ernstes und den Ernst
des Scheines zu treffen. (Beispiel: Lessings Urteil über ein Buch, es enthalte
viel Neues und Gutes, nur schade, daß das Neue nicht gut, und das
Gute nicht neu sei.) Die Jronie kann sich bis zum vernichtenden
Hohne des Sarkasmus, d. i. zum tiefverletzenden, gleichsam zerfleischenden,
höhnenden Witz steigern. Beispiel: Gegrüßest seist du, der Juden König!
(εἰρωνεία die Art eines εἴρων == Fragers à la Sokrates, der sich verstellt, als
wüßte er nichts; σαρκασμός Hohn, im Zorn die Lippen beißend.)
d. als Humor.
Die Komik erhält ihren ungekünstelten Ausdruck im Humor. Das Wort
Humor kam Ende des 16. Jahrhunderts zuerst in England auf. (Vgl. Bd. II
§ 89.) Es bedeutete ursprünglich soviel als Temperament und erhielt seine
jetzige Bedeutung als die einem Menschen eigentümliche, heitere, launige Gemütsstimmung
erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Schasler bezeichnet den
Humor als Gegenteil des Abstrakten, als glücklichsten Ausdruck des Konkreten,
welches ─ als Feindin der Verzweiflung ─ den Menschen versöhnt und den
wahren Lebensmut darstellt, somit eine der höchsten ethisch=menschlichen Eigenschaften
ist.
Sein Gebiet ist das Menschliche und das sittlich Gemütliche.
Schiller hatte wenig Humor, Goethe sehr viel. Jean Paul, Fritz Reuter,
Glaßbrenner, Schmidt-Cabanis sind Typen deutschen Humors. Nach Jean
Paul ist das Symbol des Humors die lachende Thräne im Auge. Unvermerkt
leitet der Humor von einer Empfindung in die andere entgegengesetzte.
Man weint und ist plötzlich gezwungen, mit Thränen im Auge zu lachen.
Der Humor betrachtet ─ da sein Grundzug Menschenliebe ist ─ die menschlichen
Fehler nicht als Verbrechen, sondern als Schwachheiten und Thorheiten,
weshalb er in origineller Weise über sie scherzt oder mit gelindem Tadel sie
und sich selbst belächelt. (Der ist gewiß nicht von den Besten, der sich nicht
selbst zum besten haben kann. Hor. Sat. 2, 3 am Ende, und Epist. 1, 20
am Ende.) Da dem Humor das solidarische Gefühl menschlicher Ohnmacht und
Nachsichtsbedürftigkeit innewohnt, so verletzt er nie, was der Witz, die Jronie und
die Karikatur zuweilen thun können, und was der Sarkasmus wirklich thun will.
Man teilt den Humor a. in Stimmungshumor (Naturhumor) und
b. Gedankenhumor. Der erstere hat seinen Grund im Gemüt und kann
als Naturstimmung zum Humor, als Laune bezeichnet werden. Er scherzt
z. B.: „Hat Adam im Zustand der Unschuld gesündigt, was soll ich dann
im Stande der Sünde und der Schuld thun?“ Die zweite Art von Humor
ist in einer tiefen Weltanschauung und Menschenkenntnis begründet, weshalb
der Witz seine Blüte ist. Da er das Erhabene des Gemütslebens aufsucht,
so bedient er sich nicht selten auch der höchsten Form des bildlichen Witzes:
der Jronie.
Gelingt der humoristischen Persönlichkeit die Befreiung vom unendlichen
Schmerze nicht, wird ihre Stimmung die einer nicht aufgelösten Verzweiflung [106]
an der Kraft der Jdee oder eines nicht zu überwindenden Ärgers, so nennt man
dies gebrochenen Humor. (Heine, Byron, ein Hypochonder &c. sind seine Typen.)
Derjenige Humor, welcher den Gedankenbesitz der Humanität als etwas
Errungenes voraussetzt und zu innig ist, um aus der Heimlichkeit seiner Persönlichkeit
herauszutreten, wird freier Humor, auch empfindsamer
Humor oder Sentimentalität genannt. (Beispiele: Jean Pauls Quintus
Fixlein, sein Siebenkäs.)
Der Humor darf noch das Gebiet des Tragikomischen für seine Zwecke verwerten.
Tragikomisch ist das in der Absicht Komische, das in der Ausführung
tragisch wird, oder umgekehrt. Tragikomisch wirkte z. B. die sog. Jronie
der Romantiker, welch letztere ─ um die Freiheit ihren Schöpfungen gegenüber
zu beweisen ─ bewitzelten, verhöhnten, wo der Ernst hätte walten sollen.
(Näheres über Humor, sowie Beispiele s. unter „humoristische Dichtungen“ im
II. Bande § 89.)
3. Das Komische in der Posse. Die Posse ist die Dichtungsform,
in welcher sich das Komische am meisten entfaltet. Jn der Posse greift die
Komik nicht selten sogar zur sinnlichen Ausgelassenheit; sie verstellt das Subjekt
und spielt hinter der Maske. Das thätige Subjekt weiß nichts davon, daß
es komisch ist und wirkt. (Beispiele: Harlekin, Tölpel.) Alle Anstalten, welche
es zur Durchführung seiner Pläne trifft, mißlingen, wodurch die komische
Wirkung andauert.
(Näheres s. unter Posse im II. Band.)
4. Das Niedrigkomische. Jm Niedrigkomischen setzt sich das Niedere,
das Gemeine in Kampf mit dem Geistigen, das Unbedeutende mit dem Bedeutenden,
das Kleine mit dem Großen. Jn diesem Kampfe unterliegt es.
Es ist an seinem Platze in Volksstücken, wo die Begriffe von Anstand,
Takt und Sitte weitere Grenzen haben. Naturalismus und Cynismus sind
ihm verwandt. Es darf nie frivol werden. Wenn es auch das Erhabene in
den Staub zu ziehen sucht, so muß doch im Hintergrund immer das Erhabene
durchschimmernd thronen. Das Niedrigkomische findet sich in Dichtungen von
Aristophanes, Fischart, Jean Paul, Blumauer, Fr. Reuter, Heine u. A.
5. Das Komische in anderen Künsten. Auch in andern Künsten
kommt das Komische zur Geltung. Vgl. z. B. die Karikatur in den bildenden Künsten
der Plastik und der Malerei. Die Musik mit ihren dynamischen Schattierungen,
mit ihrer Phrasierung, ihren rhythmischen und melodischen Synkopen kennt die
Komik erst seit Beethoven, der im Scherzo sein ganzes rhythmisches, harmonisches
und kontrapunktisches Können entfaltete. Welche Komik herrscht im Molto vivace
seiner 9. Symphonie! Die beiden ersten rhythmischen Schläge künden das
Satyrspiel an, das auf die Menschheitstragödie des 1. Satzes folgt. Die zwei
raschen Nachschläge bieten das Kantsche „Nichts“, das der Erwartung auf den
scheinbar heroischen Rhythmus des Oktavenschlags folgt, und die pathetische Form
der Fuge auf dieses Thema bringt die gespannte Erwartung, der eben das Nichts
folgen soll. Die berühmten leeren Paukenschläge riefen bei der ersten Aufführung [107]
schon (Mai 1824 zu Wien) einen solch heiteren Jubel hervor, daß
sekundenlang kein Ton im starken Orchester zu hören war. ─ Mendelssohn,
Rubinstein &c. traten in Beethovens Bahn. Heute hat man die klassischen Adagios
untergehen lassen, da unsere dramatisch hastende Zeit keine Muße für dieselben
hat; aber man liebt es, in rauschenden oder sommernachtstraum=flüsternden
Scherzos zu glänzen und durch edle Pathetik Beethovenscher Würde und Hoheit
nachzustreben. Jn der Oper hat Wagner im Beckmeister der Meistersänger
eine musikalisch=dramatische Figur voller Komik geschaffen; auch im Mime,
Sachs, Wotan hat er viele komische Momente gegeben, ebenso im Meistersängervorspiel
&c. ─
Anm: Über Spott, Witz, Humor &c. schreibt Herm. Marggraff: „Spott
ist der Witz eines dummen oder gemeinen Menschen; Witz der Spott eines
feinen Kopfes oder Gesellschaftsmannes; Jronie der Witz eines tieferen Denkers,
und Humor die Jronie eines Poeten. Spott ist ein plumper Faustschlag,
der Beulen zurückläßt; Witz ist ein Nadelstich, der mehr oder weniger
tief in's Fleisch dringt; Jronie ein Ritz wie von Dornen unter Rosen; Humor
das Pflaster, das gegen alle diese Wunden hilft. Gegen den Spott hat der
geistreiche Mann keine Waffen; der Witz fordert ihn zum Widerstand heraus;
mit der Jronie unterhandelt er auf Kapitulation; der Humor bringt ihn zur
freiwilligen Unterwerfung. Der Spott kommt aus dem Fleischlichen, der Witz
aus dem Verstande, die Jronie aus dem Geiste und der Humor aus dem
Gemüte; er ist ein Lächeln durch Thränen!“ (Das Letztere erinnert an Jean Paul.)
Die poetische Sprache.
§ 26. Anforderungen des Schönen an poetische Sprache und
poetischen Stil.
Der Stil des Verstandes (die Prosa) verlangt Deutlichkeit
und Verständlichkeit. Der Stil der Einbildungskraft (die Poesie),
der seinen Accent in die Sinnlichkeit und Lebendigkeit des Ausdrucks
legt, kann zwar der Deutlichkeit und Verständlichkeit nicht entraten,
aber er richtet sein Augenmerk auf Anschaulichkeit und Kunstordnung,
da ihm das Schöne oberstes Gesetz ist.
Hierzu gehört die Beachtung der nachstehenden Anforderungen:
1. Ordnung, Treue, Vollständigkeit, Kürze.
Ordnung. Sie manifestiert sich in der Anordnung der durch den Stoff
bedingten Teile des Gedichts. (Vgl. als Beispiel § 25. S. 95 d. B.) Analytisch
heißt sie, wenn ein Gegenstand in seine einzelnen Teile aufgelöst wird, synthetisch,
wenn er aus seinen Teilen zusammengefügt wird. Eine Vermischung
des Analytischen mit dem Synthetischen ist unschön (lucidus ordo cf. Hor
Epist. 2. 3, 41 ff.)
Treue. Sie fordert die Beachtung der Wahrheit, wenn auch die Wahrheit
nicht das höchste Ziel der Schönheit ist. Das Jdealisieren steht mit der
Treue nicht im Widerspruch, wohl aber der Ausdruck des Unwahrscheinlichen.
Vollständigkeit. Sie verlangt Erschöpfung der Merkmale eines
Gegenstandes und ist eine wesentliche Forderung namentlich in der epischen
Poesie, also in Schilderungen, Beschreibungen.
Kürze. Die Kürze fordert Beschränkung auf das Wesentliche. Sie vermeidet
daher: a. die Tautologie, d. i. die Wortnämlichkeit oder
die Bezeichnung eines Gedankens durch mehrere gleichbedeutende Ausdrücke, z. B.
Er thut mir kund und zu wissen. b. Den Pleonasmus, d. i. Überfüllung
mit überflüssigen, nur zur Vermehrung der Anschaulichkeit gebrauchten
Ausschmückungen, z. B. nasser Regen. c. Die Tiraden, d. i. nichtssagende,
überflüssige Verlängerungen, z. B. da er sich nicht konnte raten, ließ
Ratgeber er sich kommen, daß sie Rat ihm sollten bringen.
2. Bestimmtheit, Deutlichkeit, Klarheit des Begriffs.
Bestimmtheit. (Kyriologie, das proprium, der treffendste Ausdruck
für die Sache.) Sie verlangt Vermeidung der Weitschweifigkeit und des
Wortschwulstes. (Bombast == Wortschwulst, geschwollener Stil, bombastisch
== schwülstig ist die englische, eigentlich vom mittellateinischen bombax == Baumwolle
herrührende Bezeichnung.)
Deutlichkeit. Sie verbietet a) jede Zweideutigkeit und Undeutlichkeit,
d. h. Dunkelheit des Ausdrucks sowohl in Worten, wie im Satz und dessen
Verbindung; daher auch jegliches Kauderwelsch. (Das Wort stammt
vom oberdeutschen Worte kaudern, d. i. undeutlich sich ausdrücken, und
welsch, d. i. fremdländisch; es bezeichnet sowohl eine durch schlechte Aussprache,
durch verkehrte und falsche Form, durch Vermengung mit fremden Ausdrücken
undeutlich gewordene Sprache, ─ wie jeden verworrenen undeutlichen Satz.)
b) den Gallimathias (Gallus Mathiae == der Hahn des Mathias, welche
Benennung angeblich ein Sachwalter in der Verwirrung als Galli-Matthias verstellte.
Man bezeichnet damit jedes Wortgewirr, jeden Unsinn).
Klarheit des Begriffs. Sie fordert Beschränkung auf das Wesentliche,
weshalb sie z. B. den Phöbus verbietet. (Das Wort Phöbus ─
vom Sonnengott genommen ─ bedeutet hochfliegende, überschwengliche Worte,
z. B. die heiße Rührung vertrocknet die Tinte meiner Feder.) Der Ungeschmack,
den die Franzosen Phebus, die Jtaliener Marinismus, die Spanier Gongorismus,
die Engländer Euphuismus nennen, besteht größtenteils im Mißbrauch
der Metaphern. (Vgl. Katachresen § 41, 4.)
3. Natürlichkeit.
Sie schließt alles Erkünstelte, Schwerfällige, Geschraubte, Gezwungene,
Affektierte aus und verlangt eine leichte Verschmelzung der
einzelnen Teile, wie uns diese in den organischen Formen der Natur
entgegentritt.
Sie vermeidet den pretiösen Stil (von pretium, vgl. Molières
Lustspiel »Les précieuses ridicules«, welches das Pretiöse und Affektierte geißelt),
der besonderen Wert aufs Affektierte legt.
Beispiel von Natürlichkeit.
(Goethe.)
4. Mannigfaltigkeit und Einheit. Symmetrie.
Die Mannigfaltigkeit verlangt, daß alle Teile einer Dichtung
an sich einen vollendeten Eindruck machen, also beim strophischen Gedicht
jede Strophe, im weiteren Sinne jeder Vers.
Die Einheit fordert die Beziehung und Verbindung der Teile zu
einem geschlossenen, organischen, harmonischen Ganzen.
Die Symmetrie erheischt freie Regelmäßigkeit.
Probe der Einheit und der Mannigfaltigkeit:
Der Tanz von Schiller.
(Praktischer Nachweis der Beziehungen des vorstehenden
Gedichts. Jn demselben werden die Gesetze der Kunst in idealer Beschreibung
des Tanzes aufgestellt. Jn den Bildern, durch die eingangs der Tanz geschildert
wird, glaubt man das leichte, fröhliche Schweben ätherischer Gestalten
wahrzunehmen, und die anmutige Bewegung des Verses kommt dieser Täuschung
zu Hilfe. Jndem nun (v. 9─18) die Verwandlung der Ordnung in eine
scheinbare Verwirrung und die Rückkehr zur Ordnung geschildert wird, vollendet
der Dichter die Beschreibung des in das Licht eines interessanten Rätsels gestellten
Tanzes. Vers 23 f. giebt die Auflösung dieses Rätsels. Von hier
aus reißt uns der Dichter zu einer kühnen und geistreichen Anwendung fort.
Jn einer Erscheinung spiegelt sich die ganze moralische Welt, das unendliche All.
So glaubten wir uns an einem Spiel zu erfreuen und sehen uns auf einmal
durch eine dieses Spiel an die Welt knüpfende Gesetzmäßigkeit überrascht. Die
Einheit in der Mannigfaltigkeit ist von Anfang zu Ende gewahrt,
ebenso ist der Symmetrie vollste Rechnung getragen.)
5. Neuheit.
Die Neuheit fordert ebenso nie Gesagtes und nie Gehörtes im
Stoff, als neue originelle Darstellung oder neue Form.
Die Anwendung des Sonetts für politische Gegenstände durch Fr. Rückert
war für kriegerischen Jnhalt ungewöhnlich. Überraschend war die den Stil bestimmende
Neuheit der Stoffe bei Rückert und Freiligrath. Neu war die
Anwendung der deutschen Accentgesetze in den Dichtungen Simrocks, Heines,
W. Jordans, Rückerts, Geibels &c., welche dem Stil eine charakteristisch deutsche
Färbung verlieh. Eine neue Form war's, unter welcher Wilhelm Tell bei Schiller
erscheint im Gegensatz zur Form bei Florian von Johannes Müller u. A. Neu
sind viele Bilder und Worte unserer besseren Dichter. (Vgl. hierzu § 27.)
Freilich verlangt die Neuheit nicht, daß das vorhandene Gute auf die Seite
geschoben werde. Der Dichter soll nur das Gleichschöne oder das Nochschönere
erstreben und in der Anwendung des Vorhandenen die Nachäffung und die
Manier vermeiden. Dies ist besonders vom sprachlichen Ausdruck zu verstehen.
6. Ästhetische Farbengebung.
Jhr Zweck ist Verteilung von Schatten und Licht, Ausmalung
der Situation, weshalb sie den Hauptgegenstand in idealer Weise hervorhebt.
Beispiel:
(Julius Hammer.)
(Für Näheres vgl. die Kapitel über Lautmalerei und rhythmische Malerei.
§ 28 d. B.)
7. Reinheit.
Jn Bezug auf Reinheit fordert und erlaubt die Poesie, was die
Prosa verbietet. Die Prosa hält sich an die bekannten Wörter, um
ihrer Hauptforderung, der Deutlichkeit, zu genügen; die Poesie,
welche es auf sinnliche Anschaulichkeit absieht, erweitert für diesen Zweck
ihr Material in unbeschränktem Maße und meidet gerade das Gewöhnliche.
Doch bedient sie sich ausnahmsweise und zu bestimmtem Zweck
des Barbarismus, des Archaismus, des Provinzialismus und des
Neologismus.
a. Barbarismus.
Der Ausdruck barbarismos wurde zuerst von Aristoteles (Poet. 22)
gebraucht. Die Römer zur Zeit des Augustus ergänzten ihn durch
„sermo rusticus“ (Bauernsprache). Quintilian unterscheidet drei Arten
von Barbarismus:
1. Gemeinheit des Ausdrucks.
Ein Beispiel Rückerts in „Napoleon“: Wenn du jetzt mir eine Gnade
Willst erzeigen, Ruhm, so pisse.
Lieber hätt' ich's, wenn er ─.
Goethe (Zahme Xenien V.):
Sag mir doch! von deinen Gegnern warum willst du gar nichts wissen?
Sag mir doch! ob du dahin trittst, wo man in den Weg ─
2. Verstoß gegen die Regeln der Sprache (also auch gegen die
als richtig anerkannte Aussprache oder Schreibung eines Wortes).
Beispiel: Herr Quinctilius Varus
Jn dem armen römischen Heere
Diente auch als Volontaire.
(V. v. Scheffels Teutoburger Schlacht.)
3. Einmischung fremdartiger Wörter. Hierzu gehören Fremdwörter,
Latinismen, Gräcismen, Gallicismen und Wörter oder Redeweisen fremdländischen
Ursprungs (was Quintilian vocabula peregrina oder externa,
Aristoteles φράσεις ξένας γλώσσας nennt).
Der Dichter ist berechtigt, zur Erreichung einer bestimmten Wirkung (z. B.
einer komischen) solche Barbarismen anzuwenden. (Geibels o tempora, o
mores.) Der alte Fischart flektiert lateinische Wörter griechisch und spickt die
Sprache mit Wörtern aus allen bekannten Sprachen (vgl. z. B. Geschichtsklitterung
C. 22) ─ eine Schreibart, die man in Jtalien die makkaronische
nennt (maccarone == verwelscht, ursprünglich Spitzname für solche, welche aus
Jtalien entfremdet in ihre Heimat zurückkehrten).
Scheffels Teutoburger Schlacht wimmelt von gut angebrachten Barbarismen.
Desgleichen Eichrodts Sammlung »hortus deliciarum«.
Beispiele:1. Kamerade, zeuch das Schwert hervor
Und von hinten mich durchbohr,
Da doch Alles futsch ist.(Scheffel.)2. St. Martin war der frommste Mann
Per totam civitatem,
Drum trug man ihm das Bistum an
Ob suam pietatem ─
St. Martin aber flohe
O virum permodestum!
Versteckte sich im Strohe
Licet hoc permolestum u. s. w.
(G. Seuffer.)
Als Beispiel, wie Barbarismen keinesfalls angewandt werden dürfen,
diene der unschöne Vers aus Opitz' Poeterei S. 27:
Die Dialektdichter und die Dichter humoristischer Gedichte wenden den Barbarismus
zur Erreichung der Sinnlichkeit und Lebendigkeit des Ausdrucks mit
großem Erfolg an. (Vgl. Reuters, Klesheims und Hebels Dichtungen &c.)
b. Archaismus.
Archaismus bedeutet ebenso einen veralteten Ausdruck oder eine
veraltete Konstruktion in einer Sprache, als eine veraltete Redensart.
Beispiele: sintemal und dieweil für weil, beiten für verweilen,
Brünne für Panzer, Rangen für Rain. (Der Frühling kommt, da grünen
alle Rangen. Rückert.) Schwund für Schwindsucht (befallen meine Füllen mit
dem Schwunde. Rückert). Scheul für Abscheu. (Du Bild von Scheul und von
Greule. Rückert.) Schnipfe für Ausguß. (Zur Linken einer Kann', an der die
Schnipfe trieft. Rückert.) Das mit Krieg synonyme, veraltete Wort Fehde [113]
darf der Philosoph für Krieg nicht gebrauchen, wohl aber der Dichter, welcher
aus der Zeit singt, in der dieses Wort noch gebräuchlich war.
Für Archaismen hatten die Lateiner die Bezeichnung verba vetusta,
antiqua, antiquata, obsoleta, exoleta, d. i. veraltete, erloschene, ausgestorbene
Wörter. (Vgl. Horaz A. P. 70.) Nur dem Dichter ist es gestattet,
solche Wörter, Konstruktionen und Wendungen wieder aufleben zu machen. (Für
den Nachweis der sämmtlichen Archaismen Rückerts vgl. des Verfassers Neue
Mitteilungen Bd. II. S. 1. ff.)
c. Provinzialismus.
Unter Provinzialismen versteht man Wörter, Ausdrucksweisen,
Redensarten, die nur der Sprache einer bestimmten Gegend oder Provinz
angehören.
Z. B. das von Rückert angewandte fränkische ferten für voriges Jahr,
oder Hanke für Hüfte (worunter man in Franken den Hinterteil der Pferde
versteht), Fladen und Platz für Kuchen (in Eierfladen und Eierplatz), Rug
für Rüge (in Rugtag) u. s. w.
Viele Provinzialismen sind zugleich auch Archaismen, was der Sprachforscher
aus den Schriften der Dialektdichter Hebel, Nadler, Lennig, Schandein,
Kobell, Klesheim, Seidl, Grübel, Holtei, Bornemann, Klaus Groth, Reuter,
Grimminger leicht beweisen kann.
Unsere Schriftsprache war ursprünglich die Mundart Obersachsens, ein
Gemisch von Ober- und Niederdeutsch, worin das Oberdeutsch überwog. Die
Dichter der letzten Litteraturepoche haben zur Fortentwickelung und Bereicherung
dieses ursprünglich wortarmen Dialekts so unendlich viel gethan, durch Hereinziehung
von Provinzialismen namentlich ihn derart aufgefrischt und
erweitert, daß obersächsischer Dialekt und hochdeutsche Schriftsprache durchaus
nicht mehr identisch sind.
Und so sind dem einsichtigen, bedeutenden Dichter auch für die Folge die
Wege gezeigt, auf denen er die Sprache immer von Neuem bereichern und erweitern
kann. Freilich muß der Dichter, welcher diese Wege betreten und
Provinzialismen einführen will, ein Mann von Autorität und Popularität sein.
d. Ueologismus.
Unter Neologismen (vgl. Hor. A. P. 48 ff.) versteht man neueingeführte
Wörter, die oft als sprachwidrig, neuerungssüchtig, unschön
empfunden werden, oft aber den Gesetzen des Schönen entsprechend
gebildet sind und befriedigen.
Jch erinnere an das Wort empfindsam, das jetzt allgebräuchlich ist, obwohl
es vor kaum 100 Jahren erst unserem Sprachschatze einverleibt wurde und
zwar durch Bode, den Übersetzer von Yoriks sentimental journey (== empfindsamer
Reise), der dieses Wort auf Lessings Rat zuerst gebrauchte.
Zum Neologismus führt das Bedürfnis des Dichters, sich kräftige, sinnlich
anschauliche Worte zu bilden. Er ist das Produkt des unzerstörbaren Bildungstriebes
der Sprache, der bei allen Völkern und zu allen Zeiten wirkt. Er [114]
zeigt, wie der glückliche Naturtrieb der Sprache oft an unscheinbaren Vorkommnissen
und zufälligen Namen den Stoff zu neuen begrifflichen Bildungen ─ zu
Neologismen ─ herausfindet. Jch will dies an Beispielen erhärten:
(Geschichtliche Entstehung und Beleuchtung einzelner
Neologismen.) Wie der „Chauvinismus“ der Franzosen nach dem Namen
des prahlenden bonapartistischen Soldaten Chauvin in der Scribeschen Komödie
»le soldat laboureur« seine Taufe erhalten hat, so soll unser „Bramarbasieren“
nach einem Maulhelden Bramarbas aus einem dänischen Lustspiel benannt sein
(bramne heißt im Dänischen prahlen). Der Ausdruck ramponiert oder
(wie man in Köln sagt) ramponeert, stammt vom Wirt Rampon in den elysäischen
Feldern, aus dessen Weinstube Mancher in dem Zustande zu kommen
pflegte, welchen bei Junker Tobias schon früh am Tage anzutreffen Dame Olivia
sich verwundert, wobei Wams und Hut mitunter aus der Form gerieten. Die
Bezeichnung patois für Volkssprache, „platt“, rührt von Padua her, dessen
Bewohner wegen ihrer Mundart (patavinitas) schon den Römern Stoff zum
Humor gaben, wie selbst Livius eingestand, in dessen Geschichtswerk sie den Zeitgenossen
nicht entging. ─ Bei Benennung politischer und religiöser Parteien
hat der Zufall, dessen Hilfe die Sprache in ihrem Aufbau nicht verschmäht,
mitgespielt. Der verächtliche Ausspruch des Rats der Regentin Margareta
von Parma: »ce n'est qu'un tas de gueux« gab Anlaß zum sprachlichen
Bannerwort: Geusen. Ausdrücken wie Tories und Whigs, beide von gewöhnlicher
Herkunft, Frondeurs, von fronde die Schleuder, Jacobiner, nach
dem Kloster ihrer Versammlung u. s. w. hat die Geschichte den Stempel der
Gemeingültigkeit aufgedrückt, ohne nach den einzelnen Sprachen zu fragen. Historia
supra grammaticam! (Wir können Bezeichnungen der obigen Art ohne Verlust
ebenso wenig ersetzen wie die Gestalten, welche die Sprache in jenen Zauberbildern
uns vorführt, die man Redefiguren (== Tropen) nennt, und die nicht
selten von dem lebendigen Odem des Geistes beseelt, folglich ─ außer für die
Kraft, die sie geschaffen ─ unantastbar sind.) Bureau heißt ursprünglich
nur das grobe, in der Regel grüne Tuch, mit welchem der Schreibtisch überzogen
war; das Wort ging dann auf den Schreibtisch selbst über (Cylinderbureau);
demnächst auf das Zimmer und besonders auf die Amtsstube, von
welcher aus es der stetig zunehmenden Begriffserweiterung wie der Schatten
dem Körper folgte, und zwar in den Ausdrücken: Bureauwesen, Bureaumensch,
Bureauverfassung, Bureaukratie &c. Eine ähnliche Laufbahn machte das Wort
Budget durch, welches ursprünglich die Reisetasche bedeutete. Ebenso hat sich
das bescheidene Portefeuille zur Gleichbedeutung mit Ministeramt aufgeschwungen.
Welche Bedeutung hat der Stil erreicht: der unscheinbare Griffel!
Ein anderes Stäbchen die fibula, diente dazu, die Kinder beim Unterricht
auf die Buchstaben hinzuweisen, und ward Taufpate unserer Fibel. ─ Die
Bremse an unsern Eisenbahnwagen hat sich durch den Ton eingeführt den
das Anziehen der Hemmvorrichtung verursachte. Page ist eine ganz entsprechende
Benennung für den Kleiderschürzer der Damen. ─ Die Kinder, in denen bekanntlich
der Sprachtrieb sehr rege ist, sagen Zuckersine für Rosine, und sie [115]
kürzen sich die Fremdwörter ab, indem sie z. B. sprechen: „Papa geht in's
Ministerium und Mama in die Bilderie“ (für Bildergallerie). Das Kindliche
ist ein Gut der Sprache, denn es beruht auf Einfalt und Natur. ─ Die
skandinavischen Zweige unseres Sprachstammes und ebenso unsere niederländische
Sprachschwester haben diese Eigenschaft getreulich bewahrt. Obwohl seit der
burgundischen Herrschaft das Französische stark in die Niederlande eingedrungen
war, machte sich doch im Freiheitskampfe gegen die Spanier alsbald die volle
Kraft der nationalen Sprache wieder geltend. Wir können gerade dieser unserer
Schwestersprache manchen nützlichen Wink für neologistische Ersetzung fremder
Wörter durch solche germanischen Stammes entnehmen. Sie hat z. B. für
Cirkularschreiben den Ausdruck Rundbrief, für Paragraph == Lid (Glied),
für Sekretär Ambtener (Amtner), für Stipulation Bepaling, Bepfählung ─
gewiß ein kräftiges Bild. Für Subskribent hat sie die Benennung Jnteknaar,
für Aktionär Andelhebber, für Jdee das schöne Wort Denkbeeld, für Jdentität
Eenselvigheed u. s. f. ─ Botanik und Zoologie haben wir durch Pflanzen= und
Tierkunde gut ersetzt, mit der Mineralogie war es schwieriger, weil Mineral
beides: Gestein und Erz bezeichnet. Die holländische Sprache hat dafür den
Ausdruck Bergstoff. Das Wort Platzregen, welches den Etymologen lange
Zeit Kopfzerbrechen verursachte, das man bald von plötzlich, bald von platschen
ableitete, und für das man sogar die Schreibart Platschregen vorschlug, wird
sehr einfach durch das holländische plas die Pfütze erklärt. (Weigand leitet es
vom mhd. plaz == schallender Schlag her.) Mynheer, der sich gewiß auf alle
Sorten von Regen versteht, schreibt Plasregen. Alte niederdeutsche Ausdrücke,
die bei uns nur noch im Volksmunde und in einzelnen Bezirken umlaufen, hat
das Holländische getreulich bewahrt. (Beispielshalber heißt kamen schimmeln,
davon kamiger Wein. Bei uns wird das Wort Kahm == Schimmel zuweilen
auch als Kan (Kohn) gesprochen. Belemmert sein ist der holländische Ausdruck
für behindert, gehemmt sein u. s. w.)
Unsere Germanisten und Paläologen möchten alle als Neologismen eingeführten
Fremdwörter mit Stumpf und Stiel ausrotten. Aber sie vergessen,
daß eine Menge Fremdwörter unsere Sprache bereichern und uns wegen ihres
Klanges oder ihrer durchaus nicht ersetzbaren Kürze der Bezeichnung lieb
geworden sind. Wörter wie Fibel, Stil, Apotheke, Sekretär &c. zu verbannen,
würde den Übergeist oder Ungeist wieder heraufbeschwören heißen, in welchem
die christlichen Eiferer die antiken Tempel und Bildsäulen vernichteten. Unsere
Puristen übersehen, daß ihr verwerflicher, den Barbarismus im Ausrotten aller
Fremdwörter bekämpfender Purismus nicht selten zur unschönen, meist geschmacklosesten
Neologie führt. Felix von Zesen war der Anführer jener einseitigen
Pedanten, deren überspannte Verkehrtheit z. B. Diana mit Waidinne, Juno
mit Himmelinne, Pomona mit Obstinne übersetzten, und woraus die Lächerlichkeit
sich entwickelte, daß man z. B. Lieutenant bei der Gardekavallerie mit „Statthalter
bei der Leibwachgaulerei“, Dilettant auf dem Fortepiano mit „Vergnügling
auf dem Starkschwachkastenrührbrett“, Apotheker mit „Arzneimittelbereitungsmischungsverhältniskundiger“
in drastischer Weise vertauschte. Auch der Purismus [116]
unseres Postdirektors Stephan geht hie und da zu weit. Man möge in der
Sprache die man ja so gern als Kunstsprache bezeichnet, die einmal festgesetzten,
allgemein verständlichen fremden Wörter stehen lassen, einmal ihrer dehnbaren
Natur wegen, die der Deutlichkeit abstrakter Begriffe so förderlich ist, und dann
um nicht zu unverständlichen, unserem Sprachgefühle wie dem Begriff des
Schönen widerstrebenden Neologismen greifen zu müssen. Wir gehen im
folgenden Kapitel noch näher auf die Neubildungen innerhalb des Gebietes der
poetischen Sprache ein.
§ 27. Das Schöne bei Bildung und Gebrauch der Wörter.
1. Der Dichter ist berechtigt, innerhalb der Grenzen des historisch
Gegebenen neue Worte zu bilden und zu gebrauchen.
2. Die Grenzlinien des Schönen, bis zu welchen die elastische
Fähigkeit unserer Sprache für Neubildungen gesteigert werden darf,
liegt in unserem gebildeten Schönheitsgefühle.
1) Schon Horaz (A. P. 46 und 48 ff.) nahm für den Dichter das
Recht in Anspruch, neue Wörter in die Sprache einzuführen, indem er sich auf
den Vorgang des Plautus, Cato, Ennius beruft. ─ Nach Erhebung des obersächsischen
Dialekts zur hochdeutschen Schriftsprache machte sich, wie im vorigen
Paragraphen unter c. gezeigt, bei uns das Bedürfnis nach neuen Worten fühlbar.
Die Dichter bemühten sich, bezeichnende, kernige, erfrischende Ausdrücke aus
dem Schatze der Dialekte zu heben und dem Schönheitsprinzip in Erzielung sinnlich
plastischer Ausdrucksweisen nahe zu treten. Jn welch' fruchtbarer Weise dies im
15., 16. und 17. Jahrhundert geschah, zeigt neben Grimm und Schottel besonders
Johannes Kehrein im 2. Teil seiner „Grammatik der deutschen Sprache
des 15. bis 17. Jahrhunderts“, wo er zugleich den wertvollsten Beitrag für
ein deutsches Wörterbuch lieferte. Wir beschränken uns darauf, nachstehend die
wichtigsten Sprach-Neubildner zu nennen:
Luther. Zum Verständnis seiner Neubildungen vgl. Joh. Böderiki,
P. Gymn. Svevo-Colon. Rect. Grundsätze der deutschen Sprache, meistens
mit Anmerkungen und einem Register der Wörter, die in der Bibel einige Erläuterung
erfordern. Berlin 1723. 400 S. Dieses Register reicht a. a. O.
von S. 189─271. Zur Einleitung schreibt der Verfasser: „Jn der deutschen
Bibel sind einige schwere Wörter, die im ersten Anblick nicht verstanden werden;
Luther hat dergleichen bei den Obersachsen und seinen Landsleuten gefunden,
die aber nun ganz oder fast veraltet sind.“
Fischart. Über ihn urteilt Vilmar: „Freier, kühner, diktatorischer, man
könnte fast sagen, despotischer hat noch Niemand die deutsche Sprache behandelt,
als er.“ (Vgl. auch Fr. Rückert, ein biogr. Denkmal vom Verf. d. B. S. 311.)
Goethe. Von den neueren Dichtern steht Goethe in Bezug auf Wortbildung
weit hinter Luther und Fischart zurück. Abraham a Santa Clara, [117]
der unserem Schiller im Roman „Judas der Erzschelm“ die Kraftausdrücke zur
Kapuzinerpredigt in Wallensteins Lager lieferte, hat weit mehr neue Worte gebildet,
als Goethe. Jndes sind Goethes Bildungen z. B. im 1. Teil des
Faust voll Kraft und Schönheit (ich nenne Ausdrücke wie „Wonnegraus“,
„Gedankenbahn“, „irrlichtelieren“, „der Menschheit Schnitzel kräuseln“ &c.). Die
Bildungen im 2. Teil lassen zuweilen die Gestaltungskraft vermissen (z. B.
Krächzegruß, Flügelflatterschlagen, Liebeschätzchen, Wölbedach). Andere seiner
Bildungen (z. B. Mitgeborene in Jphigenia) sind wenig oder kaum anders
denn als Citate in den Sprachgebrauch übergegangen. (Sein „langen und
bangen“ wird verständlich durch den Schluß eines Wächterlieds in Boehmes
Altdeutschem Liederbuch S. 196, wo es heißt: Reitstu hinweg, spar Gott Dich
g'sund! Mein Herz tut nach Dir langen == verlangen. [Vgl. hiezu die klanglich
ähnliche Bildung in Lessings Nathan „Geld einem Juden abbangen“.] Es
ist verb. simplex zu verlangen; vgl. walten, gehren, wovon gern.)
Heine. Heines Neubildungen (z. B. heiligrot, leichenwitternd, stillverderblich,
seidenrauschend, prophetengefeiert, seelenschmelzend &c.) sind Nachahmungen
der Voßschen Wendungen (vgl. Übersetzung des Aristophanes und des Äschylus,
sowie Rückerts Ges. Ausg. VII. 60).
Volkstümlich klingen die Neubildungen Bürgers, mittelalterlich die von
Uhland.
Die Platenschen Neubildungen (z. B. löwenbeherzt, weinstocknährend &c.)
erinnern an Goethe in Formen wie heimlichkätzchenhaft, begierlich, schluchtwärts
lockend, weitgähnend, während Goethe seinerseits in Bildungen wie
flügeloffen &c. an Fischart (z. B. offenmaulvergessen, rundverbondet) anklingt.
Platens Wortkolosse, z. B. Freischützkaskadenfeuerwerksmaschinerie, Vorzeitsfamilienmordgemälde,
Demagogenriechernashornsangesicht, Obertollhausüberschnappungsnarrenschiff
&c. klingen wie Vossens Graungefängnisse und Graunjammerüberwältigung.
Sie sind am Orte, wo es sich ─ wie in Schlegels Epigramm
über die „Himavatgangesphilologiedornpfade“ ─ um Erreichung eines komischen
Effekts, einer gesteigerten Wirkung &c. handelt, besonders also in der Komödie
(vgl. Aristophanes). Jn einem lyrischen Liede würden sie sich ausnehmen wie
Felsblöcke in einem Blumenbeete; sie würden den leichten, flüssigen Rhythmus
unserer Sprache trüben und als geschmacklose Sprachungeheuer abschreckend wirken.
2) Unter den sämmtlichen neueren Dichtern war es besonders Fr. Rückert,
welcher die Grenzlinien des Schönheitsgefühls wohl an den meisten Punkten
berührte, welcher der Neuschöpfer der pathetischen Sprache wurde, so daß es
wohl lohnend sein dürfte, einen spezielleren Einblick in seine bezügliche schöpferische
Thätigkeit zu gewinnen. Durch diesen Nachweis an einem Dichter soll zugleich
der Lernende befähigt und gewöhnt werden, Neubildungen in dichterischen Produktionen
zu erkennen und ihrem Werte nach zu würdigen.
Zunächst sind Rückerts Komposita erwähnenswert (z. B. abendglutumrötet,
empfindungsblütenreich, kußlichgemundet, löwenschwungkühn, Lippenmosteskelterfest
&c.). Besondere Vorliebe hatte er für Substantiva, die er aus Zeitwörtern
bildete (z. B. Zeitungbringerin, Fliegenwedelschwingerin, Wohnerin, Spenderin, [118]
oder Beleber, Welterfreuer, Gramgewölkzerstörer, Feindesburgenkampferstürmer).
Jnteressant sind Rückerts das Zierliche spielend bezeichnende Diminutivbildungen in:
„die Göttin im Putzzimmer“ (Alle die Nischchen, alle die Zellchen u. s. w.).
Durch veraltete mundartliche oder eigentümlich gebrauchte, einfache und
zusammengesetzte Substantiva verstand es Rückert, der Sprache jugendliche Spannkraft
zu verleihen. Er gebraucht z. B. Ämse für Ameise, Kluf für Nadel,
Läubchen für Laubblättchen, Sturzel für Wurzelende &c. &c.
Ebenso gebraucht er abstrakte, von Verben oder Adjektiven gebildete
Feminina, z. B. Dumpfe, Freie, Grüne, Süße, Heitre (für Heiterkeit) &c. Er
wendet ungebräuchliche Plurale an, z. B. Dorne, Frühen, Gewölker, Gräule,
Läger, Nahten (Nähte), Thale &c. Er gebraucht Substantiva mit auslautendem,
längst weggefallenem e, z. B. Fraue, Scheue, Gehirne. Ebenso ungewöhnliche
Ableitungen, z. B. Blitzleuchtung, Entflörung, Entkümmerung, Lustumfangung,
Redepflegung, Siegung, Siedlung.
Reich ist er in Erneuerung veralteter, seltener, mundartlicher, eigentümlich
gebrauchter oder von Substantiven und Adjektiven abgeleiteter Verben, z. B.
abstrupfen, abzeilen, bedunken, beschmitzen, betraufen, bewandeln, deuchten,
deutschen, entthören, funken, gehren, grüben, holpern, nachbleiben, verschleudern,
zwinken. Namentlich durch Zeitwörter, welche leblosen Gegenständen menschliche
Thätigkeiten und Empfindungen beilegen, weiß er die Anschaulichkeit zu beleben
und eine große Wirkung zu erzielen. (Jch erinnere an die Dichtungen „sterbende
Blume“, „Edelstein und Perle“.) Neu, wenn auch nicht durchweg vollschön ─
sind viele seiner Adjektiva, z. B. blach, buttig, butzig, labendlich, läßlich, magdiglich,
rosenfar, schmettrigsträubig, bedenklos, haarfeinwuchsig &c. Wem solche
Adjektiva gewagt erscheinen sollten, den machen wir auf ein einziges Widerlegungsmoment
aufmerksam, daß z. B. das von Simon Dach zuerst in unsere
Sprache eingeführte Wort furchtlos von Gottsched als sehr gewagte Neuerung
verurteilt wurde. Der erste König Württembergs wählte die Devise: „Furchtlos
und treu!“ Jetzt ist das Wort populär.
Neu sind viele Rückertsche Adverbia, z. B. aldar, ebensam, jach, selb.
Neu ist, wie Rückert die Silbe lich an's Partizip anhängt, was bis jetzt nur
an das Substantiv geschah, z. B. Feind=lich, Tugend=lich, Freund=lich,
Frevent=lich (aus Frevel mit nt zur Vermeidung der beiden l), Schade=lich
(schädlich), Liebe=lich (lieblich), Güte=lich (gütlich), Herze=lich (herzlich), Lacher=lich
(lächerlich), Röte=lich (rötlich). Dem Substantiv gleich behandelt man den substantivierten
Jnfinitiv, bei welchem des Wohllauts wegen ein t eingeschaltet wurde,
z. B. hoffentlich, wissentlich. Jm Gegensatz hierzu schreibt Rückert labendlich
(statt labentlich). Rosenfar ist eine Rückertsche Entlehnung aus dem mhd.; sie
stammt von Walther von der Vogelweide: »liljenvar« (vgl. v. d. Hagens
Minnesinger Bd. I. 244. Nr. 44. 3. Strophe). ─ Auf diejenigen, welche
manche Rückertsche Neubildungen als bloße Spielereien ansehen, paßt Goethes
Wort:
§ 28. Das Schöne in der Lautmalerei. Klangschönheit.
1. Die Lautmalerei, welche Klangschönheit und Wohllaut erzielt,
ist die Kunst des Dichters, durch Vokal- und Konsonantenverbindungen
die Stimmung und den Charakter des Begriffs oder des Jnhalts schon
im Klange anzudeuten, wie es die lautmalende Figur Onomatopöie
verlangt. (§ 54.)
2. Das Bedürfnis der Wortbildung veranlaßte schon die Naturvölker,
die Ähnlichkeit gewisser Eindrücke mit Konsonanten und Vokalen
durch Lautmalerei auszudrücken.
3. Unsere besten Dichter haben sich der Lautmalerei zur Erreichung
der Klangschönheit und des Wohllauts bedient.
1. Wenn auch von vielen Dichtern behauptet werden kann, daß sie nicht
mit dem vollen Verständnis der zu erzielenden Wirkung bestimmte Vokale für
eine besondere Stimmung oder Empfindung anwenden, so ist doch die Lautmalerei
von den hervorragendsten mit Erfolg verwertet worden. Der malende
Dichter erstrebt Äquivalente, die möglichst sinnlich bezeichnen. Er sucht nach
denjenigen Wortlauten, welche dem Hauptklang der auszudrückenden Stimmung
in ihren Konsonanten oder ihren Vokalen oder beiden zugleich ähneln. Wenn
er einen Sturm schildert, so möchte er gern alle Wörter, die er für seine
Dichtung gebraucht, sausen hören, wie den Sturm selbst, während er für das
Säuseln eines linden Westwindes nur säuselnde, fächelnde, hauchende Wörter
seinem Gedanken entsprechend findet. Für die Empfindung der Liebenden müssen
ihm beispielsweise alle Wörter so anklingen, wie das schöne Wort Liebe selbst:
z. B.: Wo Liebe lebt und labt, ist lieb das Leben. (Vgl. die Beispiele des Konsonanten
l S. 129. a und b.)
Unzählige Beispiele können es dem aufmerksam Lesenden erhärten, daß
diesem Ausgangspunkt, diesem Bestreben alle malenden Dichterstellen ihren
Ursprung verdanken. Der mit dem Grundton harmonierende Rhythmus
bringt eine gewisse Einheit in das Mannigfaltige, wodurch die Darstellung
malerisch sich gestaltet und Sinnlichkeit und Geist in dem Gewähren einer harmonischen
Thätigkeit sich äußern. Darum faßt der Dichter den sprachlichen
Ausdruck so, daß die erwähnten Figuren das Ohr bei gleichen Klängen
verweilen lassen, wo der innere Sinn in gleicher Thätigkeit beharrt.
2. Man findet malerische Nachahmung in allen Sprachen, und Herder
nimmt solche Nachahmung als ersten Grund und Anfang der menschlichen Sprache
überhaupt an. Allmählich erhielten die Empfindungen und Anschauungen in
feststehenden Ausdrücken ihre Bezeichnung, und es gehört zu den interessantesten
Forschungen, wie dies geschah, und wie die nötige Tonverschiedenheit durch das
menschliche Sprachorgan möglich wurde.
Ohne Zweifel war ursprünglich mit jedem Laut ein gewisser Vorstellungs=
und Gedankenwert verbunden.
Viele Bildungen unserer Sprache zeigen noch den sinnlich malenden onomatopoetischen
Charakter beim ersten Blick. Jch erinnere nur an Wörter wie:
piff, paff, puff, sieden, wallen, rasseln, prasseln, sausen, brausen, brüllen,
krachen, blitzen, donnern, rollen, klappern, klirren, klingeln, lachen, klaffen,
klatschen, platschen, plätschern, klopfen, gackern, flammen, fluten, schnattern,
krähen, grunzen, schmettern, flattern, jagen, schlagen, miauen; Trommel, Hummel.
─ Solche Wörter bildeten sich zweifellos nicht zufällig aus denselben Konsonanten
und Vokalen! Man benützte vielleicht instinktiv eine bestimmte Konsonanten= oder
Vokalverbindung, noch häufiger den einzelnen Vokal oder Konsonanten, um im
Hinblick auf Grundfarbe und symbolische Bedeutung dieser Verbindungen und
Laute ein Grundgefühl auszudrücken. Nachweislich diente, wie auch die dichterischen
Beispiele weiter unten darthun werden:
Schl für Bezeichnung des sich Schlingenden, Schlüpfrigen
(Schlange, Schlinge).
Kr für das sich Krümmende (Kranz, kraus, Kram).
St für das Bestehende, Dauernde (stehen, stellen, Stand, Stamm,
Stütze, Stock, Staat, stampfen, Stein).
Fl für leichte Bewegung, für das Hauchen, Wehen (fliegen, fließen).
Pl und Bl für das Blähende, Platzende. (Der Mund bläht
sich zur Form der Blase auf und platzt, z. B. Plage == Schlag oder Stoß,
πληγή, plaga, ferner Platz, plappern, plaudern, Plunze == eine sich bis
zum Platzen blähende Wurst, plötzlich; Blitz, blinken, blenden, blaß, bleich,
Blöße, Blüte, Blut, Blatter, blecken.)
R für die stärkere Bewegung. Jordan findet in r die Vorstellung
der Unebenheit, Heftigkeit, Rauhigkeit, des Aufregenden als Eigenschaft, als
Bewegung oder der von ihr bewirkten Gestaltung, z. B. rauh, rauschen, rasseln,
regen, Rohr == das gegen einander Rauschende, rühren, rot == eine erregende
Farbe, Reiz, reißen, Reif, rennen, rinnen, rieseln, reiben, Rand, rasch, Roß,
rüstig, Rabe u. s. f.
Z für das Zerstörende, Zermalmende (Zahn, zerreißen).
T und P für das Harte, Heftige, Widerstrebende.
L für das Liebliche, Zarte, Milde, Schmeichelnde, Weiche,
Langsame, weniger Handelnde als Leidende (Liebe, Leid, liegen, Luft,
linde, leise).
H für das geistig Bewegte, Mächtige, Erhabene (Haß, Hülfe,
Heil, heilig, heimlich, heftig, Hüne, Halle, Himmel, Hölle, hoch).
A für das Volle, Starke, Mannhafte, Klare.
E für Bezeichnung des Klang- und Charakterlosen.
J für das Jnnige, Sinnige, Liebliche, Freudige, Rasche, Scharfe,
Hellklingende.
O für das Tonangebende, Volle, Pompöse, aber auch Tote,
Hohle.
U für Glut, Wut, Flut; aber auch für Furcht, Luft und das
Dumpfklingende.
Ä für das Gährende, Gefährliche.
Ö für das Böse, aber auch für das Schöne, Versöhnende,
Tönende.
Ü für das Blühende, Glühende, Stürmende.
Ei für Leid, Wein, für das Reine und das Heil, für das Ergreifende.
Eu für Freude, Treue, Reue; aber auch für das Scheußliche
und Greuliche.
Au für das Traurige, wie für das Trauliche und Erbauliche;
auch für das brausend sich Bahnbrechende u. s. w. u. s. w.
Jedenfalls geht man nicht zu weit, wenn man behauptet, daß im Allgemeinen
das helle i und e in den Ausrufen der Freude, das dumpfe
u, ferner o und a in denen des Selbstgefühls und der Kraft am Platze sind,
und daß die Verschmelzung von dunklen und hellen Vokalen in ä ö ü ei äu
Gefühle charakterisiert, welche der Verschmelzung oder Mischung von Freude und
Schmerz (d. i. Hoffnung, Sehnsucht, Heimat u. s. w.) entsprechen.
Diese Anschauungen, denen wir auch bei Edler, bei Jordan („der
epische Vers“ S. 36 ff.), bei Kaltschmidt in seinem sprachvergleichenden
Wörterbuch der deutschen Sprache und bei Wolzogen begegnen, sind selbstredend
nicht frei von Jrrtum. Wenigstens lassen sich genug Beispiele zur Widerlegung
finden. Sie sollen nur zur denkenden Vergleichung auffordern; sie sollen ferner
auf den lautmalenden Ursprung unserer Sprache und darauf hinweisen, daß
durch regelmäßigen Wechsel und durch Häufung gewisser Laute das bezeichnete
Grundgefühl erweckt wird, wenn auch im einzelnen Wort, zumal im Auslaut,
heutzutage dergleichen nicht durchweg mehr nachzufühlen sein dürfte.
Es ist sicher keine Spielerei, der Lautsymbolik Beachtung zu schenken. Die
heutige Poetik ist sogar hierzu verpflichtet, da ja sonst gewisse Dichtungen (z. B.
von W. Jordan und Rich. Wagner) in ihren Ausgangspunkten gar nicht begriffen
werden können.
Hans von Wolzogen hat in seiner „poetischen Lautsymbolik“ die psychischen
Wirkungen der Sprachlaute im Stabreime aus Richard Wagners „Ring
des Nibelungen“ bestimmt. Ferner hat er durch eine Sammlung lautsymbolischer
Proben nachzuweisen versucht, daß der lautsymbolische Charakter der Stäbe der
vortönende Ausdruck des in den Dingen sich bethätigenden Willens ist.
Er legt dem dichterischen Mimen, wie er den Konsonanten nennt ─ den
Charakter eines lautlichen Reflektoren des in der Bewegung verborgen wirksamen
Willens bei und behauptet mit Recht, daß wir bei bestimmten Konsonanten
eine symbolische Mitteilung bestimmter Vorstellungen deutlich herausfinden.
Aus einer großen Zahl von Beispielen stellt er sodann die verschiedenen
Verwendungen desselben Lautes zusammen, um so das Allen
Gemeinsame als den Grundcharakter des Konsonanten in seiner musikalisch=symbolischen
Wirkung auf unsere Empfindung zu bestimmen.
Wie gründlich er zu Werke geht, möge folgende für unsern Gegenstand
lehrreiche Probe beweisen.
Er sagt a. a. O. S. 9: „Schon nach flüchtiger Betrachtung muß es
auffallen, wie sehr gerade im Vorspiele zu dem Gesamtdrama „der Ring
des Nibelungen“ (also im Rheingold) die Lautsymbolik bevorzugt ist. Der
elementare Charakter dieses Stückes, zumal der ersten im Rheine unter Nixen
und Alben spielenden Szene, scheint auch dieses elementare Ausdrucksmittel
gleichsam aus sich erfordert zu haben.
Die spielenden und scherzenden Nixen, deren Namen sogar schon mit dem
weichen, flüchtigen, labialen Hauchlaute W (F) anlauten, halten in ihrem ersten
Wechselgesange durchweg den Stabreim W fest: Woge, Welle, walle, Wiege,
wachst, war; z=wei, wie, wildes, Gesch=wister, sch=wimmen. Wie die beiden
letzten Beispiele schon eine Erweiterung dieses Stabes durch das rauschendgleitende
Sch enthalten, so mengt sich zum Schlusse der ganzen Reimgruppe
das dem W naheverwandte leichtere F mit dem L ein, als welche Konsonantenfolge
Fl ein leichtes Dahinschnellen (Flitzen durch die Flut) anzudeuten
scheint. Genauer ausgedrückt: Fl symbolisiert die flüchtig vorbrechende, leicht
fortschnellende Bewegung.
Ein sanfter Lippenhauch trifft auf einen weich nachgebenden Zungenwiderstand,
der den zweiten Teil des Hauches so zu sagen gefällig weiter befördert.
Die Begriffe des Fliegens, Fliehens, Fließens, bedienen sich dieser symbolischen
Lautform mit Glück. Die ernstere Floßhilde, nachdem sie mit einem hallenden:
Heiala weia! von oben herab unter die Schwestern gefahren, beendet das
Scherzspiel durch eine Warnung: das Gold besser zu bewachen; und ihre Rede
entsagt dementsprechend zuerst dem Wogen- und Flut-Stabe.
Da aber steigt lauschend der Nibelung Alberich aus den Klüften des Abgrundes
von Nibelheim zum Rheine auf, und wie sein Geschlechtsname, so trägt
auch sein lockender Ruf an die Nixen den harten, bissigen N-Laut zur Schau,
der seiner ganzen Art als der negativen Macht im Drama so trefflich entspricht,
wie er den schärfsten Gegensatz bildet zum weichen W der Wassergeister. (Nicker,
niedlich, neidlich, Nibelheim, Nacht, naht, neigtet, neckte, Nibelung u. s. f.)
Als er dann mit koboldartiger Behendigkeit den Mädchen über die Riffe nachzuklettern
sich anschickt, da bezeichnen außerordentlich drastisch die Stäbe Gl und
Schl, im Bunde mit dem leichten, schlüpfenden F das Abgleiten am schlüpfrigen
Gesteine mit den Worten:
und die lachende Woglinde ruft ihm gewissermaßen ein Prosit auf sein Prusten
und Niesen mit dem passendsten Stabe Pr (Fr) zu, welche Lautfolge überhaupt
eine hart hervorbrechende Bewegung durch nach vorn abstoßendes P und
fortrollendes R andeutet und an dieser Stelle zugleich den Ausbruch des Niesens
wie des spöttischen Gelächters bezeichnen kann:
Ganz anders dagegen klingt bald darauf der Stab Spr, gesprochen Shpr;
ein Anlauf auf sausendem oder zischendem S oder Sh, ein Absprung auf abstoßendem
P, ein Fortschwingen auf rollendem R: da hat man den völligen
Sprung nach einer Beute lautsymbolisch dargestellt. So zürnt denn der verlachte
Nibelung, als Woglinde sich vor ihm aufwärts nach einem hohen Seitenriffe
geschnellt:
Kaum aber will er seinen Sprung versuchen, so hallt ihm schon wieder
von der andern Seite her Wellgundens heller Lockruf mit dem reinen Hauche
H ins Ohr:
Er findet sie auch bald reizender als Jene:
und bittet:
Darin taucht zuerst das T mit seiner merkwürdigen symbolischen Bedeutung
des Ein- und Auftauchens selber auf, das z. B. auch W. Jordan in dieser
Weise sehr bevorzugt. Man vergleiche die prächtige, sich nach der Tiefe zu dumpf
abtönende Darstellung des ins Wasser geschleuderten Steines:
(Sigfrids 17. Ges.)
Ursprünglich bezeichnet das T nur eine Richtung wohin, daher es der
demonstrative Konsonant ist. Die Pantomimik, durch die es erzeugt wird, besteht
aber im Stoße der Zungenspitze gegen den Gaumen, daher es auch lautsymbolisch
leicht das plötzliche Gelangen an einen Ort, sei es durch Fall oder
Stoß oder Sprung bezeichnen kann. Nimmt man den Spezialeindruck der
Worte: tauchen, Tiefe und damit verwandter hinzu, so erklärt sich die Vorliebe
für diesen Konsonanten als Ausdrucksmittel in den obenerwähnten Fällen.
bittet Alberich weiter und zeigt damit, wie das Schl (gleichmäßige sanft hinschmelzende
Bewegung Sch + L) nicht nur ein Hingleiten auf gerader Bahn,
sondern auch ein Herumgleiten um einen Körper recht wohl bezeichnen könne,
in welcher Weise man es noch öfter auch im vorliegenden Werke angewandt
findet.“
Wir müssen uns versagen, ein Mehr aus der einen Beitrag für eine
Wissenschaft der Lautsymbolik bildenden Schrift Wolzogens zur Probe zu geben.
Der interessevolle Forscher findet am Schluß derselben eine Rekapitulation alles
dessen, was Wolzogen im Laufe seiner Betrachtungen über jeden einzelnen konsonantischen
Laut und über besonders prägnante Lautfolgen lehrte: nämlich in [124]
systematischer Übersicht (und Anordnung in Lippenlaute, Zahn- und Zungenlaute,
Gaumenlaute und Kehllaute) das Wesenhafte jedes Lautes, das
unsere Seele zu bestimmten Vorstellungen anregt.
Für die Folge wird sich der Fachmann mit den physischen Ursachen und
Gesetzen der organischen Lautbildung abzugeben haben, um die Wissenschaft der
Lautsymbolik zu einem integrierenden Teil der Natur- und Seelenkunde zu erheben,
welcher durch eigenartige, wunderliche Reize lohnen und sich seine Stellung
in der Poetik sichern wird.
Lautmalerei bei neueren Dichtern.
Jndem wir nunmehr auf die Dichtungen A. W. Schlegels und Vossens
verweisen, von denen der erstere die Konsonanten, der letztere die Vokale meisterhaft
anwendet und mischt, ferner auf die Dichtungen W. Jordans (Nibelunge)
und Rich. Wagners (Ring des Nibelungen), streben wir, in den folgenden
Proben zunächst den Beweis zu erbringen, mit welchem Erfolg auch neuere
Dichter onomatopoetische Gesetze verwirklicht haben. Zunächst bemerke man in
Goethes Fischer, wie schön zu Anfang des Gedichts das gleichmäßige, schöne,
an Wellen erinnernde Wiegen anmutig ergreift:
Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll.
a a e au a a e o
So wird bei jedem schönklingenden Gedicht der schöne Wechsel der Vokale
für den harmonischen Eindruck von Bedeutung sein.
Jn Goethes Mignon drücken dunkle Vokale eine dumpfere Stimmung
aus, bis das unbefriedigte, ziehende i sich anschließt:
Dagegen das lockende, liebliche i im Erlkönig:
Jn der Bürgschaft von Schiller ist folgende Stelle überaus malerisch:
Hier wird durch kunstvolle Anwendung und Verbindung tiefer Vokale (donnernd,
Wogen, Gewölbe, Bogen) und durch die bezeichnenden Zeitwörter sprengen und
krachen der bei dem Einsturz hörbare Laut prächtig charakterisiert.
Die Gewalt des kräftigen a zeigt Rückert in seinem Lied auf die Schlacht
bei Leipzig.
Vgl. auch Adolf Schults:
Ebenso Greiffs assonierende Ballade Der Königssohn:
Auch ist hier zu erwähnen Bürgers Lied vom braven Mann. Jm
Goetheschen Liede das Veilchen sind die vielen schweren a ein Symbol
der Gewalt, die das Veilchen erdrückt.
Schiller (das taktmäßige Hämmern nachahmend):
Das dumpf klingende u schafft den Eindruck des Unheimlichen, wie es sich
ungefähr in dem Furchtausdruck „huh“ oder in den Worten Wut, Glut, Sturm,
Umsturz ausprägt:
(Rückert.)
[126]Noch besser malt Rückert mit dem Vokal u in seinem Napoleon I. 59:
Das o zeigt sich als Vokal für das Volltönende, wie für den Tod:
(Geibel.)
(Klopstock.)
(Goethe.)
Scheffel, indem er das Geschrei Sturmlaufender nachahmt, weiß Todesahnung
zu erwecken und Kraft zu äußern in Verbindung von o und a:
Das Beglückende, Jnnige, das durch e und i ausgedrückt werden kann,
zeigt diese Strophe Wilh. Müllers:
(Goethe, Faust.)
Das Sinnige, Jnnige des i ist auch in folgender Strophe Cäsars von
Lengerke ausgedrückt:
Geibels Nachtigallenschlag „Tio, tjo, tio, tjo, tiotinx, o wie süß, o wie
süß“ (Ged. II. 261) verschmilzt i und o.
Durch das i ist auch der Spott, die Satire zu bezeichnen:
(Rückert, Napoleon I. 13.)
Die durch Umlaute (und Diphthonge § 25 d) erzeugten gemischten Gefühle
werden durch folgende Strophe illustriert:
(Friedr. Hebbel.)
Die brausende, fortdringende Gewalt des au, das Kräftig=wirkende des a,
das Freudig=liebliche des i, das Ergreifende des ei bringt nachstehender Vers von
Clemens Brentano zum Ausdruck:
Mit wenig Vokalen malt Uhland im weißen Hirsch Flucht, Schießen und
Hörnerjubel: „Husch husch! piff paff! trara!“ Ähnlich mit verständnisvoller [128]
Abwechslung der das Klaffen, die Bewegung und das Rufen nachahmenden
Vokale Bürger im wilden Jäger:
Goethe in folgendem Chore (Faust), wo neben dem schönen Wechsel von
Vokalen noch Allitteration, Reim, Rhythmus und Konsonantenverbindungen malerisch
verwertet sind:
Drastisch anschaulich malt der hyperbolische Blumauer in seiner Liebeserklärung
eines Kraftgenies:
Bei den Konsonanten giebt oft schon der Ton die eigenartige Stimmung:
(Goethe, Faust II.)
Als Beispiel, wie Z und P und ck im obigen Sinne Verwendung fanden,
mögen die Worte Schillers gelten:
Ebenso ist für die Anwendung des l charakteristisch, wie die Vorstellung
durch das fortleuchtende l bis zum Schluß rege erhalten bleibt:
a)
b)
(Konrad der Schenke v. Landegge. Tieck XX. 142. Vgl. Minnes. v. d. Hagen I. 350.)
Die Luftbewegung des Strudels drückt Schiller im Taucher durch Verbindung
des h mit tiefen Vokalen aus:
Das Geräusch des ersehnten Regens malt Klopstock durch das rauschende sch,
dessen Eindruck er durch Wiederholung verstärken möchte:
Wunderbar gebraucht Goethe das r im Sturmlied, welches man sich ohne
das bewegte r und ohne das dumpfe Sturm=u nicht denken kann:
Treffliche Beispiele der Lautmalerei, der Klangschönheit und
des Wohllauts sind noch die folgenden:
(Schillers Glocke.)
(Goethes Werke, I. 166.)
(Goethe.)
[130](Schillers Glocke.)
(Goethe.)
(v. Sallet.)
(Gruppe.)
(Rückert.)
Übermäßige Anwendung der Lautmalerei, z. B. bei Sigmund v. Birken
im Frühlingswillkomm wird unschön, undeutsch:
Ebenso führt die zu häufige Wiederholung desselben Vokals zum Mißklang
(== Kakophonie), z. B.:
Charakteristisch wirkt die häufig zum Spielerischen ausartende Tiertonnachahmung:
Goethe das Wolfheulen nachahmend: Wille wau wau wau; wille wo
wo wo; wito hu!
Julius Wolf den Finkenschlag wiedergebend: Finkferlingfinkfinkzißspeuzia,
parerlalala zischketschia! hoiza! Fritz, Fritz, Fritz, rüdidia.
§ 29. Das dichterisch Unschöne.
1. Hiatus.
Hiatus (von hiare klaffen) heißt in der Metrik das unschöne
Zusammentreffen zweier Vokale als Auslaut eines vorhergehenden und
als Anlaut eines diesem eng folgenden Wortes.
Beispiel:
Es entsteht durch dieses Zusammenstoßen zweier Vokale ein Doppelhauch,
welcher den Wohlklang (== Euphonie) und den Redefluß stört. Das Ohr will
ebensowenig die Häufung der Vokale ertragen als das Auge eine fortgesetzte oder
länger andauernde Öffnung des Mundes. Es ist eine ernste Forderung, daß
die poetische Sprache leicht zu sprechen und zu hören sei. Betrachten wir die
Vokale nach ihrer Klangverwandtschaft (a e ö o i ü u), so steht das u dem a
am entferntesten, weshalb z. B. ein Hiatus a:u weniger störend empfunden
wird, als ein Hiatus e:i, oder e:e,i:i, u:u.
Beispiele:O du ̑Allmächtiger,
Du bist so nah ̑und fern.
Alle, die ̑ich liebe,
Sie schätzen Liebe, ̑Ehre, ̑Ehrfurcht.
Elende ̑Esel.
Sie löschte ̑ihr Lämpchen mit Thränen.
Nur bei ganz enger Zusammengehörigkeit der Wörter- oder Redeteile verschwindet
das Anstößige des Hiatus, z. B. du ̑ordnest, oder du ̑irrst; g̑eordnet;
g̑eirrt. Auffallend ist er auch nicht bei syntaktischen Pausen (Interpunktionen)
Z. B.: Weh! ̑ihr geht?
Während der Hiatus im Lateinischen auch bei Hauptcäsuren vermieden
werden muß, läßt er sich im Deutschen bei stehenden Cäsuren (z. B. inmitten
der Nibelungenstrophe) oder bei stehenden Diäresen (z. B. beim Alexandriner)
durch das meist gleichzeitige Eintreten der rhythmischen Pause entschuldigen, ebenso
nach einem Jnterpunktionszeichen, d. h. nach syntaktischen Pausen; nimmermehr
aber bei untergeordneten Cäsuren und Diäresen.
Bei den Griechen im altjonischen Epos war das Zusammentreffen von
Vokalen in der Mitte des Wortes eher wohllautend als fehlerhaft (z. B.
ἑώϊος, ἰάομαι, ἀοιδιάουσα).
Unsere jambischen und trochäischen Verse vertragen den Hiatus leichter,
als daktylische und anapästische, da bei letzteren die zweisilbigen Hebungen rasch
hintereinander gesprochen werden müssen, weshalb sie ein doppeltes Einsetzen
des Tones nicht vertragen.
Jnteressant ist, daß die Sanskritsprache ─ nach Herm. Brockhaus ─
ebenso empfindlich gegen den Hiatus ist, als die deutsch=poetische, oder das
attische Griechisch gegenüber dem homerischen.
Wilh. Jordan, der für jeden Vokal ─ ähnlich wie im Griechischen ─
einen „deutlichen Vorhauch“ beim Sprechen in Anspruch nimmt, erklärt den
Hiatus für eine fremdländische, aus Mißverständnis eingeschwärzte Regel, deren
Beobachtung durch Elision und Apostrophe, mit Ausnahme einiger vom Sprachgebrauch
gebilligter Fälle weit ärgere Härten erzeuge, als die meist nur [132]
angeblichen, die man vermeiden will. Einen eigentlichen Hiatus mache sein ungeschriebener,
unsichtbarer Vorschlagskonsonant ganz unmöglich. Doch erkennt
Jordan den verpönten Übelklang dann an, wenn die Vokale zugleich auf derselben
Stufe stehen und gleiche Tonhöhe haben, z. B. Sie ̑Jgel; See ̑eher;
du ̑Uhu; während er behauptet, daß Fälle wie: sie ̑irren; See ̑Ecke; du ̑Unhold
ohne Übelklang ausgesprochen werden können.
Richard Wagner (Ges. Schriften und Dichtungen Bd. VI. S. 230)
scheint der Theorie des Jordanschen Vorhauchs zuzustimmen, denn er allitteriert
Öde ̑Höh; (nämlich: Selige ̑Öde auf sonniger Höh). Bestreitet man die Absichtlichkeit
dieser Allitteration, so liegt ein Hiatus offenkundig vor.
Da wir kein Verständnis für Jordans Vorhauch haben, so müssen wir
bei unserer Ansicht von der Verwerflichkeit des Hiatus verharren.
Schon Zesen (1640) sagt: Welcher Vernünftige, dem Ohren zur Beurteilung
des Klanges der Worte gegeben seien, würde wohl bejahen, daß dieses
wohl lautete, wenn man setzen wollte: „Jch liebe ̑alle ̑Armen“, da das e und
a zweimal zusammenstößt. Georg Neumark (1667) will das e auch am Ende
eines Verses wegwerfen, wenn der folgende mit einem Vokal beginne. Magister
Pfefferkorn (1669) schließt sich dieser Forderung an. Roth (1688)
gestattet eine Ausnahme, wo in der Rede ein wenig inne gehalten wird.
Z. B. „Ach Schöne! ̑Euer Thun gefällt mir wohl.“
Gleim vermeidet den Hiatus in den Kriegsliedern; Uz und Georg Jakobi
vermeiden ihn ebenfalls, desgleichen Gellert in der letzten Fassung seiner Gedichte.
Lessing gestattet den Hiatus in der Cäsur des Alexandriners. Wielands
Verse sind nicht ganz rein vom Hiatus (in 584 Versen des Oberon
finden sich 5 Fälle). Klopstock und Voß sind sehr streng in Vermeidung des
Hiatus, desgleichen Bürger. Hölty findet den Hiatus zulässig; ebenso Goethe,
der sich sogar den Gleichklang aus= und anlautender Worte gestattet.
Z. B. Je ̑eher du zu ̑uns zurücke kehrst (im Tasso).
Die Romantiker (vor allem Tieck, sowie auch Schiller und Rückert) waren
sehr unachtsam gegen den Hiatus. Trotzdem wird ihn niemand für nachahmenswert
erklären; da jeder metrische Vers durch den Hiatus mindestens an
Wohllaut wie an Kraft des Rhythmus einbüßt.
Scherer sagt: „Niemand soll nachahmen, was wir Schiller gern verzeihen;
es ist gut, daß er keine seiner kärglich zugezählten Minuten auf die
Wegschaffung von Hiaten gewendet hat. Unsere großen Dichter wußten, wie
viel der ernste Wille und strenge Arbeit in der Kunst bedeutet; die allerjüngsten
Knirpse denken, der Herr müsse es ihnen im Schlafe schenken.
─ Jch fürchte nicht, daß nach der Epoche der Bummelpoesie, in der wir jetzt
stehen, schon das Nichts kommt, daß der jammervolle Verfall unserer Lyrik ....
schon das vorläufige Ende bedeute. Jch glaube noch an die Möglichkeit eines
Aufschwungs und möchte deshalb diejenigen, welche berufen sind, dafür zu
wirken, auf die Formenstrenge des vorigen Jahrhunderts verweisen, die zum
Sieg führte.“
2. Elision.
Man vermeidet den Hiatus durch Elision, d. i. Auslassung des einen
Vokals (z. B. hoff' er, für: hoffe ̑er) oder durch Einschaltung eines
oder mehrerer mit Konsonanten beginnender und endigender Wörter
(z. B. hoffe liebend er). Die licentia poetica, die so oft ihre Zuflucht
zur Elision nimmt, würde besser handeln, wenn sie den Vers so
zu drehen und zu wenden suchte, daß die Elision vermieden würde.
Ohne Mühe und Fleiß kein Erfolg im Versbauen!
Die Griechen ─ wie auch die Römer ─ vermieden den Hiatus durch eine
sogenannte Apokope (d. i. Weglassung des Vokals), wobei sie sodann den Apostroph
setzten (z. B. τῷ δ' für δὲ, ἠμείβετ' für ἠμείβετο ἔπειτα); oder durch
eine Synalöphe resp. Krasis (d. i. Verschleifung, Verschmelzung der beiden
Silben, z. B. ταὐτό für τὸ αὐτό oder ante illum == antillum). Statt elidieren
könnte man also auch apokopieren sagen. Auch bei uns schmilzt durch die
Elision das gekürzte Wort mit dem folgenden gewissermaßen zu einem Worte
zusammen (z. B. Und alle Tag' ̑in Leid und Freud' vergehn). Daher braucht
Elision nicht einzutreten, wenn ein Jnterpunktionszeichen die beiden Wörter trennt.
Sie soll aber auch nicht eintreten, wenn Härten, ungebräuchliche Wortzerreißungen
und Mißverständnisse dadurch hervorgerufen werden. (Z. B. die Jäger haben
Hund' erschossen; in diesem Fall könnte sonst leicht der Singular vom Hörer
angenommen werden. Besser wäre schon „Hund' erhoben ein Geheul“, weil
„erhoben“ den Plural zeigt &c.)
Trotz der Freiheiten (Licenzen), die dem Dichter gestattet sind, muß derselbe
diese und andere durch die Eigenheit unserer Sprache gestellten Forderungen
beachten. Es können z. B. Substantiva, Verba und gleichfalls Adverbia (z. B.
heute, leise) das tonlose e auch vor Konsonanten abwerfen, nicht aber attributivisch
gebrauchte Adjektiva, z. B. die treu' Erinnerung; der gut' Essig. Die
Elision ist beim Adjektiv an und für sich schwierig, da hier die Endung zur Bezeichnung
der Flexion dient. „Starke Arbeit“ darf nicht elidiert werden, weil
der zweite Vokal betont ist; „schöne Erfahrung“ wird nicht elidiert, weil „schöne“
Adjektiv ist, dessen Steigerung im Komparativ ebenso klingen würde, wie die
Zusammenziehung (schön' Erfahrung == schöner Fahrung).
Meist ist bei der Elision das erste Wort betont, das zweite unbetont;
nur beim Verbum kann es auch umgekehrt sein, z. B. Sein Freund konnt'
Alles opfern.
Das Verbum gestattet auch wegen seiner Entbehrlichkeit des e in den meisten
Fällen die Elision. Wo freilich Verwechslungen (z. B. des Präsens mit dem
Jmperfekt) möglich sind, darf das e nicht ausgeworfen werden, z. B. er freute
sich, er lebte neu auf, nicht aber: er freut' sich, er lebt' neu auf.
Bei zusammengesetzten Substantiven, wo das Grundwort ohnehin
schon an Tonstärke einbüßt, würde man demselben durch Entziehung des e
auch noch eine materielle Schädigung zufügen. Man vergleiche z. B. Nachrede
und Nachred; Baumstämme und Baumstämm! Otfried („Evangelienharmonie“) [134]
setzte unter den Vokal einen Punkt, um die Tilgung und Synalöphe anzudeuten.
Das stumme e giebt es erst seit dem 12. Jahrhundert. Entweder schrieb man
es gar nicht, oder man überließ dem Lesenden die Weglassung.
Erst Konrad Gesner (Mitte des 16. Jahrhunderts) führte bei seinen
antikgemessenen Versen den Apostroph ein, den er von den Griechen entlehnte,
und den wir heute noch anwenden.
Die Elision inlautender Vokale betrifft in der Regel nur i und e, z. B. sel'ge,
wonn'ge, güt'ger. Bei den Versen Heines ist das i in der Regel nicht
ausgestoßen und muß dann doppelt rasch gelesen werden, damit die beiden
Silben die Zeitdauer von nur einer Silbe umfassen. Seines wohllautenden
Charakters wegen möchten auch wir am liebsten nach Heines Vorgang den
Vokal i nicht elidiert sehen, und dies umsoweniger, als unsere Sprache ja ohnehin
gestattet, aus dem Trochäus einen Daktylus zu bilden (vgl. § 81), also z. B.
ros'ge mit rosige zu vertauschen.
Nicht erlaubt sind Elisionen wie in schneid't, red't, leid't (z. B. der Tod
reit't schnell), weil das nachfolgende t durch das vorhergehende d oder t zugedeckt
wird und nun durch das Ohr nicht wahrgenommen werden kann. (Vgl. z. B.
Biesendahls Kaisertochter, Leipzig 1880 S. 98: „Und er breit'te den Arm“
statt breitete.) Elisionen und Zusammenziehungen, wie z. B. in franzsch (für
französisch), oder in Ast's, Arzt's &c. sind unstatthaft wegen der schwer auszusprechenden
Konsonantenhäufungen und des Mißverständnisses.
(Schiller in den Räubern hatte ursprünglich geschrieben: „Amalie, du
seufzst?“ Weil dies aber klang: „du säufst“, schrieb er dann „du weinst?“)
Ebenso unstatthaft sind Konsonantenhäufungen wie: des Bachstegs schlüpfrig'
Lehne; des Tagwerks schwere Last; ebenfalls manche gleiche, zu nahe gerückte
Anfänge (allitterierende Reihen), z. B. der Schwester schwimmend Schwippenschwinge,
oder der schlecht schließende Schlüssel.
Um dies fühlen zu lernen, ist Anfängern lautes Vorlesen ihrer Schöpfungen
dringend anzuempfehlen, welchen Rat auch die Komponisten lyrischer
Dichtungen beherzigen sollten. Beim Vorlesen werden ihnen hoffentlich alle
Rauheiten an der Zunge hängen bleiben, welche dem geistigen Ohre der Dichter
entschlüpft sind. Der Reichtum unserer Sprache an unschönen Konsonantenverbindungen
mag unsern Altmeister Goethe mitbestimmt haben, bei seinem
Aufenthalte in Jtalien angesichts der vokalreichen, wohlklingenden, italienischen
Sprache in seinen Epigrammen diesen Tadel über unsere Sprache auszusprechen:
Goethe vergaß im Unmut, daß auch in unserer poetischen Sprache durch
richtige Abwechslung des Accents, sowie durch Anwendung vokalreicher Wörter
und gedehnter Silben, namentlich durch die Wahl der volltönenden Vokale
a o u, durch Vertauschung schlechtklingender Wörter und Wortformen mit
wohlklingenden, durch Anwendung einer liquida im zweiten Worte (also [135]
eines mit l, m, n, beginnenden Wortes eine unendliche Abwechslung und süße
Melodie erzeugt werden kann, wie er ja selbst in den kleinsten Gedichten es
bewiesen hat.
3. Zusammenziehungen.
Unschön sind Zusammenziehungen, in denen ganze Silben wie
ung, es, er, en weggeworfen werden.
Wir finden genug Beispiele bei den Dichtern im Anfang des
18. Jahrhunderts, häufiger noch bei Rückert z. B. Führ- und Leitung,
grün- und falbes, grün- und roten, Ohr- und Augen, schönst= und
größter Art, ein- und denselben &c.
Die Zusammenziehungen sind zu vermeiden, weil der Hörer noch schlimmer
fährt, als der Leser: sie sind sprachwidrig.
4. Dichterisch unschöne Vokalhäufungen und unpoetische
Elemente.
1. Wie klangvolle Vokale in den Arsissilben den Wohllaut zu
erhöhen vermögen, so wird die Schönheit durch allzuviele klanglose
Vokale in den Thesissilben beeinträchtigt.
2. Ebenso wirken alle Wörter, welche unpoetische Elemente in sich
tragen.
3. Die Stellung der Worte im Verse ist für die ästhetische Wirkung
des Ganzen zu berücksichtigen.
4. Einsilbige Worte in enger Folge sind unschön.
1. Die Endsilben mit dem farblosen (faden) e, z. B. el, er, es, eln, ernd,
end, en &c. wirken bei zu häufiger Wiederkehr matt und unschön.
Beispiele:
Der Himmel möge retten des Freundes teures Leben!
Oder: Seliges, göttlich entsprossenes, heiliges, herrliches Heil dir!
Unschön ist ferner die fortgesetzte Anwendung desselben Vokals.
Beispiele aus Goethes Hermann und Dorothea:
Zur Vermeidung dieses Unschönen hilft sich der Dichter durch Anwendung
von Wörtern mit klangvolleren Silben, z. B. bar, sam, lich, lein, keit, sowie durch
den Gebrauch von Formwörtern. Kraftvoll klingt z. B. dieser durch Wohllaut
der wechselnden Konsonanten und Vokale sich auszeichnende Hexameter:
2. Der Wohllaut macht es zur Pflicht, diejenigen Wörter zu vermeiden,
welche unpoetische Elemente in sich tragen. Als solche Wörter sind zu bezeichnen:
a. unnötige, durch deutsche Wörter leicht wiederzugebende Fremdwörter.
[136]Wenn Rückert dichtet im Kranz der Zeit S. 179:
u. s. w.
oder ebenda S. 218:
so sind seine Fremdwörter in diesen beiden Zeitgedichten für eine bestimmte
Wirkung beabsichtigt, wie sie ja auch ihrem Sinne nach als verständlich betrachtet
werden können. Den Eindruck des ästhetisch Schönen machen sie jedoch
nicht.
b. technische oder wissenschaftlich gelehrte Wörter.
Jn Rückerts Weish. d. B. (Ges. Ausg. VIII. 559) sollen die philosophischen
Ausdrücke und Terminologien:
verhöhnt werden, und ist ihre Anwendung in diesem Fall gestattet. Für das
große Lesepublikum ist der Sinn dieser Wörter unverständlich.
c. Provinzialismen. Diese sind nur in Dialekt-Dichtungen, wie in
Witzblättern am Platze. Jedenfalls müssen sie verständlich sein. Unverständliche,
wie wir sie bei Rückert finden (z. B. buhurten VI. 177, gelfen V. 126,
gruneln II. 455, beiten XI. 519, stummen, strollen, follern &c.) konnten nur
in der Absicht der Sprachmehrung von Rückerts unbestrittener Autorität angewandt
werden.
d. Alle jene Wörter, die den in der Poesie nur herauszufühlenden
logischen (verständnismäßigen) Zusammenhang prosaisch=pedantisch entwickeln oder
darlegen; z. B. mithin, folglich, demnach, also, insofern, überhaupt, sondern;
ferner alles, was nach Logik formell aussieht.
e. Einschränkende Ausdrücke, alle Wörter, die das Teilende, Halbe,
Vorbehaltende angeben, z. B. gewissermaßen, beziehungsweise, in gewisser Beziehung,
vorausgesetzt, ziemlich, mittelmäßig, dessenungeachtet, natürlicherweise.
3. Jn Bezug auf Wortstellung verlangt der Wohllaut auch, daß diejenigen
Wörter, welche den Reiz des Gedankens, den Nachdruck und Sinn
bergen, an die Hauptstellen im Vers zu bringen sind. Alle unbedeutenden
Wörter sind voraus zu bringen oder geschickt einzufügen, so daß der rhythmische
Tonfall mehr gehoben als beeinträchtigt wird.
Dichterisch unschön ist es in dieser Beziehung, immer nur des Reimes
wegen das Zeitwort in die Reimstelle zu bringen, wodurch die kräftigsten, originellsten
Reime meist unmöglich gemacht werden. (Vgl. weiter unten den § über
Anforderungen an den Reim.)
Soll ein Kunstwerk erblühen, so ist der Stellung der Worte besondere
Rechnung zu tragen.
Eine kunstvolle Satzbildung (vgl. § 62), die z. B. nicht selten Nebensächliches
zuerst bietet, das Objekt nach dem Zeitwort, das Adjektiv nach seinem
Substantiv bringt, trennbare Präpositionen ungetrennt läßt, ist dem Dichter
erlaubt, ja, sie zeigt eigentlich erst den auf der Höhe stehenden Poeten, der die
deutsche Sprache wie sein Jnstrument zu spielen versteht, ohne unschön in seinem
Produkt zu werden.
4. Verse, welche aus lauter einsilbigen Wörtern bestehen, sind dichterisch
unschön, weil bei ihnen von den reizegebenden Einschnitten (§ 96) nicht die
Rede sein kann, und weil das Betonungsgesetz bei diesen gleichmetrigen
Wörtern in Widerstreit mit sich selbst gerät; z. B. Ehr, Macht, Ruhm, Glück,
Gut mir paßt &c.
Diese Regel gilt auch in anderen Sprachen, z. B. im Französischen: Je
vois le ciel si beau, si pur et net.
Beispiele einsilbiger Wörter:
a.
(Weiße.)
b.
(Gellert.)
c.
(Rückert.)
(Ähnlich unschön: Ges. A. VIII. 544. Vgl. übrigens ebend. I. 398.)
Wie ganz anders wirken dagegen Verse wie diese:
(Schiller.)
§ 30. Das Schöne im Gebrauch des wichtigsten Ausschmückungs-Elements.
1. Das wichtigste Ausschmückungselement der poetischen Sprache
für Erzielung der Sinnlichkeit und Lebendigkeit des Ausdrucks ist das
Beiwort (Epitheton ornans). Es ist nötig, daß der Dichter das
charakteristisch richtige, sinnlich malende Beiwort suche und wähle, welches
der bedeutenden Grundvorstellung wirkungsvoll und unterstützend
an die Seite zu treten vermag.
2. Das Beiwort verrät den Dichter.
1. Nicht darf der Leser poetischer Gestaltungen gezwungen sein, wie in
der wissenschaftlichen Prosa, durch langes Grübeln eine Reihe von Denkoperationen
durchzumachen, weil dadurch der Verstand an Stelle der Phantasie [138]
treten und die Lebendigkeit der Vorstellung schwinden würde. Wohl aber muß
in der poetischen Sprache das unsinnliche Bild durch verwandte, sinnlich ausschmückende
Momente der Anschauung nahe gebracht und belebt werden. Am
meisten wahrt sich die Sprache des Volks in der Jugendzeit im Beiwort die
sinnliche Anschauung, und bleibt daher poetisch. Deshalb schöpft die
poetische Sprache zur Wahrung anschaulicher Glut und Sinnlichkeit
so gern aus der Volkssprache. Deshalb wird auch die Volkssprache jederzeit
der belebende Quell bleiben, der die vertrocknenden Poesiegärten frisch und
in Blüte erhält.
Das Recht, gute Epitheta zu gebrauchen, beansprucht schon Opitz für den
Dichter, indem er sagt: „Neue Wörter, welche gemeiniglich Epitheta und aus
andern Wörtern zusammengesetzt sind, zu erdenken, ist Poeten nicht allein
erlaubet, sondern macht auch den Gedichten, wenn es mäßig geschieht, eine
sonderliche Anmutigkeit. Als wenn ich die Nacht oder die Musik eine Arbeittrösterin,
eine Kummerwenderin, die Bellona mit einem dreifachen Worte kriegsblutdürstig
u. s. f. nenne. Jtem den Nordwind einen Wolkentreiber, einen
Felsenstürmer und Meeraufreizer u. s. w.“
Der vorbildliche Meister im ausschmückenden Beiwort ist Homer, dessen
wohlumschiente Achaier, ferntreffende Pfeile, wohlverschlossene Köcher,
weithinschattende Lanze, purpurschimmernder Mantel, langhinstreckender
Tod, göttergleicher, erfindungsreicher Odysseus, bogenberühmter
Apollon, erzlastender Stachel, silbergebuckelte Schwerter, mordendes Erz,
pfadloses Meer, erdaufwühlende Schweine, feistgenährter Eber, herzeinnehmende
Gattin, ─ einen jeden Gebildeten an das ewige Meer farbenreicher,
mit einem einzigen Farbenton malender Attributive des unsterblichen
Epikers erinnern. (Vgl. noch Jlias 4, 126. 11, 574. 15, 542.) Die
Gräkuli unter den Dichtern des vorigen Jahrhunderts und zu Anfang des
19. Jahrhunderts waren die Nachahmer Homers, bis unsere deutschen Klassiker
auftraten. Diese haben keineswegs das Vorbild Homer unbeachtet gelassen,
aber sie haben mehr als Homer auch das abstrakte Beiwort gepflegt und verwertet.
Jch erinnere an Schiller, indem ich eine beliebige Strophe auswähle:
(Aus d. Spaziergang.)
2. Vergleicht man die romantischen, orientalischen und modernen Lyriker,
so möchte man behaupten, daß sich in vielen Fällen schon an den Beiwörtern
der Dichter erkennen läßt. Heine liebt Beiwörter, die seinen Substantiven
Glanz und Charakter verleihen. Jch wähle zum Beleg eine Stelle aus dem
Phönix:
Rud. Gottschall (wie Wilh. Hertz) versteht es, durch belebende Beiwörter
die Personifikation des Begriffs fertig zu gestalten und dramatisch zu
wirken:
Beispiele:
(Gottschall: Die letzte Rose.)
2. a. Dir nickte in blauender Luft die rankende Rose &c. Ferner:
b. Vom atmenden Schoß schaut trunkenen Sinnes ich auf &c. Ferner:
c. Deines Nackens schmiegsame Beugung &c. &c.
(Hertz: Jn ihrem Schoße.)
Plastisch anschaulich malt der wenig bekannte, 1880 verstorbene Dichter
Carl Otto in „Verwehte Blätter“.
Beispiele:
1. Das traumumrankte Kindesalter. ─
2. Hoch auf dem weltentrückten Glockenstuhl.
3. Auf taubenetzten Schwingen.
4. Auf frühlingsduftumzittertem Altar.
Von prachtvollen Epitheten aus der älteren Zeit, die sich getrost neben
die Homerischen stellen können, und die von unseren Dichtern studiert werden
sollten, wähle ich nur wenige Proben aus:
1. Der schlanke Wolf folgt dem Heere und singt sein grimmiges
Abendlied. ─ 2. Der taubefiederte Rabe. ─ 3. Des Beiles bittrer
Biß schlägt schwertgrimmige Lebenswunden dem Kampfbleichen. ─
4. Die lichte Waffe wird blutgezeichnet vom Lebensquell. ─ 5. Dunkelrote
Kampfestropfen. &c.
Martin Greif spricht von regenmüden Wolken, von morgenstillen
Thoren, von weitgetragenen Stimmen.
Nicht jeder Dichter vermag in solcher Weise durch das attributive Adjektiv
dramatisch=charakteristisch zu wirken. Die meisten schreiben deskriptiv; ihr Beiwort
ist ein Epitheton ornans, welches in der Regel nur die zunächst liegende
Eigenschaft des Substantivs ausdrückt. Als einziges Beispiel wähle ich den
kerngesunden, gemütstiefen Wupperthaler Emil Rittershaus, der in seinen
deskriptiven, meisterlich gewählten Adjektiven besser als viele andere die Anforderungen
sinnlicher Anschaulichkeit berücksichtigt, und so eine eigentümlich
sympathische, zündende Wirkung erreicht.
Beispiel:
(Aus „Heimweh“.)
(Vgl. noch die schönen metaphorischen Beiwörter Goethes und des deutschen
Volksliedes (Bd. II d. B.) mit den überreichen natürlichen Shakespeares,
Byrons und den gekünstelten Calderons und Jean Pauls.)
§ 31. Das Schönheits-Jdeal. Jdealismus und Realismus in
der Poesie.
Jdeal ist alles, was die Phantasie selbstschöpferisch hervorbringt,
Bilder, welche sie nicht durch die Sinne erhält, die daher den
Gegenständen der Wirklichkeit nicht in Allem ähnlich sind und zu sein
brauchen. Somit ist Jdeal ein in der Jdee bestehendes Bild, das uns
vorschwebt, ohne daß ein Original für dasselbe vorhanden zu sein
braucht. ─ Das Jdeal der Schönheit ist die Schönheit in ihrem
Wesen: es ist die vollkommene Jdee der Schönheit. Das Schönheitsideal
war der Jdealismus der Griechen; es war die Schönheit
der menschlichen Gestalt im Allgemeinen ─ ohne Beschränkung in der
Erscheinung, im Jndividuum. Das christliche Jdeal mußte eine nicht
sinnliche Gestalt annehmen. Es mußte ein sittliches werden, nämlich
das sittliche Wesen in seiner höchsten Vollkommenheit, weshalb seine
Wirkung Ehrfurcht und Rührung wurde im Gegensatz zum sinnlichen
Jdeal des Altertums.
Dem Jdealismus setzt man den Realismus entgegen, so daß Realismus
und Jdealismus in der Poesie zwei Stichwörter wurden, die
je nach dem Standpunkte des einen oder des anderen ─ bald in auszeichnendem,
bald in tadelndem Sinne gebraucht wurden. Realismus
in der Poesie ist dasjenige Bestreben, welches dem Realen (Seienden,
Wirklichen: von res) huldigt und das Jdeale als unfruchtbare Schwärmerei
bezeichnet, ohne sich gerade feindlich gegen dasselbe zu verhalten.
Der Realismus hält sich an die Natur, an die Wirklichkeit, der Jdealismus
an die Jdee, an das Geistige.
Das Jdeal ist in dem Sinne, in welchem nämlich das Jdeal selbst Jdeal
(d. h. die Vorstellung des Jdeals) wird, stets nur eine unvollkommene
Bewußtseinserscheinung dessen, was sie sein sollte. Jeder Mensch hat sein Jdeal.
Das Leben ist nicht bloß ein fortschreitendes Mühen um Verwirklichung des [141]
vorgestellten Jdeals, sondern ein Mühen um Vervollkommnung desselben zum
reinen (d. h. nicht abstrakten, sondern von seinen subjektiven Mängeln geläuterten)
Jdeal. An die Realisierung des Jdealismus ist unsere geistige Würde und
Existenz geknüpft.
Goethe war es, welcher der Welt und ihren Erscheinungen mit Vorliebe
huldigte und Vertreter des Realismus genannt wurde, während Schiller im
Flug des Geistes sich über sie zum Jdealen emporschwang und daher als Repräsentant
des Jdealismus galt. Und doch verstand es besonders Goethe, die
Welt durch Jdeen zu beleben und sie zu verschönern, wie ja auch Schiller
seinen herzerwärmenden Jdeen das räumliche, reale Substrat nicht vorenthielt.
Man kann demnach sagen: durch Vereinigung von Jdealismus und Realismus,
durch eine wohlthuende Durchdringung von Geist und Natur schufen beide Klassiker
ihre ewigen Dichterwerke. (Vgl. Schiller „über naive und sentimentale
Dichtung“, wo nachgewiesen ist, „daß nur durch vollkommen gleiche Einschließung
beider dem Vernunftbegriffe der Menschheit Genüge geleistet werden kann.“)
Jener traurige Realismus, welcher das gewöhnliche Alltagsleben mit seinem
prosaischen Ringen und Kämpfen kopiert, will der Poesie schlecht anstehen. Und
wenn unsere Romanschreiber bis zum Kehrichthaufen und bis zur duftenden
Gerbereiwerkstätte herniedersteigen, so verleihen sie ihren Gebilden diesen ärmlichen
Realismus, der sich als penetranter Erdgeruch in jener bleiernen Schwere
manifestiert, die beide das Beschäftigen mit ihnen wenig lohnend erscheinen lassen.
Viele unserer sog. Familienromane und Familiendramen sind meist die
Erzeugnisse realistischen Sinnes und werden die von Jdealismus zeugenden
Dichterthaten (ich nenne nur Schillers Geisterseher) für die Dauer nicht verdrängen
können. Sie sind eben keine Poesie, sondern realistische Kopien des
nüchtern prosaischen hausbackenen Lebens ohne poetische Verklärung. Der echte
Jdealismus ist das Vorrecht des deutschen Sinnes. Es ist dies nicht jener
Jdealismus, welcher die sog. „reinen Begriffe“ eines Kant zum Ausgangspunkte
nimmt, sondern vielmehr der Jdealismus, der das Reale zum Substrat
hat, es jedoch nicht in phantastischer Weise beleuchtet, vielmehr seine Aufgabe
darin erblickt, die Welt der Erscheinungen in ihren Reizen und in ihrer geistigen
Bedeutung zu verklären. Es ist jener Jdealismus, der in anmutigem
Schwung das objektiv Reale mit dem subjektiv Jdealen zu vermählen weiß,
und geeignet ist, Kunstwerke von ewiger Bedeutung zu schaffen.
Diesen Jdealismus meint Schiller, wenn er sagt („Über Bürgers Gedichte“):
„Eine notwendige Operation des Dichters ist Jdealisierung seines Gegenstandes,
ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. Jhm kommt es
zu, das Vortreffliche seines Gegenstandes (mag dieser nun Gestalt, Empfindung
oder Handlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen) von gröberen, wenigstens
fremdartigen Beimischungen zu befreien, die in mehreren Gegenständen zerstreuten
Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das
Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Jndividuelle
und Lokale zum Allgemeinen zu erheben. Alle Jdeale, die er auf [142]
diese Art im Einzelnen bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines innern Jdeals
von Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt &c.“ ─
Der idealisierende Künstler kann auf sich beziehen, was Wallenstein von
Piccolomini sagt:
(Vgl. Aristoteles Poet. c. 9. οὐ τὸ τὰ γενόμενα λέγειν τοῦτο ποιητοῦ
ἔργον ἐστίν, ἀλλ' οἷα \̓αν γένοιτὸ, καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς
\̓η τὸ ἀναγκαῖον .... διὸ καί φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον
ποίησις ἱστορίας ἐστίν.)
§ 32. Das schöne Kunstwerk als Endziel und Jdeal der
Ästhetik.
Das Gesammtgebilde, in welchem die Elemente der Jdee des
Schönen sich vereinigen, so daß dadurch die Jdee als Gattung zur
Erscheinung kommt, ist ─ wie erwähnt ─ das Jdeal als die von
ihrem Gehalte (der Jdee) erfüllte Form des Schönen in seiner Vollkommenheit.
Die Darstellung des Jdealen durch die bestimmte Form
des Könnens ist das schöne Kunstwerk als Endziel und Jdeal aller
Ästhetik.
Ein schönes Gebäude, ein prächtiges Musikstück, ein musterhaftes Gemälde
ist ebenso ein Kunstwerk wie eine formvollendete Dichtung. Das Kunstwerk
liefert die Kunst, niemals das Handwerk. Die Kunst unterscheidet sich
vom Handwerk (oder der Mechanik, dem Mechanismus) durch den Zweck und
die Beziehung des Handwerks zum Nützlichen. Beim Handwerk wirkt der Mensch
infolge eines äußeren Bedürfnisses aus äußerem Jnteresse; in der Kunst folgt
er einem inneren Drange: der Schöpferkraft seiner Phantasie, deren Ausdruck
sich Selbstzweck ist. Der Handwerker schafft aus Gründen der Nützlichkeit, der
Künstler aus den sich selbstlohnenden Gründen der Schönheit.
(Goethe im „Sänger“.)
Wenn die Natur in vielen Bildungen (z. B. in den Bildungen einzelner
Tiertypen, nicht aber der ganzen Gattung) hinter der Jdee zurückbleibt, so
erhebt der Künstler sein in der künstlerischen Empfindung vollendetes Jdeal
über die einzelnen Naturgebilde, welche zu derselben Gattung des Schönen [143]
gehören. Sein Jdeal zeichnet sich durch Ursprünglichkeit (Originalität) aus, da
es das Produkt seiner eigenartigen Künstlerindividualität ist. Die Darstellung
eines solchen Jdeals beweist den genial Darstellenden: das Genie. (Vgl. § 2
und § 12.) Dem Genie schwebt die Jdee des Schönen auch in der technischen
Lösung seines Vorwurfs vor. Die Art und Weise der Ausführung,
der Darstellung ist sein Stil. Derselbe entspricht selbstredend der besonderen
Künstlerindividualität. Die Kunstnachahmung führt zum Handwerk zurück. Man
kann bei Nachahmern der Kunst wohl von Manier (vom italienischen maniera
== Handführung) sprechen, nicht aber von Stil. Stil zeigt sich in der ─ dem
individuellen Künstlergeiste, dem Jnhalte und dem Jdeale des Kunstwerks entsprechenden
─ Form eines Kunstwerks, Manier im Hervortreten technischer
Eigentümlichkeiten des Darstellenden. (Vgl. Äschylus, Wolfram v. Eschenbach,
die Prosaisten Tacitus, Jean Paul, Joh. v. Müller, ferner Heine, Scheffel,
Wilh. Jordan, Gottfr. Keller.) Das Konventionelle der Nachahmer beweist ihr
Talent, nicht aber ihr Genie.
Jedes das Jdeal verkörpernde Kunstwerk trägt doch auch das Gepräge
des Jahrhunderts; das Kunstideal selbst ist einer geschichtlichen Entwickelung
fähig; es wächst, blüht und tritt in symbolischer, klassischer und allegorischer
Form entgegen.
Die symbolische Form ist die anfängliche. Die im vollendeten Jdeale
durchgearbeitete Form in ihrem Höhepunkte, auf welchem das Kunstwerk in
unvergänglicher Schöne erscheint, ist die klassische. (§ 20.) Wird die Form
zur Dienerin des Gedankens, so nennt man sie allegorisch. (Das Symbol,
d. i. ein Zeichen für eine Jdee, deutet einen Sinn an, ohne daß ihn der
Urheber oder Darsteller zu definieren braucht; die Allegorie, d. i. eine durchgeführte
Personifikation, welche in den Teilen oder Stufen einen mit der Personifikation
parallelen Sinn ausdrückt, bedeutet einen Sinn, für den der
Urheber die Gestalten absichtlich und willkürlich gewählt hat. Das zusammengesetzte
äußere Zeichen oder Bild der Allegorie muß mehrere Vergleichungspunkte
mit der dadurch ausgedrückten Jdee darbieten, während das Symbol meist ein
einfacher, konkreter Gegenstand, z. B. Kreuz, Halbmond &c. ist, der eine sehr
komplizierte Jdee ausdrücken kann, ohne deren Teile oder Stufen &c. äußerlich
auszuprägen.)
Die Frage, welches Gedicht aus dem Bereiche der Kunstwerke auszuscheiden
sei, ist nicht allgemein zu behandeln, wohl aber individuell. Ein Lehrgedicht,
welches die Gründe der Unsterblichkeit entwickelt, ist unschön. Ebenso
ist, vom ästhetischen Standpunkt genommen, eine Dichtung kein klassisches Kunstwerk,
die bloß des ethischen Zwecks wegen geschaffen zu sein scheint. Darum
läßt z. B. Horaz seine Satirenpoesie nicht als wahre Dichtung gelten (cf.
Sat. 1, 4; 39 ff). Aus gleichem Grunde ist ─ um ein recht bekanntes
Beispiel aus der deutschen poetischen Litteratur anzuführen ─ das satirische
Heldenepos von Zachariä „Der Renommist“ kein Kunstwerk. Die moralische
Kritik mag dieses Gedicht als löblich, als gegen Laster und Verbrechen gerichtet,
preisen, denn der Dichter hat die Thorheit lächerlich gemacht und durch seinen [144]
Beitrag für Beseitigung der Thorheit Nutzen gestiftet; aber die ästhetische
Kritik darf sich nicht um das Utilitätsprinzip kümmern. Sie hat zu fragen:
Jst dieses Gedicht als Kunstwerk vortrefflich, entspricht es dem Schönheitsideal,
wie es dem gebildeten Geschmack vorschwebt? Antwort: Nein! Folglich ist das
Gedicht kein schönes Gedicht und von der Zahl der untadeligen, das Schönheitsideal
zum Ausdruck bringenden Kunstwerke auszuschließen. Sobald aus
irgend einem Kunstwerke die Absichtlichkeit hervorleuchtet oder das begrifflich
Wahre, das Nicht-Jdeale, so hört es damit auf, schön zu sein, wenn es auch
wahr ist. Die begriffliche Wahrheit hebt den Schein unmittelbaren Zusammenfallens
der Jdee mit einem Einzelnen auf, und das ist der Schönheit
zuwider.
Aristoteles erkennt (in seiner Poetik C. I.) das Ziel aller Kunst lediglich
in der Nachahmung (μίμησις). Nach seiner Ansicht führte der Trieb der
Nachahmung und die Freude an derselben zur Poesie. Jhm lagen eben nur die
griechischen Kunstwerke vor, und er hat wohl an die Architektur ebensowenig
gedacht, als an Musik oder an die Kunst der Lyrik, wohl aber an Skulptur,
Malerei und an das Drama, von welch letzterem er seine Definitionen überhaupt
nur hernahm, und dem er unter allen Arten den Vorzug einräumte. Wäre
die Aristotelische Ansicht, daß das Wesen der Kunst in der Nachahmung beruht,
richtig, so wäre die Poesie (wie er später etwas schärfer definiert) die Nachahmung
des Schönen durch das Wort. Das ist jedoch nicht zutreffend, denn
viele Nachahmungen durch das Wort (z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs
Poetae latini minores 6. 2. 388) sind nichts weniger als Poesie,
während gewisse Gattungen der Poesie (z. B. der Lyrik) wahrhaftig nimmermehr
den Zweck der Nachahmung haben. Daß die Außenwelt dem Künstler nur
die Formen, nicht aber die Gegenstände der Anschauung liefert, bestätigt der
geniale Rafael in einem Briefe, in welchem er zugesteht, „daß ihm immer
weniger die Antike genüge, daß er (auf seiner höchsten Stufe) je mehr und
mehr nur aus der Jdee male.“ ─
Bei Hervorbringung des Schönen, das sich im poetischen Kunstwerk entweder
unter friedfertigem Zusammenwirken oder unter einem Konflikt der dabei
beteiligten Seelenkräfte äußert, ist die innere Anschauung des Schönheitsideals,
d. i. die Konzeption der poetischen Jdee wesentlich. Dies geschieht
durch die reproduktive und produktive Einbildungskraft, welche sich
allerdings der geistigen oder sinnlichen Wirklichkeit anschließt, und auf diese
Weise den Berührungspunkt mit der Natur bildet. Die Natur giebt die Form,
die schöne wie die unschöne; die Poesie lehnt sich an die Natur an, ohne sie
nachzuahmen, und liefert sodann im Kunstwerk Anschauung des Schönen ─
in der Form sinnlicher Wirklichkeit.
Mit der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft, als deren Triebfeder
sich Horaz den Schwung der Begeisterung denkt (die vis divinior neben
dem ingenium. Sat. 1. 4. 43), muß sich bei Hervorbringung des Schönen
als oberster Faktor des Gefühls der veredelte Geschmack verbinden, von welchem [145]
ja allein das subjektive Schönheitsideal abhängt. Durch diese Vereinigung erst
wird das dichterische Kunstwerk ─ wie Horaz sich ausdrückt ─ ein simplex
et unum und verdient wegen dieser Einfachheit und Einheit die Bezeichnung
eines klassischen.
Das auf's Geistige, Sittliche gerichtete Schöne, das am Kunstwerk entgegentritt,
kann als edel bezeichnet werden, ─ das auf's Sinnliche gerichtete als
anmutig. Die Schönheit der Rückertschen Hymnen ist eine edle, die seiner
Balladen und Romanzen eine anmutige, denn erstere lehnen sich an die
geistige Wirklichkeit an, letztere an die sinnliche.
Ein überwiegendes Vortreten einzelner Kräfte bei Darstellung eines
Kunstwerks ist ein Charakteristikum der modernen Kunst und bedingt verschiedene
Schattierungen (Nüancen) und Benennungen. Bei Hervortreten der
Phantasie ohne genügende Zurateziehung des Verstandes entsteht die phantastische
Anschauung, wie sie z. B. vorzugsweise in den sog. romantischen Dichtungen
des Mittelalters als Charakteristikum für jene Zeit hervortritt, und wie sie sich
bei den Romantikern unseres Jahrhunderts (Tieck, Wackenroder, Fouqué &c.)
neu zeigte.
Bei Zurücktreten der schaffenden Einbildungskraft und des Verstandes gegen
das Gefühl ergiebt sich durch die noch übrig bleibende dritte Kraft die sentimentale
und die gemütliche Poesie; sentimental z. B. bei Salis, Matthisson,
gemütlich bei Rückert, Chamisso, Redwitz, Uhland, Geibel &c.
Tritt der Verstand dominierend in den Vordergrund, so wird die Poesie
zur Reflexionspoesie. Wir sehen dies bei Rückert in der Periode der westöstlichen
Didaktik (z. B. in der Weisheit des Brahmanen), sowie in vielen
Dichtungen bei Voß und Sallet, in einigen Gedichten bei Schiller, Gottschall,
Wilh. Jordan, Gutzkow.
Treten endlich die Kräfte ─ anstatt sich hier und da friedsam über einander
zu erheben ─ mit einander in Widerstreit, z. B. die Einbildung mit
dem Verstande, so gewahren wir zwar Wirklichkeit, aber eine unverständige
Wirklichkeit, die wohl den Eindruck des Verständigen, Zweckmäßigen machen
will, ─ aber nur den des Lächerlichen erreicht.
Verdrängt die Einbildungskraft des Künstlers den Verstand, oder giebt sie
diesem unfaßliche Anschauungen, so wirkt das Schöne im Kunstwerk erhaben.
Jn einem Dome fühlt man die Unfähigkeit, die Gesetze des Baues so ohne
Weiteres verstandesmäßig begreifen zu können; bei einem schwungreichen Hymnus
mit seinen quellsprudelnden ewigen Bildern wird man vom Gefühl der Erdschwere
erfaßt, da man ja gern in die Ätherfernen des Erhabenen folgen
möchte.
Gerät die Einbildungskraft des darstellenden Künstlers mit dem Gefühl
in Widerspruch, so entsteht entweder die Wehmut oder die Laune, die weinende
oder lachende Sentimentalität. Die Elegie gehört in's Gebiet der Wehmut;
man bezeichnet die Wehmut als elegische Stimmung. Jn's Bereich der Laune
zählt die Satire und die Komödie, welche die Thorheiten des menschlichen
Lebens vorführen. Die Grenze der Laune wurde oft von Kotzebue, Wieland, [146]
Heine und den französischen Lustspieldichtern überschritten. Der Humor steht
höher als die Laune und könnte als Widerspruch zwischen Einbildung und
Gemüt nur insofern aufgefaßt werden, als das Gemüt in Gegensatz zu den
von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten Anschauungen tritt.
Entsprießen aus der Einbildung Anschauungen, die das Gefühl einschüchtern
oder momentan zum Schweigen bringen, so wirkt das Kunstwerk
grausenerregend. Blitzt dieses Grausige in tragischen Gedichten ausnahmsweise
hervor, so hat es seine Berechtigung; nimmermehr aber, wenn das ganze
Gedicht vom Anfang bis zu Ende ─ wie dies in Schauerromanen der Fall
ist ─ einen grausigen Eindruck hervorruft. (Jch erinnere an die gespenstig
grausigen Romane von Amadeus Hoffmann.)
Das aus derselben Quelle fließende Ekelerregende, Lasterhafte &c.,
durch welches das Gefühl in den Zustand der Notwehr gedrängt wird, ist
von der Poesie meist ganz auszuschließen. Ebenso das Unästhetische.
(Vgl. Rückerts Gedicht „vom mitheimgetragenen Flöhlein“, welches Rosenkranz
in seiner Ästhetik des Häßlichen als Beispiel des Kleinlichen erwähnt.)
Wenn der Dichter in schöner Sprache eine seine Phantasie erfüllende,
bedeutende, ergreifende Jdee zum Ausdruck bringt, so wird er unzweifelhaft
ein Kunstwerk liefern, bei welchem die Gefühle des Betrachtenden nicht erst
künstlich hervorgerufen und einzeln zusammengereiht werden müssen, vielmehr
naturgemäß klar, bestimmt, ebenmäßig zu jener höhern, die Einzelvorstellungen
umfassenden Jdee sich vereinen, die der schöpferischen Jdee des Dichters entspricht
oder ihr doch verwandt ist.
Dieses Kunstwerk strahlt in schöner lebensvoller Harmonie zwischen Jnhalt
und Erscheinung. Es ist das Endziel wie das Jdeal aller Ästhetik.
Drittes Hauptstück.
Tropen und Figuren. ──────
Goethe (Natur und Kunst).
§ 33. Allgemeines über Tropen und Figuren.
Das Allgemeine über Tropen und Figuren hat zu behandeln:
I. Die Erklärung ihres Begriffs; II. Entstehung, Zweck und Bedeutung
der Tropen und Figuren; III. Die Erörterung, wie aus den Tropen
die Mythologie erblühte.
I. Erklärung der Begriffe Tropen und Figuren.
1. Tropen und Figuren sind die Schönheitsblüten des bildlichen
Ausdrucks. Sie verleihen der poetischen Darstellung Anschaulichkeit,
Schmuck und Leben.
2. Man versteht unter Tropen oder Bildern diejenigen Wendungen,
welche neben den eigentlichen Begriffen diesen ähnliche Begriffe
geben, indem sie diese mit jenen vertauschen (z. B. für Regendach
Schirm setzen; für Wolke == Segler der Lüfte; für Schiff == Meerroß).
Sie sind die Umschreibung oder Vertauschung eines eigentlichen
Ausdrucks gegen einen uneigentlichen. Sie weichen vom gewöhnlichen
Ausdruck der ursprünglichen Bedeutung des Jnhalts sachlich ab,
während die Figuren grammatische, sprachliche oder rhetorische Abweichungen
von den gebräuchlichen Wort- und Satzformen sind:
eigenartige Wort- und Satzformen, oder mit andern Worten: ─
grammatische Eigenheiten des sprachlichen Ausdrucks (z. B. „Und es
wallet und siedet und brauset und zischt“ für: „Und es wallet, siedet,
brauset und zischt“. Oder: „Hier steht Graf Otto“ für: „hier stehe ich“.
Oder: „Ach Mutter, ach Mutter, wie bin ich so krank“ für: „Ach [148]
Mutter, wie bin ich so krank“. Oder: „Viel tausendmal gute Nacht“
für: „Gute Nacht“ &c.).
1. Das Wort Tropus stammt aus dem Griechischen (τρόπος, τροπή
== motus) her und bedeutet soviel als Umwenden, Wendung des Ausdrucks
vom Gewöhnlichen und Allgemeinen zum Bildlichen, Jndividuellen (τροπὴ
λέξεως == Veränderung, Abwechslung der Rede). Figur stammt vom lat.
figura (Gestalt, Ausdrucksform == σχῆμα). Quintilian instit. orat. lib. VIII
c. 6 sagt für den Begriff: Tropus est verbi vel sermonis a propria
significatione in aliam cum virtute mutatio. ─ Quidam tropi gratia
significationis, quidam decoris assumuntur. Vgl. hierzu Quint. instit.
orat. 9. 1. 4, und 14. ─ Cicero nennt Tropen und Figuren lumina,
faces orationis == die Lichter der Rede.
Die Wirkung des Tropus in Hinsicht auf Schönheit liegt in der
Vorstellung, ist also logisch bestimmbar. Die Wirkung der Figur liegt
in der Form, ist also grammatisch bestimmbar. Der Tropus belebt den
Ausdruck für die Phantasie, die Figur für Empfindung und Verstand.
Der Tropus malt, er verleiht der Sprache Anschaulichkeit und Schmuck;
die Figur hat es mit der Lebendigkeit durch Erhöhung des Rhythmus zu thun.
Das Bild macht den Dichter zum Maler, die Figur zum Musiker.
2. Die Figur verändert nur den gewöhnlichen sprachlichen Ausdruck,
niemals die Vorstellung. Der Tropus hingegen verändert die Vorstellung und
mit ihr den Ausdruck. Wenn Max Waldau den Grafen Otto sagen läßt:
„hier steht Graf Otto“ für: „hier stehe ich“, so hat er die Vorstellung unangetastet
gelassen und nur den sprachlichen Ausdruck gewendet. Wenn aber
Calderon den Vogel eine befiederte Blume nennt, Goethe die Blicke als
Augenpfeile bezeichnet, Schiller den Mond als silbernen Nachen einführt,
so ist dadurch die gewöhnliche, eigentliche Vorstellung und mit ihr
auch der Ausdruck verdrängt, vertauscht, gewendet worden, und zwar durch eine
ungewöhnliche, uneigentliche Vorstellung. Es ist somit Max Waldaus obige
Wendung eine Figur, während die letzteren Wendungen Tropen sind.
II. Entstehung, Zweck und Bedeutung der Tropen und Figuren.
1. Bilder und Figuren dienen im Leben der Sprache dem Drange
des Gedankenausdrucks.
2. Man ersieht aus ihnen den Geist und die Poesie der Sprache
und des Menschen. Somit müssen sie in ihrer Totalität die nationale
Physiognomie der Sprache herstellen. Diese Physiognomie ist namentlich
in den Tropen der sichtbar gewordene Geist der Sprache selbst.
1. Der Drang zur Tropen- und Figurenbildung ist bei allen Völkern
wahrzunehmen. Vorzugsweise die Tropen waren und sind dem Menschen ein
Bedürfnis. Ursprünglich hatten alle neu gebildeten Wörter nur eine sinnliche,
materielle Bedeutung. Für immaterielle Begriffe erfand der Mensch keine
neuen Wörter, sondern er bediente sich hierzu der materiellen. So entstanden [149]
die Tropen, denen wir den Fortschritt in der geistigen Anschauung und im
geistigen Leben der Völker danken. Als das Bedürfnis nach neuen Wörtern,
Begriffen und Ausdrücken längst befriedigt war, blieb doch der Drang zur
Metaphernbildung bestehen. Note: „Die Phantasie vergnügt sich an ihrem Spiele,
das Ähnliche mit dem Ähnlichen zu vertauschen, dem bloß Sinnlichen eine
Seele, dem bloß Geistigen einen Körper zu geben; sie schwelgt in dem Kraftgefühle,
das sich in diesem souveränen Beherrschen der Gegenstände, der Außen=
und Jnnenwelt kund giebt, und weidet sich an ihrer eigenen Schönheit, die ihr
im Spiele mit der Mannigfaltigkeit und Schönheit der Welt zum Bewußtsein
kommt“ (Brinkmann). Note: Quelle: Friedrich Brinkmann: Die Metaphern https://archive.org/stream/diemetaphernstu00bringoog/diemetaphernstu00bringoog_djvu.txt Nur einzelne Tropen gingen dauernd in den Sprachschatz
über; die übrigen blieben Eigentum ihrer Erfinder und wurden der
Sprache nie geläufig.
Cicero (de orat. III. 38) meint über den Ursprung der Tropen, daß
die Übertragung der Wörter (Wendung derselben) erst aus Not geschah, dann
aber des Schmuckes willen erst weiter ausgebildet worden sei, ähnlich wie
die Kleider erst zur Abwehr der Kälte erfunden wurden, um sodann zur
Erhöhung der Schönheit und Würde der menschlichen Erscheinung verwendet
zn werden.
Jn Übereinstimmung damit muß anerkannt werden, daß, je höher ein
Volk in seiner Bildung steigt, je mehr geistige Gebiete es beherrscht, und je
umfassender sein geistiges Gesichtsfeld wird, ein desto reicherer Bilderschmuck
seiner Sprache erblüht. Für uns Deutsche fällt z. B. die Wahrnehmung in
die Augen, daß seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, seit der Kirchenreformation,
seit dem Erwachen des Humanismus &c. die Rinde der erstarrten
Sprache brach und die Regsamkeit auf allen geistigen Gebieten wie die milde
Frühlingswärme unserer Sprache unendliche Bilder schuf.
2. Jn den Tropen und Figuren zeigt sich ebenso der Charakter des
Schriftstellers und seiner Nation wie der Geist und die Poesie der Sprache.
Vor Allem spiegeln sie die Lieblingsvorstellungen eines Volks ab. Note: Die kriegerischen
Römer haben beispielsweise viele Metaphern mit schlagen, brechen,
treten gebildet, aus denen ihr kriegerischer Geist hervorleuchtet; die Attiker
haben, selbst in der Tragödie, viele Metaphern der Schiffahrt entlehnt; die
Spanier sind reich an Metaphern, die ihren Stolz, ihre Ritterlichkeit, ihr
Kirchentum beweisen u. s. w. Note: Personen: Römer, Attiker, Spanier „Die ganze Außenwelt des Menschen, die organische
und unorganische Natur, die Tiere und Pflanzen, Berg und Thal, Land und
Meer, Luft, Wind und Regen, Sonne, Mond und Sterne, ─ alles wirft
ein mehr oder weniger deutliches Bild in den Spiegel der Tropen; ganz
besonders aber der Mensch und das menschliche Leben selbst, Staat
und Kirche, Wissenschaft und Kunst, die politische und Kulturgeschichte, das
sociale Leben, das Privatleben mit seinen Sitten und Gebräuchen, der Mensch mit
seinen eigentümlichen Charakteren als Glied eines bestimmten Volks und Staats,
d. h. der Volkscharakter und der Mensch als solcher, d. h. die Anthropologie.“
(Brinkmann.) Note: Quelle Friedrich Brinkmann: Die Metaphern https://archive.org/stream/diemetaphernstu00bringoog/diemetaphernstu00bringoog_djvu.txt Jn den Tropen der Sprache spricht sich die Natur des Menschen
und das ganze, mannigfaltig gestaltete, menschliche Leben aus. Jn den [150]
Tropen zeichnet sich die Physiognomie der Nation wie des einzelnen Schriftstellers. Note:
Den näheren Nachweis, um den es uns hier nicht zu thun sein kann, liefert
Brinkmann in seiner Arbeit „Die Metaphern“, in deren 1. Teil (S. 213─582)
er zunächst auf die Tierbilder der Sprache sich beschränkte. Jn den meisten
Fällen geht er auf den Grund, indem er den Ursprung der Tropen untersucht, Note: Friedrich Brinkmann: Die Metaphern https://archive.org/stream/diemetaphernstu00bringoog/diemetaphernstu00bringoog_djvu.txt
was Rückert (Ges.=Ausg. VII. 32) in „Etymologie“ schon im Herbst 1833
also anrät:
III. Aus den Tropen erblühte die Mythologie.
Die meisten Mythen sind aus dem Mißverständnis der Tropen
entstanden. Somit haben die Tropen die Mythologie geschaffen.
Einen beachtenswerten Beweis für diese hochinteressante Thatsache hat
Max Müller in der 8.─12. seiner Vorlesungen geliefert. (Deutsche Ausgabe
von Böttcher S. 315 ff.) Note: Quelle: Max Müller: Vorlesungen (in der dt. Ausg. von Böttcher) Er sagt a. a. O. S. 356: Es war für
Leute, welche die goldenen Sonnenstrahlen beobachteten, wie sie ─ so
zu sagen ─ mit dem Laub der Bäume spielten, ein sehr natürlicher Gedanke,
von diesen sich hinstreckenden Strahlen, wie von Händen oder Armen zu
reden. Note: Quelle: Max Müller: Vorlesungen (in der dt. Ausg. von Böttcher) So finden wir denn, daß in dem Veda Savitar als einer der Sonnennamen
auch „Goldhand“ genannt wird. Note: Quelle: Werk: Veda Savitar - Autor? Wer hätte da wohl geglaubt, daß
eine so einfache Metapher jemals ein mythologisches Mißverständnis veranlassen
könnte? Trotzalledem finden wir, daß die Veda-Ausleger in dem Beinamen
goldhändig in seiner Anwendung auf die Sonne nicht den goldigen Glanz
ihrer Strahlen, sondern das Gold erkennen, welches der Sonnengott in seinen
Händen trägt und auf seine frommen Verehrer herabzuschütten bereit ist. Das
alte natürliche Beiwort muß dann zu einer Art menschlicher Nutzanwendung
herhalten, und das Volk wird zur Sonnenverehrung angehalten, weil die Sonne
Gold in den Händen halte, um es ihren Priestern zu spenden. Aber die
Sonne mit goldenen Händen hat sich nicht nur in eine weise Vorschrift umgewandelt,
sondern sich auch zu einem ganz ordentlichen Mythus gestaltet.
Mochte man nun die natürliche Bedeutung der goldhandigen Sonne verfehlen,
oder dieselbe nicht sehen wollen, ─ so viel steht fest, daß die ältesten theologischen
Abhandlungen vom Sonnengotte erzählen, daß er sich bei einem Opfer
die Hand abgeschnitten habe, und daß die Priester sie durch eine künstliche,
aus Gold verfertigte Hand ersetzt hätten. Jn späterer Zeit wird der Sonnengott
unter dem Namen Savitar sogar selbst zu einem Priester, ja, eine [151]
Legende wird erzählt, wie er bei einem Opfer seine Hand abgeschnitten habe,
und wie die andern Priester eine goldene Hand für ihn gefertigt hätten. Die
Spuren dieses Mythus lassen sich nun auch bei anderen Nationen weiter verfolgen.
Wenn von dem deutschen Gotte Tyr, unter welchem Grimm den
sanskritischen Sonnengott wieder erkennt, wie von einem einhändigen gesprochen
wird, so geschieht dies darum, weil der Name der Sonne mit
goldener Hand zu der Auffassung, vermöge deren sie eine künstliche Hand
besaß, und später durch einen strengen logischen Schluß zu einer Sonne mit
nur Einer Hand, geführt hatte. Jede Nation erfand eine eigene Erzählung,
wie Savitar oder Tyr seine Hände verloren habe; und während sich die
Priester Jndiens dachten, daß Savitar sich bei einem Opfer die Hand abschlug,
erzählten die Waidmänner des Nordens, wie Tyr seine Hand als ein Pfand
dem Wolfe in den Rachen gesteckt und wie der Wolf sie abgebissen habe &c.
Möglich, daß zuerst die Vergleichung sich bildete: die goldenen Sonnenstrahlen
greifen durch das Laub der Bäume wie goldene Hände. Möglich,
daß sogleich die Metapher entstand: Mit goldenen Strahlenhänden
durchdringt die Sonne das Laub, woraus das Wort Goldhand sich
bildete. Jedenfalls vergaß man später, daß das Wort ursprünglich lediglich
Metapher war, und die Phantasie begann sodann mit ihrer Fabelbildung. Note:
So sind durch beliebige Erklärung metaphorischer Ausdrücke ─ nicht als
Metapher, sondern nach dem Wortsinn ─ wohl die meisten Mythen aller
Mythologien entstanden. Note:
Max Müller theilt mit, wie seine Untersuchungen immer zur Morgenröte
und Sonne als Hauptthema aller mythischen Dichtungen der arischen
Rasse zurückgeführt hätten (z. B. Helios und seine Sonnenrosse ==
Sonnenstrahlen; der Aphrodite-Mythus: Aphrodite == Morgenröte, die
Schaumgeborene, d. i. die dem Meerschaume Entstiegene; der Athene=
Mythus: Athene, die geistig erweckende, erleuchtende == Göttin der Weisheit &c.).
Jch verweise hier auch auf Apollo (Jlias I), der mit seinen Pfeilen die Pest sendet.
Ferner auf ein Grabgemälde in Tel=el=Amarun vom König Amenophis IV.,
der als Pfeilschütze die Sonnenpfeile auffängt (cf. Dümichen, Geschichte der
alten Ägypter).
Der auf ein Kruzifix deutende Bonaventura († 1271) sagte einmal:
„Dieses Bild diktiert mir alle meine Worte.“ Das Volk nahm diesen
Ausspruch wörtlich und verbreitete die allenthalben geglaubte Wundernachricht,
daß Bonaventura ein sprechendes Kruzifix besitze. So trat ein profanes Wunder
an die Stelle einer heiligen Wahrheit.
Ähnlichen Vorgängen danken wir viele Metonymien (vgl. § 37). Der
Reichtum der Tropen und Figuren zeigt, wie viele Quellen der Mythenbildung
die Unerschöpflichkeit des menschlichen Geistes geschaffen hat. Die Tropen
schufen die Mythen und die heidnischen Götter.
I. Tropen oder Bilder.
§ 34. Einteilung der Tropen.
Man könnte die Tropen nach ihrem Alter und ihrer Entstehung
einteilen in:
1. Tropen der Personifikation (z. B. die Bächlein von den
Bergen springen. Eichendorff). Sie gehörten der ältesten Zeit an.
2. Tropen der Assimilation oder Verähnlichung == Ähnlichmachung
(z. B. weich wie Butter, schlau wie ein Fuchs &c.). Sie sind
jünger, als die Personifikationstropen. Sie bilden abstrakte Verhältnisse in
konkreter Form nach:
a) im Beiwort z. B. scharfer Verstand, ätzender Witz, hartes
Gemüt, nagender Schmerz;
b) in der Präposition z. B. am Boden liegen, und am Herzen
liegen; vor dem Hause, und vor Entsetzen, und Vorurteil;
c) im Verbum z. B. Er fährt auf dem Wagen, das Wort ist ihm
entfahren. Das Schiff sank, und die Dämmerung sank (Jul. Grosse in
„erloschene Kohlen“). Mit dem Stein werfen; sich nicht wegwerfen; sich in
die Brust werfen. Er sitzt auf dem Stuhl und er sitzt auf Kohlen, oder
er sitzt im Schoße des Glücks, im Überfluß sitzen. Pferde anspannen und
Kraft anspannen; Pferde zügeln und die Leidenschaften zügeln. Er begreift
eine Sache mit den Fingern und er begreift gut &c. &c.
Diese besondere Klasse von Metaphern (unter B) bezeichnet Gottschall
als „inkarnierte“ Metaphern, welche meist ihre sinnliche Blüte gegen ihre geistige
Bedeutung verloren haben. Note: Quelle: Rudolph Gottschall: Poetik http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10573936_00001.html
Bouterweck nennt diese Metaphern die prosaischen; Note: Quelle: Bouterweck - Werk? Max Müller die
radikalen, denen er die poetischen entgegensetzt. Note: Quelle: Max Müller - Werk? Jean Paul sagt im Hinblick
auf sie, daß jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch
abgeblaßter Metaphern sei. Note: Jean Paul: impl. Werk?
3. Tropen der Konsequenz oder Folgerung, z. B. Wie lauscht
die strohgedeckte Hütte. (Man hat hier zu ergänzen: die Bewohner der Hütte
lauschen &c.)
Wir folgen bei unserer Klassifikation der Tropen einem einfacheren
Prinzip und unterscheiden:
A. Tropen im engeren Sinne und
B. Tropen im weiteren Sinne.
Tropen im engeren Sinne sind:
1. Die Vergleichung und das Gleichnis.
2. Die Metapher mit ihren Unterarten.
Als Tropen im weiteren Sinne bezeichnen wir:
4. Die Allegorie und
5. die Distribution.
A. Tropen im engeren Sinne.
§ 35. Vergleichung und Gleichnis.
A. Vergleichung.
Die Vergleichung (Parallele, comparatio) ist eine Neben= oder
Gegeneinanderstellung zweier oder mehrerer Dinge nach ihren Merkmalen,
Eigenschaften, Thätigkeiten, Verhältnissen oder Beziehungen. Hiebei kommt
es ebenso auf die zu vergleichenden Dinge an, wie auf den Vergleichungspunkt,
d. i. auf die bestimmte Beziehung, in welcher die Dinge verglichen
werden.
Die Vergleichung ist der gebräuchlichste Tropus. Zur Erreichung der
plastischen Anschaulichkeit stellt sie dem eigentlichen Begriffe ein entsprechendes
sinnliches Bild entgegen (z. B. Schwarz wie die Hölle). Der sinnliche
Gegenstand kann aber auch mit einem Abstraktum verglichen werden, sofern
dieses durch sein Attribut nur anschaulich genug ist. (Z. B. Süß wie die
Liebe.) Die Vergleichung verhält sich zum Gleichnis wie ein einzelner Blick
zum verweilenden Beschauen.
Beispiele der Vergleichung:
1. Ein sinnliches Bild wird entgegengestellt:
a.
(Rückert XII. 223.)
b.
c.
(Metapher. Als Gleichnis müßte
es heißen: wie ein Geschmeid.
Hier ist die Wendung vollendet.)
(Rückert Ges. A. XII, 8.)
d.
(Freiligrath.)
e.
Diese Vergleichungen liebte Jesus in seinen Parabeln, wo er z. B. das
Himmelreich verglich mit einem Säemann, oder mit einem Sauerteig oder einem
Senfkorn oder einem Schatz im Acker oder einem Fischernetze oder einem Kaufmann
&c. &c.
Nicht selten wird eine Vergleichung mit dem Tiere gemacht, um den
Eindruck einer bestimmten Eigenschaft hervorzurufen. Z. B.:
a.
b.
(Jlias III, 1 ff.)
c.
(Schillers Jungfrau von Orleans.)
Die Rückertsche Metapher „Elefantengewaltige“ (Ges. Ausg. XII. 50) Note: Rückert: Ges. Ausg. XII.
würde zur Vergleichung werden, wenn es hieße: „so gewaltig wie ein Elefant.“ Note:
2. Ein Abstraktum wird entgegengestellt:
a.
(Gleim.)
b.
(Rückert.)
(Er ist ein Liebesgedanke wäre Metapher.)
c.
(Rückert.)
d.
(A. Möser.)
Der Vergleichungspunkt (tertium comparationis) ist der Punkt, in
welchem die beiden Glieder einer Vergleichung, Bild und Gegenstand, Ähnlichkeit
haben, also mit andern Worten: der notwendige Mittelpunkt einer jeden Vergleichung,
wie auch eines jeden Gleichnisses. Das Bild muß ihn sofort erraten
lassen. Jn der Vergleichung „das Mädchen ist wie eine Blume“ ist
der Vergleichungspunkt == so schön. Heine fügt das tertium comparationis
zu:
Durch diese herrlichen Eigenschaften, durch welche er die Vergleichung
immer neu fortspinnt und zum Gleichnis gestaltet, erreicht er die erstrebte
wunderbare Wirkung eines ergreifenden Eindrucks.
Die Vergleichungen, in welchen das „so“ oder das „wie“ fehlt, sind
nur selten, z. B.
(Hamerling.)
Jede Vergleichung hat auch Unähnlichkeiten. (Omne simile claudicat.)
Aber jedenfalls darf ein bestimmter Vergleichungspunkt nicht fehlen. Auch im
Eindruck und in der Stimmung kann sich das tertium comparationis bewährend.
Z. B. in folgendem zu B. S. 155 gehörigen Gleichnis:
(Lenau.)
[155] Viele Metaphern werden Vergleichungen, wenn man sie mit dem Wörtchen
„wie“ verbindet. Note: Die Metaphern: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein
gute Wehr und Waffen“ Note: Quellenannahme: Martin Luther werden z. B. zur Vergleichung wenn man sagt:
„Unser Gott ist wie eine feste Burg, wie eine gute Wehr und
wie eine gute Waffe.“ Note:
Gottschall nennt die Shakespeareschen Vergleichungen mit Recht „aufgeblätterte
Metaphern“. Note: Quelle: Rudolph Gottschall: Poetik http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10573936_00001.html
B. Gleichnis.
Eine ausgedehnte, durch mehrere Sätze fortgesponnene Vergleichung
ist ein Gleichnis (similitudo). Ein Verweilen bei der Schilderung
bildet seine charakteristische Eigentümlichkeit. Es enthält wie die Vergleichung
drei Teile: 1. den Gegenstand, der verglichen wird, 2. das
Bild, womit verglichen wird, 3. das den Beiden gemeinsame Dritte
(tertium comparationis).
Es bezieht sich nicht auf gleiche, sondern nur auf ähnliche Dinge,
welche behufs des Vergleichs im Bewußtsein zusammengehalten werden.
Namentlich im Epos breitet sich die Vergleichung nicht selten zum Gleichnis
aus, wodurch für einen Augenblick das Fortschreiten der Handlung gehemmt
und die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Gegenstande abgelenkt wird. Während
die Vergleichung als das Kürzere nur andeutet, malt das Gleichnis vollständig
und behaglich aus. Zur Ergänzung einer der Wirklichkeit angehörenden Anschauung
tritt eine ähnliche. Homer, Virgil, Seneca (in den Tragödien),
Gryphius, Opitz und viele Neuere lieben das Gleichnis und die Vergleichung.
Keine Zeile kommt in manchen ihrer Dichtungen ohne irgend ein „wie“ vor.
Jm Drama würden Gleichnisse den raschen Verlauf der Handlung hemmen,
somit nicht am Platze sein. Das Drama gestattet nur Vergleichungen,
während das Epos das Abschweifen auf Nebensächliches zuläßt und somit das
Gleichnis liebt. Homers Gleichnisse sind durch ihre Einfachheit vorbildlich.
Über das Gleichnis läßt sich Rückert also vernehmen (Ges. Ausg. VIII. 44):
Beispiele des Gleichnisses:
a.
(Schiller.)
[156]b.
c.
(Aus der Jlias übersetzt von J. H. Voß.)
d.
(Geibel.)
e.
(Schillers Maria Stuart.)
f.
(Feodor Löwe.)
g.
(Hieronymus Lorm.)
Eigenartig ist das Gleichnis der Serben, die mit der Frage beginnen,
dann die Negation folgen lassen, sodann erst das zu Erzählende. „Rollt der
Donner? Oder bebt die Erde? Nicht der Donner ist es noch die Erde, die
Kanonen krachen in der Feste.“
(Ähnlich Hebel: Windet's draußen oder schnauft der Nachbar so? &c. Desgleichen
Goethes Klaggesang von der edeln Frauen des Asan Aga Z. 1─5.)
§ 36. Die Metapher.
Die Lehre von der Metapher hat folgende Teile zu behandeln:
1. Erklärung des Begriffs. 2. Betrachtung der Metapher als Teil
des Satzes oder des Satzgefüges. 3. Einteilung der Metapher und
Abhandlung der einzelnen Arten.
1. Erklärung des Begriffs Metapher.
Die Metapher (μεταφορά == translatio == Übertragung) ist eine
abgekürzte, vereinfachte Vergleichung, von der sie sich dadurch unterscheidet,
daß ein Begriff nicht bloß mit einem andern verglichen, sondern
geradezu nach einem andern benannt und so durch ihn vertreten wird;
so zwar, daß die Vergleichung anstatt des Verglichenen, oder das Objekt
der Vergleichung sogleich an Stelle des Vergleichsgegenstandes gesetzt
wird.
Da die Metapher eine verkürzte Vergleichung ist, so braucht man zu ihr
nur „ist gleichsam“ oder „ist wie“ zu setzen, und man hat die Metapher
zur Vergleichung umgewandelt. Note: impl. Quelle: Quintilian: Institutio Oratoris Sage ich z. B. „Das Meerroß des Eroberers
stürmt heran“, so ist das eine Metapher. Sage ich jedoch: „Das Schiff des
Eroberers stürmt wie ein Meerroß heran“, so ist dies Vergleichung. Note: Oder:
„Eurer Mutter Brust ist Eisen worden“ ist Metapher; Note: Quellenannahme: Goethes Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga „Eurer Mutter Brust
ist hart wie Eisen worden“ ist Vergleichung. Note: Oder: „Der goldne Baum des
Lebens“ (Goethe) ist Metapher; Note: Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. https://textgridrep.org/browse/-/browse/11g9q_0#tg1389.2.614 „Das Leben ist wie der goldne Baum“ oder
„Das Leben gleicht einem goldenen Baum“ ist Vergleichung. Note: Poetikentext exempl. zu obigem Bsp. Oder: „Die
Milch der frommen Denkungsart“ (Schiller) ist Metapher; Note: Quelle: Friedrich Schiller: Wilhelm Tell https://textgridrep.org/browse/-/browse/tz0c_0#tg1479.2.22 „Die fromme
Denkungsart gleicht der Milch“ ist Vergleichung. Note: Anstatt: „Er schlich in's
Haus wie ein Fuchs“ heißt es in der Metapher: „Der Fuchs schlich in's
Haus“. Note: Eine Vergleichung ist es, wenn ich sage: „Er ist beständig wie ein
Diamant“; eine Metapher: „Er ist an beständiger Treue ein Diamant“. Note:
Bei vielen Metaphern ist der durch sie metaphorisch bezeichnete Begriff zugleich
mit seinem eigentlichen Ausdruck bezeichnet. Bei andern ist das nicht der Fall:
Der Begriff, den sie meinen, muß erraten werden.
Zumpt (latein. Grammatik) nennt die Metapher ein zusammengezogenes
Gleichnis; Note: Wackernagel eine abgekürzte Vergleichung; Note: Quelle: Wilhelm Wackernagel: Poetik, Rhetorik und Stilistik http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV008355167/ft/bsb11159934?page=5 Gottschall eine konzentrierte
Vergleichung; Note: Quelle: Rudolph Gottschall: Poetik http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10573936_00001.html Vischer die Herbeiziehung einer Erscheinung aus einer andern
Sphäre; Note: Quelle: Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/vischer_aesthetik01_1846?p=7 Max Müller die Übertragung des Namens eines Gegenstands auf
andre Gegenstände. Note:
Die Metapher ist die Blume des dichterischen Ausdrucks, indem
sie den eigentlichen Ausdruck eines Begriffs mit einem bildlichen, lieblicheren oder
kräftigeren vertauscht und sich mehr an die Phantasie als an den „trockenen“
Verstand wendet.
Wo das Geistige nur dem Verstande zugänglich ist, da bringt es die
Metapher auch der Anschauung nahe. Jhr Geschäft ist das des Vertauschens;
ihr Zweck, der dichterischen Sprache Leben, Anmut, Kürze, Energie,
Schmuck, Neuheit, Klarheit zu verleihen und die Empfindung, den Affekt und
die Leidenschaft zu verstärken.
Die richtige Metapher muß auf den ersten Blick denjenigen Gegenstand
nahe führen, als dessen Stellvertreterin sie steht.
Wenn jede Dichtung als ein Bild im Großen anzusehen ist, so ist die
Metapher ein Miniaturbildchen. Note: Am reichsten an Metaphern sind die orientalischen
Dichter, weshalb Rückerts östliche Rosen und seine Ghasele im üppigsten [158]
Metaphernschmuck prangen. Note: Unsere Sprachweisen sind häufig ─ wie § 26
erwähnt ─ nichts weiter als abgeblaßte oder vertrocknete oder stehend gewordene
Metaphern. Dieselben sind nunmehr so gebräuchlich, daß Niemand
mehr des Bildlichen im Ausdruck sich erinnert. Note: (Z. B. die Pflanze hat Augen
angesetzt, sie kränkelt. Der Mann ist blind vor Eifer, d. h. unbedachtsam.
Rosen der Jugend. Hefe des Volks. Süßer Wohllaut schläft in der
Saiten Gold. Der Dichter ist das Kind seiner Zeit. Wetterwendisch.
Anziehen. Erziehung &c.) Note: Die Metapher muß verständlich sein und mehr
sagen als der gewöhnliche Ausdruck Note: (z. B. wir treiben dem Unglück zu).
(Vgl. Aristot. Rhet. III. 11.Note: Quelle: Aristoteles: Rhetorik III.11. http://data.perseus.org/citations/urn:cts:greekLit:tlg0086.tlg038.perseus-grc1:3.11.1 Quintil. sagt I. c: „In totum autem
metaphora brevior est similitudo, quod illa comparatur rei
quam volumus exprimere, haec pro ipsa re dicitur. Comparatio est,
cum dico ferisse quid hominem, ut leonem, translatio, cum dico de
homine: leo est“. Nach ihm (8. 6) ist dieser Tropus tum frequentissimus
tum pulcherrimus. Incipiamus igitur ab eo, qui cum frequentissimus
est, tum pulcherrimus, translatione dico, quae metaphora
graece vocatur.)
2. Die Metapher als Teil des Satzes oder des Satzgefüges.
Sitz der Metapher kann sein: 1. das Substantiv in seinen verschiedensten
Satzstellungen, Note: Unterkat.: Substantiv 2. das Adjektiv, Note: Unterkat.: Adjektiv 3. das Verbum, Note: Unterkat: Verb 4. die
Präposition, Note: Unterkat.: Präposition 5. das Adverbium. Note: Unterkat.: Adverb Sie kann einen ganzen Satz beanspruchen;
ja, sie kann sich sogar auf mehrere Sätze erstrecken. Note: Unterkat.: Metapher als ganzer Satz oder mehrere Sätze
a. Substantiv.
Beispiele: Herbst des Lebens für Alter; Schiff der Wüste für
Kamel; Segler der Lüfte für Wolke. Note:
Jm Genitivus subjectivus steht die Metapher in folgendem Ausspruch
Schillers: Note: Unterkat.: Genitivus subjectivus
(Jm letzten Beispiel äußert das Wort Schleier seine Beziehung zum Wort
Wahrheit, welches als Metapher gefaßt wird, da die Wahrheit ja keinen
Schleier hat. Der abstrahierende Verstand ergänzt hier: „eine verschleierte
Wahrheit“ und läßt so das Bild des Schleiers als wertlos fallen. Die
Phantasie bildet aus der Wahrheit eine Göttin und denkt sich nun unter der
verschleierten Göttin die verschleierte Wahrheit. Von dieser Göttin ─ der versinnlichenden
Metapher von Wahrheit ─ kann man mit Schiller sagen, daß
keine Hand ihren Schleier heben kann.) Note:
Genitivus objectivus:Note: Unterkat.: Genitivus objectivus Zunder der Liebe. Hier ist die Liebe als
Feuer gedacht. Note: Unterkat.: Genitivus objectivus
Objekt:Note: Unterkat.: Objekt Die Kirche hat einen guten Magen. Hier denkt man sich
die Kirche als lebendes Wesen u. s. w. Note: Unterkat.: Objekt
b. Metaphorische Adjektiva.
Hier fallen der Tropus der Metapher und die Figur des ästhetischen,
schmückenden Beiworts notwendig zusammen. Note: Unterkategorie: Adjektiv - Abgrenzung zum schmückenden Beiwort als Parallelkategorie Z. B. der silberne Mond.
Silbern könnte hier als Figur bezeichnet werden, insofern die Vorstellung des
Mondes bleibt und nur durch das ästhetische Beiwort silbern versinnlicht
wird. Aber insofern die uneigentliche Vorstellung des Silbers an den Mond
herangebracht ist, wird doch die Vorstellung des Stoffs gewendet. Somit ist
silbern ebenso Figur als Metapher.
Weitere Beispiele: Ein fester Charakter. Ein hartes Herz. Ein
weiches Gemüt. Ein schwerfälliger Mensch. Drei Worte inhaltsschwer.
Eine schwarze Seele. Das Fühlen macht reich. Die goldene Zeit. Goldenes
Haar. Goldene Himmelsfrüchte. Goldener Boden eines Handwerks. Note: Unterkategorie: Adjektiv - Abgrenzung vom schmückenden Beiwort (Jn
den meisten Fällen hat golden seinen metaphorischen Charakter ebenso verloren
wie die Worte herrlich, köstlich, z. B. Grün ist des Lebens goldener
Baum == prächtiger Baum.) Note: Unterkategorie: Adjektiv - Abgrenzung vom schmückenden Beiwort - impl. Zitat aus Goethes Faust Ein hölzerner, lederner, filziger Mensch.
Schwefelbande. Die Blumen rauschen verschlafen. Die Sonne ist nie
matt. Zürnender Strom. (Die Vorstellung des leblosen Stromes in einen
lebendigen, selbstbewußten Strom ist eine Wendung.) Note:
c. Das metaphorische Verbum.Note:
Beispiele: Die Kultur, die alle Welt beleckt (Goethe). Note: Unterkat.: Verb; Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. https://textgridrep.org/browse/-/browse/11g9q_0#tg1391.2.243 Jch habe die
Jugend verträumt (Geibel). Note: Quelle: Emanuel Geibel: Antwort https://textgridrep.org/browse/-/browse/n695_0 Aber eine sel'ge Stunde wiegt ein Jahr von
Schmerzen auf (Geibel). Note: Quelle: Emanuel Geibel: Leichter Sinn https://textgridrep.org/browse/-/browse/n6bn_0 Wenn die Rose selbst sich schmückt (Rückert). Note: Unterkategorie: Verb; Quelle: Friedrich Rückert: Welt und ich https://textgridrep.org/browse/-/browse/tmn1_0 Jn
großen Städten schrumpft die Phantasie ein, in kleinen schwillt sie auf
(Jean Paul). Note: Unterkat.: Verb. Jean Pauls impl. Werk? Der Sonnenschein ruft. Der Salat schießt. Der Baum
schlägt aus. Die Sonne flieht, sticht, guckt über den Berg, geht in's
Meer. Jn seinen Augen glühte ein sonderbares Feuer. Wenn du willst
in Menschenherzen alle Saiten rühren an &c. Note: Unterkat.: Verb
d. Die Präposition als Mittel metaphorischer Darstellung. Note: Unterkat.: Präposition
Beispiele: Die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über
alle Saiten seiner Seele (Goethe). Note: Unterkat.: Präposition Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre https://textgridrep.org/browse/-/browse/11d3w_0#tg1552.2.30 Jm Vor=Urteile lebte die Welt, ─ man
nannte es Glauben. Jm Nach=Urteile lebt sie nun ─ in der Vernunft.
Er ist gleichsam Prometheus und Epimetheus (Schefer). Note: Unterkat.: Präpos. impl. Werk von Schefer?
e. Die Adverbien.
Unsere meisten Adverbien sind abgeschwächte Metaphern; Note: Unterkat.: Adverbien z. B. gerade
jetzt, zurück (vom Rücken), eben und gleich (== sogleich), sehr (von Ser ==
Schmerz), halt == eben (von halten), ungefähr (== ohne Gefahr), vielleicht
(== viel oder sehr leicht) u. s. w.
Viele Adverbien sind ebenso sicher ursprünglich Metaphern gewesen, Note: Unterkat.: Adverbien wie
z. B. die abgeblaßten Substantiva Krahn (von Kranich), Bock (Holzsägegestell)
&c. Note: Unterkat.: Adverbien Mit der Zeit lösten sich die Worte von dem ursprünglich dadurch
bezeichneten sinnlichen, farbenvollen Begriff ab und gingen auf einen andern
von größerer oder geringerer Ähnlichkeit über. Die Adverbien liefern den Nachweis
von dem tiefen Eindringen des metaphorischen Elements in die Sprache. Note: Unterkat.: Adverbien
Metaphern, deren völlige Darstellung einen ganzen Satz beansprucht,
kommen meist im Satzgefüge vor.
a. Relativsatz.
(Platen.)
(Rückert.)
b. Adverbialer Konjunktionalsatz:
α. Der Zeit.
(Schiller in „Die Jdeale“.)
β. Der Absicht.
(Goethe.)
γ. Der Bedingung.
(Bodenstedt.)
δ. Modaler Adverbialsatz.
(Rückert.)
C. Mehrere Hauptsätze zur Darstellung ein und derselben
bestimmten Metapher.
(Schiller.)
(Durch Verwandlung des 2. Hauptsatzes in den Nebensatz „von dem
er schnell die Waare rettet“ läßt sich die Fortführung der gleichen
Metapher leicht erkennen. Vgl. S. 174.) Note:
Die weit ausgedehnten Metaphern könnten leicht als Allegorien aufgefaßt
werden, wenn nicht immer zunächst das Bild eben als Metapher erscheinen
würde, welche in dem Hauptsatz näher ausgemalt wird, was in der Allegorie
nicht der Fall ist. Note: Unterkat.: Mehrere Hauptsätze - Abgrenzung zur Allegorie Ein Erkennungsmoment ist das Gefühl, „daß die Phantasie [161]
ganz anders angeregt wird, wenn das Bild zuerst als Metapher angeschlagen
und dann weiter ausgemalt wird, als wenn es sofort in seiner
Jntegrität ohne Beimischung des eigentlichen Gedankens erscheint und so fortgesponnen
wird“ (Brinkmann). Note: Unterkat. Mehrere Hauptsätze + Abgr. Allegorie. Quelle: Friedrich Brinkmann: Die Metaphern https://archive.org/stream/diemetaphernstu00bringoog/diemetaphernstu00bringoog_djvu.txt Wie nahe sich Metapher und Allegorie berühren,
beweist der eben Genannte an dem Beispiel Goethes: „Mir ist deutlich,
daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große That auf eine Seele
gelegt, die der That nicht gewachsen ist. Und in diesem Sinne finde ich
das Stück durchgängig gearbeitet. Hier wird ein Eichbaum in köstliches
Gefäß gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinen Schoß hätte aufnehmen
sollen; die Wurzeln dehnen sich aus, das Gefäß wird zernichtet.“ Note: Shakespeare (impl. Werk: Hamlet) paraphrasiert von Goethe zitiert nach Brinkmann
Wenn das Wort „hier“ fehlte, so würde der letzte Satz eine Allegorie
sein. Dieses „hier“ bricht die Reinheit des Bildes, denn es bedeutet: „in
diesem Stück“. Vergißt man im Verlauf das „hier“, so hat man eine
Allegorie, außerdem nur eine ausgesponnene Metapher. Note:
Diese ausgesponnene, mehrere Glieder umfassende Metapher ist die höchste
Blüte des bildlichen Ausdrucks. Daher muß sie der Dichter beachten, lernen,
üben! Note:
3. Einteilung der Metaphern.
Es giebt vier Gruppen von Metaphern, die wir unter A, B, C, D
benennen und vorführen wollen, um sodann die Unterarten der Metapher
in § 37 abzuhandeln.
Dies ist diejenige Metapher, welche das Sinnliche vergeistigt,
indem sie ihm menschliche Gedanken, Empfindungen, Eigenschaften,
Thätigkeiten beilegt.
Eine vergeistigende Metapher ist es, wenn man den See lächeln läßt;
wenn man das tötliche Geschoß unbarmherzig nennt; Note: wenn es heißt: Wie
lauscht die strohgedeckte Hütte (Annette von Droste-Hülshoff); Note: Anette von Droste-Hülshoff: Das Haus in der Heide https://textgridrep.org/browse/-/browse/mk3c_0 oder: Es zürnt
der umhüllenden Fessel die Knospe (Platen). Note: Quelle: August von Platen, Werk?
Weitere Beispiele:
a.
(Geibel.)
b.
(Th. Storm.)
c. Die Krone wandelte von Haupt zu Haupt.
d.
Hierher gehört die Metapher, welche als Eigenschaftswort, als episches,
ästhetisches Beiwort (epitheton ornans) vor das Substantiv tritt, Note: Unterkat.: Vergeistigende Metapher - Abgrenzung zum schmückenden Beiwort z. B. der
grollende Sturm, der zürnende Strom. (Vgl. Nro. 2 dieses § S. 159.) Note:
Die zweite Art der Metapher ist die, welche das Geistige versinnlicht,
eine unsinnliche Vorstellung durch ein sinnliches Bild veranschaulicht.
Sie ist die beliebteste von allen.
Beispiele:
a. Des Unglücks Speere.
(Rückert, Mak. 83.)
b.
(Schiller.)
c.
(Platen.)
d.
(Platen.)
e.
(Goethe im Tasso.)
f.
(Jul. Grosse.)
g.
(Schiller.)
h.
(Grillparzer.)
i.Was die Ameise Vernunft in Jahren zu Haufen schleppt, das jagt
Jn einem Hui der Wind des Zufalls zusammen.(Schiller.)
k.
(Rückert.)
l.
(Rückert.)
m.
(Rückert.)
n.
(Rückert.)
o. Jch löste die Siegel des Genusses ─ und leerte die Schalen des Überflusses
─ bis an die Hefen des Überdrusses ─ da wars, als mein Verlangen
den Flügel dehnte.(Rückert.)
p.
(Theod. Winkler.)
Die dritte Art der Metapher vertauscht einen sinnlichen Gegenstand
mit einem anderen sinnlichen, Materielles mit Materiellem (z. B.
Mond und silberner Nachen). Wir nennen sie die materiale.
Bei dieser Klasse von Metaphern findet einerseits eine Art „Standeserhöhung“
insofern statt, als etwas Höheres an die Stelle von Niedrigerem,
Unedlerem gesetzt wird, andererseits das Gegenteil. Note: Unterkat.: Materiale Metapher Die Einteilung Quintilians
für sämtliche Metaphern bilden bei unserer Rubrizierung lediglich die Unterabteilungen
der einzigen C-Klasse. Note: (Quint. sagt nämlich de inst. orat. lib.
VIII 6: Hujus vis omnis quadruplex maxime videtur: cum in rebus
animalibus aliud pro alio ponitur, ─ inanima pro aliis generis ejusdem
sumuntur, ─ aut pro rebus animalibus inanima ─ aut contra.)
a. Lebloses für Lebloses:Note: Unterkat.: Materiale Metapher
(Classique immittit habenas. Quint.)
(Rückert in Rostem.)
(Rückert.)
(Julius Rodenberg.)
b. Belebtes für Unbelebtes: Note: Unterkat.: Materiale Metapher
Die hohen Felsen stehn zu Hauf, sie heben den weißen Finger auf.
(Schwab „der Schwur“.)
(Rückert.)
(Calderon.)
c. Belebtes für Belebtes: Note: Unterkat.: Materiale Metapher
(Freiligrath.)
(Frithjofsage.)
d. Unbelebtes für Belebtes: Note: Unterkat.: Materiale Metapher
(Rodenbergs „Gewitter“.)
(Thätigkeiten der Pferde und der Schlangen werden hier den unbelebten
Wellen beigelegt.) Note:
(Schiller in „Semele“.)
Calderon gebraucht diese Metapher, wenn er den Fisch einen Kahn
mit Schuppen und den Vogel eine befiederte Blume oder einen
Blumenstrauß mit Flügeln nennt. Note: Quelle: Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ein Traum https://textgridrep.org/browse/-/browse/ktt1_0#tg8.2.67
Die vierte Art der Metapher vertauscht einen geistigen Begriff
mit einem andern geistigen.
Beides ist nicht sinnlicher Natur: der zu bezeichnende Begriff und sein
Bild. Meistenteils ist ─ wie in der vorhergehenden Klasse C ─ das Bild edler,
als das durch dasselbe Bezeichnete. Doch steht hier das Bild der Sinnenwelt
näher als der eigentliche Begriff. Dort ─ bei C ─ strebt der Ausdruck
der vergeistigenden Metapher zu, hier der versinnlichenden. Diese Metapher
kann vorzugsweise als die geistreiche bezeichnet werden.
Beispiele:
(Shakespeare.)
(Rückert.)
(Rückert.)
(Gottfr. Kinkel.)
(Der Dichter setzt veranschaulichend das halb geistige, halb materielle Bild
der Braut zum Abstraktum Einsamkeit, desgleichen zu Natur das Bild der
Mutter, zu Geschichte Ahnfrau; alle drei Abstracta bezeichnet er mit
dem Bild der echten Musen.) Note:
§ 37. Unterarten der Metapher.
Besondere Arten von Metaphern sind die Metonymie Note: und die
Synekdoche. Note: Unterkat.: Synekdoche Bei ihnen werden wie bei der eigentlichen Metapher
verwandte Begriffe vertauscht; aber es werden auch Vorstellungen durch [165]
sie bezeichnet, welche mit anderen in einem Causal- oder Teil-Verhältnisse
stehen.
Weitere Unterarten sind: die elliptische Metapher Note: Unterkat.: Elliptische Metapher und die Antonomasie, Note: Unterkat.: Antonomasie
welche einer Ergänzung bedürfen oder selbst ergänzend wirken. Note: bezieht sich auf beides: Elliptische Metapher und Antonomasie
1. Die Metonymie.
1. Die Metonymie (μετωνυμία == Umnennung, Vertauschung des
Namens) ist der Tropus des Causalverhältnisses. Sie wird in der
Regel der Tropus des Attributs genannt. Sie steht (wie die ihr verwandte
Synekdoche) an der Grenze zwischen Bild und Figur.
2. Sie vertauscht den eigentlichen Begriff mit einem anderen in
Folge des natürlichen causalen Zusammenhanges, obgleich ihm der letzte
nicht ähnlich zu sein braucht. Sie vertauscht z. B. Alter mit graue
Haare, Götter mit Olymp, Sieg mit Lorbeer.
3. Gewisse Metonymien treten der scharfen Kombination als
Metaphern der Metonymie entgegen. Note:
1. Die Metonymie ist der Figur verwandt, insofern die Grundvorstellung
bleibt; sie steht aber der Metapher insofern näher, als eine uneigentliche Vorstellung
die Grundanschauung lebhafter und anschaulicher gestaltet. Note: Unterkat.: Metonymie - Abgr. zu Figur
2. Die Vertauschung ist derartig, daß, wenn der eigentliche Begriff neben
den vertauschten gesetzt wird, derselbe entweder a. in den Genitiv treten oder
b. als schmückendes Beiwort &c. sich anschmiegen muß. Beispiel zu a.: „Der
Degen hat den Kaiser arm gemacht“ muß heißen: „Der Degen der
Krieger == der Krieg hat den Kaiser arm gemacht.“ Beispiel zu b.: „Aus
der Wolke quillt der Segen“ muß heißen: „Aus der Wolke quillt der
segnende Regen.“
(Vgl. hierzu Quint. inst. orat. 8. 6. 23.)
Die Metonymie erreicht größere Anschaulichkeit durch Vertauschung von
Benennungen mit Benennungen, was die einzelnen, nachstehenden Formen ersehen
lassen.
Formen der Metonymie.
a. Ursache und Wirkung wird vertauscht:
Beispiele:
(Wenn ich sage: „Aus der Wolke quillt der Segen“, so erblickt die
Phantasie den Regen und die Wirkung desselben: den vom Regen hervorgerufenen
Erntesegen.)
Wer nie sein Brot mit Thränen aß. (Wirkung für die Ursache.)
(Goethe.)
(Vertauschung der Wirkung des Orgelklanges mit der ihn verursachenden
Hand.)
(Wolfg. Müller.)
(Vertauschung der Wirkung der herbstlich düstern Wolken mit der Ursache
des Herbstes.)
„Ein Rafael wird teuer bezahlt.“ (Vertauschung des Verfertigers mit
seinem Bilde.)
b. Weiter wird vertauscht:
α. Das Zeichen mit der zu bezeichnenden Sache,
β. Das Attribut mit seinem Träger,
γ. Eine Eigenschaft mit der Sache selbst.
α. Das Zeichen mit der Sache.
(A. W. v. Schlegel.)
(Rückert.)
(Gleim der Hirsch &c.)
(Schiller.)
β. Attribut mit dessen Träger.
(Frithjofsage.)
(Uhland.)
(Schiller.)
γ. Eine Eigenschaft mit der Sache.
(Rückert.)
(Schiller.)
c. Der Stoff wird vertauscht mit der daraus verfertigten Sache,
das Werkzeug mit dem durch dasselbe Gewirkten.
Beispiele:
(Rückert.)
[167]─ Die Jungfrau reichte
(Voß, Luise.)
(Rückert XII, 155.)
(Schiller, Hektors Abschied.)
d. Ort und Zeit werden mit ihrem Jnhalte vertauscht.
Beispiele:
(Rückert.)
(Schiller in „Don Carlos“.)
(Rückert.)
(Schiller.)
e. Endlich wird vertauscht: der geistige Begriff und dessen sinnliches
Zeichen, das Abstrakte und dessen Konkretes.
Beispiele:
(Chamisso.)
3. Die Metapher einer Metonymie. Note: Unterkat.: Metonymie Wenn man von Jemanden,
dessen Haus abgebrannt ist, mit Rücksicht auf seinen Verlust sagt, er sei abgebrannt,
so ist dies eine Metonymie. Note: (Vgl. die Metonymien a. bei Horaz
─ Sat. 1. 5. 72. ─ Hospes arsit. Note: Horaz: Satyrarum Libri 1.5.72 http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi0893.phi004.perseus-lat1:1.5 b. bei Virgil ─ Aen. 2. 312. ─
Proximus ardet Ucalegon.) Note: Virgil: Aeneid 2.312 http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi0690.phi003.perseus-eng2:2.298-2.317
Ebenso wenn man sagt: „Jemand trägt die Nase hoch“, sofern der
Besprochene hochmütig ist und auch äußerlich die Nase hoch trägt, so daß diese
Geste als ein Zeichen für Hochmut anzusehen ist. ─ Wenn ich aber ohne
Hinblick auf seine äußere Haltung nur sagen will: „er erhebt sich geistig ebenso
über seine Umgebung, wie Jemand, der äußerlich die Nase hoch trägt und somit
sich den Schein eines hochmütigen Menschen giebt“, so ist das die Metapher
einer Metonymie. Note:
2. Die Synekdoche.
Die Synekdoche (συνεκδοχή == comprehensio == Mitverstehen)
ist der tropus numeri, oder auch der Tropus der Division == des [168]
Teilverhältnisses. Der gebrauchte Begriff findet bei der Synekdoche
eine eingeschränkte Anwendung. Die Vertauschung beruht nämlich nicht
auf einer Denkoperation wie bei der Metonymie, sondern auf der
sinnlich wahrnehmbaren Anschauung. Das Verhältnis des Teiles
zum Ganzen, das Umfangsverhältnis ist hier das Maßgebende!
Partem pro toto == den Teil für's Ganze nehmen ist Synekdoche.
Bei ihr gilt daher das Jndividuum für die Gattung, die
bestimmte Zahl für die unbestimmte, der Singular für den Plural.
(Beispiele: Wellen für See; Brot für Nahrung; der Dichter
singt der Liebe Lust, für: die Dichter singen &c.) Auch wird die Gattung
für die Art gesetzt, z. B. Sterbliche für Menschen. Ferner die Art
für die Gattung, z. B. der Geizige strebt nach Thalern, statt: nach Geld.
(Vgl. Quint. instit. orat. 8. 6. 19.)
Formen der Synekdoche.
a. Der Teil wird für das Ganze gesetzt.
(Schillers Kraniche des Jbykus.)
(Schiller.)
(Herder.)
(Gust. Freytag.)
(Schiller, Kampf mit dem Drachen.)
(Uhland, Der Leitstern.)
Bunte Kreuzesfahnen ziehen durch die Felder &c. (statt: die Züge der Waller).
(Uhlands Waller.)
b. Jndividuum (Spezies) für die Gattung (Genus).
Dies tritt ein, wenn man z. B. einen großen Redner einen Cicero,
einen Kunstfreund Mäcen, einen diplomatisch gewandten Menschen Talleyrand,
einen Schweiger Moltke nennt.
(Geibel.)
(Shakespeare, Kaufm. v. Venedig. IV, 1.)
[169]c. Die bestimmte Zahl für die unbestimmte.
(Hier sind 2 Synekdochen wahrzunehmen: Tausend für die unbestimmte
Zahl und Zunge für Menschen.)
d. Singular für Plural.
(Rückert.)
(Schiller.)
(Goethe.)
(Hiob.)
(Goethe.)
3. Elliptische Metapher und Antonomasie. Note: beide Unterkat. gleichzeitig: Elliptische Metapher und Antonomasie
α. Die elliptische Metapher bedarf einer Ergänzung, z. B. der
erste Strahl der Hoffnung. (Hier ist zu ergänzen: der Hoffnungs-Sonne.) Note: Unterkat.: Elliptische Metapher
β. Die Antonomasie oder Umbenennung (lat. pronominatio) ist der
Tropus der Apposition. Sie setzt statt eines Namens oder substantivischen
Begriffs einen anderen, der dem eigentlichen Substantivum als Apposition,
oder mit Hilfe des Verbums „Sein“ als Prädikat beigelegt werden kann. Note: Unterkat.: Antonomasie
(Z. B. der Pelide für Achill, der Corse für Napoleon, der dirkäische Schwan
für Pindar, der Mann des 2. Dezember für Napoleon III., der Zerstörer
Karthagos für Scipio, der kühne Genueser für Columbus, die Seinestadt für
Paris u. s. w.) Note: Unterkat.: Antonomasie - Personen: Achill, Napoleon, Pindar, (nochmal Napoleon), Scipio, Columbus Sie ist der Allusion (Anspielung) verwandt. Note: Unterkat.: Antonomasie - Abgr.: Allusion
§ 38. Die Personifikation.
Die Personifikation (προσωποποιΐα == Vermenschlichung == lat.
personificatio) führt leblose Dinge oder abstrakte Begriffe als lebende
Wesen ein, denen sie menschliche Handlungen oder Eigenschaften beilegt,
und die sie sogar mit der menschlichen Rede ausstattet (z. B. die
Rose sprach zum Veilchen &c.).
Jn der Kindheitszeit der Völker und der Sprache ist die sinnliche Anschauung
vorherrschend. Alle Vorstellungen dieser Zeit beziehen sich nur auf
die Erscheinungswelt. Erst ganz allmählich entwickelt sich das reine Denken.
Dem Alter der Kindheit tritt Alles als Person auf. Das Kind spricht mit
seiner Rute, seinem Holzpferde, seiner Puppe. Ähnlich ist es in der Kindheitszeit [170]
der Völker gewesen. Man gelangte in vorgeschichtlicher Zeit durch
Personifikationen von Naturerscheinungen und Kräften und deren Wirkungen
bis zur Bildung von Göttern. Wer erinnerte sich nicht aus der Jliade, wie
dort der Kampf zweier Völker nicht bloß auf der Erde, sondern in idealisierter
Gestalt im Himmel geführt wird! ─ Als das Heer der Achäer von der Pest
heimgesucht wird, da weiß dieses Homer nicht besser zu erklären, als durch die
fernhin treffenden Pfeile Apolls. ─ Als der Held Achilles das Totenfeuer
für den erschlagenen Freund Patroklus angezündet hatte und dasselbe nicht
brennen wollte, da weiß er sich keinen bessern Rat als den, daß er die Windgeister
oder Windgötter ruft, die nun in der That das Feuer anfachen. ─
Die Vermenschlichung Gottes, (die wir als Anthropomorphismus und Anthropopathismus
bezeichnen, und die bereits in der Mitte des 6. Jahrhunderts der
Urheber der eleatischen philosophischen Richtung Xenophanes ebenso beleuchtete,
als in neuester Zeit Ludwig Feuerbach,) ist weiter nichts als Personifikation.
Durch Personifikation sind alle Gestalten des Aberglaubens, der Mythologie,
alle Götterdarstellungen, sowie auch alle allegorischen und symbolischen
Gestalten der Kunst entstanden. Die materialistische Auffassung möchte selbst
den unsterblichen Menschengeist als Personifikation erscheinen lassen: als die
Personifikation des Denkprozesses.
Jn ihrer kindlichsten und naivsten Gestalt, aber auch zugleich in erhabener
poetischer Verklärung tritt die Personifikation bei Homer auf. So
lange sie durch die Macht des Glaubens, oder durch die Kraft des Dichters
belebt wird, ist sie herrlich und ergreifend. Gegen Pallas Athene ist der
moderne, abstrakte Weisheitsbegriff ein Schatten, ─ und Thor mit dem
zündenden Blitzhammer überragt den maßlosen Gewitterbegriff. Diese Gottheiten
─ wie auch der großartige Naturmythus der ganzen nordischen Mythologie
─ sind aus dem poetischen Volksgeiste erblüht. Uns ist leider nur der
nackte, der Personifikation bare Begriff übrig geblieben, der uns weder logisch
zu befriedigen, noch poetisch zu erwärmen vermag, ─ ein Mangel, der u. A.
Schiller zu seinem berühmten Gedichte „Die Götter Griechenlands“ Veranlassung
bot, in welchem er als Dichter der antiken Weltanschauung den Vorzug vor
der modernen einräumt.
Rückerts Gedichte: Wischnu auf der Schlange, Die gefallenen Engel,
Minerva und Vulkan, Griechische Tageszeiten sind nicht als Allegorien,
wohl aber als mythologische Personifikationen aufzufassen. Jn Hebels „Wiese“
ist der Rhein als Jüngling, die Wiese als Jungfrau aufgefaßt. Jn Tiecks
„Zerbino“ redet der Vogelsang und die Blume. Jn Rückerts „Napoleon“
der Ruhm. Jn Lenaus „Himmelstrauer“ wandelt ein Gedanke am Himmelsantlitz
u. A. m. Walther von der Vogelweide redet den Almosenstock an: [171]
„Sagt an, Her Stok, hat euch der Pabest hergesendet, daß ihr ihn richet
(reich macht) und uns Tiutschen ermet (arm macht) und pfändet?“
Die höchste Stufe der Personifikation ist diejenige, welche dem Gegenstande
auch menschliche Sprache beilegt. Unvergleichlich sind in dieser Beziehung die
Personifikationen Rückerts (z. B. Sterbende Blume, Flor und Blankflor, Die
drei Quellen, Edelstein und Perle).
Beispiele von Personifikationen:
a.
(Aus Kleists berühmtem beschreibenden Gedicht: Der Frühling.)
b.
(Aus Rückerts Griechische Tageszeiten.)
c.
(Heine.)
d.
(Geibel.)
e.
(Aus Anast. Grüns Baumpredigt.)
f.
(Aus Rob. Hamerlings Meeresliebe.)
Einteilung der Personifikationen.
Für diejenigen, welche eine Klassifikation der Personifikation wünschen, lassen
sich schon aus den obigen Beispielen die folgenden Einteilungen leicht ableiten.
A.
1. Einfache Personifikation, wenn die Personifikation sich auf ein,
zwei oder mehrere gedanklich untrennbare Wörter erstreckt, z. B. die Bächlein
verschlafen, rauschen, murmeln.
2. Erweiterte Personifikation, wenn die Personifikation einen erweiterten
Satz ausfüllt, z. B.
(V. Scheffel in Seefahrt.)
3. Ausgeführte Personifikation, wenn die Personifikation durch
mehrere Verse, Strophen oder durch das ganze Gedicht fortgeführt wird.
(Vgl. die obigen Proben von Hamerling, Grün &c.)
Oder B.
1. Personifikationen, welche auf menschliche Eigenschaften sich
beschränken, z. B. der trauernde Hain, der träumende Mond, der
jauchzende See.
2. Personifikationen, welche sich auf Körperteile, =Formen
und menschliche Thätigkeiten erstrecken. (Vgl. das Beispiel von Geibel.)
3. Personifikationen, welche menschliche Verhältnisse und
Zustände in ihren Bereich ziehen. (Vgl. die Beispiele von Kleist
und von A. Grün bei a und e S. 171.)
Die metaphorische Personifikation.
Mit diesem Namen kann man diejenige Personifikation
belegen, welche der Metapher (§ 31. 1) verwandt ist, oder
welche Metapher und Personifikation zugleich ist. Häufig ist
diese Personifikation durch das Eigenschaftswort gebildet Note: (z. B. der lachende
Äther, heulende Wälder, der eilende Tag, das zürnende Wetter), Note:
oder durch das Zeitwort Note: (z. B. Sterne lauschet, Lüfte schweiget, der
Tod achtet, Gerüche fließen, der Tag sah nieder), Note: oder durch ein weiteres
Substantiv Note: (z. B. Sonne, deine goldnen Spuren), Note: oder durch eine Verbindung
eines abstrakten Begriffs mit einem Eigennamen Note: (z. B. für Neid ==
Neidhart), Note: oder durch ein Substantiv und dessen Zeitwort Note: (z. B. das Unglück
hat ihn niedergedrückt, niedergeschmettert, niedergeworfen, der Frühling sank
vom Himmel, der Frühling haucht, da flohn die Nebel, die Stunde drängt &c.).
B. Tropen im weiteren Sinne.
§ 39. Die Allegorie.
Die Allegorie (von ἄλλος und ἀγορεύω == Anders sagen als meinen
== ἀλληγορέω == ich bezeichne etwas anders, bildlich &c.) ist soviel als
inversio == Umkehrung, Bezeichnung durch das Bild. Sie ist ein aus
einem oder mehreren Sätzen bestehender, aber in allen seinen
Teilen durchaus bildlicher Ausdruck eines Gedankens:
im engern Sinn eine durch mehrere Momente konsequent durchgeführte
Personifikation, im weitern eine durch mehrere Momente vollständig
durchgeführte Metapher oder eine fortgesetzte Reihe zusammengehöriger
Metaphern. Note: Abgr. Allegorie Ein Gedanke wird durch einen ähnlichen Gedanken als
Bild ausgedrückt, ohne daß sich dieser durch seinen Ausdruck als Bild
zu erkennen giebt.
(Vgl. die Sprichwörter: Der Himmel hängt ihm voller Geigen. Oder:
Eine Hand wäscht die andere. Oder: Freut euch des Lebens, weil (so lange)
noch das Lämpchen glüht. Oder: Der Same, den geniale Naturen streuen,
geht langsam auf. Oder: Viele Wege führen nach Rom.)
Die Worte sagen von Anfang bis zu Ende etwas anderes, als
sie meinen. Wenn bei der Metapher im engern Sinn ein bestimmter
einzelner Begriff veranschaulicht wird, so ist bei der Allegorie ─
als der erweiterten Metapher ─ eine Reihe von Begriffen anschaulicher
geworden, und zwar nicht wie in der engeren Metapher
durch ein einzelnes Wort, sondern durch mehrere Wörter, meist durch
mehrere Sätze. (Vgl. S. 160. C.) Note: Abgr. Allegorie
Die Allegorie nennt den verglichenen Gegenstand nicht, sondern läßt ihn nur
erraten. (Vgl. den von der Dauer im Wechsel redenden allegorisierenden Schlußvers
in Schillers Spaziergang: Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.)
Die Metapher unterscheidet sich von der Allegorie dadurch, daß der
metaphorische Ausdruck eines Gedankens nur zum Teil Bild ist, zum andern
Teil eigentlicher Ausdruck, daß er also Doppelnatur hat, daß er teils
eigentlich, teils bildlich gemeint, meistenteils die Verdoppelung eines geistigen
und eines sinnlichen Elements ist, folglich in jedem Fall sich als Bild durch
sich selbst zu erkennen giebt. (Brinkmann.) Note: Abgr. Allegorie Friedrich Brinkmann: Die Metaphern https://archive.org/stream/diemetaphernstu00bringoog/diemetaphernstu00bringoog_djvu.txt
Zum Gleichnis verhält sich die Allegorie wie die Metapher zur
Vergleichung. Note: Abgr. Allegorie Eine Vergleichung ist es z. B. wenn ich sage: „Die Dichtkunst
der Römer war wie eine ausländische Blume.“ Fügt man dem konkreten
Begriff Blume noch weitere sinnliche Beziehungen an (etwa Samen, Garten &c.),
so erhalten wir eine Allegorie, z. B. „Die römische Dichtkunst war aus
griechischem Samen in den Garten eines Kaisers verpflanzt, wo sie als schöne
Blume dastand, grünte und blühte.“ Psalm 80, 9─17 vergleicht das Volk
Jsrael mit einem Weinstock und erweitert diese Vergleichung zur Allegorie.
Carrière (Ästhet. II. 471) bezeichnet als Metaphern:
1. Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.
(Wallenstein.)
2. Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein, der brausend wallt und
schäumend überschwillt?(Tasso.) Note: wie oben - nur mit Goethe: Tasso
3. Dem Jahre ist sein Frühling genommen.
(Perikles am Grabe gefallener Jünglinge.)
Carrière vergißt, daß sich in diesen Beispielen kein einziger unbildlicher
Bestandteil findet; seine Beispiele sind lediglich durch mehrere Momente durchgeführte
Bilder, also Allegorien == metaphorische Allegorien (s. weiter
unten). Note: Poetikentext exempl. bezieht sich auf alle drei Bsp. bei Carrière - kann so verschachtelt nicht ann. werden + Wertung nicht annotierbar (wird hier verworfen) Bei jeder Allegorie kann man füglich fragen: Was bedeutet sie?
Was will der Dichter sagen?
Weitere Beispiele der Allegorie:
(Schiller.)
(Shakespeare.)
(Schiller, Wallenstein. Vgl. hierzu übrigens S. 160. C.)
[175](Horaz, III. 1. Od.)
(Vgl. noch das allegorische Gedicht von Emil Kuh: Jch sag euch was:
der Lenz geht um.)
Allegorien von größerer Ausdehnung sind u. A.: 1. Schillers Mädchen
aus der Fremde. (Mit keinem Worte ist in diesem Gedicht gesagt, daß
Schiller die Poesie hier gemeint habe, auf welche doch alle durch viele
Momente durchgeführten Bilder deuten, nirgends ist verraten, daß unter dem
holden Paar die Eingeweihten in der Kunst zu verstehen sind &c.) 2. Goethes
Mahomets Gesang (bedeutet den geschichtlich großen Mann). Vgl. auch
Goethes Zueignung, sowie die Allegorie der Wahrheit. 3. Die stille Stadt
von G. Schwab (bedeutet die Gruft). 4. Geibels „Cita mors ruit“
(bedeutet den Tod und ist metaphorische Allegorie). 5. Horat. od. I, 14
(bedeutet das Staatsschiff). 6. Platon Phädr. 246 ff. (bedeutet die
Seelenrosse).
Die meisten Allegorien, sofern sie den übersinnlichen Gegenstand sinnlich
verkörpern, sind personifizierende Allegorien, wie obige Beispiele zeigen.
Metaphorische Allegorien nennt man diejenigen, in welchen an
Stelle des Hauptbildes ein Gegenbild zur Versinnlichung desselben gesetzt wird, Note: Abgr. Allegorie
z. B. Uhlands bekannte Einkehr („Bei einem Wirte wundermild“ &c. Note: Abgr. Allegorie, Quelle: Ludwig Uhland: Einkehr https://textgridrep.org/browse/-/browse/wp9b_0 , wo dem
Hauptbild Apfelbaum das Bild des Wirts gegenüber gesetzt ist); Note: ferner Geibels
„Cita mors ruit“ &c.; Note: Emanuel Geibel: Cita mors ruit https://textgridrep.org/browse/-/browse/n6h8_0 ferner Rückerts Kinderlied von den grünen Sommervögeln &c. Note: Friedrich Rückert: Kinderlied von den grünen Sommervögeln http://rueckert-buecher.gesammelte-werke.org/texte/werke_band_02/reihe5/sommer-s411-412-kinderlied-von-den-gruenen-sommervoegeln.html
Die Allegorie kann zur anthropomorphischen werden, wenn der Jdee
sinnliche Merkmale und menschliche Eigenschaften beigelegt werden.
Die ältesten Beispiele dieser Allegorie finden wir in der Götterlehre der Griechen,
deren Götter mit ihren Attributen größtenteils Bilder für Naturkräfte und
Eigenschaften sind. (Dasselbe gilt für die nordische Göttersage.) Die Römer
allegorisierten sogar abstrakte Begriffe wie Virtus, Fortuna, Fides, Vertumnus,
Janus; vgl. Hor. Od. I, 35, 17 ff.
Beispiel der anthropomorphischen Metapher:
a.
b.
(Aus Simrocks Edda 5. Aufl. S. 279. Surtur ist der an der Grenze des
Landes Sitzende mit flammendem Schwert. Am Ende der Welt wird er kommen
und heeren und alle Götter besiegen und die ganze Welt in Flammen verbrennen.
So heißt es in der Wöluspa.)
Der zur Allegorie greifende Dichter erreicht die größte Wirkung, wenn
er den abstrakten Begriff in seinen Wirkungen veranschaulicht, wenn er also
z. B. die Liebe, den Glauben, die Sorge, den Mangel, den Gram so malt,
wie es etwa Shakespeare in obigem Beispiel thut, wo er die Mutter des
Prinzen Arthur um den verlorenen Sohn klagen läßt; wie es ferner Goethe
thut, indem er Mangel, Schuld, Sorge und Not als vier graue Weiber einführt,
von denen z. B. die Sorge durchs Schlüsselloch einschleicht &c.; wie es
Rückert macht, indem er ─ seine Bilder konsequent durchführend ─ in seiner
zu wenig gekannten politischen, aristophanisch gehaltenen Komödie „Napoleon“
Freiheit und Gleichheit als zwei Dirnen darstellt, ferner das Proletariat als
Ohnehos, Ohnestrumpf und Ohneschuh.
Wir geben eine Probe:
St. Georg: Halt! wags nicht, verblendete Dirne!
Wags nicht mit deiner entweihenden Hand die Königsblumen zu knicken.
Gleichheit (indem sie zwei Lilienstengel bricht):
So ist es nun mir, der Gleichheit, geglückt, euch auch zur Gleichheit zu bringen!
So seid ihr von eueren Höhn nun herab, ihr Königsblumen, gestiegen.
Ohnehos (mit Ohnestrumpf und Ohneschuh):
Wir drei hier sind die große Nation, von welcher ihr alle müßt wissen;
Wir drei hier sind die große Nation, wir müssen das Lachen verbitten;
Wir drei hier sind die große Nation, ich sag es zum letzten und dritten.
Wir leben, wie edelen Völkern geziemt, zusammen als eine Familie.
Jch bin der Vater, die Kinder sind das, es sind zwei Zwillingsgeschwister u. s. w.
Eine schöne Art natürlicher Allegorie ist die zwischen redender und bildender
Kunst stehende Blumensprache. Auch die darstellende Kunst liebt die
Allegorie. Jn ihr erscheinen Hoffnung, Glaube, Liebe, Tugend, Tod, Gerechtigkeit
&c. wie menschliche Gestalten, die man nur an ihren Attributen erkennt.
So z. B. wird die Hoffnung mit dem Anker, die Liebe mit dem Herzen, der
Tod mit Stundenglas und Sense, die Gerechtigkeit mit der Wage dargestellt.
Der Löwe gilt als Bild der Stärke, der Schmetterling für die Unsterblichkeit.
Man nennt diese Art Allegorie in der plastischen Kunst allegorische Personifikation.
Die Allegorie in der Poesie kann durch Vereinigung von Allegorien und
Sinnbildern zu einem abgerundeten Gedicht werden, welches man mit
dem gleichen Namen „Allegorie“ belegt. Darüber findet sich das Nähere im
2. Band d. B. (Vgl. auch § 32 dieses Bandes.)
§ 40. Die Distribution.
Die Distribution (μερισμός == Verteilung == distributio) besteht
in Zerlegung (Teilung) des Begriffs in seine Besonderheiten, welche
möglichst vollständig vorgeführt werden. Die Summe der Teile ergiebt
den vollen Begriff.
Distributive Begriffe, Namen, Wörter &c. sind den kollektiven
Begriffen und Wörtern &c., welche zusammenfassen (z. B. Menschheit, Gesellschaft, [177]
Herde &c.) entgegengesetzt. Das Kollektivum ist dem Plural ähnlich und wird
nicht selten als Plural gebraucht; die Distribution dagegen zerlegt
in lauter Einzelheiten.
Die Distribution teilt u. A. auch von mehreren angeführten Personen
einer jeden bestimmte Obliegenheiten oder Verrichtungen zu (z. B. des
Senates Pflicht ist es, den Staat mit Rat zu unterstützen; ─ der Beamten
Pflicht, den Willen des Staates mit Treue und Pünktlichkeit zu erfüllen; ─
des Volkes Pflicht, die geeignetsten Männer zu wählen &c.).
Wenn die Distribution die Häufung des Ausdrucks beabsichtigt,
so heißt sie congeries == das Zusammengetragene (συναθροισμός). Der
Begriff „Alles“ wird z. B. im Grafen von Habsburg von Schiller folgendermaßen
spezialisiert:
Beispiele der Distribution:
a. Lob des Goldes von Rückert (Mak. II).
b.
(Goethe.)
§ 41. Gesetze für den Gebrauch der Tropen.
Katachresen.
Eine gute Schreibweise verlangt von den Tropen: 1. Sie seien
natürlich, ohne Affektation, das Maß beachtend. 2. Sie seien edel.
3. Das Bild muß deutlich und nicht zu weit hergeholt sein. 4. Man
übertreibe nicht und bleibe im Bilde.
1. Der poetische Stil hat sich vor unnatürlichen, gekünstelten Tropen
wie vor Überladung mit Tropen zu hüten. Die Einbildungskraft erlahmt unter
einer Überfülle von Bildern. Man bekommt es satt, die manierierten Sätze
in ihrer Überfülle zu verdauen. Jean Paul kann man z. B. nicht in einem
Zuge fortlesen, ohne geistige Verdauungsbeschwerden zu bekommen. Er bildet
sich ein, „daß die Sprache für sich ein dicker, salzüberfüllter Säuerling sein
müsse, und quält uns mit Entzifferung der lästig pikanten, häufig affektierten
Form, wo wir den Jnhalt suchen.“ Ebenso sind die Tropen Ramlers, der
doch einst als deutscher Horaz gepriesen wurde, unnatürlich, schwülstig, gesucht.
Jch erinnere nur an seine Umschreibung von Eis (== Der diamantene Schild
des Stromes, der alle Pfeile der Sonne verhöhnt). Absichtliches Haschen
nach neuen erkünstelten Bildern verleiht diesen das Gepräge des Affektierten,
Manierierten und beeinträchtigt deren Eindruck. Mittelmäßige Dichter überschreiten
durch eine Überfülle von Bildern das Maß; sie haschen nach immer
neuen Bildern und verwischen die Anschaulichkeit, die ein bilderreicher Stil
schaffen soll; sie geraten „in die Tretmühle des aufklärenden Verstandes“.
2. Jch verweise für die Forderung edler Bilder auf § 25, 3 d sowie
auf § 27 und 28. Triviale, geschmacklose, schwülstige Bilder verstoßen gegen
die Gesetze des Edlen. Trivial wird es wirken, immer wieder aufs Neue den
von andern Dichtern angewandten Bildern zu begegnen (z. B. der Vergleichung
von Wangen mit Rosen, von Lippen mit Purpur, von dem roten
Faden u. s. w.).
3. Undeutliche Bilder beeinträchtigen das anschauliche Prinzip der Darstellung.
Jn orientalischen Dichtungen (z. B. Sakuntala von Kalidasa) hat
man oft Mühe, dem Gegenstande, für den das Bild gesetzt ist, auf den Grund
zu kommen. Manches Bild erscheint wie ein unlösbares Sprachrätsel. Daß
man z. B. unter Lanzen-Messe == Schlacht, und unter Lebensräuber
= Schwert zu verstehen habe, erfordert sicher einiges Überlegen. Auch
Shakespeare, Äschylus, Jean Paul u. A. haben in dieser Beziehung oft das
übliche Maß überschritten und ihre Bilder zu weit hergeholt. (Z. B. Äschylus:
„Die Zeit hat einen Ranzen auf dem Rücken, Almosen sammelnd.“ Shakespeare:
„Dessen dunkle Rüstung schwarz wie sein Vorsatz war.“ Jean Paul:
„Die Natur, die gestern ein flammender Sonnenball gewesen, war
heut ein Abendstern voll Dämmerlicht“ &c.)
4. Die wichtigste Forderung an den Tropus ist: er übertreibe nicht.
Eine Übertreibung ist es, wenn Freiligrath in „die Tanne“ die Zweige der [179]
Edeltanne „regenschwangere Nadelkissen“ nennt. Ebenso, wenn v. Heyden im
„Kampf der Hohenstaufen“ von den „Tigerherden seiner Raserei“ spricht;
oder wenn Schiller im Fiesco ausrufen läßt: „Ach, hätt ich nur seinen
Weltbau zwischen diesen Zähnen“ u. s. w.; oder wenn H. Heine mit brennendem
Fichtenstamme an das Himmelsgewölbe den Namen der Geliebten schreiben
möchte. Die Übertreibung im Bild ist auch deshalb gewagt, weil sie leicht
zur Katachresis führt.
Katachresis.
Man versteht unter Katachresen (κατάχρησις == Mißbrauch, unrechter
Gebrauch der Bilder) jene Verstöße, bei welchen der Dichter
aus einem Bilde in ein anderes, fremdes verfällt.
Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, sagt Vischer in seiner Ästhetik (Bd. III,
Abschnitt 2, 1230) kann den echten Dichter nicht unbedingt binden. Wirkliche
Verstöße, die man als sog. Katachresen zu den Sünden gegen den Geschmack
rechnen muß, finden nur da statt, wo durch einen eigentümlichen Lapsus der
Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs-Region in eine andere
übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung mit der ersten
zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein Bild ausgesponnen
und doch nur scheinbar festgehalten wird (vgl. Jean Pauls Vorsch.
d. Ästh. § 51) ─ oder endlich wenn eine üppige Phantasie keine Grenzen mehr
achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigem Maß erlaubt wären,
gar zu freigebig ist, wie die romantische mit ihren ewigen klingenden Farben,
duftenden Tönen, singenden Blumen u. s. w. Die Grenzlinie, hinter welcher
für die Übergänge aus einem Bilde in das andere das Abgeschmackte
beginnt, ist freilich zart, und es läßt sich darüber im Allgemeinen nicht mehr
bestimmen, als daß der Akt des Vergleichens in seinem Wesen immer ein
einfacher Wurf der Phantasie bleiben muß, nie in ein Festrennen und Zerren
übergehen darf, denn dies fordert den Verstand heraus, der den Schein höhnisch
aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in seiner jugendlichen Periode jenem abgeschmackten
Modeton seiner Zeit, den man Euphuismus nannte, nicht geringen
Tribut gezahlt; doch ist nicht zu übersehen, daß manche besonders seltsame
Bilder, die in dies Gebiet gehören, mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner
Hyperbeln gebraucht sind, die einen besonders starken und tiefen Affekt
bezeichnen sollen. (Vischer weist nach, daß manche von der Phantasielosigkeit
für geschmacklos erklärte Bilder Shakespeares nicht nur keiner Entschuldigung
bedürfen, sondern vielmehr die höchste Bewunderung verdienen. a. a. O.
S. 1232 ff.)
Sofern die Katachrese mit fühlbarer Absichtlichkeit behufs Erreichung einer
bestimmten Wirkung aus einem Bild in ein anderes planvoll übergeht, kann
man sie als einen berechtigten Tropus auffassen.
Wenn z. B. Rückert in den Makamen S. 125 sagt: „Abu Seid war
weggeweht mit den Heuschrecken“, so ist es selbstredend, daß vom Wegwehen [180]
des Abu Seid füglich nicht gesprochen werden kann. Und doch wollte
der Dichter lediglich das rasche Verschwinden des Abu Seid bildlich bezeichnen
durch einen Vergleich seines raschen Verschwindens mit dem raschen Verschwinden
der Heuschrecken u. s. w. Hier ist daher die Katachrese zum berechtigten Tropus
geworden. Jn der Regel führt das Herausfallen aus dem Bilde zur Abgeschmacktheit
und ist daher verwerflich.
Tadelnswerthe Katachresen sind folgende:
a.
(Das Rauschen kann wohl mit dem Ohre, aber nicht mit dem Auge
aufgefaßt werden.)
b.
(Beide Bilder von denen jedes einzeln für sich gut ist, passen nicht zusammen,
da sie die verschiedenartigsten Anschauungen hervorrufen. Ein Zügel
kann bändigen, aber er kann nicht umnebeln.)
c.
(Shakespeare.)
(Jm Original heißt die Stelle Haml. III 1: to take arms against
a see of troubles. Man kann sich waffnen gegen ein Heer, gegen eine
Übermacht personificierter Plagen, aber nicht gegen eine See.)
d.
(Dingelstedt.)
(Offene Wunden und Narben in einem Atemzuge! Selbst die geübteste
Phantasie kann an so rasche Heilung nicht glauben, noch wird sie Narben auf
dem Grunde der Wunden für möglich halten.)
Die Dichtungen unserer modernen lyrisch=epischen Genies wimmeln von
tadelnswerten Katachresen, die der Lernende nach dem Vorstehenden aufsuchen
mag.
II. Figuren.
§ 42. Begriff und Einteilung der Figuren.
Die Figuren sind (wie § 31. 1 erwähnt) die sprachlichen oder
rhetorischen Abweichungen vom gewöhnlichen Ausdruck. Sie stellen
nicht den Gedanken oder einzelne Teile desselben von einer neuen Seite
dar wie der Tropus, sondern sie verändern nur den Ausdruck. Sie
verhalten sich also zum Tropus wie die Form zum Jnhalt. Sie
sind einfache Wort- oder Satzformen und verfolgen den Zweck der
Belebung des Ausdrucks. Die Abweichungen vom allgemeinen Ausdruck
bestehen in der Auslassung, Vertauschung, Wiederholung und [181]
eigenartigen Verbindung von Wörtern und Sätzen. Man kann die
Figuren einteilen in Wortfiguren (Asyndeton, Polysyndeton, Wiederholung)
und in Satzfiguren (Frage, Ausruf, Apostrophe, Antithese,
Paradoxon, Jronie, Klimax, Hyperbel). Wir ziehen die Einteilung
in grammatische und rhetorische Figuren vor.
Grammatische Figuren, sind diejenigen, welche durch Hinzufügung,
Weglassung, Wiederholung oder Veränderung der grammatischen Form eines
oder mehrerer Wörter von der gewöhnlichen Ausdrucksweise abweichen.
Rhetorische Figuren sind solche, welche durch Steigerung, Wortspiele,
Gegensätze, Wiederholungen, Beschränkungen oder durch Erweiterungen
den Satz umgestalten.
Grammatische Figuren.
§ 43. Ausruf (Exclamatio).
Der Ausruf ist der unmittelbarste Ausdruck einer lebhaften Gemütsbewegung,
─ eine absolute monologische Figur. Z. B. „Mein
Engel, mein Herz, meine Seligkeit!“
Beispiele:
(Rückert, Napoleon.)
(Hölty.)
(Gellert.)
(Nach Cic. Catil. I. 1. Geibel.)
§ 44. Die Anrede oder Apostrophe.
Die Anrede oder Apostrophe (ἀποστροφη, aversio, d. i. Wegwendung
von der Sache zur Person) ist nicht allgemein gehalten wie
der Ausruf, sondern richtet sich vielmehr an ein Bestimmtes, gleichviel
ob lebend oder leblos, also auch an einen zu versinnlichenden Gegenstand,
den sie sodann personificiert, an abwesende wie an anwesende
Personen, an Lebende wie an Tode. Sie ist eine Versinnlichung durch
Vergegenwärtigung des Abwesenden.
Auch die Anrufung einer Muse oder der Gottheit um helfendes,
ratendes, teilnehmendes Eingreifen ist eine Apostrophe.
Man nennt die Anrede Personenwechsel (mutatio personae), sofern sie
z. B. die 3. in die 2. Person verwandelt.
Z. B. Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau, statt:
Drauf antwortete der ehrwürdige Pfarrer von Grünau.
Weitere Beispiele:
1. Die Anrede dient der Versinnlichung von Zuständen:
Alter Freund! immer getreuer Schlaf, fliehst du mich auch wie die übrigen
Freunde?
(Goethes Egmont.)
2. Die Anrede richtet sich an abwesende Personen:
3. An leblose Gegenstände:
(Schiller. Vgl. auch Lied an die Freude.)
(Vgl. Hom. Iliad. XVI. 692. 787. Cic. pro Mil. 31, 37 und in
Cat. I. 13.)
§ 45. Die Frage (Interrogatio) und der Dialogismus.
α. Frage.
Die Frage kann bejahend oder verneinend sein; sie kann eine
Antwort verlangen oder sie kann als rhetorische Frage insofern zur
Steigerung einer Wirkung gebraucht werden, als sie den Gefragten
zwingt, die Antwort sich zu denken und zu ergänzen.
Beispiele:
(Schiller.)
(Schiller.)
(Kirchenlied.)
(Schiller.)
(V. Scheffel.)
(Vgl. den Eingang der 1. Catilinaria Ciceros. Quis sciat, an adjiciant
hodierne crastinae horae. Hor. Od.)
β. Dialogismus.
Die Frage wird zum Dialogismus (διαλογισμός == Unterredung
== sermocinatio), wenn dieselbe fortspinnend die Gedanken des Fragenden
einzeln darlegt.
Beispiele:
(Max Waldau, Der Graf von Hammerstein.)
(Herwegh.)
(Die letzte Zeile ist auch ein Beispiel der Apostrophe.)
(Anast. Grün, Der letzte Dichter.)
(Moritz Horn, Pilgerfahrt der Rose.)
Lessing verdankt der richtigen Anwendung der Frage und des Dialogismus
einen Teil seiner Wirkung. (Vgl. z. B. Nathans Monolog in Saladins
Audienzzimmer.) Auch andere Dichter wenden diese Figur mit Vorliebe an.
Vgl. Homer Jliad. I, 8 (Hom., τίς πόθεν εἶς ἀνδρῶν, πόθι τοι γένος
ἠδὲ τοκῆες), ferner Goethes Faustmonolog am Anfang, seinen Erlkönig am
Anfang &c.
§ 46. Das Polysyndeton.
Unter Polysyndeton (πολυσύνδετον == Vielverbindung) versteht
man eine Häufung von Verbindungspartikeln.
Wenn die Partikeln in der Poesie nur in sehr beschränktem Maße zur
Anwendung kommen, so macht doch das Bindewort „Und“ eine Ausnahme.
Es wird häufiger gebraucht, wo eine Häufung, Steigerung oder dramatische
Wirkung erzielt werden soll.
Beispiele:
(Schillers Taucher.)
(Schillers Glocke.)
(Goethe.)
Das Polysyndeton mit „Oder“ wendet besonders Rückert an:
(Rückerts Kindertotenlieder 145.)
§ 47. Das Asyndeton.
Das Asyndeton (ἀσύνδετον == Verbindungslosigkeit == dissolutio)
ist das Gegenteil von Polysyndeton. Es läßt die Bindewörter im
zusammengesetzten Satze auch da weg, wo sie sogar die Prosa anwenden
würde, wo sich also die Vorstellungen in dramatisch belebter
Progression gedrungen an einander reihen.
Beispiele:
(Schillers Glocke.)
(Vgl. die ähnlichen Stellen in Klopstocks Messias 10, 156 und 999.)
(Klopstocks Messias 10, 1049.)
(Rückert.)
(V. Scheffel.)
Auch die Weglassung des „Wie“ (z. B.
Ein Regenstrom aus Felsenriffen == Wie ein Regenstrom &c., oder
So strömen des Gesanges Wellen u. s. w.
in Macht des Gesanges von Schiller), ferner das „Wenn“ kann als Asyndeton
bezeichnet werden.
Beispiele:
(Schiller, Sängers Abschied.)
Veni, vidi, vici. (Sueton. Jul. Caes. 37. Cicero: Abiit, excessit, evasit, erupit.)
§ 48. Die Wiederholung (Repetitio).
Sie ist die erneute Wiederkehr der gleichen Worte, Sätze oder Begriffe.
Sie erzielt ihre Wirkung, indem sie dem Gedächtnisse die betreffenden
Worte wiederholt zuruft oder die gleichen Vorstellungen wiederkehren macht.
Jhr Zweck ist, die rasche Bewegung zu zügeln und die Einbildung auf
einem Ruhepunkt verweilen, haften zu lassen. Die epische Wiederholung, die
sich auch auf große Vorstellungsreihen erstrecken kann, ist nur für die Rhetorik
beachtenswert. Die in der Poetik vorzuführenden Wiederholungsformen haben
nur einzelne Worte oder Satzteile zu repetieren. (Die beiden Wiederholungsformen
„Echo“ und „Refrain“ werden wir weiter unten beim Reim abhandeln.)
Formen der Wiederholung.
1. Anaphora (Wiederholung des Anfangs).
Die Anaphora (griech. ἀναφορά == Wiederbringung) wiederholt
das gleiche Wort oder dieselbe Wortreihe am Anfang einander
folgender Sätze.
Sie verbindet sich gern mit der Distribution (vgl. § 40) und kommt
am häufigsten in der Priamelform vor. (Vgl. den betreffenden Abschnitt im
2. Band.) Sie belebt und verstärkt den Rhythmus und erscheint wie einander
folgende Wellen.
Beispiele:
(Rückert.)
(Rückert.)
(Goethe in Faust.)
(Scheffel, Schluß des Trompeters v. Säkkingen.)
(Rückert.)
(Dieses Gedicht ist zugleich eine Probe für die weiter unten zu besprechende
Epanodos. An Anaphern reich ist Goethes bekannte Ballade: Der Fischer,
ferner Schillers Elegie: Der Spaziergang. Vgl. Homer, Iliad. XXIII.
313─318, wo die Worte „durch Rat“ dreimal wiederholt werden, ferner
Hesiod, opp. et d. 5─8.)
2. Epiphora (Wiederholung des Schlusses).
Die Epiphora (ἐπιφορά == Nachbringen, Zugabe) ist die Gegenfigur
der Anapher. Die gleichen Worte bilden den Abschluß einander
folgender Sätze, wie das namentlich bei den von Rückert und
Platen unserer Litteratur vermittelten Kassiden und Ghaselen der Fall
ist. (Vgl. die Dichtungsgattung des Ghasels § 184 dieses Bandes.)
Beispiele:
a.
(Rückert, Liebespredigt.)
b.
(Schiller, Don Carlos, I, 2.)
(Diese Stelle ist zugleich ein Beispiel für die später folgende Epanalepsis.)
c.
(Shakespeare, Othello V, 2.)
3. Anadiplosis.
Anadiplosis (ἀναδίπλωσις == Verdoppelung) ist die Wiederholung
eines den Satz beendigenden Wortes am Anfang des folgenden
Satzes.
Beispiele:
a.
(Rückert.)
b.
(Shakespeare.)
c.
(Schiller, Don Carlos.)
d.
4. Epanalepsis.
Jn der Epanalepsis (ἐπαναληψις == Wiederaufnahme) dient das
den ersten Satz beginnende Wort auch zum Schluß.
Beispiele:
(Rückerts Kindertotenlieder.)
(Luise Brachmann.)
(Fr. Halms Serenade.)
Vgl. noch: Du bist schön, Jtalien! &c. (Fr. Halms Jtalien.)
5. Epanodos.
Die Epanodos (ἐπάνοδος == Rückweg) bringt die zu wiederholenden
Wörter ─ etwa des Gegensatzes wegen ─ in umgekehrter Folge.
(Vgl. die Anapher „Jch liebe dich“ von Rückert S. 186 d. B. als Beispiel. Desgleichen:
Pharao sprach: Jhr seid müßig, müßig seid ihr. 1. Mos. 5. 17.)
Weitere Beispiele:
(Goethe, Faust I.)
(Shakespeare, Romeo und Julie II.)
(Rückert, Kindertotenlieder 68. Vgl. noch ebend. 378.)
Sittah: Wer kann das? kann das auch nur wollen, Liebe?
Recha: Wer? meine gute böse Daja kann
Das wollen ─ will das können.
(Lessing im Nathan.)
6. Epizeuxis.
Die Epizeuxis (ἐπίςευξις == Zusammenziehung) ist die unmittelbare
Wiederholung desselben Wortes innerhalb des Satzes oder des
Satzes innerhalb des Gedichts.
Sie kann überall stehen und ist daher die häufigste Wiederholung. Reduplikationen
wie Aug' um Auge, Zahn um Zahn, Hand in Hand, können
als die einfachste Art der Epizeuxis aufgefaßt werden. Ebenso viele Ausdrücke
der Volksrede: Z. B. Weiter, weiter! Wohl, wohl! Ja, ja! So, so! Sieh,
sieh! Sie ist die Lieblingsform des Volksliedes.
Beispiele der Epizeuxis im Volkslied.
a. Mutter, liebe Mutter mein, o Tochter, liebe Tochter mein.
b. O Reitknecht, lieber Reitknecht mein.
c. Ach Mutter, sagte sie, Mutter, ach Tochter, sagte sie, Tochter.
d. Ach Sünder, ach Sünder, was hast du für Not?
e. Ach Mutter, wenn das mein Vater wüßt',
f. Ach Mutter, jetzt ist mein letztes End,
g. Ach Mutter, wie ist der Schlaf so süß!
h.
i.
k.
Beispiele aus der Kunstpoesie:
l.
(Rückert.)
m.
(Rückert.)
n.
(Rückert.)
o.
(Klopstock.)
p.
(Goethe, „März“.)
q.
(Goethe.)
r.
(Schmidt-Cabanis, „Fritz Reuter tot“.)
s.
(Max Waldau, Märchen von der Zeit.)
7. Polyptoton.
Polyptoton (πολύπτωτον) ist die Wiederholung eines Wortes in
verschiedenen Flexionsformen. (Vgl. hier das letzte Beispiel weiter
unten unter Anfangsreim § 138, 9.)
Beispiele:
a. Flexion des Substantivs.
(Lessing, Nathan.)
(Goethe, Faust.)
(Shakespeare, König Richard.)
(Vgl. das Lateinische: pater hic tuus? patrem hunc appellas?
patris tu hujus filius es?)
b. Flexion des Verbums.
(Rückert.)
(Goethe, Sänger.)
(Homers Odyssee, übers. v. Voß, 19, 204.)
8. Symploke.
Symploke (griech. συμπλοκή == Verflechtung) ist, wie schon der
Name besagt, diejenige Wiederholung, welche mehrere der bisherigen
Wiederholungsarten miteinander verflicht. Z. B. den wollt ihr freigeben,
den der Senat verurteilt hat, den das römische Volk verurteilt
hat, den die Meinung Aller verurteilt hat?
Beispiele:
(Schiller, Don Carlos I, 2.)
(Hoffmann v. Fallersleben.)
(Schiller, Tell III, 3.)
(Kirchenlied.)
Als Beispiel vgl. auch Scheffels Hildebrandlied.
9. Annominatio.
Die Annominatio (== Beibenennung) oder das Wortspiel ist die
Nebeneinanderstellung mehrerer zu einem Stamme gehöriger Wörter
oder auch die Wiederholung eines Wortes in verschiedener Bedeutung,
also eine Art Spiel mit dem Worte, z. B.: Wenn ich still die Augen
lenke in die abendliche Stille. Oder: Gerne plaudern ja die Basen,
und die Parabasen auch. (Platen.) Jm engsten Sinne ist das
σχῆμα ἐτυμολογικόν figura etymologica, z. B. μάχην μάχεσθαι,
pugnam pugnare.
Die griechischen Rhetoriker nannten das Wortspiel παρονομασία, die
Lateiner (Quintilian Inst. 93, 66) agnominatio == annominatio.
Die Annomination wiederholt in verschiedenen Wortformen den gleichen
Begriff, oder sie erinnert durch die Worte desselben Namens durch ihren Gleichklang
an den Hauptbegriff.
Bei der Annomination begegnen sich Allitteration und Assonanz. Z. B.
Jnsofern beim Wortspiel der Ausdruck auf die Seite rückt und damit die
Vorstellung wechselt, verhält es sich gegensätzlich zur Metonymie, welche die
Vorstellung auf die Seite rückt und den Ausdruck wechselt. Einige rechnen
das Wortspiel zu den Tropen. Da aber das Wesentliche die Änderung der [192]
Form ist, und da es bei ihm (wie bei allen Figuren) auf den Verstand, nicht
aber (wie bei allen Tropen) auf die Einbildung abgesehen ist, so rechnen wir
es zu den Figuren, und zwar zu den Wiederholungen. Mehrere der unter
Polyptoton gegebenen Beispiele sind zugleich Wortspiele.
Wir finden geistreiche Wortspiele bei allen bedeutenden Schriftstellern aller
Nationen, vorzugsweise aber bei Aristophanes, Plautus, Shakespeare, Rabelais,
Fischart, Jean Paul und in der Prosa besonders bei Abraham a Sancta Clara.
Paul Gerhard und Benjamin Schmolk haben nicht gut gethan, Wortspiele
in geistlichen Liedern anzuwenden. Hier schädigen sie die Würde, während
sie in der weltlichen Poesie am Platz sind. Von den neuern Dichtern liebten
das Wortspiel Rückert und Reuter. ─ Bei Rückert tritt die Vorliebe für das
Wortspiel schon in seiner ersten Periode zu Tage, z. B. in seinem Napoleon,
wo wir Wortspielen begegnen, wie:
Amme. Sagt Herr, wollt Jhr ein Pulver,
Napoleon: Frau Politik, wozu das?
Wie Rückert mit Absicht das Wortspiel anwendet, sagt er in folgenden
Alexandrinern:
Freilich wird Rückerts Wortspiel zuweilen Tändelei und Spielerei. Z. B.:
Jnteressant ist, daß Rückert die von ihm mehrfach überschrittene Grenze
so genau gekannt hat. Er sagt:
Die obigen Proben Rückerts würden sich freilich in ein fremdes Jdiom
kaum übertragen lassen. Er bietet hunderte von geistvollen Wortspielen, die man
geradezu klassisch nennen könnte, namentlich in den Makamen des Hariri, in der
Weisheit des Brahmanen, in den Kindertotenliedern S. 217 u. 229 u. s. w.
Beispiele des Wortspiels:
a. Gerungen hab ich lange, bis ich das errang, vor dem das Ringen nur mir
scheint geringe. (Dies Beispiel kann auch als Polyptoton aufgefaßt werden.)
b. Lust bringt Last und Liebe Leid.
c. Mein Herz schlug den ersten Schlag der Ehrbegierde.
(Klopstock.)
d. Laß, den meine Seele geliebt hat,
Den ich liebe mit viel mehr Liebe, wie Liebe der Brüder &c.
(Bürgers Nachtfeier der Venus.)
Bürger hat hier den lateinischen Satz variirt:
Ähnlich ist aus:
dieses Wortspiel entstanden: „Die ich liebe, liebt mich nicht; die mich liebet,
lieb' ich nicht.“
e.
f.
(Schiller, Wall. Lager.)
g.
h.
i.
(Melch. Meyr.)
Griechische Wortspiele sind: ἔγνων, ἀνέγνων, κατέγνων und die Replik:
ἀνέγνως ἀλλ' οὐκ, ἔγνως, εἰ γὰρ ἔγνως οὐκ ἄν κατέγνως.
Lateinische sind: a. Hunc avium dulcedo ducit ad avium.
b. Et nati natorum, et qui nascentur ab illis.
10. Antanaklasis.
Die Antanaklasis (ἀντανάκλασις == Reflex oder Echo) bedeutet
Umspringen des wiederholten Wortes in eine andere Bedeutung und
ist synonym mit Amphibolie == Zweideutigkeit, Doppelsinn, sofern neben
dem eigentlichen Sinn noch ein allegorischer entgegentritt.
Sie ist eine Art Wortspiel, bei dem jedoch die verschiedenen Andeutungen
einander entgegengesetzt sind; oder die Bedeutung des wiederholten Wartes eine
andere ist.
Beispiele:
a.
b.
c.
d.
(Wilh. Müller.)
e.
Rhetorische Figuren (Sinnfiguren).
§ 49. Begriff der rhetorischen Figuren.
Die Alten verstanden unter „rhetorische Figuren“ diejenigen in
den folgenden Paragraphen abzuhandelnden Ausschmückungsmittel des
sprachlichen Ausdrucks, durch welche sie ihrer Sprache in Reden und
Dichtungen größeren Glanz, Effekt und bessere Wirkung sicherten.
Einige Neuere rechnen diese Ausschmückungsmittel zu den Tropen, andere
lassen sie nicht einmal als Figuren gelten. Beide sind im Unrecht. Zu den
Tropen gehören sie nicht, da sie die Begriffe nicht miteinander vertauschen. Sie
sind weder Wendung noch Verbindung der nicht zusammengehörigen Begriffe.
Wohl aber müssen sie zu den Figuren gerechnet werden, wenn auch nicht im
engeren Sinne. Sie weichen nicht von den Gesetzen der Grammatik ab, wohl
aber weichen sie im Jnhalt ab, weshalb man sie am besten als Sinnfiguren
bezeichnen dürfte.
§ 50. Die Antithese.
Die Antithese oder der Gegensatz (ἀντίθεσις == Entgegenstellung,
auch ἀντίθετον == das Entgegengesetzte, lat. contentio, contrapositum)
ist im Allgemeinen die Gegenüberstellung von Begriffen in parallelen
Satzgliedern. Sie hebt oft den ihr vorhergehenden Satz seinem Jnhalt
nach dadurch auf, daß sie das Gegenteil davon aussagt.
Genau genommen ist die Antithese die Vereinigung mit dem ihr vorhergehenden
Satzganzen zu einem Gedanken und zwar von solchen Dingen, die
an sich einen Kontrast bilden, wie z. B. Freude und Schmerz, Weinen und
Lachen &c. Die einfache Antithese hat nur zwei Bestimmungen, während die zusammengesetzte
mehrere derselben in symmetrischer Folge einander gegenüberstellt,
ohne mit aufeinanderfolgenden einfachen Antithesen verwechselt zu werden. Durch
die Antithesen äußert sich der Parallelismus der Glieder (παραλληλισμός
== Nebeneinanderstellung) oder die Verbindung zweier inhaltlich zusammengehöriger [195]
Sätze, wie wir diese namentlich in den uns aufbewahrten Dichtungen
der Hebräer, hauptsächlich in den Psalmen, finden. Z. B.: Jn des Königs
Wort ist Gewalt, und wer mag zu ihm sagen, was machst du? Eccl. 8, 4.
Oder: Gott erhöre mein Gebet und vernimm die Rede meines Mundes.
Ps. 54, 4. (Vgl. § 10 d. B.)
a. Einfache Antithesen.
(Goethe.)
(Schiller.)
(Schiller, Wallenstein.)
(Schiller in Maria Stuart.)
(Schiller im Kampf mit dem Drachen.)
(Schiller im Siegesfest.)
Vgl. noch die Antithesen in Rückerts Kindertotenliedern 32, 34, 47,
132, 156.
b. Einfache, aufeinanderfolgende Antithesen.
(Jmmermann.)
c. Zusammengesetzte Antithese.
Sie ist in ästhetischer Hinsicht die schönste Form der Antithesen, da sie
mehrere zur Vervollständigung wesentliche Gegensätze heranzieht.
(Rückert, Kindertotenlieder 31.)
(Hier sind die offene Pforte und die verschlossene einander entgegengesetzt;
ferner das rasche Fliegen und das langsame Ziehen; endlich die Freuden den
Sorgen. Das Gemälde ist durch diese Zusammensetzung mehrerer Antithesen
untadelig, vollständig geworden.)
(Ewald.)
(Rückert, Kindertotenlieder 19.)
(Wenn man z. B. vom Tage oder von Schatten spricht, denkt man sich
sofort und unwillkürlich auch den Gegensatz: die Nacht und das Licht; ebenso
ist der Begriff „leben“ ohne seinen Gegensatz nicht zu denken u. s. w. Aber,
daß dieser Gegensatz ausgesprochen ist, verleiht dem Ausdruck volle Klarheit.)
§ 51. Unterarten der Antithesis.
Als Unterarten der Antithese führen wir an: α. Die Stichomythie,
β. Das Oxymoron, γ. Das Paradoxon.
α. Die Stichomythie.
Die erweiterte Form und Ausbildung der Antithese wird zur
Stichomythie oder der treffenden Rede und Gegenrede des dramatischen
Dialogs.
Das Wort Stichomythie (στιχο-μυθία) bedeutet eigentlich: Das Zeile
für Zeile oder Vers für Vers hersagen. Die Stichomythie ist am Platze insbesondere
bei erregter Leidenschaft der sprechenden Personen.
Folgende Beispiele sind als Muster der Stichomythie zu nennen.
1. Sophokles Aias: Teukros und Menelaos (Vers 1120 ff). Electra
und Chrysothemis (Vers 1023 ff). Antigone (Kreon und Haimon 726 ff.
Kreon und Antigone 497 ff). 2. Shakespeares Richard III. (Akt 4,
Scene 4). 3. Schillers Maria Stuart, Akt 2 Scene 8. Wallensteins
Tod, Akt 4 Auftr. 11. 4. Goethes Tasso, Akt. 3 Auftr. 2. 5. Rückerts
Cristoforo Colombo 3. Aufz. (Ges. Ausg. X, 367); Kaiser Heinrich IV. (Unterredung
zwischen Werner und Heinrich, X, 162); Herodes der Große (Unterredung
zwischen Herodes und Salome IX, 327). 6. Fr. Hebbel (Unterredung
zwischen Kriemhild und Rüdeger in „die Nibelungen“ 1. Akt 8. Scene).
Ludw. Schneegans (Unterredung zwischen Bothwell, Hubert und Maria in
„Maria, Königin von Schottland“ 3. Akt 6. Auftr.).
Teile aus Stichomythien als Proben.
1. Hayrraddin, König, in „Ludwig XI. in Peronne“ von
Jos. von Auffenberg (2. Aufz. 9. Scene).
H. Nichts ist auf Erden sicher als der ─ Tod.
K. Was bürgt für deine Treue bei Geschäften?
H. Mein Wort.
K. Sonst Nichts?
H. Jch hab' es nie gebrochen.
K. Du bist kein Christ ─
H. Und dennoch lebe ich.
K. Was glaubst du denn?
H. Jch glaube, was ich sehe.
K. Was hoffst du wohl nach diesem Erdenleben?
H. Was ich gewiß erreichen werde: Nichts. ─ [197]
K. Was liebst du?
H. Mich, weil ich mich lieben muß.
K. So hast du deinen Bruder nicht geliebt,
Den unser König hängen ließ?
H. Nein ─ Herr!
K. Doch ─ was ersetzt bei dir wohl das Gewissen?
H. Mein Wort.
K. Jm Namen eines Mächtigen
Nehm' ich dir jetzt den Schwur der Treue ab.
H. Was ist ein Schwur denn weiter als ein Wort? u. s. w.
2. Baron und Unruh ─ in „Bürgerlich und Romantisch“
von Ed. Bauernfeld. 1. Akt 8. Scene.
B. Alle Wetter: Du bist ─
U. Heinrich ─ Heinrich Unruh.
B. Mein Vater behauptete, du seist ein Genie.
U. Das fürcht' ich leider auch.
B. Jch hielt dich für einen Taugenichts.
U. So ein Anschmack von Beiden.
B. Bursche, was ist aus dir geworden?
U. Ein Philosoph.
B. Und ein Lohnlakei?
U. Philosoph für die Welt.
B. Du hast Kopf. Du könntest Etwas leisten.
U. Jch nütze in meinem bescheidenen Wirkungskreise.
B. Wo triebst du dich bis jetzt herum?
U. Jn halb Europa.
B. Und was machtest du?
U. Anfangs Schulden, dann Verse.
B. Bravo! Du wardst ein Dichter?
U. Romantiker, zu dienen u. s. w.
β. Das Oxymoron.
Das Oxymoron (ὀξύμωρον von ὀξὺς gescheit und μωρός dumm)
ist eine witzige Zusammenstellung widersprechender Begriffe oder ein auf
den ersten Blick insofern ungereimt erscheinender Ausspruch, als er zwei
sich widersprechende Begriffe mit einander verbindet. Z. B. beredtes
Schweigen.
Der Widerspruch besteht meist zwischen dem Adjektiv und seinem
gegensätzlichen Substantiv (also contradictio in adjecto), während im
Paradoxon der Widerspruch zwischen Satz und Satz (Hauptsatz und Hauptsatz
oder Hauptsatz und Nebensatz &c.) besteht. „Eile mit Weile“ ist noch Oxymoron,
denn es verbindet die beiden sich widersprechenden Begriffe eilen
und verweilen zur Einheit, während z. B. der lehrwidrige, zwei sich widersprechende
Gedanken unverbunden nebeneinander stellende Ausspruch:
ein Paradoxon ist. Man findet das Oxymoron am häufigsten bei Shakespeare,
Goethe und Rückert.
Beispiele des Oxymoron:
Alter Junge; beredtes Schweigen; süßes Grauen (Uhland); süßer Schmerz;
bittres Vergnügen; selig=unselige Geistersöhne (A. Moser); unselige Seligkeit
(Heyse); übersinnlich=sinnlicher Freier (Goethe); wollustvolles Grausen (Schiller).
(Shakespeare, Romeo und Julie.)
(Rückert.)
(Goethe.)
γ. Das Paradoxon.
Das Paradoxon (παράδοξον == unerwartet) ist eine Figur, welche
zwei sich widersprechende Begriffe zu einem Gedanken in einem oder in
mehreren Sätzen vereinigt. (Paradoxie ist die auffallende Sonderbarkeit
in kühnen Behauptungen, Paradoxomanie die Sucht, Paradoxen
zu bilden.)
Das Paradoxon verstößt in seiner Lösung gegen die gewöhnliche Meinung
und Erwartung, gegen allgemein als wahr angenommene Ansichten, obwohl
es meist begründet ist. Nach Rousseau ist Paradoxon eine Meinung, die um
hundert Jahre zu früh ausgesprochen wird.
Beispiele des Paradoxon:
(Äschylus: Die Perser; nach Droysen.)
(Schiller, Worte des Glaubens.)
(Ders. in Kabale und Liebe.)
(Ders. in: Die Piccolomini, 2. Akt, 7. Sc.)
[199](Schiller, Die Piccolomini.)
(Vgl. noch das Beispiel Schillers unter Oxymoron S. 197.)
§ 52. Die Jronie.
Die Jronie (griech. εἰρωνεία == Verstellung, von εἴρων der sich
verstellende Frager) ist die Figur des Gegenteils und des scheinbaren
Widerspruchs. Sie ist ein feiner, der Stimmung des Redners
entquellender Spott oder eine spöttische Verstellung (Simulatio) in einer
Rede, die das Gegenteil von dem meint, was sie wirklich sagt; eine
scheinbare Anerkennung, welche es auf die komischen Schwächen und
Thorheiten Anderer abgesehen hat. Als leichter wohlwollender Scherz
bezeichnet man sie mit dem Namen: Asteïsmus (ἀστεϊσμός == höfliche
Rede).
Die Jronie beabsichtigt, eine Sache lächerlich zu machen, und fingiert
daher nicht selten Unwissenheit über Etwas, das man genau kennt. Sie rühmt
z. B. die Sparsamkeit des Verschwenders, um die Verschwendung in die Augen
springen zu lassen, wodurch sie zugleich dem Beschämten die Waffen der Verteidigung
raubt.
Jronie, bei welcher der Verstand obwaltet, kann nur eine Veränderung
des Ausdrucks sein, nicht aber (wie im Tropus) Veränderung der Vorstellung.
Am wirksamsten ist die Jronie, wenn sie zwischen Wissen und Unwissen schwankt.
Sokrates bekämpfte mit der Jronie die Sophisten. Sein dialektischironisches
Verfahren ist sprichwörtlich geworden. Außer ihm wandten die Jronie
mit Geschick an: Rabener, Jean Paul (Quintus Fixlein), Platen (in seinen
Dramen), Rückert (in Napoleon), Shakespeare, z. B. Rede des Antonius,
Julius Cäsar III. Akt:
u. A. Die wissenschaftlichen Begründer der Romantik, die Gebrüder Schlegel,
wie namentlich der Vollender derselben, Tieck, wollten die Jronie zum Hauptgesetz
der Poesie erhoben wissen.
Aus den romantischen Traditionen sind in unseren gegenwärtigen Sprachgebrauch
die Ausdrücke „Tragische Jronie“ (Vischer I. S. 285 ff.) und „Jronie
der Weltgeschichte“ übergegangen.
Beispiele der Jronie:
(Schiller, „Tell“.)
(Kopisch.)
Jm Ganzen stimmten die Ehrenmänner doch vortrefflich zusammen und
wurden einander unentbehrlich.
(Gust. Freytag.)
(Schiller.)
(Lingg.)
Der wahrheitliebende Mann! Er lügt eigentlich nie, er wird nur mißverstanden.
(Vgl. Tacit. Ann. 1. 59, ferner den Ausspruch: Eritis sicut Deus.)
§ 53. Unterarten der Jronie.
Es sind: 1. Euphemismus. 2. Sarkasmus. 3. Diasyrmus.
4. Mimesis.
1. Euphemismus.
Das Ausweichen des Anstößigen, Gehaßten, Gefürchteten, das
Beschönigen einer schlimmen Sache ist Euphemismus, also eine Art
Jronie.
Euphemismus (εύφημισμός == Gebrauch eines guten Wortes für eine
schlimme Sache, also Beschönigung) ist es, wenn die Erinnyen Eumeniden
(d. i. die Gnädigen), ferner die Todesgöttinnen Parcae (d. i. die Schonenden)
genannt werden; wenn das durch zahlreiche Schiffbrüche berüchtigte schwarze
Meer als das den Fremdlingen wohlgesinnte bezeichnet wird; wenn man die
Gestorbenen Entschlafene nennt; wenn man statt Sakrament Sapperment,
statt Pfui Teufel! Pfui Deixel setzt, palsambleu statt par le sang de
dieu; sacre bleu statt sacre dieu u. s. w.
2. Sarkasmus.
Den ätzenden, bitteren, tief verletzenden, mit Hohn verbundenen
Spott, welcher sich auch gegen Unglückliche oder Sterbende richten
kann, nennt man Sarkasmus (griech. σαρκασμός == Zerfleischung).
Beispiele des Sarkasmus:
(Bürger, Lenardo und Blandine.)
[201]2. Die Juden sprachen zu Jesus:
3. Arzt, hilf dir selber. (Matth.)
4. Deine beste Entschuldigung wäre der Galgen.
(Shakespeare, Richard III.)
Vgl. auch Quint. VI. 3. 85. VIII. 6. 54.
3. Diasyrmus.
Diasyrmus (von δια-συρμός == durchhecheln, durchziehen) ist das
Verspotten eines Lebenden, also eine spöttelnde, direkte Rede. Sie wird
zuweilen der Hyperbel entgegengesetzt und bedeutet dann die höhnende
Übertreibung in der verkleinernden Darstellung.
Beispiele des Diasyrmus:
1. K. Karl: Uns bleiben noch viel reiche, schöne Länder.
Dunois: So lang es Gott gefällt und Talbot's Schwert!
Wenn Orleans genommen ist, magst du
Mit deinem König René Schafe hüten.
K. Karl: Stets übst du deinen Witz an diesem König;
Doch ist es dieser länderlose Fürst,
Der eben jetzt mich königlich beschenkte.
Dunois: Nur nicht mit seiner Krone von Neapel;
Um Gotteswillen nicht! denn die ist feil,
Hab' ich gehört, seitdem er Schafe weidet.
(Schiller, Jungfrau von Orleans.)
(Lessing, Nathan d. Weise, IV. Akt 4. Sc.)
4. Mimesis.
Die Mimesis (μίμησις == Nachahmung: imitatio) ist das höhnende
oder spöttische Wiederholen oder Nachsprechen der Worte des zuerst
Sprechenden.
Beispiele der Mimesis:
Leicester: Jhr überlegt nicht, hört nicht, werdet Alles
Mit heftig blindem Ungestüm zerstören,
Was auf so guten Weg geleitet war.
Mortimer: Wohl auf den guten Weg, den ihr gebahnt?
(Schiller, Maria Stuart.)
Marinelli: Aus Zerstreuung weiß ich. ─ Nicht aus Verachtung.
Orsina: Verachtung? ─ Wer denkt daran? ─ Es braucht ja eben nur
Gleichgiltigkeit zu sein. Nicht wahr Marinelli?
Marinelli: Allerdings, allerdings.
Orsina: Allerdings? O des weisen Mannes, den man sagen lassen kann,
was man will!(Lessing, Emilia Galotti.)
Wagner: Verzeiht! Es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen,
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weitgebracht.
Faust: O ja, bis an die Sterne weit!
(Goethe, Faust.)
§ 54. Die Onomatopöie.
Die Onomatopöie (ὀνοματοποιΐα Schallnachahmung, wörtlich:
Wortschaffung) ist die Nachahmung eines Schalles oder Klanges, einer
Thätigkeit, Erscheinung, Anschauung durch sprachliche Laute (Naturlaute).
Diese Nachahmung erstreckt sich:
a. auf den Klang der Worte und Sätze, was man Kongruenz nennt;
b. auf die rhythmische Bewegung, was mit Harmonie bezeichnet wird;
c. auf die Vereinigung von Klang und Bewegung.
Die Onomatopöien als tonausdrückende Wörter sind unzählig,
da wohl ursprünglich sehr viele Wörter durch Onomatopöie entstanden sind,
z. B. donnern, rollen, gackern, schnattern, grunzen, miauen (vgl. § 28).
Sie wird selten angewendet (z. B. a. von Bürger: hurre hurre, hop hop;
b. im venetianischen Fischerlied „O lenke durch die Wellen“ als Refrain:
Fidelin, lin, lin; c. im Yankee-Doodle &c.).
Die Onomatopöien als rhetorische Figuren finden häufigere Verwendung.
Sie unterstützen den Dichter, indem sie das von ihm Dargestellte auch den
Ohren malend bemerklich machen.
Die gewählten Wörter fügen sich in ihren Lauten und Tönen zu dem
Klange, der in der hörenden Einbildung des Dichters liegt; ihr Begriff drückt
den Klang aus, der das mit ihnen Dargestellte in der Wirklichkeit begleitet.
Sie stimmen dazu in Vokal, Konsonant und Accent, ohne jedoch irgend
welche etymologische Beziehung darauf zu haben.
Beispiele der Onomatopöien:
a. Klang der Worte und Sätze (Kongruenz):
(Schiller, Taucher.)
(Goethe.)
(Brentano.)
b. Rhythmische Bewegung (Harmonie) z. B.:
Die Schmiede: Īllī īntēr s̄es̄e m̄agn̄a v̄i br̄ach̆iă t̄ollūnt (die Cyklopen)
In̄ n̆umĕrum̄ v̄ersāntqŭe tĕnācī fōrcĭpĕ māssām.
(Vergil Aen. 8, 452.)
Hūrtiğ mĭt Dōnnĕrgĕpōltĕr en̆tr̄ollt̆e dĕr tǖckĭschĕ Mārmōr.
(Homer, Übersetzung v. Voß.)
(Hor. Sat. 1. 9.)
Galopp. Verg. Aen. VIII 596: Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum.
XI 875: Quadrupedumque putrem cursu quatit ungula campum.
c. Vereinigung von Kongruenz und Harmonie. Z. B.:
(Voß, 70. Geburtstag.)
Diese Figur haben wir in § 28 (Das Schöne in der Lautmalerei. Klangschönheit)
sowie in § 93 (Rhythmische Malerei) besonders erwähnt und verweisen
daher auf die dort gegebenen Beispiele.
§ 55. Die Klimax.
Die Klimax (ἡ κλῖμαξ == Treppe, Leiter) oder Gradation ist die
Steigerung im Ausdruck, wenn der Dichter vom schwächeren zum
stärkeren Begriff oder Gedanken stufenweise (gradatim) übergeht, also
durch das Nachfolgende das Vorhergehende überbietet.
Beispiele der Klimax:
(Schiller.)
(Herder: Der gerettete Jüngling.)
Alle diese schönen, glänzenden Tugenden, die im Vatersöhnchen keimten, werden
ihn dereinst zu einem warmen Freund eines Freundes, zu einem trefflichen
Bürger, zu einem Helden, zu einem großen, großen Manne machen.
(Schiller: Räuber.)
(Grabbe.)
(Schiller, Wallensteins Tod III, 18.)
Oft knüpft der Dichter mit demselben Worte an (Anaphora), um dadurch
die Kraft und den Eindruck zu steigern:
(Herder.)
(Schiller, Braut von Messina.)
[204]Eine besondere Art von Klimax bildet Rückert durch Wiederholung
des Begriffs und daran sich reihende bedeutungsteigernde Ausführung. Wir
nennen diese Form für die Folge die Rückert-Klimax.
Man vergl. z. B. im „Wasserfall“ folgende Alexandriner-Distichen:
(Rückert, Weisheit d. Brahm. 197.)
§ 56. Nebenarten der Klimax.
Es sind die Antiklimax und die Häufung.
1. Antiklimax.
Die der Klimax entgegensetzte Figur, welche vom erhabeneren zum
schwächeren Gedanken niedersteigt (gradatio a majore ad minus) heißt
Antiklimax. Das Absteigen ist jedoch nur scheinbar; der letzte Begriff
hat doch die höchste Bedeutung.
Z. B.: „Wenn wir groß sind, so sind wir es überall, auf dem Throne,
im Palaste, in der Hütte.“ Dies ist eine Antiklimax. Wenn auch die Hütte
weniger ist als der Palast, so liegt doch hier der Schwerpunkt im Begriff „Hütte“.
Weitere Beispiele:
Wie? Du willst dich gegen deinen Schöpfer auflehnen? Aber worauf bist du
denn stolz? Auf deine Vernunft, auf dein Wissen, auf diese Bruchstücke, auf die
Splitter des Wahren, auf dieses eigentliche Nichtwissen?
(Hüffel in „Beruf“.)
Eine besondere Art von Antiklimax bildet Rückert in folgendem Beispiel:
(Rückert, Weish. des Brahm.)
[205]2. Häufung.
Die Häufung (coacervatio) ist eine Aneinanderreihung ähnlicher
oder verwandter Begriffe, Gedanken, Aussprüche. Sie hat in der
Form mit der Klimax Ähnlichkeit.
Vgl. Cic. Tuscul. 5, 2, 5 O vitae philosophia dux. etc. etc.
Beispiele der Häufung:
(Klopstock.)
(Wilh. Müller.)
(Rückert, Makamen.)
(Rückert im Napoleon.)
(Schiller in Piccolomini.)
Die Rückertschen Gedichte „Du meine Seele, du mein Herz“ oder: „Jch
liebe dich, weil ich dich lieben muß, ich liebe dich &c.“ sind Häufungen, wie
sie auch als Beispiele der Klimax interpretiert werden können. Als Beispiele der
Häufung vgl. noch: „Die Guten sinken nicht, die Guten wanken nicht, die
Guten leiden nicht u. s. w.“ Rückerts Ges. Ausg. XII, 273. Ferner in
Goethes Faust: „Ach neige du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig &c. &c.“
§ 57. Die Hyperbel.
Die Hyperbel (ὑπερβολὴ == superlatio) ist die Figur der Übertreibung.
Sie kennt in ihrer Bezeichnung weder die Grenzen des Wahrscheinlichen,
noch des Wirklichen und Möglichen. Die dichterisch erregte
Phantasie sieht die Gegenstände eben durch das Vergrößerungsglas
der steigernden Begeisterung an, ihr erscheint Manches in verklärter
Übertreibung, was der nüchtern prosaische Pedant sofort als Unwahrheit
erklären würde. Steigerung der Leidenschaft bewirkt Vergrößerung
der Hyperbeln. Man unterscheidet die naive Hyperbel und die Hyperbel
der Reflexion.
Die Hyperbel sollte nur sparsam und zumeist nur in hochpathetischen,
durch die Gefühle der Furcht, des Mitleids, der Freude gerechtfertigten Fällen
zur Anwendung gelangen. Wird sie bei der Schilderung gleichgiltiger Zustände
angewendet, so erscheint sie wie eine Parodie der pathetischen Hyperbel und
erreicht in komischen Dichtungen ihre Wirkung.
A. Die naive Hyperbel.
Bei der naiven Hyperbel hat die Phantasie des kindlichen Gemüts
keinen Zweifel an der Wahrheit des Gesagten.
Sie ist ─ ihrer metaphorisch=pathetischen Bedeutung entkleidet ─ häufig in
die gewöhnliche Sprache übergegangen in Redensarten, wie: „ich platze vor Wut“;
„vor Angst standen mir die Haare zu Berge“; „das Blut floß in Strömen“;
„sie standen im Kugelregen“; „sie war in Thränen gebadet“. Ferner in
Höflichkeitsformen, wie: „tausendmal um Entschuldigung bitten“; „gehorsamster
unterthänigster Diener“; wie endlich in der Schilderung. Naive Schilderungs=
Hyperbeln waren die für die kindlich=orientalische Phantasie der Jnder
berechnet gewesenen Hyperbeln in „Geschichte des Bhagirathas“ im Ramajana
(Book I Sect. 32─35 S. 50 der Jnd. Bibl.), wo u. A. erzählt wird,
daß Brahma dem Könige Sagaras aus einem Kürbisse 60,000 Kinder herauswachsen
ließ; daß der heilige Jahnus erzürnt über den Lauf der Ganga alle
Wasser des Stromes in sich aufnahm, obwohl diese unablässig nachströmten; daß
Bhagirathas im heißen Sommer zwischen 4 mächtigen Feuern die glühenden
Sonnenstrahlen auf sein entblößtes Haupt wirken ließ, während er im Winter
im Schnee schlief und sich nur von welkendem Laube nährte u. s. w. Eine
naive Hyperbel ist es, wenn es in Rückerts Ges. Ausg. XII, 128 heißt:
Weitere Beispiele der naiven Hyperbel:
(Schiller, Jungfrau v. Orleans).
[207](Shakespeare: Romeo und Julie.)
B. Hyperbel der Reflexion.
Jn der Hyperbel der Reflexion ist es die Empfindung, welche das
Bild auftreibt und vergrößert, die Leidenschaft, die den Begriff durch
das Bild idealisiert, die Phantasie, die die Anschauung in überschwengliche
Gebiete reißt, wobei aber der Gebildete die Übertreibung wie
einen Tropus empfindet und immer noch den Maßstab richtiger Beurteilung
der überspannten Bilder behält.
Solche Hyperbeln finden sich bei Hom. Jlias I. 249. IX. 385.
X. 437 und besonders XX. 226 ff., ferner in Rückerts Napoleon II. 86─88,
sowie daselbst S. 56, welches Beispiel zugleich als ironisch=sarkastische Hyperbel
gelten kann. Endlich finden sie sich besonders auch in den orientalischen Poesien
Rückerts.
Beispiele der Hyperbel der Reflexion:
Doch ich streifte den Ärmel zurück und schritt ─ an's Werk mit Elefantenappetit
─ und er sah mir zu mit Blicken ─ die mir wünschten zu ersticken, ─
bis ich nun verschlungen die beiden Fuhren ─ und von ihrem Dasein nur zeugten
die Spuren ─ da ward ich stumm wie die Nacht.
(Rückert, Mak.)
(Firdusi.)
(Kleist.)
(Calderon.)
(Haugs Hyperbeln auf Wahls große Nase.)
Noch hyperbolischer führt uns Lessings bekanntes Sinngedicht eine große
Nase vor:
Der hyperbolische Ausdruck, hervorgerufen durch die Leidenschaft des Zornes
und der Rache, zeigt sich z. B. bei Schiller in den Räubern:
O, ich möchte den Ocean vergiften, daß sie den Tod aus allen Quellen
saufen! ─ o daß ich durch die ganze Natur das Horn des Aufruhrs blasen könnte,
Luft, Erde und Meer wider das Hyänengezücht in's Treffen zu führen u. s. w.
§ 58. Nebenarten der Hyperbel.
Als solche sind anzuführen: 1. die Litotes. 2. die Emphasis.
1. Litotes.
Der Hyperbel steht die Litotes (λιτότης == Schlichtheit, Geringfügigkeit)
gegenüber, d. i. die Herabsetzung unter die Wahrscheinlichkeit.
Während die Hyperbel viel sagt und wenig meint, sagt die Litotes
wenig, meint aber viel. Z. B. Jch habe dir eine eben nicht angenehme
Mitteilung zu machen, d. h. eine sehr unangenehme Mitteilung.
Weitere Beispiele der Litotes:
Dürft' ich es hinhauchen in ein leises, schmeichelndes Lüftchen, sein Gesicht
abzukühlen! ─ Dies Blümchen Tugend ─ wär' es ein Veilchen, und er träte
darauf, und es dürfte bescheiden unter ihm sterben!
Miller: Höre Luise ─ das Bissel Bodensatz meiner Jahre; ich gäb' es hin,
hättest du den Major nie gesehen.
(Vgl. Schiller, Kabale und Liebe I, 3.)
2. Emphasis.
Die Emphasis (ἔμφασις von φαίνω Abbild, Nachdruck) könnte
auch als eine Nebenart der Litotes angesehen werden. Man versteht
darunter die Figur der Prägnanz, welch letztere mehr verstehen läßt,
als sie sagt.
Beispiele:
§ 59. Die Negation (Verneinung).
Die Figur der Negation bezeichnet die Verneinung einer Behauptung
oder einer Annahme oder das Fehlen eines Merkmals.
Sie wird angewendet, um der Affirmation eine kräftigere Wirkung
zu verleihen.
Beispiele der Negation:
(Rückert.)
[209](Rückert.)
§ 60. Die Sentenz.
Sentenz (γνώμη, sententia, Meinung, Spruch) ist ein bündiger
Gedanke von allgemeiner Gültigkeit und Wahrheit, ein Ausspruch, Sinnspruch,
Sittenspruch, auch Denk=, Lehr=, Kernspruch. Sofern sie ein
kleines, abgerundetes Ganzes bildet, wird sie zur bekannten didaktischen
Dichtungsgattung: der Gnome. Man unterscheidet einfache, aus einem
Satz bestehende, und zusammengesetzte, aus mehreren antithetischen
Sätzen bestehende Sentenzen.
Wird einer Schrift, oder einzelnen Abschnitten einer solchen,
eine Sentenz zur kurzen Andeutung der Tendenz oder des Jnhalts
vorgesetzt, so heißt sie Motto.
Man bezeichnet gewisse Sentenzen, welche bestimmt nachweisbaren Ursprungs
sind und, obwohl Einfälle (Sentenzen) Anderer, dazu verwendet werden, bei
passender Gelegenheit wie unsere eigenen Einfälle zu gelten, als „geflügelte
Worte“. (Vgl. Büchmanns geflügelte Worte und M. Lehmanns Sentenzen.
Berlin 1878.)
Die Sentenzen bieten die Lebensbeobachtungen erfahrener, weiser Menschen.
Sie eignen sich wegen ihrer Kürze und bildlichen Sprache zum Einprägen in's
Gedächtnis. Viele derselben haben sich Jahrhunderte lang durch Traditionen
erhalten. Der König Salomo glänzte durch seine Sentenzen. Eine Sammlung
der Araber weist mehr denn 6000 Sentenzen auf. Von den Persern hat
Saadi viele Sentenzen in seinem „Rosengarten“ aufbewahrt. Von den Alten
sind es vor Allem Solon, Simonides, Pythagoras, denen wir Sentenzen verdanken.
Jm 2. Jahrhundert verfaßte ein gewisser Dionysios eine Sammlung
zweizeiliger Sentenzen, die durch das ganze Mittelalter gelesen wurden. Jn
neuester Zeit haben die Sentenzen Fr. Rückerts in Weisheit des Brahmanen
verdiente Berühmtheit erlangt.
Beispiele der Sentenz:
a. Einfache Sentenzen.
(Schiller.)
(Schiller.)
(Schiller.)
(Schiller.)
(Schiller.)
[210]b. Zusammengesetzte Sentenzen.
(Rückerts Weisheit des Brahm.)
(Ebenda.)
(Schiller.)
(Freiligrath.)
(Otto Banck.)
(Frithjofs Sage II.)
§ 61. Die Präsensfigur.
Eine wirkungsvolle rhetorische Figur ist die Präsensfigur, welche
für die Vergangenheit oder Zukunft die Gegenwart, das sog. historische
Präsens einführt, somit die Zeitform vertauscht.
Sie setzt Vergangenes wie Zukünftiges plötzlich in die Gegenwart, um
beides möglichst anschaulich erscheinen zu lassen.
Beispiele der Präsensfigur:
(Platen.)
(Heine.)
(Josef Grönland.)
(Schiller.)
(Gustav Pfarrius.)
Vgl. noch Chamisso: „Die Sonne bringt es an den Tag.“
§ 62. Die Jnversion oder Wortversetzung.
Die Jnversion (von inversio == Umstellung == ὑπέρβατον) ist
die Abweichung von der natürlichen Stellung der Worte (z. B. der
Frau Beruf, statt der Beruf der Frau).
Sie sucht die Gedanken oder Begriffe durch eigentümliche, den
grammatischen Regeln zuwiderlaufende Wortstellung hervorzuheben.
Z. B. Bei einem Wirte wundermild, statt: bei einem wundermilden
Wirte; oder: Errungen, früh errungen hat er seine Palme, der treue
Streiter, statt: der treue Streiter hat seine Palme früh errungen.
Die Regel wäre: Erst Subjekt, dann Prädikat, dann Objekt. Aber
namentlich in der Lyrik ist die Anwendung völlig abweichend von dieser Regel.
Kaum ein Satz findet sich, der nicht invertiert wäre. Und es ist dies nötig,
wenn der Dichter den Anforderungen an Rhythmus und Reim genügen soll.
Hauptsächlich der Reim zwingt oft, das Begriffswort aus dem Zusammenhang
zu reißen und an's Ende des Satzes zu stellen, so daß es aller Kunst des
Dichters bedarf, dem Ausdruck das Gepräge des Ungekünstelten zu wahren.
Beispiele der Jnversion:
O wie sind sie lieblich die Thränen, die Tugend und redlicher Dank auf die
Wangen gießen (statt: wie sind die Thränen lieblich).(Geßner.)
Das ist der Preis, den zahlen du für die Liebe mußt (statt: den du .. zahlen
mußt).(Jda von Düringsfeld.)
Mit dem Griffel an die Wand eine unsichtbare Hand schreibt geheimnisvolle
Züge (statt: eine unsichtbare Hand schreibt mit dem Griffel geheimnisvolle Züge
an die Wand).(Ludw. Foglar.)
(Ludwig Schneegans.)
(Die 4. Zeile dieses Beispiels gehört grammatisch an den Anfang der Strophe.)
Die Thräne, die in diesem trüben, verloschenen, nach Troste schmachtenden
Auge schimmert, wie rührend ist sie im ganzen Gemälde der Menschheit (statt:
wie rührend ist die Thräne).(Herder.)
Undeutsch sind Jnversionen wie folgende Rückertsche Zerreißung von
„anhauchen“:
Unterarten der Jnversion.
Wie die Jnversion mit den Regeln der Grammatik im Widerspruch
steht, so mit den Gesetzen der Logik das sog. Hystĕron-protĕron
(ὕστερον πρότερον). Es setzt die beginnenden und begründenden Vorstellungen
ans Ende und macht das Spätere zum Früheren.
Beispiele des Hysteron-Proteron:
Jhr müßt das Feld bauen und reuten. (Bauen als das Wichtigere ist in
dieser Hysterologie dem Reuten vorangestellt.) Jn Rom erzogen und geboren.
(Man wird doch zuerst geboren.)
Eine Art Jnversion ist die Hypallage (ὑπαλλαγή == Verwechslung).
Sie ist die Figur, welche einzelne Teile des Satzes miteinander
verwechselt, regelmäßige Konstruktion mit unregelmäßiger vertauscht,
besonders das zu einem Substantiv gehörige Adjektiv mit einem
andern verbindet. Z. B. Der Bund verletzter Freundschaft, für: Der
verletzte Bund der Freundschaft.
Weitere Beispiele:
Jhm schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süßen Mund Apoll (statt:
süße Lieder).(Schillers Kraniche d. J.)
Laß mir den besten Becher Weins in purem Golde reichen (statt: besten
Wein).(Goethes Sänger.)
Samt dem grünenden Korb Maililien hinter dem Ofen (statt:
grünender Maililien).(Voß, Der 70. Geburtstag.)
§ 63. Die rhetorischen Figuren der Einschaltung, Auslassung
und Zusammenhangslosigkeit.
Zu ihnen zählen wir: 1. Die Parenthese. 2. Die Ellipse.
3. Die Anakoluthie. 4. Die Aposiopesis.
1. Parenthese.
Die Parenthese (παρένθεσις == Einschaltung == interpositio)
ist die Unterbrechung eines Gedankens durch einen andern, eine Einschaltung,
die nicht wenig zur Belebung und Wahrscheinlichkeit des
Ausdrucks beiträgt. Sie kann in allen Formen und mit allen Figuren
auftreten: im Ausruf, in der Frage u. s. w.
Beispiele der Parenthese:
(Klopstock.)
(Max Moltke.)
[213](Herwegh.)
(Albert Möser.)
(Karl Schönhardt, Uhlandslinde.)
Zwei Parenthesen neben einander dehnen die beiden Glieder des Satzes
zu weit auseinander und sollten in der Lyrik nicht zur Anwendung gelangen.
Beispiele von zwei Parenthesen:
(Herm. Schmid.)
(Kleist, Penthesilea.)
2. Ellipse.
Die Ellipse (ἔλλειψις == Auslassung == omissio) ist diejenige
wirkungsvolle Figur, welche absichtlich solche Worte oder Satzteile
unterdrückt, die durch den Sinn selbst leicht ergänzt werden können.
Sie findet hauptsächlich im Sprichwort Anwendung.
Beispiele:
Jung gewohnt, alt gethan.
(Anstatt: Was man jung gewöhnt, wird man im Alter üben.)
Heute rot, morgen tot.
(Anstatt: Was heute mit der Farbe des Lebens geziert ist, kann morgen
schon dem Tode verfallen sein.)
(Statt: Jhr seids gewesen!)
(Goethe, Zauberlehrling.)
(Statt: so werden sie antworten: Das ist Lützows u. s. w.)
(Körner.)
[214](Statt: so werden sie euch antworten: Nach Freiheit strebt u. s. w.)
(Goethe.)
3. Anakoluthie.
Die Anakoluthie (griech. ἀνακολουθία == die Zusammenhangslosigkeit)
bezeichnet jene Unrichtigkeit in der Folge, jene oft fehlerhafte
Abweichung von der Konstruktion, welche mit einem Nachsatz fortfährt,
den man nach dem Vordersatz nicht erwartet. Somit ist Anakoluth
ein Satz, dessen Ende dem Anfang grammatisch nicht entspricht.
Der Dichter ─ besonders der Lyriker ─ wählt Anakoluthien, um durch
ihre plötzliche Änderung der Redeweise Effekt zu erzielen.
Tadelnswert ist die unbeabsichtigte Anakoluthie, wenn z. B. der Redner
während des Sprechens den Vordersatz vergißt und gezwungenermaßen einen
falschen Schluß bringt.
Beispiele der Anakoluthie:
a.
(Herm. Schmid.)
(Hier bezeichnet der Schluß der 3. Zeile die Anakoluthie. Am Schluß
der 4. Zeile findet sich auch eine Ellipse, nämlich: Ruf ich euch Eltern zu.)
b.
(Goethe, Hermann und Dorothea.)
4. Aposiopesis.
Die Aposiopesis (ἀποσιώπησις == Verschweigen == reticentia)
ist eine in der Poesie nur selten gebrauchte rhetorische Figur. Sie
bedeutet das absichts- und bedeutungsvolle Abbrechen des Satzes an
der Stelle, an welcher die Hauptsache erwartet wird, die nun erraten
werden muß (z. B. Jch will euch ─! == Quos ego ─! Virg.
Äneide I, 139). Sie ist der Ellipse verwandt, ja, man könnte sie als
eine in Leidenschaft oder zu rhetorischen Zwecken gebrauchte Ellipse
bezeichnen.
Beispiele:
(Schiller, Jungfrau von Orleans.)
(Freiligrath.)
(Schiller.)
[E215]Viertes Hauptstück.
Betonungslehre.
(Prosodik und Rhythmik.) ──────
Fischart, † 1589.
§ 64. Grundbegriffe der Betonungslehre.
1. Die Sprache läßt sich in Töne auflösen, die in geschlossenen
Silben nacheinander erklingen und beim Aussprechen durch stärkere
oder schwächere Betonung hervorgehoben werden.
2. Die durch den Ton ausgezeichneten Silben heißen Hebungen
oder Arsen (acuti, σύντονοι). Jhnen gegenüber stehen die Senkungen
oder Thesen (graves, ἀνειμένοι == ohne Spannung).
3. Man deutet die Hebungen durch Striche an (–, oder auch '),
die Senkungen durch Häkchen (⏑).
4. Arsen und Thesen in ihrer Vereinigung bilden Metren oder
Versmaße.
5. Die Lehre von den Metren und ihrer Verwendung heißt Metrik.
6. Die Lehre von der Betonung der Silben heißt Prosodik und
Rhythmik.
1. Es würde ermüdend wirken, wenn alle Töne gleichmäßig erfolgen
würden, wenn alle Silben gleichbetont, gleichlang und gleichschwer wären.
Daher erhalten bestimmte Silben eine phonische Auszeichnung, einen tonlichen
Nachdruck.
Man nennt diesen Nachdruck den Accent (Redeton). Der Accent ist
der Pulsschlag der Rede; er ist Seele und Leben des gesprochenen Wortes.
Jeder Verstoß gegen den Accent kommt einer Verstümmelung des Klangbildes [216]
gleich; ja, er bedeutet zuweilen die Vernichtung des Wortsinnes. Man betone
z. B. Gĕbēt als Gēbĕt, und man hat den Begriff getötet.
2. Die Silben in der Arsis oder in der Hebung nennt man betont,
accentuiert, schwer, zuweilen auch lang. (Vgl. § 65.) Die Silben in
der Thesis nennt man ─ je nachdem sie wenig oder keinen Ton haben ─
mitteltonig, unbetont, leicht, kurz.
3. Wir wählen zur Bezeichnung von Arsis und Thesis dieselben Zeichen,
mit welchen auch die weiter unten zu berührende Quantität in den klassischen
Sprachen angedeutet wurde und noch bezeichnet wird. Der Strich bedeutet
jedoch bei uns ebensowohl lang als schwer oder betont; das Häkchen ebensowohl
kurz als leicht oder wenig betont. Wir legen auch den Sinn der Länge
und Kürze in Strich und Häkchen, wie weiter unten aus dem Kapitel über
kurze und lange Silben ersichtlich sein wird.
Das Wort Vermögen enthält beispielshalber die betonte Silbe mög und
die unbetonten Silben ver und en; wir bezeichnen es daher folgendermaßen:
Vĕrmȫgĕn (oder Vermö́gen).
4. Ein Metrum kann nur eine einzige Arsis, wohl aber zwei Thesen
haben. Z. B. | – ⏑ | oder | – ⏑ ⏑ | oder | ⏑ – | oder | ⏑ ⏑ – | .
Ein Metrum kann sich durch das ganze Gedicht hinziehen. Z. B.
(Geibel.)
Die beim Lesen wahrzunehmende taktmäßige Bewegung nennt man den
Versrhythmus. Ein tonlich aufgefaßtes Metrum ist zugleich eine rhythmische
Form.
5. Da die Silben das Material für die Metrik bilden, so ist die Kenntnis
der Prosodik und Rhythmik für die Metrik unerläßlich.
6. Die Betonungslehre behandelt 1. alle in der poetischen Sprache zur
Erscheinung gelangenden rhythmischen Formen; 2. sie beschäftigt sich mit der
Messung, oder besser gesagt ─ Wägung der Silben. Sie zerfällt
somit in Prosodik und Rhythmik.
I. Deutsche Prosodik.
§ 65. Die deutsche Prosodik oder Tonmessung im Gegensatz
zur altklassischen.
Prosodie (von προσῳδία == Aussprache einer Silbe) war bei den
Griechen und Römern (und seit Klopstock und J. H. Voß bis in die
Neuzeit teilweise auch bei uns) lediglich die Lehre von den Längen
und Kürzen der Silben, also Zeitmessung. Für unseren deutschen [217]
Standpunkt, der nur nach der Tonstärke der einzelnen Silben (nach dem
Accent) fragt, ist sie die Lehre von der Betonung, also Tonmessung.
Die altklassischen Sprachen waren quantitierende, insofern die
zeitliche und räumliche Bedeutung der Silben (in Hinsicht auf Buchstabenzahl
und die für ihr Aussprechen nötige Zeit) bei ihrer Beurteilung
entscheidend war; unsere Sprache dagegen ist eine accentuierende,
insofern für uns beim Vortrag der Silben vorwiegend
der Accent maßgebend ist.
Jn unserer deutschen Prosodik bildet der Accent auch die Länge
und trifft somit notwendig mit dieser zusammen. Der Accent kommt
nur der bedeutungsvolleren Silbe zu. Er verlängert die Silbe ebenso,
wie eine in der Thesis stehende, von Natur lange Silbe in Folge des
tonlichen Übergewichts der Arsis kurz gelesen und empfunden wird
(z. B. der langentbehrten Heīmăt Flur).
Die Zeitmessung, welche in den klassischen Sprachen die zum Aussprechen
einer Silbe erforderliche Zeitdauer bestimmte, unterschied dort nur lange und
kurze, gedehnte und geschärfte Silben, und nannte die Bedeutung einer Silbe
nach Länge oder Kürze des in derselben enthaltenen Vokals und nach Stärke
und Schwäche der am Schluß nachtönenden Konsonanten ─ ihre Quantität.
Ein langer Vokal oder ein Diphthong machte die Silbe ihrer
Quantität nach lang (z. B. cōgo, āurum), ein kurzer machte sie kurz,
(z. B. pĭus, dĕus, trăho), sofern auf denselben nicht zwei oder mehrere
Konsonanten folgten, was man Position nannte (z. B. ēst, rēstare, dūx, sūbsidere).
Hierbei kam es auf die Bedeutung im Worte gar nicht an, so daß
z. B. die kleine Partikel lang sein konnte, während das zweisilbige Adjektiv
aus zwei Kürzen bestand (z. B. sī bĕnĕ).
Schon in der ältesten historisch bezeugten Form der indoeuropäischen
Sprachen zeigt sich der Unterschied im Zeitmaß nach den Vokalen.
Es gab einfache und gesteigerte, d. h. doppel- und auch dreizeitige Vokale
nach dem Zeitmaße (wofür Guna und Vriddhi im Sanskrit, d. i. untergeordnete
und volle Vokalsteigerung [z. B. kurzes a und i wird langes e,
kurzes a und u wird langes o, aber a und ri wird ar &c.] ein Beweis
sind). So auch im Griechischen, Lateinischen, ja auch im Altdeutschen. Jnnerhalb
der deutschen Sprache ist nun der Unterschied in Versen nach sogen. ein=,
zwei- und dreizeitigen Vokalen nach und nach durch ein Vorherrschen des Accents
verdunkelt, wenn auch nicht ganz aufgehoben worden. Der Accent bezieht sich
eben nicht auf das Zeitmaß, sondern zeichnet zu logischem Zweck durch die
lebendige Stimme eine Silbe ─ gleichviel ob an sich lang oder kurz ─ vor
der andern aus, wodurch sie eben lang wird. Während die orientalischen
Zweige der indogermanischen Sprachen hierin freie Bewegung haben, ist
das Griechische auf das sog. Dreisilbensystem beschränkt, indem nur eine der [218]
drei letzten Silben betonungsfähig ist. Der Accent läßt sich auf diejenige
Silbe nieder, durch deren Betonung Wohlklang erzeugt wird, er
ist somit euphonischer Natur. Da er nie über die drittletzte
Silbe zurückgeht, so trifft er in längeren Wörtern nicht die
Wurzel oder den Stamm, sondern die Ableitungs- oder Flexions=
Silben.
Die Griechen wurden wahrscheinlich zu ihrem Maße nach Längen und
Kürzen durch ihre vokalschweren, tönenden Endungen (z. B. der Deklination)
bestimmt. Man hat sich gesagt, daß man mehr Zeit zum Aussprechen da
brauche, wo Vokale zusammentreffen, wo Doppelkonsonanten durch Zusammenziehung
entstehen, als da, wo einfache Vokale stehen oder ein Vokal mit dem
einfachen Konsonanten verbunden ist. ─ Nach diesen und ähnlichen Rücksichten
haben die Metriker ihre durch unzählige Ausnahmen und feine Distinktionen
verwickelte Lehre über die Silbenquantität zusammengestellt, ─ eine Lehre, bei
welcher also nicht wie in unserer neueren Metrik der Accent Sinn und Stellung
des Wortes in der Rede unterscheidet, sondern die äußere Gestalt und die
Zusammensetzung aus bestimmten Lauten und Lautkombinationen.
Bei aller Vollendung hat die griechische Metrik doch noch ein recht
weites Gewissen. Man beachte beispielsweise nur, wie zuerst das Grundgesetz
aufgestellt wird, daß zwei Kürzen eine Länge messen, und wie hinterher
Über- und Unterlängen, irrationelle Trochäen, logaödische Verse, aufgelöste
Dochmien &c. gelehrt werden, die doch kaum mehr als Prosa sind.
Zweifelsohne hat unsere Prosodik vor der griechischen den Vorzug, daß sie
nicht gestattet, innerhalb des Verses wesentlich anders zu betonen, als es der
Sinn fordert. Auf diese Weise individualisiert sie und bringt so die Natürlichkeit
und Wahrheit der Darstellung mit der Schönheit und der Energie des
Rhythmus in Einklang.
§ 66. Der deutsche Accent als Element unserer Prosodik.
1. Der deutsche Accent als wichtigstes Element im metrischen Bau
der dichterischen Rede hat die altklassische Quantität verwischt.
2. Er wirkt im Gegensatz zur griechischen Betonung durch ein
Forte der Aussprache.
3. Er hat unsere Sprache zur accentuierenden entwickelt.
1. Der deutsche Accent wird von der begrifflich bedeutsamsten Silbe angezogen
und ist somit logischer Natur. Die logische Attraktion ist das
Prinzip, auf welchem sämmtliche, in den späteren Paragraphen zu entwickelnden
deutschen Accentgesetze beruhen. Das euphonische Prinzip läuft neben dem
logischen her und fällt meist mit ihm zusammen, z. B. in Wörtern wie
Vater, Hoffnung. Das logische Prinzip dominiert. So hat in Folge dieses
Prinzips die besondere Hervorhebung der Stammsilben (der Silbentöne) die
Endungen vernachlässigt, die Töne abgeschwächt, verschluckt, abgeschnitten. So
hat der dem Sprachgebrauch folgende Accent im Deutschen (wie auch in allen [219]
modernen Sprachen) die Quantität mehr oder weniger verwischt. So ging
nach und nach das Gefühl für die altklassische Quantität verloren.
2. Die griechische Sprache, in der jede Silbe den Verston erhalten kann,
hebt die betonte Silbe durch ein steigendes Jntervall der Stimme, also durch
ein musikalisches Mittel hervor; die deutsche durch eine stärkere Betonung.
Die griechisch=römischen Verse zeigen beide Rücksichtnahmen auf Quantität und
Betonung; die deutsche Metrik aber hat durch den Aufwand an Kraftanstrengung
bei der betonten Silbe die schwächer betonten hinsichtlich der Quantität alteriert
und die Tonhebung oder Tonsenkung zum Kriterium des Verses erhoben, so
daß nach und nach die Naturlängen nicht alle völlig mehr gefühlt wurden, ─
die Positionslängen, die überhaupt kaum beachtet wurden, so gut wie gar nicht.
(Eingehenderes liegt diesem Werke zu fern. Der strebsame Lernende
findet es: für das Griechische bei Göttling und Curtius; für das Lateinische
in Corssens preisgekröntem Werke: Über Aussprache, Vokalismus und Betonung
der lat. Sprache. 2. Aufl. Lpz. 1868; für das Vulgärlatein in
Schuchardts Werk; für's Allgemeine in F. Bopps Accentuationssystem des
Sanskrit und Griechischen; für Einzelnes in Grammatiken [z. B. Kühner].
Übrigens ist gegenwärtig unter den Forschern Europas und Amerikas eine
allgemeine Untersuchung über Hierherbezügliches im Gang, worüber die neuesten
Jahrgänge der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung &c. Zeugnis ablegen.)
3. So wurde denn die deutsche Sprache im Gegensatze zur quantitierenden
lateinischen und griechischen Sprache eine accentuierende, die man höchstens
insofern eine quantitierend=accentuierende nennen könnte, als sich die Quantität
lediglich an die Bedeutsamkeit der Silben knüpft.
§ 67. Das accentuierende Princip war geschichtlich das
ursprüngliche.
Mit dem Accent war ursprünglich die sog. Silbenquantität verbunden,
sofern nämlich die Silbe, auf welche der Nachdruck kam, von
jeher als etwas länger, weil schwerer empfunden wurde.
Jn einzelnen Fällen ließe sich auch im Griechischen mit dem Accent die
Quantität wahren, z. B. ἄνθρωπος ist gleichsam
Grōßvātĕr
(Grṓßvātĕr), dessen drei Silben forte, mezzo forte, piano gesprochen werden,
hat fast die gleiche Quantität. Noch besser wäre diese Verbundenheit bei jedem
aus einem Wortfuß bestehenden Trochäus oder Daktylus nachweisbar (z. B.
im Deutschen bei Wörtern wie: Tūgĕnd, līeblĭchĕr, wo Accent und Quantität
zusammenfallen, weil der Accent die Silbe verlängert).
Nach Quintilian soll bei den antiken Sprachen „das Maß des Gehörs“,
der natürliche Gang der Betonung das Entscheidende in der Silbenmessung
gewesen sein, bis sich nach und nach die Kunst und die Wissenschaft der [220]
Sache bemächtigten und die Metriker ihre Aufgabe ohne Rücksicht auf eine
Accentlehre lösten.
Sicher ist, daß die Griechen erst später ihre Silben maßen, da
ihre Verse wahrscheinlich wie unsere Recitative gesungen wurden, ein Umstand,
der sich dadurch beweist, daß man nach ihnen tanzte, wenn auch nicht in
unserem modernen Sinn. (Hexameter == Tanzschritt.)
Wilh. Jordan ist der Ansicht, daß es eine Sprache, die auch im
ungesungenen Vortrag ein anderes rhythmisches Gesetz befolge, als das der
Betonung nach dem Gedankengewicht der Silben, unter gebildeten
Menschen niemals gegeben haben könne. Die Aufsteller der antiken Metrik
hätten nur den Text ohne die Musik gehabt. Sie hätten nicht mehr die recitativischen
Melodien geahnt, die dem Dichter der Jlias und der Odyssee altgegeben
oder von ihm selbst und Anderen neu gemodelt nach alten Mustern als Erstes
im Ohre summten, während er auf Hexameter sann, gleichsam als musikalische
Matrizen, in welche er seine Worte preßte, wodurch sie dann ihre rhythmische
Prägnanz erhalten hätten. Einzig aus diesem Wortgepräge, ohne an seine
erste Bestimmung zu denken, hätten sie Regeln abgezogen und sie als prosodische
Sprachgesetze aufgestellt; als ob diese Worte in dieser ihrer Gesangstellung und
gewaltigen Umgestaltung so und nach diesen Regeln zu Lebzeiten des Epos
jemals wären gesprochen worden. So kamen sie auf die Theorie der festen
Längen und Kürzen, die wir hundertmal widerlegt sehen durch den Kürzendienst
auch der vollsten Vokale und Diphthonge. Die ganze Wahrheit reduziert
sich auf die Thatsache: daß die musikalischen Arsen und Thesen so
sangbar als möglich vokalisiert und artikuliert waren. Um auf
einer Hauptnote des Takts und der Melodie angehalten zu werden, eignen sich
nur die breiteren Vokale unter allen Umständen. Andere werden tauglich durch
sog. Position. Auf die schwach betonten und kurzen Noten lassen sich zwar
alle Vokale singen und wurden auch von den alten Rhapsoden gesungen; aber
die einen geben sich gefälliger, bequemer dazu her als die anderen und wurden
daher weit öfter so gesungen. Dies sei das ganze Geheimnis, dies die ganze
Wahrheit der Theorie der sog. Längen und Kürzen. Jordan fragt: Wenn ein
Gelehrter 2868 n. Chr. Geburt die deutsche Poesie des 19. Jahrhunderts
nach einem unter den Noten stehenden Text einiger Opernpartituren schreiben
wollte, vorausgesetzt, daß bis dahin die Musik genesen sei vom Blödsinn ihres
gegenwärtigen Verhaltens zur Poesie und Niemand mehr daran denke, daß
ein Komponist Hauptaccente auf tonlose Silben gelegt habe und umgekehrt:
welcher absonderlichen Metrik müßte uns dieser Gelehrte bei Stellen beschuldigen
wie:
? Ähnlich aber hätten die Aufsteller der
antiken Metrik verfahren. Die Accente verändern sich im Laufe eines
halben Jahrtausends, weshalb zweifellos die Accente über dem homerischen
Text oft recht unrichtig stehen, so daß sicher die Wortbetonung mit der
Versbetonung ursprünglich öfter zusammengetroffen sein wird. Endlich sei [221]
diese halbrichtige antike Metrik nicht unmittelbar auf uns gekommen. Sie
durchlief den Weg der römischen Dilettanten und Nachahmer. Diese waren die
Muster des Mittelalters und gaben jener trostlosesten Epoche, welche Homer
weit unter Virgil stellte, ihre Bildung. Jordan ruft aus: Wir haben uns
allmählich an die Ungeheuerlichkeit der Wortstellung der römischen Dichter gewöhnt;
man hat es uns so lange eingetrichtert, sie sei schön, bis wir daran
glaubten. ─ Wir fügen hinzu: Wie sich der weiter gebildete ästhetische Sinn
über die Gewöhnung an's Hergebrachte, und über die Autorität emporschwingt,
so wird er sich endlich auch von den Abstraktionen der antiken Metriken emancipieren,
─ ja, er hat sich bereits davon losgerungen!
Wenn es wahr ist, was ein gewiegter Sprachforscher behauptet, daß es
im Anfang unserer Sprache nur die drei einfachen Vokale i, a, u neben
nur einfachen Konsonanten gegeben habe und Doppelkonsonanten
wie Doppelvokale &c. erst später durch Silbenzusammenziehung entstanden seien,
so ist schon dadurch bewiesen, daß ursprünglich von Quantität keine Rede sein
konnte, dieselbe vielmehr erst später als etwas Künstliches aufkam. Jedenfalls
entwickelten sich zuerst die allgemein musikalischen Gesetze: die phonetischen,
melodischen, rhythmischen.
§ 68. Accent und Quantität im Althochdeutschen.
1. Jm Althochdeutschen wurde neben dem Accente auch noch der
Quantität eine gewisse Rücksichtnahme gewidmet.
2. Schon die Allitteration und die Assonanz beweisen das accentuierende
Princip. Dasselbe erhielt gesteigerte Pflege durch Einführung
des Reims und die damit verbundene Berücksichtigung der durch den
Reim ausgezeichneten Silben.
1. Wenn im Althochdeutschen die hochtonige Silbe infolge ihres Vokals
oder infolge der Position lang war, so kam wegen dieser Länge der nächste
schwere Accent schon auf die nächstfolgende Silbe (z. B. ní gískeíde; oder
skálkón und wérkón); wenn sie kurz war, so kam der Accent auf die zweitfolgende
Silbe (z. B. ságené und klágené in den Nibelungen). Solche Wörter
mochten geklungen haben wie die künstlichen Längen in den humoristischen
Dichtungen Eichrodts, der z. B. im Hortus deliciarum reimt:
Bei den Versen im Althochdeutschen, die oft mit einem Auftakt (Anakrusis)
begannen, wurde nur nach Hebungen skandiert und konnten daher ─ wie obige
Beispiele ersehen lassen ─ die Senkungen sogar einmal ganz fehlen. Wir [222]
geben zum Belege einige Verse aus dem 28. Kap. des 1. Buches der S. 43
d. B. erwähnten Evangelienharmonie: Krist von Otfried mit der neuhochdeutschen
Übersetzung Johann Kelles. Der Leser wird bezüglich des Accents
ersehen, wie jede Langzeile 8 Hebungen hat, wie ferner jede Langzeile aus zwei
Kurzzeilen besteht, deren letzte Hebungen einen stumpfen Reim bilden, wie jede
Kurzzeile vier Hebungen enthält, wovon 2 den Hochton, 2 den Tiefton tragen,
wie sich die Senkungen einreihen, wie mehrfach ein Auftakt vorausgeht, wie
der Hochton oder Hauptaccent in der Regel an der Stammsilbe haftet und der
Nebenton (Tiefton) meistens den Bildungssilben zufällt und wie je 2 Langzeilen
eine einfache epische Strophe bilden:
Nach und nach gewöhnte sich das Ohr so sehr, den Accent auf das
logisch Bedeutende (d. h. auf die Stammsilbe) zu legen, daß die Rücksicht auf
die Quantität schwand.
2. Durch den Schlußreim Otfrieds erhielt der Accent besondere
Pflege und zeigte sich sodann in der Folge allbestimmend.
Jakob Grimm sagt, daß die deutsche Sprache die feineren Dichtungsweisen,
die in Allitteration und quantitierender Messung bestanden ─ (und die
sie in alten Zeiten besessen [?]) durch das Aufkommen des Reims aufgegeben
habe; und Lachmann weist nach, daß von nun an in der althochdeutschen
Verskunst der Accent seine Herrschaft entfaltet
habe. Der Accent deckte die Quantität. Diese gipfelte jetzt nur
noch in dem Satze: Wenn zwischen zwei Hebungen eine ein= oder zweisilbige
Senkung fällt (– ⏑ – oder – ⏑ ⏑ –), so ist jederzeit die Hebungssilbe lang,
weil betont, welches Gesetz wir im § 80 als für unsere neuhochdeutsche Sprache
ausschließlich anwendbar nachweisen werden.
Der erste, welcher seine Schüler zur Bezeichnung des Tones deutscher
Wörter anhielt, war Hrabanus Maurus, der Lehrer Otfrieds. Er ist
also gewissermaßen der Begründer und Vater der deutschen accentuierenden
Prosodik, die bis heute noch nicht in feste Regeln gebracht wurde. Wenn auch
schon das Glossarium des h. Gallus (wahrscheinlich aus dem 7. Jahrh.)
z. B. die langen Vokale meist durch Verdoppelung bezeichnet und Circumflexe
oder Akute zur Bezeichnung der Längen, der Diphthonge &c. schon vor Hrabanus
sehr vereinzelt vorkommen, so finden wir doch die Betonungsbezeichnung
erst bei Hrabanus' Schüler Otfried angewandt, sodann häufig in Handschriften
des 9. Jahrh. und der Folgezeit.
Lachmann (in Abhandl. d. k. Akad. d. Wiss. z. Berl. a. d. Jahre 1832.
Berl. 1834. Bd. II. S. 235 ff.) sagt, Otfried sei der einzige, der kein
Bedenken zeige, die Länge der Vokale anzudeuten. Wenn man seine 2 oder
gar 3 Accente über íó íú und wenigen ähnlichen abrechnet, so haben bei ihm
nur die höchst betonten Wörter jedes Satzes den Accent, in einer Langzeile in
der Regel 4 (oft weniger und nur ausnahmsweise einmal mehr), natürlich
jedesmal auf der höchsten Silbe (eine große Hilfe für den Vortrag!). Die
Accente bezeichnen bei Otfried das Versmaß insofern, als sie in jeder Reimzeile
in der Regel zwei starke Betonungen vor zwei schwächeren hervorheben (─́ – ─́ –).
Wenn das Betonungsgesetz anderer Sprachen ein mehr oder weniger
gezügeltes Eilen zum Ende der Wörter ist, so ist dagegen die deutsche
Betonung in jener Zeit ein Herabsteigen, eine gemäßigte Entwickelung
zum festen Anfang. Die Betonung der ersten Silbe
jedes Wortes (der Stammsilbe) bleibt Regel in sämtlichen deutschen Sprachen,
obwohl wir sie bereits erschüttert finden, wo wir die Betonung zuerst kennen
lernen. Althochdeutsche Wörter, die mit den Partikeln ir, int, zi (bei Otfried)
zusammengesetzt sind, haben den Hauptaccent ohne Ausnahme nicht auf der
voranstehenden Partikel. Lachmann meint, es war eben das Gefühl für die
Quantität nicht stark genug, um zu gestatten, daß diese Vorsilben durch nachfolgende
Konsonanten verlängert eine Hebung und Senkung füllen.
Die regelmäßigen Abweichungen von dem Hauptgesetze der deutschen
Accentuation jener Zeit, daß die erste Silbe des Worts den Ton habe, beschränken
sich auf wenige Zusammensetzungen und Präpositionen. Nachlässigkeit
und Verwilderung schien es, daß diese Tonverschiebung auch einzeln in andere
Zusammensetzungen eindrang; ebensowenig durchgeführt findet sie Lachmann in
dem Fall der Enklisis zweisilbiger Personalpronomina: „Fremde Wörter, zumal
Namen, bequemen sich nicht immer der deutschen Accentregel.“ Lachmann sagt
gegen den Schluß seiner Abhandlung (S. 265): „Jn der Accentlehre anderer
Sprachen pflegt man, so weit nur die einzelnen Wörter für sich zu betrachten
sind, sich mit der Bestimmung des Hochtons zu begnügen. Von Beachtung des
Nebenaccents werden sich bei den alten Grammatikern wenig Spuren finden,
wie die Bemerkung des Nigidius Figulus, daß in dem Vokativ, der später zu
Gallus Zeit Valéri gesprochen ward, der Accent von der ersten Silbe stufenweise
herabsteige, also Válèrī, nicht so wie wir die dritte über die zweite erhebend
aussprechen, Válerī̀ē. Etwas freier gebaute italienische Verse, wie die
des Pulci, scheinen oft einer der notwendigen Cäsuren zu entbehren, wenn
man nicht auf den Nebenaccent achtet, wodurch die italienischen Grammatiker
sich mehr auf diesen Punkt leiten lassen mußten. Jm Deutschen ist man darauf
jederzeit aufmerksam gewesen, und seit dem 17. Jahrh. mußte man es,
weil nicht der gewöhnlichste Vers ohne Beachtung des Tieftons der
dreisilbigen Wörter zu Stande gebracht werden konnte. Bei der Nachahmung
antiker Maße ward das Ohr noch dafür geschärft, und J. H. Voß hat
die Lehre ziemlich bis in's Feinste vollendet. Nur das abweichende Gesetz der
alt- und mittelhochdeutschen Betonung der Nebensilben, (das zuerst aus den
mittelhochdeutschen Reimen entdeckt wurde) war noch zu finden. Aus den
weniger mannigfaltigen Otfried'schen Reimen wäre vielleicht die richtige
Lehre schwerer abzuleiten gewesen: einmal erkannt, fand sie sich auch
in diesen leicht wieder.“
§ 69. Accent und Quantität im Mittelhochdeutschen.
1. Jm Anfange des 13. Jahrh. und in der Folgezeit wurden
Tonzeichen (zur Bezeichnung des Accents) immer seltener; sie fanden
sich noch hie und da, um die tonliche Bevorzugung des Reims anzuzeigen.
Der Quantität ließ man insofern noch eine (allmählich
verschwindende) Rücksicht angedeihen, als man noch die Längen und
die Diphthonge bezeichnete.
2. Mit der Herrschaft des Reims begründete sich zusehends die
Herrschaft des Accents, besonders im christlichen Gedicht und Gesang
wie im Volksliede.
1. Einige Proben mögen die Abnahme der Tonzeichen wie deren übrig
gebliebene Verwendung beweisen:
a. aus dem Nibelungenepos.
b. aus Walthers von der Vogelweide „Von Hôchverte“.
c. aus Strickaeres „Kater freier“.
2. Das allmähliche Abstumpfen und Verschleifen der End- und Biegungssilben
und das scharfe Betonen der Wurzel- oder vorletzten Silben in der
Volkssprache, sowie die gläubige Begeisterung für das Übersinnliche der christlichen
Lehre, die nach dem Unendlichen, mystisch Helldunkeln strebte, mußten
einer auf lediglich grammatisch prosodischen Regeln basierten Metrik und der
aus dem Schönheitsgefühl für das bloß Sinnlich-Zweckmäßige hervorgegangenen
plastischen Strenge und Bestimmtheit der Formen entgegen treten, so daß eben
nur die Kunstpoesie sklavische Nachahmerin der altklassischen Poesie blieb.
Die christliche Poesie mußte in demselben Grade, als sie volksmäßig
wurde, immer mehr eine betonende bleiben und werden, welche ihren Schwerpunkt
im rhythmischen Accent hatte. Je mehr sie sich vergeistigte, desto
mehr mußte sie die Fesseln stereotyper Formen einer beengenden Quantität zu
sprengen streben, desto mehr mußte das von Sehnsucht nach dem Übersinnlichen
erfüllte Gemüt sich in der accentuierenden Musik
äußern, welche die Form weniger beachtet und sich in rhythmischen Absätzen
ergießt. „Durch das volkstümlich christliche Element wurde die mittellateinische
Poesie unabhängig und grundverschieden von der klassisch heidnischen; beide
wurzelten zuletzt wie jede Kunst in der Religion; aber wie die christliche himmelwärts,
die heidnische erdwärts gekehrt war, die erstere in der Ahnung, die
letztere im Begriffe das Göttliche zu erfassen strebte, so vergeistigte sich die
christliche Poesie im musikalischen Jdealismus, während die heidnische sich im
plastischen Realismus zu verkörpern gesucht hatte.“
Mutzl setzt diesem Ausspruch Wolfs zu: „Mit der Sprache des gemeinen
Lebens war auch die Volkspoesie und ihr accentuierender Rhythmus
geblieben. Wie jene allmählich das ward, wozu sie die Keime seit Jahrhunderten
in ihrem Organismus getragen, ebenso entwickelte sich ihre früher
durch die quantitierende Metrik niedergehaltene betonende Rhythmik; die Zeit
war gekommen, wo auch sie ihre Blüten entfalten und sie zum Baum erwachsen
sollte. Weit entfernt, ein Erzeugnis der gemeinen Umgangssprache späterer
Jahrhunderte zu sein, war diese Volkspoesie fort und fort erklungen;
sie verstummte nie, wie das Menschenherz nie aufhört zu empfinden; immer
sang das Volk seine Lieder, und immer ergoß sich das Gefühl der Andacht in
frommen Gesängen. Und besonders war es die christliche Kirchendichtung, welche
─ alles gelehrte Gewand verschmähend ─ in ländlichen und bürgerlichen
Weisen gern erschien und nur das ungekünstelte Organ der öffentlichen Gottesverehrung
sein wollte, einfach und leichtfaßlich jedem Ohre, zur kunstreichen
altgriechischen Form sich ungefähr verhaltend, wie zum modernen Klapphorn
oder Ophiklet die kunstlose Schalmei des Alpenhirten. Vorzugsweise in den
religiösen Dichtungen zeigt sich daher das allmähliche Ver= [227]
schwinden der quantitierenden Versmaße und die Ausbildung
der betonenden Rhythmen.“
Der Strom der christlichen Musik als Erguß des drängenden, bahnbrechenden
Christentums, namentlich in der Reformationszeit, kümmerte sich nicht
um den strengen Versrhythmus. Wenn bei den Griechen und Römern jener
alte Rhythmus, nach welchem jede Silbe ihr bestimmtes Zeitmaß an Länge
und Kürze, an Tiefe und Höhe hatte, nicht schon verloren gegangen war, so
ging er jetzt bald verloren, wie die christlichen Hymnen beweisen. Alles war
auf Popularität berechnet, und so folgte man ─ anstatt den quantitierenden
Regeln der Griechen ─ der gemeinen Aussprache, ihren Perioden und Kadenzen:
mit einem Worte dem Wohlklange des plebejischen Ohres. (Herders Werke VII. 252.)
Wie die Sprache den Vers vom Gebiete der Musik (dem Accent) entfernte, so
zog die Musik den Vers wieder in ihre Sphäre, ─ die Quantität mußte sich
dem Accent unterordnen.
Es gab ursprünglich drei Arten schriftlicher religiöser Gesänge: Psalmen,
Hymnen, Oden (ψαλμούς, ὕμνους und ᾠδὰς πνευματικάς). Später war
der Hauptgesang: der Choral, welcher als der erste Schritt zur Befreiung
der Melodie von den Fesseln der Prosodie zu betrachten ist. Es wechselten
bei demselben anfangs zwar auch lange und kurze Töne ab, aber nur mit
Beachtung von Länge und Kürze der vorletzten Silbe jedes Wortes, übereinstimmend
mit unserer Art das Latein auszusprechen. Es verlor sich die prosodische
Aussprache des Latein bis zur Ausbildung der ältesten gereimten Verse,
die späterhin Leoninische Verse hießen und bald Eingang in die christliche Liturgie
fanden. So war der Anfang des Taktmaßes gefunden in zwei=
und dreisilbigen, nicht mehr prosodisch gemessenen Versfüßen.
Eigentlicher Chorgesang paßt für quantitierende Rhythmen
nicht und wird bei manchen Gattungen derselben geradezu unmöglich (s. Apel II.
§ 498. 9). Jn den accentuierten Weisen, welche bloß Arsis und Thesis ohne
Beziehung auf Länge und Kürze unterscheiden, herrschte eben deswegen die
zweizeitige Bewegung vor, sowie im prosodischen Vers die dreizeitige und gemischte.
Was sogleich in die Sinne fällt, daß nämlich der accentuierte Gesang,
der sich in Hauptmomenten bewegt, weit mehr geeignet ist, von großen Volksmassen
gesungen zu werden, als der quantitierende, weil jener ungebildeten
Stimmen zu Hilfe kommt, die sich bloß dem kunstlosen Naturgefühl von Arsis
und Thesis zu überlassen brauchen, und überdies große Tonmassen sich allezeit
anständiger und würdevoller in gleichen Zeiträumen fortbewegen, als in ungleichzeitigen.
Dieses bemerkte auch Gregorius und gründete auf diese Wahrnehmung
seinen Plan zur Reform des Kirchenliedes. (Vgl. Apel § 497. 99
über die Gesch. des Greg. Gesanges in Verbindung mit den accentuierenden
Rhythmen.) Daher hat schon Beda die so entstandenen, bloß rhythmischen
Gesänge als volksmäßige (vulgaria, rustica) bezeichnet und sie den eigentlich
metrischen, nach den Regeln der Prosodie und den Mustern der altklassischen
Kunstpoesie verfaßten gelehrten Gedichten entgegengesetzt. (»Videtur autem
rhythmus metris esse consimilis, qui est verborum modulata com- [228]
positio, non metrica ratione, sed numero syllabarum ad judicium
aurium examinatur, ut sunt carmina vulgarium poetarum. Plerumque
tamen casu quodam invenies etiam rationem in rhythmo, non
artificii moderatione servatum, sed sono et ipsa modulatione ducente,
quem vulgares poetae necesse est rustice, docti faciant docte«. Vide
»de metrica ratione liber unicus in Putschii Gramm. latinae auctores
antiqui Hannoviae«. 1605.)
Die gesamte mittellateinische Kirchenpoesie hat eine volkstümliche Grundlage,
ein volkstümliches Gepräge gegenüber der altklassischen und der ihr nachgebildeten
gelehrten Kunstdichtung. Das Mittelglied zwischen der ersteren und
der letzteren waren die schon in den Paulinischen Briefen erwähnten ὕμνοι
(Hymnen), die das Gepräge christlich volkstümlicher Denk- und Sprechweise an
sich trugen. Man vermied absichtlich das Wort Hymnos (ὕμνος, ὑμνολογεῖν &c.),
um nicht eine Gleichstellung des christlichen und heidnischen Kultus zu veranlassen
(etwa eine Erinnerung an die Hymnen des Apollon, Zeus &c.), und man
gebrauchte daher lieber die Bezeichnungen Psalmen, Oden &c. (ψαλμός, ᾠδή,
εὐχή). So wurden die Hymnen die Veranlassung des eigentlich musikalischen
accentuierenden oder rhythmischen Kirchengesangs (cantus
rhythmicus).
§ 70. Accent und Quantität in der Neuzeit und
Verurteilung quantitierender Bestrebungen.
1. Die deutschen Dichtungen zur Zeit der Meistersänger und
später drängten zur Empfehlung der altklassischen Quantitätsgesetze
und der altklassischen Versmaße schon Mitte des 16. Jahrh. hin,
besonders aber zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh.
Das Volkslied allein blieb der Hort unseres Accentprinzips.
2. Opitz war der Wiederentdecker des deutschen Betonungsprinzips.
Die Hauptvertreter der altklassischen Messung waren Klopstock, Voß;
in der Neuzeit Johannes Minckwitz.
3. Eine quantitierende Prosodik ist eine Versündigung am deutschen
Sprachgeist.
1. Ein gewaltiger Stillstand, ja, ein Rückschritt in der Weiterentwickelung
des deutschen Betonungsprinzips erfolgte bereits durch jene mechanischen Versbildner,
Wappendichter, Pritschenmeister &c., die ohne den Geist der Minnesinger
deren Erbschaft übernehmen wollten. Besonders waren es die Meistersänger,
jene zunftmäßigen bürgerlichen Lyriker des 14.─17. Jahrh., die das
Wesen der Poesie in albernen Künsteleien und im toten Formalismus des
Reimens, der künstlichen Strophen und der Silbenzählung erblickten und so im
handwerksmäßigen Aufbau des Gedichts die Anforderungen an die Betonung
auf's gröblichste verletzten.
Gebildete Männer erkannten bereits in der Mitte des 16. Jahrh. die
schiefe Ebene, auf welcher sich die deutsche Poesie befand, und empfahlen [229]
die altklassische Quantitätsmessung. Ja, sie versuchten es selbst,
durch diese Zeitmessung ähnlich gutklingende, regelrechte deutsche Verse zu bilden,
wie wir sie bei den Griechen finden. Das Volk, welches schon die Verse
der Meistersänger nicht liebte, verhielt sich ablehnend gegen das
griechische Quantitätsprinzip und gegen die ungeschlachten, unsangbaren, gekünstelten
Verse seiner Vertreter. Das Vestafeuer der deutschen Poesie glomm
nur noch im Volkslied fort, das nach den accentuierenden
Prinzipien der Minnesinger aus dem deutschen Sprachgefühl
herausblühte.
2. Jn diese trostlose Zeit fiel im 17. Jahrh. die Entdeckung des
Betonungsprinzips durch Opitz, wovon wir im nächsten Kapitel sprechen
wollen. Aber trotz dieses Ereignisses, ja, trotz der Leistungen der schlesischen
Dichterschulen verließen im 18. Jahrh. bedeutende Männer die dem deutschen
Sprachgeist abgelauschten Vorschriften und suchten das Heil in der Rückkehr zu
den griechischen Maßen und zum Quantitätsprinzip. Klopstock und seine
Schule leisteten ein Erkleckliches in Einführung der quantitierenden und in
Verdrängung der accentuierenden Prosodie. Joh. Heinrich Voß suchte das
Quantitätsprinzip in seiner „Zeitmessung der deutschen Sprache“ zu
begründen. Er schied in lange, kurze und mittelzeitige Silben, hat aber doch
neben seiner Quantität auch der Qualität der Silben einige Beachtung geschenkt,
wodurch er sich davor bewahrte, allzuhäufig gegen den Sprachgeist zu verstoßen,
ja, wodurch er in den meisten Fällen die Betonung mit der Zeitmessung notdürftig
in Einklang brachte. Die deutsche Sprache widersetzte sich seiner gräcisierenden
Metrik. Aber er zwang sie in seiner Unermüdlichkeit durch geschraubte
Wortbildungen und unnatürliche, unbeliebt gebliebene Zusammensetzungen,
weniger in eigenen Versen als in seinen „steifen“ Übersetzungen.
Von ihm ─ den man übrigens im Hinblick auf Materie der Sprache
und auf die mechanischen Gesetze den treuesten Übersetzer nennen kann ─
urteilt W. Menzel: „Geist und Seele sind ihm unter den groben Fingern
verschwunden. Er hat in seinen Übersetzungen den eigentümlichen Charakter
und die natürliche Grazie der deutschen Sprache ausgetrieben und der liebenswürdigen
Gefangenen eine Zwangsjacke angezogen, in der sie nur noch steife
und unnatürliche, krampfhafte Bewegungen machen konnte. Sein wahres Verdienst
besteht darin, daß er eine große Menge guter, aber veralteter, nur im
Volke üblicher Wörter in die moderne Schriftsprache einführte. Die meisten
dieser Übertragungen sind so sklavisch treu und darum undeutsch, daß sie erst
verständlich werden, wenn man das Original liest.“ Jn der That: ob Voß
den Hesiod, Homer, Theokrit, Virgil, Ovid, Horaz, Shakespeare oder ein altes
Minnelied übersetzt, überall zeigt sich die auch von Rückert getadelte „Steifigkeit“,
überall hören wir das bocksteife Roß seiner Quantität klappernd traben, auch der
allgewaltige Genius Shakespeares vermag ihn nicht um ein geringes aus dem
Trabe zu bringen. Selbst seine, ein höheres Dichtertalent bekundende Luise
und seine Jdyllen sind Repräsentationen der Philisterei und Familienhätschelei
seines Jahrhunderts, und der Schlafrock und die Schlafmütze wirken durch [230]
den undeutschen Hexameter gleichmäßig eintönig und langweilend. (Vgl. hierzu
Goethes Urteil im Briefwechsel mit W. v. Humboldt. 1876. S. 133.) So
hat denn Voß nicht einmal in der eigenen Dichterpraxis seine Zeitmessung
rechtfertigen können.
Ebenso wenig vermochte es der verdiente Minckwitz, dessen feines Gefühl
sich in den meisten seiner wirkungsvollen Dichtungen zum Glück nach dem
deutschen Accent richtet.
3. Die Vertreter und Verfechter des altklassischen Quantitätsprinzips
hätten bedenken sollen, daß eine Sprache als Resultat des eigenartigen Geisteslebens
einer Nation, als des Ohres und des Mundes eines Volks, ihr
eigenes Sein haben muß und nicht von Einzelnen willkürlich geändert werden
oder fremdes Kleid erhalten kann, als welches die Quantitätsschraube anzusehen
ist. (Vgl. das Motto S. 215 d. B.) Unsere schöne deutsche Sprache, die sicher
schon zur Zeit des Nibelungen-Epos ihre Dichterschule hatte, wie zu ihrer Blütezeit
im Mittelalter, läßt sich keinen fremden Rhythmus aufdrängen, ohne in ihre
Vernichtung zu willigen. Sind ja doch von Klopstock an bis 1781 (also noch
länger als 30 Jahre hindurch) selbst die antiken Metren, von denen es zu
jener Zeit wimmelte, mehr oder weniger nur nach unserem Accent ausgeführt
worden, indem man die accentuierten Silben als Längen brauchte und die
nicht accentuierten als Kürzen, genau so wie bei den ersten Poeten der
Römer. Deutsche quantitierende Verse haben niemals den leichten Tanz der
griechischen erreicht; es machte sich immer der Widerstreit zwischen Vers=
Rhythmus und Accent bemerklich, sogar in den gewandtesten Nachahmungen
antiker Versmaße, wie der obige Ausspruch Menzels es bezeugt, ebenso
der alte Fischart, der die Nachbildung der antiken Maße als Wörterdenzelung,
Silbenstelzung und silbenpossierliche Wörterläufe geißelt. Eine quantitierende
deutsche Metrik ─ ähnlich der griechischen ─ ist auch deshalb nicht
zweckmäßig, weil die logische Betonung der deutschen Wörter hinsichtlich ihrer
Geltung nicht anders werden darf, als sie eben in der Prosa war.
Wie undeutsch würde ein solcher Hexameter klingen: Dēr Rĭchtĕr, dēr rīchtḗt,
dīe nīcht gērīchtĕt sü̆ndīgĕn. Wir haben im Deutschen keine kurzen Stammsilben
welche den Hochton vertragen, wie die Griechen; sonach ist eine Verlegung
der Accente, wie sie die quantitierende Zeitmessung fordert, ein Unding.
Wir würden uns durch solche Messung von der gewöhnlichen, menschlichen Rede
so weit entfernen, daß man unsere Poesie ─ wie Max Rieger richtig bemerkt ─
nur noch für ein sinnliches Geräusch halten müßte. Wir können daher nur
beistimmen, daß die (auch von G. H. Bothe und Anderen) aufgestellten Versuche,
die Wörter nach griechischer Weise zu messen und in die Schablone des
Verses unter verrenkten Gliedern hineinzuquetschen, ferner Spondeen (– –)
und Molosse (– – –) zu bilden &c., eine Verirrung und Verkehrtheit war,
eine Versündigung an unserm Sprachgeist. Es ist ein sonderbares Verlangen,
daß unsere originelle Sprache ihre Eigentümlichkeit aufgeben soll, um der
griechischen zu folgen, die ja ebenfalls von der Vollendung des idealen Lebens [231]
noch weit entfernt war, wenn sie auch in dieser Hinsicht noch vollkommener
war, als das Neuhochdeutsche. Rückert sagt mit Recht (Beyer, ein biogr.
Denkm. S. 48): „nicht länger werde er in der Bewunderung eines Volks
hängen bleiben und sich ewig zur Schule Griechenlands bekennen, denn auch
die Griechen seien keine Autodidakten &c. Wie sich einst die griechische Sprache
aus dem Orient bereichert und nunmehr eine selbständige Form angenommen,
so werde auch unsere deutsche Sprache, wenn sie die fremden Stützen wegwerfe,
auf eigenen Füßen stehen, und gewiß könne sie das. Sie habe die
reichen Quellen im Orient aufzusuchen, aus denen selbst der göttliche Plato
seine Anmut schöpfte“ &c.
§ 71. Das ursprüngliche deutsche Betonungsprinzip,
Entdeckung, Konsequenzen und Beachtung desselben und
unsere Dichter.
1. Der Entdecker des erst in der Gegenwart zu würdigenden echt
deutschen Betonungsgesetzes ist Opitz (§ 3), den man daher als den
Vater und Begründer der neuhochdeutschen, accentuierenden Prosodik
bezeichnen darf.
2. Trotz der abirrenden Moderichtung, welche in Wahrung der
gelehrten Bedeutung für die Zeitmessung Voßens sich begeisterte, haben
unsere besten und größten Dichter ─ oft unbewußt ─ am Betonungsprinzip
festgehalten.
3. Mehrere neuere Dichter gehen in Adoptierung des Betonungsprinzips
so weit, behufs einer nachdrücklichsten Accentuierung sogar
das alte Accentuierungsmittel der Allitteration in großem Stil in die
Poesie wieder einführen zu wollen.
4. Studium und Beachtung der Betonungsgesetze führt zu einer
feineren Tonmessung. Diese zu erstreben, ist Pflicht der neueren
accentuierenden Prosodik.
1. Das von Opitz entdeckte Betonungsgesetz lautet (§ 3 S. 4. d. B.):
„Wir Deutsche können nicht auf Art der Griechen und Lateiner
eine gewisse Größe der Silben in Acht nehmen, sondern wir
sollen aus dem Accente und dem Tone erkennen, welche Silbe
hoch und welche niedrig gesetzt soll werden.“ Nach diesem Grundgesetz,
das lediglich die Abstraktion aus unserem Sprachgeist ist, gründet sich
der Versbau einzig und allein auf den Accent. Opitz bedient sich noch
der Namen Jambus, Trochäus, wodurch er eine gewisse Verwirrung schuf, die
sofort wegfallen wird, wenn wir das jambische oder trochäische Maß lediglich
als Grundmaß des über das ganze Gedicht dahin wehenden Rhythmus annehmen,
dabei aber ausdrücklich die Einfügung beliebiger Thesen gestatten,
wie wir dies in den §§ 116─122 von den Accentversen ausführten und
im § 80 begründeten.
2. Das Opitzsche Betonungsgesetz, welches an Stelle der quantitierenden
Prosodik die neue accentuierende setzt, hat trotz verschiedener Abirrungen ─
wie wir sie im vorigen Paragraphen charakterisierten ─ siegreich fortbestanden,
ja, es ist von den größten Dichtern unserer Nation angewendet und bereichert
worden, da sie lieber dem Sprachgefühl als den Regeln der Zeitmessung
folgen wollten.
Lessing hat sich ostensibel geweigert, den musikalisch quantitierenden
Rhythmus der Griechen anzuwenden. Schiller hat sich u. A. in den meisten
seiner Dramen von ihm losgesagt, Goethe im Faust, Heine in seiner
Lieblingsstrophe, Scheffel im Trompeter von Säkkingen, Geibel in Sigurds
Brautfahrt, Rückert in Kind Horn u. s. w. (Vgl. die §§ 116─122.)
Alle unsere besten Dichter haben lieber sog. Verstöße gegen die hergebrachte
Schulregel des Quantitätsprinzips begangen als gegen das Betonungsprinzip,
obwohl Voß und seine Schule diese Verstöße sanktionierten. Alle haben sie in
ihren besten Dichtungen praktisch bewiesen, daß unsere Quantitäten, wenn wir
solche haben (vgl. § 80 von den Längen und Kürzen), durchaus vom Accent
abhängen, ja, mit dem Accent zusammenfallen müssen, da nach § 80 bei uns
nur betonte Silben als Längen und nur unbetonte als Kürzen gelten dürfen.
3. Wilhelm Jordan, Richard Wagner und einige Andere von
geringeren Namen betonen in ihren Schöpfungen in höchstgesteigerter Weise
das Betonungsprinzip. Sie gehen soweit, ganz und gar auf die sehr
primitive, althochdeutsche Betonungsbasis zurückzutreten, auf welcher nämlich
noch das bildliche Moment des Anlautkonsonanten metaphorisch
gewirkt haben mag. Für eine schärfere Accentuierung verlangen sie nämlich
die Wiedereinführung der Allitteration, die doch bei unserem fein ausgebildeten
Rhythmusgefühl unmöglich mehr zu einer allgemeinen Geltung gelangen wird,
umsoweniger als die Vermählung unserer accentuierenden Prosodik mit dem
Reim zur volkstümlichen That geworden ist.
4. Eine genauere Pflege des Accents und Beachtung der Accentgesetze,
wie wir sie in den folgenden Paragraphen lehren werden, ist vor allem Aufgabe
aller derjenigen, welche Verse bilden wollen. Von ihnen darf man mit
Recht verlangen, daß sie beachten lernen, wie nur der Accent die Quantität
bedingt. Es ist geradezu bedauerlich, welch blinder Zufall, welch maßlose
Willkür, welch gesetzloses Radebrechen mit Wortfüßen (das dann durch
nachhinkenden Reim wieder gut gemacht werden soll), welche aufgeblasene Leichtfertigkeit
und Formlosigkeit (sogar in den dramatischen Jamben) bei den neueren
und neuesten, oft recht dünkelhaften Dichtern herrscht. Schwere Silben werden
als leichte gebraucht, leichte als schwere, ─ und Mancher glaubt schon Dichter
zu sein, wenn er nur die 10 oder 11 Silben beim jambischen Quinar
(§ 107. 5) erreicht oder die sechs Füße des Hexameters leidlich ausgefüllt hat.
Daß die Nichtkenntnis und Nichtbeachtung der Gesetze einer accentuierenden
Metrik auch allen Rhythmus vernichtet und zur Prosa führt, ist an sich klar.
Es ist hohe Zeit, für das Weiterblühen unserer so bildungsfähigen, poetischen
Sprache durch Pflege der accentuierenden Prosodik und Metrik zu wirken und [233]
die Betonung bei unseren eigenen Schöpfungen mehr als seither in's Auge zu
fassen. Dadurch kommen wir zu jenem feinen Gefühl und zu jener feineren
Rhythmik, die aus Worten wie „Holzklotzpflock“ nimmermehr Musik zu hören
vermag. Schon ist ohne Abstraktion der Gesetze durch die Schöpfungen unserer
klassischen Dichter das Ohr, d. h. der ästhetische Geschmack so weit gebildet,
daß auch kleinere Geister manches Gute schaffen, ohne sich der Gesetze bewußt
zu sein. Die Sprache mit ihren schönen Tonlichtern tönt und leuchtet auch
ihrem durch gute Muster gebildetem Gefühle. Auch unsere Volksdichter haben
von jeher ─ bewußt oder unbewußt ─ den Accent beachtet, ohne von feiner
Tonwägung mehr gewußt zu haben, als griechische Volksdichter von der eigentlichen
feinen Quantität wußten. Sie haben aber freilich keinerlei Beitrag für
beabsichtigte Pflege der accentuierenden Metrik liefern können. Und wenn bei
Goethe, Schiller, Rückert, Uhland, Heine, Freiligrath, Geibel, Gottschall,
Hamerling, Scheffel &c. (aus deren Werken wir mühsam genug teilweise die
Regeln unserer accentuierenden Metrik abstrahieren konnten) arge Verstöße vorkommen,
so bleiben dieselben doch vereinzelt, während das Produkt des selbst
talentvollen, unterrichteten, dilettantischen Versbildners die Betonungsfehler in
jeder Strophe ersehen läßt. Erst bei genauerem wissenschaftlichem Studium der
Betonungsgesetze wird unsere Poesie mit der Zeit eine klassische Höhe erreichen,
die uns ─ vielleicht teilweise ─ sogar auf den Reim verzichten lassen wird.
§ 72. Grundgesetz unserer gegenwärtigen Prosodik.
1. Die deutsche Betonung ist gesetzmäßig berechtigt.
2. Grundgesetz für unsere Betonung ist: Der Accent ruht stets
auf dem Stamm des Wortes.
3. Für richtige Erkenntnis dieses Gesetzes ist Kenntnis des Stamms
und der sog. Accessorien nötig.
1. Die deutsche Betonung, der bis zum heutigen Tage in unserer Litteratur
theoretisch viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde, ist weder zufällig,
noch willkürlich. Sie ist einer strengen Methode der Behandlung fähig, was die
nachstehenden Paragraphen beweisen werden. Sie ermöglicht es dem Forscher,
Gesetze (Accentgesetze) auf Grundlage sinnlicher Anschauung und Wahrnehmung
durch Jnduktion und aus einem Prinzip durch Deduktion zu gewinnen. Liefern
wir hier den Beweis im weitesten Umriß! Die begrifflich bedeutsamste Silbe,
von welcher der Accent angezogen wird, ist die Stammsilbe. Alle deutschen
Wörter lassen sich auf einen einsilbigen Stamm zurückführen,
der das Betonungsgewicht hat. So hat sich unsere Sprache, so unsere
Betonung gebildet. Von diesem Gesichtspunkt müssen wir
beim Aufbau unserer Prosodik ausgehen.
2. Grundregel für die deutsche Betonung ist somit: Der Accent ruht
auf dem Wortstamm, auf der Wurzel. Da unsere Sprache trochäischen
Rhythmus hat, indem die meisten Wörter mit der Wurzel beginnen (z. B. – ⏑ [234]
hȫrĕn, sprēchĕn, Fārbĕ, Hīmmĕl &c.), so könnte man den Satz mit Einschränkungen
auch so fassen: Der Accent ruht auf der ersten Silbe.
3. Diese Einschränkungen werden durch die Vor- und Nachsilben bedingt,
welche der Stammsilbe sich anschließen können, weshalb ihre Kenntnis gefordert
werden muß. Es kann z. B. eine logische Unterscheidung von Wörtern, wie
ērb=lich und er=blīch, gēstern und gestēhn, gēhend, ērstens und ērsteht, gēb=et und
Ge=bēt &c. für richtige Accentuierung nicht erspart werden. Früher waren wohl
die meisten Nebensilben selbst betonte Wurzeln; sie lehnen sich aber mit der
Zeit an bedeutungsvolle Wurzeln an, verloren ihre Selbständigkeit und wurden
Vor- oder Nachsilben, die vom Stamm getrennt nunmehr tot sind, z. B.
Verhör, Heimat, Heirat, Trübsal, Unsterblichkeit, Mißklang.
Da die Stammsilbe den Hauptton hat, so können die Nebensilben
(Accessorien) nur mittleren oder schwachen Ton haben. Solchen mittleren Ton
haben diejenigen, welche die Vokale a o u i oder Diphthonge in sich schließen,
z. B. ung, sam, haft (Zeitung, einsam, gewissenhaft &c.). Einen schwachen
Ton haben die Accessorien mit e, wie be, ver, zer, sel, enz &c. Das e macht
die Silbe oft ganz tonlos in Wörtern wie lassen == lass'n, fassen == fass'n &c.
Der Unterschied ist darin begründet, daß bei jenen die Wurzelbedeutung noch
mehr gefühlt wurde und die Nebensilbe vor der Entstellung durch Tonschwächung
bewahrt blieb; vgl. engl. -find-ing mit =findung (dagegen handsom und
heilsam auf gleicher Stufe).
§ 73. Tongrade.
1. Die Betonung der Silben ist keine gleichmäßige.
2. Wir können mehrere Grade der Betonung in Bezug auf
Stärke derselben unterscheiden und benennen.
1. Je kräftiger beim Aussprechen einer Silbe die exprimierte Luft durch
die Stimmbänder getrieben wird, desto größer wird ihre Schwingungszahl,
desto höher ist gewissermaßen ihr Schall (Klang, Ton). Wenn man in dieser
Rücksicht z. B. die zweisilbigen Wörter: Baumblatt, Bäume, ruchbar,
Feuer, Hilfe vergleicht, so wird man sofort einen Unterschied in der Silbenbetonung
wahrnehmen. Dasselbe ist in gesteigertem Maße in drei- und mehrsilbigen
Wörtern der Fall. Man spreche z. B. aus: Baumblätter, Gartenhaus,
Hindernisse, Federmesserfabrikant, Christentum, Fruchtbarkeit,
Wirtshäuser, Buchdruckerkunst, unverständlich, abscheulich,
widerwärtig, unausstehlich &c. (Man vgl. hierfür auch:
Merkels Physiologie der menschl. Sprache, sowie Kleinpaul I. 25 ff.)
2. Ein geübtes Ohr wird beim Aussprechen von längeren Wörtern und
Wortreihen mindestens 4 bis 5 Stärkegrade (== musikalische Tonunterschiede)
in den Silben wahrzunehmen vermögen. Das Wort Rehblut hat beispielsweise
zwei betonte Silben, von denen doch die erstere ein tonliches Übergewicht
erhält. Jm Worte Rebenblüte hat die Silbe Reb ein Übergewicht über die [235]
Silbe blüt; die Silbe en ist wenig betont, die Silbe e fast gar nicht. Jm
Wort hērrlĭchĕrĕ ist die Silbe lich etwas mehr betont als er und e, obwohl
dieselbe ebenfalls weit weniger Ton hat, als die Stammsilbe herr. Jm Wort
Herrlichkeiten hat die Nachsilbe keit ein tonliches Übergewicht über die
Nachsilben lich und en.
Wollten wir die Tongrade durch Zahlen charakterisieren, so würde uns
die Zahl 1 für fast unbetont gelten, 2 für schwachtonig, 3 für mitteltonig,
4 für voll- oder tieftonig, 5 für hochtonig. Diese Einteilung ist dem musikalischen
pianissimo, piano, mezzoforte, forte, fortissimo (pp. p. mezzof.
f. ff.) vergleichbar.
Man könnte den Tongraden auch die Bezeichnung: Hauptton, Mittelton,
erster, zweiter, dritter Nebenton geben.
Die Bezeichnung der Tongrade durch Ziffern hat den Vorzug der Kürze
und der Anschaulichkeit. Die folgenden Wörter würden folgende Ziffern erhalten
müssen:
Baumblatt, Bäume, ruchbar, Baumblätter, Gartenhaus, Hindernisse,
Christentum, Fruchtbarkeit, Wirtshäuser, Arbeitseinstellung.
Ganz tonlos kann man eigentlich keine Silbe nennen, da selbst bei Unterdrückung
des Vokals der Konsonant durch eine Art Nasenhauch vernehmbar
wird, z. B. in lass'n.
Man wird einen Vers nur dann prosodisch rein nennen dürfen, wenn
die Hebung fünf- oder viergradig, die Senkung ein=, zwei= höchstens
dreigradig erscheint. Eine Modifikation wäre nur bei längeren Wortfüßen zu
gestatten (z. B. Frūchtbărkēit). Unsere seitherige Praxis hielt sich für befriedigt,
wenn die stärkeren, beim Lesen vernehmbareren, kräftiger hervortretenden Silben
als betonte von den weniger betonten unterschieden wurden, und man überließ
es ─ bewußt oder unbewußt ─ dem gebildeten Gefühle, die innerhalb
der Verse möglichen Tongrade richtig anzuwenden und zu empfinden.
Beim eigenen Schaffen, bei Hervorbringung künstlerischer Weisen sollte
für die Folge ─ der Wirkung und der Schrift wegen ─ unbedingt nur so
verfahren werden, daß die Hebungen durch 5= und 4gradige Silben, die
Senkungen nur durch ein=, zwei=, höchstens dreigradige Silben gebildet
werden, sowie daß in den einzelnen Versstellen desselben Gedichts nur Silben
von entsprechenden Tongraden gewählt werden. Nie sollte der Dichter dem
Versaccent zu Liebe von der herrschenden Betonung abweichen, da er sonst
Längen und Kürzen in den Vers bringt, die nicht mit dem Accent zusammenfallen,
und die somit im deutsch=accentuierenden Rhythmus fehlerhaft sind.
Beispiel 1 (trochäischer Rhythmus):
(Man sieht, daß hier ─ dem Metrum entsprechend ─ je die 1., 3., 5.
und 7. Silbe jeder Verszeile betont ist, und daß der Ton immer auf eine
Stammsilbe gelegt ist. Es sind durchweg 5= und 4gradige Silben verwendet;
nur beim Worte „träumerīsche“ ist die mitteltonige 3gradige Silbe isch in die
Arsis gesetzt und ihr dadurch der Rang der hoch- oder volltonigen Silben
verliehen. Lenau giebt uns dadurch einen tauben Verstakt, der einer solchen
Nuß gleicht, in welcher man solange einen Kern vermutet, bis man sie öffnet.
Wir sind gewohnt, mit der accentuierten Silbe einen Sinn zu verbinden, was
im gegebenen Fall unmöglich ist.)
Beispiel 2 (daktylischer Rhythmus):
(Hier legt der Versrhythmus den Ton je auf die 1., 4., 7., 10. Silbe,
Zu Arsen sind nur fünfgradige Silben gewählt. Die durch ihre Stellung
(Thesisstellung) zu dreigradigen Silben herabgedrückten Thesen könnten bei
anderem Versrhythmus fast sämtlich in der Arsis stehen. Nur widerwillig giebt
das Pronomen dir in der 3. Verszeile den Ton an das gehaltlosere „was“ ab.)
Beispiel 3 (jambischer Rhythmus):
(Gottlieb Ritter: „Jhr Gebet.“)
(Jn diesem Beispiel ist je die 2., 4., 6., 8. und 10. Silbe tonlich ausgezeichnet.
Sämtliche Arsen sind 5= und 4gradig.)
§ 74. Prosodische Jnkorrektheiten.
Es ist ein Vorzug unserer Sprache, daß sie den prosodischen
Silbenwert von der richtigen, sprachgebräuchlichen Betonung abhängig
macht und nur 5= und 4gradige Silben in der Arsis, sowie nur
1=, 2= und höchstens 3gradige in der Thesis zuläßt.
Leider haben sich unsere besten Dichter Verstöße und Nachlässigkeiten,
irregeleitet oder ermutigt durch die quantitierenden Jrrlehren,
zu Schulden kommen lassen.
Manche Dichter legen noch heutzutage viel zu wenig Wert auf das
logische, phonetische und euphonische Moment. Jn wahrhaft haarsträubender
Weise tritt dies bei jenen Dichtern zu Tage, die ─ ohne das Ohr zu fragen ─
befriedigt sind, wenn es ihnen gelingt, mit deutschem Material Verse nach
griechischer Rhythmik zu bilden. Ein reiches Material in dieser Beziehung
stellen die gräcisierenden Dichter auch aus der letzten Hälfte des vor. Jahrh.
zur Verfügung. Das Ohr sträubt sich gegen jene Versuche, die der sinnlich
malerischen Anschaulichkeit des deutschen Sprachstoffes Hohn sprechen und lediglich
auf nachäffende, begriffezeichnende Quantitätsform hinauslaufen, oder gar nur
den Versrhythmus erstreben, z. B.
Ēhr, Măcht, Rūhm, Glü̆ck, Gūt mir pāßt
(statt: Ehre, Macht und Ruhm und Glück wohl Jedem paßt).
Bei einiger Übung empfindet schon der Laie die greulichen Verstöße
gegen den Sprachgeist in Anwendung sog. Kürzen und Längen und merkt gar
bald heraus, wie betonte Silben unbetont (also kurz) gelesen werden und zu
skandieren sind. Wir geben daher ─ des logischen Anschlusses wegen ─ schon
hier einige Beispiele von Jnkorrektheiten und wählen mit Absicht aus besseren
Dichtern, indem wir uns an Lessings Wort erinnern: „Einen elenden Dichter
tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen
einen großen ist man unerbittlich.“ (Noch strenger urteilt Horaz: »Mediocribus
esse poetis non homines, non di, non concessere columnae.«)
(NB. Der Lernende mag die nachfolgenden Beispiele noch einmal prüfen,
nachdem er die Verslehre durchgearbeitet haben wird.)
A. Thetische, sprachwidrige Behandlung der Tonsilben.
Platen. An | stī́mmen darf ich ungewohnte Töne (statt: ā́nstīmmĕn).
(statt: Stā́atswǖrdĕn).
(statt: Nā́chsicht).
(statt: ā́usbrēitĕt).
Voß. Gĕstēhst | dŭ dīe | sĕs, bīn | ĭch zūr | Aūskū́nft bĕreīt
(statt: ī́ch zur Ā́uskunft).
(statt: rī́ngsher, pḗchschwarz, grā́undrohende).
Wolf. Ēr, deß | Pflug mǖh | sā́m um̄ | kḗhrt schwēr | schṓlliges | Erdreich
(statt: mǖ́hsam ū́mkēhrt schwḗrschōlliges). Hor. Sat.
[238]B. Arsische Stellung unbetonter, also leichter Silben.
Schiller.
(Maria Stuart.)
Goethe.
(Das im 1. Takt arsisch gebrauchte „komm“ ist im 2. Takt thetisch
gebraucht. Dem Altmeister kann dies Versehen nachgesehen werden, da in
diesem Beispiel ─ ebenso wie in unsern Jamben und Trochäen ─ der
Rhythmus durch den Wortaccent mitbestimmt wird, so daß der Verston des
ersten Wortes „komm“ im Hinblick auf das Wort „Schȫnĕ“ nur gering ist
und das unbedeutende, noch dazu wiederholte zweite „komm“ auf den Wellen
des daktylischen Versrhythmus fortgeschleudert wird.)
Jm Auslĕgēn seid frisch und munter!
Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.
(Goethe, Zahme Xenien 2.)
Uhland. Wenn wir gern vor Euch Versammeltēn
Ein empfehlend Vorwort stammeltēn.
Auch die Rebe weint, die blühendē,
Draus der Wein, der purpurglühendē &c.
(Jm poet. Vorwort seiner Gedichte: Lieder sind wir; vgl. § 207. 61.)
Wach auf, | wach auf, | mein Sohn | Rŏlan̄d (statt: Rōlan̆d).
Der dem | mächti | gēn Ge | bieter.
Es gīngĕn drĕi Jäger wohl auf die Birsch (statt: drĕi).
Die Fehler im ersten Beispiel Uhlands: „Versammelten, stammelten,
blühende, purpurglühende“ können beim Vorlesen beseitigt werden, wenn man
die genannten Wortfüße als Daktylen (– ⏑ ⏑) liest. (Vgl. §§ 116─122
über Accentvers.) Ähnlich ist es im folgenden Beispiel:
Geibel. Fern im | Süd das | schöne | Spani | en̄.
Spani | en ist mein Heimatland. (Man lese Spānjĕn oder Spānĭĕn).
(Zigeunerbube im Norden.) [239]
Platen. Ănwānd | ĕlt mīch | Wŭt ūnd | Zerstörungstrieb.
(Ănwāndelt ist eben so falsch im Jambus, als Wŭt ūnd.
Es muß heißen: ānwandelt, Wūt ŭnd.)
Ăbtrǖnnĭgĕs Glück! So muß ich mich denn mit der Hälfte des
Schatzes begnügen
(statt: ā́btrünnig).
Bŭhldīrnĕn um dich zum Fenster heraus &c. (statt: Bū́hldirnen).
Dū́rch Eīch | wǟldĕr ŭnd | lāchĕndĕ | Thǟlĕr ŭnd | tāusĕndĕr | lḗi
Grǖn |.
(Die Silbe Eī́ch ist hier in die Thesis gestellt, ebenso „Grǖ́n“.
Dagegen die Silbe lei in die Arsis. Dieser griechische Versrhythmus
ist der Todfeind unseres accentuierenden Rhythmus.)
Soll bergen ich mein innerstēs Vermögen (statt: īnnĕrstĕs).
Gotter. Seīn vĕr | lōrĕn | es̄ Gefieder.
Lichtwer. Dĭe graū | sămē | Gefälligkeit.
Just. Kerner. Du kehrst zur rechten Stunde, ŏ Wān | dĕrēr | hier ein. ─
Und von Silber hell ein Kleid hat der Heiligē getragen.
Voß. Dā́māls | wā́r Mārs | Rēttĕr dĕr | Schlācht
(statt: Mars war damals Retter der Schlacht).
Der Hērr | schĕr ĭm Dōnn | ĕrgĕwȫlk, | Zḗus.
Annette von Droste-Hülshoff. Und taumeltē entlang die dunklen Hage.
(Hier kommt noch ein häßlicher Hiatus hinzu.)
Ludw. Seeger. Das eisernē, das du geschmiedet, das Bibelschlōß &c.
Wachtellied aus dem Wunderhorn I. 159. Hȫrt, wĭe dĭe Wāchtĕl ĭm
Grǖnĕn schö̆n schlägt.
(Es empört sich das Gefühl, wenn „schön“ wie „nen“ gleich
unbetont gelesen werden soll.)
Rückert. Kĕin rēchtĕr Mēnsch īst, wēr wĕint, wēnn ĕr wīll, ŭnd lācht.
(Weish. d. Br. S. 232.)
Hier ist der jambische Rhythmus des Alexandriners (s. w. unten) vollständig
verschoben. Ebenso in der Zeile:
Ănsīchtĕn, Rǖcksĭchtēn, Ab̆sichtĕn wārĕn nīcht.
Dies soll nämlich ein Alexandriner (s. § 107) sein; aber der Umstand,
daß drei dreisilbige Worte beginnen und ein Trochäus sich anschließt, bewirkt, daß
weder ein jambischer noch überhaupt ein Rhythmus herauszuskandieren ist. Der
Vers könnte nur als Accentvers (§ 116) passieren. Auch der Alexandriner:
klingt wie ein logaödischer Vers mit Basis und Anakrusis (Auftakt).
[240]Fehlerhaft ist es auch, wenn Rückert zuweilen die tonlosen Silben in die
Arsis bringt bei Wörtern wie: fūrchtsămē (VI. 31 der Weish. d. Br.),
Bedürfnissē (IX. 13), ohnē (II. 22. 3), arbeitsamēr (Weish. d. Br. S. 25),
aŭseīnăndēr zŭ gēhen (Weish. d. Br. S. 142), ŭnvērschraubt, ŭnvērfä̆lscht,
ŭnvērfĭlōsŏfiērt (ebenda S. 356), der Reisendēn Geleiter, entschuldigēt (ebenda
S. 398), lŏckērt im Lebenstrieb u. s. w.
Vgl. hierzu noch § 143. 1 und 3 d. B.
§ 75. Prinzipien und Ursachen der verschiedenen Tonstärke
der Silben.
Die Betonung unserer sämtlichen deutschen Silben ist abhängig:
1. von der sprachlichen Eigenschaft oder Bedeutung der Silbe,
d. i. von ihrer logischen Qualität;
2. von ihrer Zusammensetzung aus weniger oder mehr Buchstaben,
d. h. von ihrer eigenen Lautmasse;
3. von ihrem Verhältnis zu den vor und nach ihr stehenden
Silben, also von der sie umgebenden Lautmasse;
4. von der Stellung des Wortes im Satz, d. h. von ihrem Wert
für den logischen Sinn des ganzen Verses.
5. Beachtenswert ist der Sprechton.
1. Bedeutung der Silbe. Die Stammsilbe, in welcher die Bedeutung
des Wortes gipfelt und ruht, hat stets den Hauptton. Somit
können die zur Bildung der Wortformen hinzutretenden Nebensilben in einfachen
wie in zusammengesetzten Wörtern und Sätzen nur Nebentöne erhalten.
Man vergleiche Wörter wie Glück, Haus, Herz; glücklich, häuslich, beherzt,
herzlicher, Herzlichkeit; bei Tisch, bei Tage &c. Sehen wir uns genügend viele
Beispiele prüfend und vergleichend an, so müssen wir die Regel abstrahieren,
daß Begriffswörter (also Substantiv, Verbum, Adjektiv, Adverbium) in der
Betonung Verhältniswörtern, Konjunktionen &c. gegenüber einen Vorrang einnehmen;
sie werden accentuierter ausgesprochen, während Mittel- und Verhältniswörter
schwächer tönen.
2. Zusammensetzung der Silben. Bei Arsissilben, wie wir sie
eben charakterisierten, hat die größere oder geringere Ausdehnung der Silben
(d. h. ihr größerer oder geringerer Reichtum an Buchstaben) keinen Einfluß.
Sie sind als 5= oder 4tonige Arsissilben aufzufassen, die der Silbe eine
gewisse Länge geben. (Vgl. § 80 von den Längen und Kürzen.)
Anders ist es bei den in der Thesis stehenden Silben,
Hier kann die Silbe mitteltonig werden, wenn sie aus einer größeren Zahl
von Konsonanten besteht. Es ist ein Unterschied in der Betonung, ob ich spreche:
Weishĕit oder weisĕ, Reichtŭm oder reichĕr. Jm Wort Reichtümer sind die [241]
Silben tüm und er in ihrer Betonung wesentlich von einander verschieden. Ferner
übt es auf die Betonung Einfluß, wenn die Nebensilbe einen langen Vokal hat,
z. B. Heīm̄at und heimlich oder anheimeln. Die Silbe at ist hier mitteltonig.
3. Verhältnis zur Umgebung. Je nach ihrer Beziehung können
mitteltonige Silben tieftonig, schwachtonige Silben mitteltonig werden und
umgekehrt &c.
Wie mitteltonige Silben zu tieftonigen werden können, mögen
Beispiele zeigen. Es macht z. B. die enge Verbindung mit dem Stamm in
„lieblich“ die Silbe lich zur mitteltonigen Thesis. Die Trennung vom Stamm
durch die unbetonte Silbe er macht die Silbe lich zur 4gradigen Arsis in
Wörtern wie wunderlich, veränderlich. Hießen die Worte wūndlĭch und
vĕrǟndlĭch, so würde die Nachsilbe nur eine mitteltonige Thesis sein. Man
vgl. noch tückisch und wählerisch; Freundin und Enkelinnen; Ludwig und
Ludewig; Spätling und Silberlinge; Änd’rung und Änderungen; Feurung
und Feuerungen; Fäulnis und Finsternisse.
Hochtonige Silben können mitteltonig werden, wenn sie Silben
anhängen, z. B. Großvater und großväterlich; Abscheu und abscheulich; Allmacht
und allmächtig; herzlos und herzloser; jugendfrisch und jugendfrischer;
voreingenommen und unvoreingenommen.
Mitteltonige Silben, welche durch Anhängung an Formsilben tieftonig
wurden (z. B. zwanzigfach, Kindelein), werden wieder mitteltonig, wenn
hochtonige Silben folgen (z. B. zwānzĭgfăch lōhnĕn, oder Kīndĕlĕin līebĕn).
Hochtonige Silben können leicht werden bei Anfügung mehrerer Silben, z. B.
Bāby̆lōn und băby̆lōnĭschĕ Gǟrten; Āchĕrōn und ăchĕrōnisches bītteres Wāsser.
Der forteilende Fluß des anapästischen Rhythmus (⏑ ⏑ –) veranlaßt hier die
Tonverschiebung.
Gewisse Komparationsformen (die wir übrigens nicht für die Versbildung
empfehlen wollen, da sie nur in dem Accentverse Verwertung finden dürfen)
erheben im Verse zuweilen eine fast unbetonte Silbe zur mitteltonigen, z. B.
klingendere, eilendere. Mittelmäßige Dichter brauchen solche mitteltonige Silben
mit Unrecht für tieftonige. Zwei oder drei oder gar vier der schweren Silbe
folgende Thesen sind unserer Zunge unbequem. Sie will zur Abwechslung
betonte Silben und strebt zu elidieren. Darin liegt eine Eigentümlichkeit des
deutschen Rhythmus, der ebensowenig mehrere leichte Silben als schwere eng
hintereinander vertragen mag. Wir haben außer Hānsnārr und Hānsdāmpf
ebenso wenig Spondeen (– –) als Molosse (– – –), ein Vorzug, den die [242]
Griechennachahmer unserer mißhandelten Sprache zum Vorwurf machten. Wo
viele Kürzen folgen, wird der Ton die Bedeutung ebenso abändern, als wo
mehrere Längen aneinander gereiht sind (z. B. Hausknecht, Stammhaus, wo
der Ton der gleichschweren folgenden Silbe gedrückt ist).
Als metrische Kürzen können alle einsilbigen Wörter, welche doch auch
den Hochton erhalten könnten, angenommen werden, wenn eine schwere
Silbe dem einsilbigen Worte unmittelbar folgt, z. B. ĭm Bāumstamm,
sŏ schnēll, ĕs schnēit, ĭch sprāch, zŭ gēben, jĕ nēun. Vgl. auch vĕrgēben
mit vērgewissern und dem Rückertschen verphilosophieren.
Gewisse fremde Nachsilben verkürzen die Stammsilbe, z. B. Cĕllīst, Blŭmīst,
Harfenist. Ebenso hat die Nachsilbe ei von ihrer Abstammung einen fremden
förmlichen Accent, wodurch sie die Stammsilbe übertönt und leicht macht,
z. B. Ăbtei, Schălmēi &c. Anders ist's bei Wörtern wie Reiterei, Arzenei,
wo die leichte Zwischensilbe der Stammsilbe so lange den Ton giebt, als
nicht eine schwere vorausgehende Silbe denselben an sich reißt, wie z. B.
ĕr trīnkt Ărzĕneī.
Der von J. H. Voß herrührenden Ansicht von der Existenz sogenannter
Überlängen können wir nicht beitreten. Es ist nicht zutreffend, daß z. B.
fä̆llt āb und ābfǟllt == Überlänge und Vermeidung derselben bedeute. Jm
jambischen Rhythmus erhält nur die eine oder die andere Silbe durch Umkehrung
und Versetzung in die Arsis den Accent, wodurch die Täuschung hervorgerufen
wird. Dasselbe kann bei allen sog. Überlängen behauptet werden,
weshalb wir sie außer Acht lassen.
4. Logisches Verhältnis. Diejenige Silbe, welche den Sinnton hat,
kann schwer und lang werden, auch wenn sie mitteltonig oder eine ausgesprochene
Kürze ist. Als Beispiel wählen wir das Pronomen er, das wir
erst vor eine 5gradige Arsis stellen, um es schwachtonig erscheinen zu lassen,
worauf wir es zwischen zwei Thesen zur hochtonigen Silbe erheben wollen:
Der Beziehungston vermag jede leichte Silbe schwer zu machen, z. B.:
Man kann dies füglich als ein logisches Betonungsgesetz
bezeichnen.
Vgl. hierzu Schillers Vers in „Piccolomini“: Es kann nicht sein! kann
nicht sein! kann nicht sein!
Es giebt genug schwankende Silben, deren rhythmische Bedeutung nur
durch ihre Stellung bedingt wird, z. B. im Satze „er leidet große Pein“,
hat die Silbe „gro“ starke Betonung. Sagt man jedoch, „er lītt große
Pēin“, so tritt das rhythmische Verhältniß: „⏑ – ⏑ ⏑ –“ ein und die Silbe
„gro“ ist mitteltonig geworden. Jm Beispiel: Mein Herr und König ist Herr
fünfgradig, im Beispiel: Herr König ist es mitteltonig.
Jn vielen Fällen kollidiert der Sinnton mit dem Verston.
Wir vernachlässigen sodann den letzteren zu Gunsten des ersteren.
Weiteres Beispiel:
Wir betonen hier ausdrücklich die Silben „Sag“ und „Weißt“,
während der Verston (Versrhythmus) eigentlich die Betonung der Silben „ihm“
und „du“ fordert.
5. Sprechton. Bei vielen Wörtern herrscht hinsichtlich der Betonung
der bestimmte Sprechton vor, der sich verändern kann, und der sicher im Laufe
der Zeiten manche Verschiebung erhalten wird, wenn auch die Grundgesetze
unserer Prosodie unbeirrt vom Zufall dieses Gebrauchs bestehen bleiben werden.
Man legt z. B. bei lĕbēndĭg den Ton nicht wie bei Lēben in die erste, sondern
in die zweite Silbe. Ähnlich bei elēndig, elēndiglich (von der früheren Participendung
āndi betont); ferner luthērisch (wegen des Einflusses des lateinischen
Luthērus; hier beginnt der Accent schon die Verschiebung, so daß in
manchen Gegenden lūthĕrĭsch bereits ebenso gebräuchlich deutsch ist, als mēyerisch
und bāyĕrĭsch und bǟuĕrĭsch; ferner numērisch (Nūmerus), apostōlisch (Apōstel),
äthērisch (Ǟther), abscheūlich (Ābscheu), vorzǖglich (Vōrzug), mißgȫnnen (Mīßgunst)
balsāmisch, schemātisch u. s. w.
Nur der Sprechton, d. i. der bestimmte Sprachgebrauch (== Sprechgebrauch),
entscheidet hier, welche Silbe zu betonen ist: usus tyrannus!
Der Sprechton verschiedener Wörter ist zu verschiedenen Zeiten und in
verschiedenen Gegenden oft recht abweichend. An einem Orte betont man z. B.
Wĕihnāchtĕn, am anderen Wēihnachten. Bei gewissen Wörtern hat sich das
Grundwort mit der Zeit abgeschwächt und wurde zum schwachtonigen Nebenwort,
während es früher ziemlich viel Ton hatte, z. B. Wīnzĕr für Weinzieher
(lat. vinitor, nach Weigand aus ahd. winzuril, winzurl, bayr. weinzierl
== Traubentreter), Achtel für Achtteil, Junker für Jungherr, Zweifel [244]
für Zweifal, Grummet aus Grünmahd, Ohmet für Ohmahd, Eimer aus
Eimbar, Zuber aus Zweibar u. s. w.
§ 76. Deutsches Silbensystem.
Versuch einer systematischen Gruppierung aller deutschen Silben.
Sämtliche deutsche Silben lassen sich nach ihrer Betonung in
drei große Gruppen einteilen: 1. in schwere, 2. in mitteltonige, 3. in
leichte oder nebentonige.
Diese Einteilung ist für den Dichter von höchstem Werte, da
nur schwere und mitteltonige Silben zu Arsislängen verwertbar sind,
während die leichten Silben sich nur für die Thesisstellung eignen.
Über Verschiebung der Tongrade s. § 75 S. 241 ff.
1. Schwere Silben.
Schwere Silben, die wegen des tonlichen Nachdrucks eine überwiegende
Länge erhalten, sind wie bereits in den vorhergehenden §§ 72─75 ausgeführt:
a. Die Haupt- oder Stammsilben zwei- oder mehrsilbiger Stammwörter,
z. B. Līchter, Hīndernis.
b. Die aus verloren gegangenen Wörtern erhaltenen Nebensilben ant
(in Āntlitz, Āntwort), ur (in Ūrahne, Ūrsprache, ūralt), erz in Ērzbischof,
Ērzschelm, Ērznarr), ent (in Ēntgelt, während entgēlten der Hauptregel folgt),
miß (in Mīßgunst, Mīßheirat. Der Hauptregel folgen: mißfāllen, mißgȫnnen,
mißlīngen, mißrāten, mißtrāuen), un (in Ūnmensch, ūngern, ūnfertig, ūngeschickt,
nicht aber in Unster̄blichkeit, auch nicht in Adjektiven, deren Komplement nicht
gebräuchlich ist, wie z. B. unsǟglich, denn es giebt kein „säglich“. Wo die
Silbe un negiert, wie in ūnfrēundlich erhält das Wort doppelte Schwere.
Ausnahmen sind: unēndlich, unvergēßlich, ungeheūer, ungemēin, unmȫglich,
unstērblich, unglaūblich. Jn diesen Wörtern hat sich bereits der Fortgang zur
Hauptregel vollzogen).
c. Die sogenannten Accentsilben, also: nach, vor, durch, ein, aus,
ab, zu, auf, mit, an, in. Sie erhalten den 5gradigen Hauptton, der
bei ihrem Fehlen auf die Stammsilbe fällt, z. B. dūrchgehen, zūsprechen, nāchmachen.
(Das Augment „ge“ im Participium ändert nichts, also: nachgemacht.)
d. Folgende Nachsilben haben der Hauptregel entgegen den Accent:
ei (nur das ei, welches romanischen Ursprungs ist), z. B. Druckerēi.
Ausnahme: Sālbei.
ier (rom. Ursprungs), z. B. Turniēr, Barbīer.
end als Jnnensilbe in lebēndig, elēndig, elēndiglich (s. § 75).
haft in wahrhāftig und leibhāftig.
e. Als fünfgradige Arsen können auch alle einsilbigen Wörter angewendet
werden, z. B. Rat, Bad, Leid; kurz, lang, stark; schlug, trug, ist, sprach;
eins, zwei, drei. Geschärfte oder gedehnte Aussprache übt keinerlei Einfluß,
weshalb z. B. Stāmm und Brōt in prosodischer Beziehung gleichschwer sind.
(Man könnte dies als Analogon zur Positionslänge der Alten auffassen.)
Wenn diese Wörter durch Flexion zwei- und dreisilbig werden, bleibt
die Hauptregel unter a in Geltung, also: Stammsilbe schwer, Formsilbe
leicht, z. B. Mannes, bemannen, männlich, freier, befreien. (Bei den alten
Sprachen ist es anders, z. B. mōneo, monēmus; der Ton rückt hier auf die
nächste Silbe fort, weil das Stammbetonungsgesetz dort nicht vorhanden ist.)
2. Mitteltonige Silben.
Mitteltonig (mittelzeitig), d. h. nicht ganz schwer und auch nicht mehr
leicht (die ─ sofern sie durch leichtere Silben von den hochtonigen
getrennt sind ─ zu Arsissilben tauglich werden), sind:
a. Die Hauptsilben des unbestimmten Geschlechtswortes
und der zweisilbigen Formen des Hilfszeitworts (also: ēin, ēine, ēiner, ēinem,
hāben, wērden, wǟre &c.).
b. Die Hauptsilbe in einzelnen zweisilbigen Präpositionen,
Bindewörtern, Fürwörtern (z. B. neben, oder, dieser, jener);
ferner einsilbige Präpositionen (z. B. bei, mit, durch, um, von,
aus, auf, an, in, nach).
c. Die Vorsilben miß, ent, ab, un in passiven Participien,
z. B. unerhört, unbĕsiegt, sowie bei den Adjectivis unbedenklich,
unstreitig.
d. Folgende Endungen: ei, in, sal, sam, schaft, haft, and, at,
fach, bar, heit, lein, lei, los, nis, ing, icht, lings, tum, ung, ig, zig, lich,
isch, ling.
e. Ferner die einsilbigen Pronomina: wer, was, uns,
ich, du, er, wir, ihr, sie, sofern dieselben nicht durch ihre Stellung
Kürzen werden.
f. Der Endvokal a i o und das fremde e (nicht aber unser fades e,
z. B. in Körte), also: Jda, Otto, Jrene (von εἰρήνη), Cyrene (von Κυρήνη).
3. Leichte Silben.
Leicht (thetisch) sind:
a. Die meisten Vor= und Nachsilben, besonders die mit dem Vokal
e und i. Also die Vorsilben ge, er &c. in Gesetz, Erlös; die Endsilben e, el,
eln, er, en, ern, erst, ert, es, end, ernd, est &c. in Worte, Mörtel, winseln,
Wörter &c. &c.
b. Die durch Flexion entstandenen Silben, z. B. Mannes,
grüner, meinem, sprechende.
c. Die untrennbaren Vorsilben zer, em, emp, ent, ver, be,
z. B. zerlegen, empören, empfehlen, entfärben, verführen, behüten.
d. Der bestimmte Artikel, außer wo er dem Substantiv zu fern
steht (z. B. dēr von mir gerügte Frevel).
NB. Wie leichte Silben mitteltonig oder schwer werden können und umgekehrt,
haben wir in § 75 dargelegt. Die alten Sprachen nannten die schwankenden
Silben ancipites. Jn et ego ist et kurz, weil ein Vokal folgt.
Jn et tibi lang wegen des folgenden Konsonanten. Zwei dem Vokal folgende
Konsonanten, auch wenn der eine derselben oder beide der folgenden Silbe
angehörten, schufen bekanntlich eine Positionslänge. Es war dies eben die
Konsequenz des alten Quantitätsprinzips. (Vgl. § 65.)
§ 77. Die Betonung zusammengesetzter Wörter.
1. Bei zusammengesetzten Wörtern hat in der Regel das erste
Glied den Hauptton, da es das bestimmende ist.
2. Mehrere zusammengesetzte Wörter haben relative Betonung,
die vom Wortsinn abhängig ist.
3. Jn flexionslosen Zusammensetzungen ist das zweite Glied das
bestimmende, weshalb es den Hauptton erhält.
1. Bei zweisilbigen, aus zwei Stammwörtern gebildeten Wörtern hat
das Bestimmungswort den Hauptton, das Grundwort den Nebenton,
z. B. Dienstherr, Steinsalz, Wildbahn. Auch in solchen Zusammensetzungen,
welche zwei oder mehrere lebendige Wurzeln oder Stämme enthalten (z. B.
Rosenstock, Nelkenstock, Pelzhandschuh, Nordpolschiffahrt), verlangt das bestimmende
Glied den Accent. (Rosenstock und Nelkenstock haben beispielsweise
den gemeinschaftlichen Grund: „Stock“, welcher also nicht charakteristisch unterscheidend
ist, was aber bei der Bestimmung Nelke und Rose der Fall ist.)
Das accentlose Glied einer Zusammensetzung ist, weil es im
Vers in die Thesis fällt, mitteltonig, z. B. Hausknecht. Durch Einfügung [247]
einer Bildungssilbe kann es tieftonig werden, z. B. Häuserkauf. Dagegen
Hauskauf.
Jn flexionsfähigen Zusammensetzungen (Substantiven, z. B. Arbeitszimmer;
Adjektiven, z. B. lebensmüde; Pronominibus, z. B. desjenigen &c.)
ist das erste Glied das bestimmende und daher das betonte.
Substantivische Ausnahmen sind: a. Bezeichnungen der Himmelsrichtungen
und der Zeit, z. B. Südōst, Jahrhūnderte, Jahrtausende.
b. Brüche, z. B. Dreiachtel. c. Die Nachsilbe ei, z. B. Buchdruckerei.
Adjektivische Ausnahmen sind: Bezeichnungen für Himmelsrichtungen,
z. B. südöstlich.
Verbale Ausnahme ist die Silbe ier in allen dem Volke nicht durchsichtigen
Zusammensetzungen, z. B. absolvieren (weil das Volk kein Wort
solvieren kennt), dagegen ausmarschieren.
Pronominale Ausnahme: Dersēlbe und einānder.
Vereinzelte Ausnahmen: a. All in Allgegenwart, Allweisheit, allerliebst.
b. Ober in Titeln, z. B. Oberforstmeister. c. Voll in vollbrīngen,
vollēnden, vollfǖhren, vollstrēcken, vollzīehen. d. Wieder in wiedereinsetzen,
wiederhergestellt, wiederunterworfen.
2. Relative Betonung haben die sechs trennbaren Partikeln: unter,
durch, hinter, über, um, wider, z. B. Unterhalt und Unterhaltung;
ūnterhalten (unter das Gefäß) und unterhālten (im Gespräch); ūnterstellen
(unter's Dach) und unterstēllen (anschuldigen); dūrchstechen und durchstēchen;
dūrchbohren und durchbōhren; hīntertreiben und hintertrēiben; ǖbersetzen (über
den Fluß) und übersētzen (ein Buch); ǖberführen (über den Fluß) und überfǖhren
(überzeugen == überweisen); ūmrennen (niederrennen) und umrēnnen;
wīderlegen (eine Widerlage bilden) und widerlēgen (die Unrichtigkeit mit Gründen
beweisen).
3. Jn flexionslosen Zusammensetzungen (Adverbien, Präpositionen,
Konjunktionen, Jnterjektionen) ist das zweite Glied das bestimmende und
daher das betonte, z. B. hināuf, hināb, jahrēin, jahraūs, darǖber,
nichtsdestowēniger, glücklicherwēise u. s. w. Ausnahmen sind: Dēmgemäß,
dēmzufolge, dērzeit, dēshalb, dīesseits, sōlchermaßen, dērentwegen, mēinerseits,
mēinetwegen, mēinethalben, dēinethalben, sēinetwegen, ēinerseits, āllerseits,
eīnesteils, aūßerhalb, īnnerhalb, hīnterrücks, rǖckwärts, vōrwärts, dēnnoch, [248]
ēhedem, vōrdem, ēhegestern, vōrgestern, fērnerhin, lētzthin, ǖbergenug, ālso,
ēbenso, glēichfalls, glēichwohl, dēmnach, mīthin, jēdesmal, āllemal, vōrzugsweise,
ābzugsweise, āllzu, schnūrstracks, ǖbermorgen, wīederum, īnwendig,
gēgenwärtig, zūfällig, hīnlänglich, āngesichts, dūrchgehends, Mōntags, Nāchmittags,
spōrnstreichs, stīllschweigends, zūsehends &c.
§ 78. Betonungsgesetz für die Fremdwörter.
Fremdwörter haben euphonische Betonung, da das deutsche
Volks-Sprachgefühl die fremde Wurzel von den Accessorien nicht zu
unterscheiden vermag. Man betont also die fremde Endsilbe (Ableitungssilbe),
wie es in der Heimat des Fremdworts gebräuchlich ist.
Logische Betonung findet in folgenden Fällen statt:
a. Beim Negationspräfix in. Dasselbe hat den Accent
wie die Vorsilbe un, z. B. īndirekt, J̄ndex. Ausnahmen: intākt, invalīd,
insolvēnt, Jnsolēnz, Jnjūrie.
b. Bei einer dem Volksgefühl durchsichtigen Zusammensetzung,
z. B. Bāsrelief, Ārchidiakonus, nicht aber im undurchsichtigeren Architēkt. Bei
Einführung der Zusammensetzungen mit „Meter“ (z. B. Baromēter, Thermomēter
&c.), fehlte noch ganz die Hauptbedingung für logische Betonung, d. i.
die Durchsichtigkeit. Jetzt ist der Begriff Meter so sehr in's Volksbewußtsein
übergegangen, daß sich eine Vertauschung der euphonischen Betonung mit der
logischen voraussehen läßt. Ja, sie hat sich in einzelnen Kreisen schon vollzogen,
indem man Thērmometer, Bārometer &c. spricht. Ebenso ist es mit dem
Wort Premierleutnant, das bereits Viele als Prēmierleutnant aussprechen.
c. Bei den zusammengesetzten Zwitterbildungen, sofern sie
durchsichtig erscheinen, z. B. Kōntrapunkt (dagegen Kontrapunktīst wegen
der fremden Ableitungssilbe), Diāmantnadel (dagegen diamāntene Hochzeit).
d. Logische Betonung haben noch folgende Fremdwörter:
α. Die erste Silbe ist betont: Āktie, Ālkohol, Ārie; Bāldrian,
Bārchent, Bēstie; Chāmpignon, Chrīsam; Dǟmon, Dēbet, Dēfizit, Dēmant,
Dīxtam, Dīstichon, Dīvan, Dōmino, Drāgoman; Ēnzian, Fācit, Fēbruar,
Fīacre (auch euphonisch Fiāker), Fīrlefanz, Fōlie; Gēnie, Glōrie, Grāzie;
Hārem, Hārlekin, Hōstie; Jānuar, J̄ndex; Kāmerad (auch euphonisch Kamerād),
Kāftan, Kānapee, Kānon, Kāviar, Kōdex, Kōlon, Kōran, Kōtillon (auch euphonisch [249]
Kotīllon), Kȳrie; Lēxikon, Lōgik; Māgier, Mārschall, Mōnat, Mōslem,
Mūmie; Nārwal, Nēktar; Ōrgien; Pǟan, Pāvian, Pēlikan, Pēreat, Pīnie,
Pōpanz, Pōstillon (hat bei Lenau euphonische Betonung), Prǟmie; Quīntessenz;
Rēquiem; Sāfran, Sānskrit, Sātan, Saūrier, Sēneschall, Sēraph,
Sērie, Sēsam, Stūdium, Sūltan; Tālisman, Tāffet, Tērtie, Thȳmian, Trīmeter;
Ūrian; Vākat, Vīvat; Xēnie; Zīon.
β. Eine Mittelsilbe ist betont: Akāzie, Akrōstichon, Amphībien,
Artērie, Asȳndeton; Basīlie, Betōnie; Chamǟleon, Cichōrie; Dekūrie; Endīvie,
Epītheton; Famīlie; Hallelūjah, Hexāmeter, Histōrie; Jehōvah; Kamēllie,
Kastānie, Komȫdie, Konchȳlie; Lappālie, Leviāthan; Matērie; Opodēldock;
Päōnie, Parallelopīpedon, Pentāmeter, Pistācie; Relīquie; Semikōlon, Supērior;
Tragȫdie; Unīsono, Utōpien; Zentifōlie, Zentūrie.
e. Nachfolgende Fremdwörter mit logischer Bedeutung sind
meist germanisiert: Abrahamītisch, accessōrisch, allopāthisch, Anāpher,
Auspīzien, Baccalaūreus, balsamīeren, Basīlikum, Bramārbas, Charākter,
charakterīstisch; Dēbitor, Definītum, Depōsitum, Diākonus; Extēmpore, Faksīmile;
grammātisch, grammatikālisch; Herōentum, Hiātus, homöopāthisch; Jntermēzzo,
Jubilǟum; Kalēnder, Kanīnchen, Kollektāneum (Plur.: Kollektanēen), Komītien;
Lyzēum; Mahagōni; Mausolēum, Messīas, Metāpher, Miāsma, Moskīto,
Musēum; Paradīgma, Parallāxe, platōnisch, Plebējer, privātim, Prokūra,
Pronōmen, Propagānda; Quinquagēsima; Rapūnzel, Resēda, Revōlver, Rhabārber,
Rhododēndron; Salpēter, Sēnior, Sexagēsima, sophoklēisch, Spondēus,
Sultāna; Tarāntel, Tiāra; Ultimātum, Univērsum; Valūta, Verānda, Viātikum;
Zodīakus.
Für diese Germanisierung des Fremdworts giebt es noch weitere eklatante
Beispiele; z. B. Āmen, Kāffee (für das in früherer Zeit fremde Kaffēe.
cf. übrigens Herrigs Archiv Bd. 64. Heft 3. 4.), Kotīllon, Pōstillon, Jāmbus.
(Vgl. hierfür die für Ausländer bearbeitete „Lehre vom Accent &c.“ von
Dr. Herm. Huß.)
§ 79. Arten des deutschen Accents und über das Deklamieren.
1. Je nachdem der betonte Teil des Verses als Silbe oder Wort
aufzufassen ist oder aber lediglich als Taktteil im Verse erscheint, hat
man bisher Silbenton, Wortton, Satzton und Verston unterschieden.
2. Die drei ersten Arten sind durch den Sinn oder durch den
Jnhalt bedingt, die vierte durch die Form und durch den Versrhythmus.
Man kann somit die drei ersten Arten unter dem gemeinschaftlichen
Namen Sinnton vereinigen, dem sodann nur der Verston
gegenüber zu stellen ist.
3. Die übrigen Arten von Accenten kommen für den Versbau
wenig in Betracht, müssen aber doch wenigstens gekannt sein.
4. Für das praktische Verständnis der Accentarten ist das laute,
ästhetische Tonlesen unerläßlich.
1. a. Silben- und Wortaccent. Der Silben- und Wortaccent (rhetorischer
Accent) hat seine im Geiste der Sprache wurzelnde eigentümliche Bedeutung.
Er betont in der Regel die Stammsilbe, läßt aber auch ─ nach den in den
vorigen Paragraphen entwickelten Gesetzen ─ neben den Arsissilben im Verse noch
besondere Silben hervortreten die, sodann ─ trotz ihrer Stellung in der Versthesis
─ doch einen schärferen Accent erhalten. Betont er eine Silbe im
Wort, so heißt er Silbenton, betont er das ganze Wort, so bezeichnet man
ihn als Wortton. Der Silben- und Wortton hebt einzelne Wörter oder Silben
vor andern heraus. Der Silbenton kann auch auf Ableitungssilben treten,
z. B. Emma hat es mir vērboten, du hast es mir gēboten. Der Wortaccent
kann von der Stammsilbe auf Silben treten, durch welche die Stammsilbe
eine neue Bestimmung erhält, z. B. lōslassen, ūnrühmlich. Er betont
die Worte nach ihrem Sinn, z. B. Ǖbersetzen und übersētzen, den Berg umgēhen
und mit Menschen ūmgehen; etwas vollzīehen und etwas vōllgießen.
(Vgl. § 75.)
b. Der Satzaccent. Der Satzton oder der syntaktische Accent
hebt einzelne Wörter im Satze durch ausnahmsweise Betonung hervor. Jn der
Regel legen wir den größten Nachdruck auf das Subjekt; ferner tritt das
Adjektiv gegen die Präposition hervor, aber gegen das Substantivum zurück;
das Verbum nimmt zwischen ihnen allen eine Mittelstellung ein; am wenigsten
werden die Artikel und die Bindewörter hervorgehoben. Dies wäre der
grammatikalische Accent. Der Satzaccent ändert den grammatikalischen
Accent in der Regel nicht, höchstens werden einzelne Silben des syntaktisch
betonten Wortes schärfer ausgesprochen. Der Satzton individualisiert je nach
dem durch ihn auszudrückenden oder ausgedrückten Jnhalt, z. B. der Löwe
ist ein Tier; der Löwe ist das stärkste unter den Tieren; der Löwe,
welcher heute gezeigt wurde, ist nach dem Tiergarten gebracht worden.
Oder: der Löwe frißt; der Löwe frißt viel. Oder: drei Thaler und sechs
Thaler sind neun Thaler; drei Thaler kann man von sechs Dukaten nicht
subtrahieren. Hier hat der Satzton (wie in den Beispielen des § 75) in jedem
Satze ein anderes Wort gewählt; er hat je nach dem Wechsel des Sinnes
individualisiert. Jn den letzten Beispielen geschieht die Jndividualisierung einmal [251]
durch die Zahlwörter drei, sechs, neun, dann durch die Substantiva
Thaler und Dukaten.
Jm folgenden Beispiel betont der Satzaccent die Worte: allen, Eine und die.
(Rückert in „Hamasa“.)
c. Versaccent. Jm Verse entsteht durch die regelmäßige Abwechslung
der Arsen und Thesen eine bestimmte wellenförmige Bewegung, die man den
Versrhythmus nennt. Die lateinische Benennung für Versaccent oder rhythmischen
Accent ist seit Quintilian „ictus“.
Jm nachfolgenden Beispiele stimmen alle Accente, welche das gebildete
Gefühl den Wörtern verleiht, mit den Hebungen des Verses, d. h. also mit
dem Versaccent zusammen, was einen selbst dem ungeübten Ohre wohlthuenden
Rhythmus verleiht:
Weiteres Beispiel:
(Scheffel.)
Jn diesem Beispiele haben wir den von Takt zu Takt wiederkehrenden,
auf der ersten Silbe jedes Taktes ruhenden Versaccent (─) bezeichnet. Der
Silben- und Wortaccent fällt hier mit dem Versaccent zusammen bis zum
vorletzten Takt. Hier fordert unser Gehör die Vernachlässigung des Versaccents
zu Gunsten des Satzaccents, indem die Stammsilbe in Sǟkkingen den Ton
erhält, während die arsischen Silben zu und king leichtere Betonung erhalten.
Der Satzaccent fordert sonst nur Betonung der Wörter Jēdem, Rhēine und
Sǟkkingen.
Ferneres Beispiel:
Hier fällt der Wort- und Satzaccent nicht an allen Stellen mit dem
Versaccent zusammen. Gleich am Anfang wird z. B. das Wort „wer“ beim
logischen Lesen höheren Ton erhalten müssen, als die Versarsis „dem“. Der
Satzaccent fordert Hervorhebung der Wörter frēi, freūdig, gērn, rēdet.
2. Mit der Bezeichnung Sinnton für Silben=, Wort- und Satzton kommen
wir in der Verslehre vollständig aus. Er bedeutet das inhaltliche Moment,
während der Verston mehr auf das Formelle des Versgerüstes Einfluß übt.
3. Von den erwähnten Accentarten unterscheiden Manche noch den sog.
„ethischen Accent“ nach dem Redesinn, welcher zwar nicht den grammatischen,
wohl aber den syntaktischen Accent modificieren kann: Man
wird nämlich nie das einzelne Wort in seinen Silbentönen des Ausdrucks
wegen falsch aussprechen, wohl aber im Redesatz ein in der Arsis stehendes
Nebenwort (oder ein Bindewort) gegen die allgemeine Gewohnheit dem Sinn
entsprechend stärker betonen, wie dies beim Wortaccent ja zuweilen die
Thesis thut.
Noch ist ein zufälliger Accent zu erwähnen, der sog. dramatische
oder hypokritische Accent, der durch die Eigenheit eines besonderen Pathos,
eines Affektes, einer Leidenschaft bewirkt wird, z. B.
Seidelmann nahm (nach Palleske) in seiner Betonung die Bewegung zur
Tiefe etwa so:
Die dadurch entgegentretende eisige Kälte ließ „seltsam Furchtbares“ erwarten.
Ähnlich betonte er in:
Das Wort „schießen“ lag einen Viertelton tiefer als Apfel. Jm Beispiel:
ist dem dramatischen Accent im Worte „Euch“ ein weiter, bis in alle Lüfte
dahinfahrender Spielraum geöffnet.
Boeckh (de metr. Pind. p. 58) unterscheidet eine ganze Musterkarte
von Accenten: Den accentus rhythmicus (== unser Versaccent: „non
necessarie eadem cum arsi et thesi verborum“); den accentus vocalium
(a, e, i, o, u, nach dem Grade der Helligkeit); den accentus melodicus,
affectus, orationis u. s. w.
4. Das ästhetische Tonlesen (Deklamieren). Wenn für unsere
Prosodik auch die Unterscheidung des Versaccents und des Sinnaccents genügt,
so ist doch eine Berücksichtigung der verschiedenen Accentarten von nicht zu
unterschätzender Bedeutung für die formale wie für die ästhetische Bildung.
Es wird den Lernenden in hohem Grade fördern, wenn er mehrere weder
Silbenzählung noch Metrum beachtende Gedichte, wie wir sie im Accentverse
vorführen (z. B. Goethes Prometheus, Ganymed, Grenzen der Menschheit),
mit Beachtung des Sinntons laut vorliest und der logischen wie der euphonischen
Seite der Betonung sein Augenmerk zuwendet. Er wird bald dahin
gelangen, die accentuierten Silben wie helle Tonlichter aufzufassen, die in ihrer
Wiederkehr gleich erleuchteten, die Landschaft zierenden Bergspitzen das begrifflich [253]
Bemerkenswerte und inhaltlich Belangreiche in höhere beleuchtete verständnisgewährende
Stellung bringen. Die regelmäßige Wiederkehr dieser Lichter im
Verse wird ihm den Eindruck des Melodischen, streng Geregelten geben, das
Gefühl des gemütbestrickenden Rhythmus.
Es dürfte sich überhaupt sehr empfehlen, viel und laut zu lesen und
nebenbei die ästhetische Seite des Lesens in's Auge zu fassen.
Um den Sinn für die Betonung zu bilden, lasse man so oft als möglich
recht tief sprechen. Man übe Sätze mit einanderfolgenden gleichen Vokalen,
z. B. die dunkeln Blumen spiegeln sich im klaren Bach, im hellen See.
Jn der Braut von Messina lasse man beispielshalber lesen:
Völker verrauschen (leise, ins Rauschende übergehend), Namen verklingen
(hellklingender), finstre Vergessenheit (dumpf) breitet die dunkelnachtenden
Schwingen (tief, dumpfer) über ganze Geschlechter aus (grabeshohl, schaurig). ─
Jm Erlkönig von Goethe trage man die 1. und 8. Strophe wie erzählend
vor, die letzte Zeile langsamer, leiser, fast zitternd. Die Worte des Vaters
müssen (ganz abgesehen von den einzelnen besonders zu accentuierenden Silben)
beruhigend, beschwichtigend klingen, die des Kindes dagegen aufschreiend, furchtsam,
zuletzt stockend, gebrochen. Der lockende Erlkönig muß flüsternd sprechen,
da seine Worte nur für das Kind berechnet sind; zuletzt muß sein Ausdruck
grimmig, erzürnt sein. Jn der Legende vom Hufeisen müssen die jambisch
anapästischen Verse:
lauter und rascher recitiert werden, als die vorhergehenden u. s. w.
§ 80. Der deutsche Accent bedingt eine deutsche
Silbenquantität.
Versuch eines deutschen Quantitätsgesetzes.
Der deutsche Accent macht die Silbe lang und begründet somit
auch für unsere Sprache eine Art Quantität.
Daraus entwickelt sich ein eigenartiges echt deutsches Quantitätsgesetz.
Es lautet: Schwere, d. h. 5= und 4gradige Silben sind
lang, mitteltonige, d. h. 3gradige Silben sind halblang,
leichte, d. h. 2= und 1gradige Silben sind unbedingt kurz.
Der metrische Wert und die Zeitlänge unserer deutschen Silben hängt
auf's Engste mit der Tonstärke (Betonung) zusammen. Die Tonstärke bedingt
auch physiologisch eine größere oder geringere Tondauer (Tonlänge).
Westphal, der doch noch in seiner allg. griech. Metrik „von dem
durch Voß aufgekommenen und am meisten durch Platen
betonten Streben mancher Dichter in Vermeidung accentuierter
Längen und accentuierter Kürzen spricht, behauptet plötzlich in [254]
seiner neuh. Metr. (S. 11. ff.), „daß sich im Deutschen eine verschiedene
Zeitdauer der betonten und unbetonten Silben nicht bemerken
lasse, vielmehr die schwächer betonte Silbe gleich lang sei, wie die
stärker betonte,“ weshalb er das Taktmaß ein gleichzeitiges nennt.
Auch Heinr. Schmidt ist in seinem Leitfaden der Rhythmik und Metrik
der Ansicht, daß fast alle deutschen Silben als Längen zu betrachten seien,
und bezeichnet so:
während doch jeder Mensch mit einigermaßen gebildetem Gehör lesen wird:
Zur besseren Veranschaulichung versuche der Lernende folgende Wörter
im gleichmäßigen Dreschertempo zu lesen:
Er wird fühlen, daß man zu den drei- und viergradigen Silben
„nachtszeit“ mehr Zeit braucht, als zu den eingradigen Silben „lige“ und
„liche“, und daß man also höchstens so lesen könnte:
Will man dem Sprachgefühl und Sprachgebrauch gemäß lesen, die beide
jeglicher Monotonie feind sind, so wird die Bezeichnung folgendermaßen sich
gestalten:
(Grillparzer.)
Diese Beispiele mögen für viele den Nachweis liefern, daß der Accent
die Arsissilbe verlängert, und daß mitteltonige Silben in der Thesis eine
untergeordnete Verlängerung erfahren, während unbetonte, leichte Silben unbedingt
kurz sind. (Vgl. § 81. S. 256 d. B.)
Unser deutsches Quantitätsgesetz wird demnach so zu abstrahieren
sein (vgl. oben): Schwere, d. h. 5= und 4gradige Silben [255]
sind lang, mitteltonige, d. h. 3gradige Silben sind halblang,
leichte, d. h. 2= und 1gradige Silben sind unbedingt kurz.
Wären die Metriker Westphal und Schmidt mit ihrer Lehre von den
gleichlangen Silben innerhalb unserer Sprache im Rechte, so wäre die von
ihnen beibehaltene Bezeichnung nach Jamben (⏑ –), Trochäen (– ⏑), Daktylen
(– ⏑ ⏑), Anapästen (⏑ ⏑ –), mindestens recht überflüssig. Man würde dann
nur Spondeen (– –), Molosse (– – –) und Dispondeen (– – – –) zu handhaben
brauchen. Nun lehrt aber schon die erfahrungsmäßige Physiologie und
die akustische Praxis, daß ein stark gesprochener Ton mehr Zeit zum Verklingen
nötig hat als ein schwach gesprochener. Wer stärker oder schwächer
an eine große helltönende Glocke wiederholt anschlägt, wird dieselbe Wahrnehmung
machen. Der stärkere Ton tönt länger fort als der schwache. Emil
Palleske, der jüngst verstorbene Meister der deutschen Vortragskunst und des
richtigen Accentgebrauchs, fand sich veranlaßt, beim lauten Sprechen in großen
resonanzhaltigen Räumen die vollbetonte Silbe länger anzuhalten als die
weniger betonte, und giebt somit unserem oben zum erstenmal ausgesprochenen
Quantitätsgesetze praktische Folge und Bestätigung. Er sagt, daß der stärkere
Ton erst verklingen muß, ehe der schwächere folgt, und lehrt („Kunst des Vortrags“
S. 139): Nur so könne man es begreifen, daß die Griechen einen
kurzen Vokal selbst vor zwei fast lautlosen Explosivkonsonanten als Länge
maßen. Z. B.: ὑψόθεν ἐκ πέτρης. βωμὸς δ'εφύπερθε τέτυκτο.
Palleske fährt fort: Was konnte denn hier lang austönen? Die Explosivlaute
p, k, t sicher nicht. Man sprach die Silbe stärker, weil das Ansatzrohr
sich bei dem k aufs Äußerste verkürzt und die Aussprache des k die
größte Anstrengung erfordert. Es mußte notwendigerweise eine Pause zwischen
k─p entstehen, die nur dadurch überbrückt wurde, daß eine solche durch Explosiv=
Position lange Silbe durch Wägung oder Hebung oder Tonstärke länger ausklang.
Gerade die tonlosesten Konsonanten wurden in die Arsis gestellt, damit
sie zu ihrem lautlichen Rechte kämen. Eine durch den Vokal von Natur
lange Silbe bedurfte weniger Tonstärke. Gewiß bestand auch in diesem Wechsel
ein Reiz der Recitation, dessen auch unsere Sprache nicht entbehrt. Auch
wir üben das Recht, eine Tonstärke durch ein Verweilen der Stimme auf einem
Vokal (selbst auf einem tönenden Konsonanten) fast zu ersetzen, z. B.
Vor der Physiologie verschwindet eigentlich das Gespenst der griechischen
Quantität. Denn jene Explosivpositionen sind so faule Längen, wie sie
Goethe in Hermann und Dorothea mit einem kurzen Vokal und einem tönenden
Konsonanten, wie r, l, n, m gebildet hat. Sie sind aber ebenso gute Längen
als unsere accentuierten Kürzen in Stammsilben, wenn wir annehmen, daß sie
allein durch Tonstärke als Längen gesichert waren. So ergiebt sich die einfache
Folgerung: Überall, wo Hebung und Senkung durch Tonstärke und Tonschwäche
(also Wägen der Silbe) stattfindet, oder wo im Verstakt laut gesprochen
wird, entsteht auch Messung oder Quantität, Länge und Kürze. Es [256]
kann zugegeben werden, daß vielleicht ein und dasselbe Gesetz von Tonstärke
und Tondauer den griechischen wie den deutschen Vers beherrsche. Palleske
(a. a. O.) findet ein Unterscheidendes a. in der größeren oder geringeren
Tauglichkeit des Materials und b. darin, daß sich die Griechen ihre Aufgabe
weit leichter machten als wir, indem bei ihnen der Wortaccent neben
dem Versaccent hergehen durfte, wenn er nicht mit dem letzteren zusammenfiel,
so daß die Mehrzahl ihrer Hexameter wie dieser deutsche geklungen haben muß:
Bei uns überwiegt der Sinnton. Gute Dichter suchen ihn so zu legen,
daß er den Verston deckt, mit ihm zusammenfällt, so daß also in der
That Accent und Quantität vereint sind. Bei den Griechen,
welche ihre Dichtungen mit Musikbegleitung vortrugen, entstand freilich in Folge
akustischer, künstlerischer und gesanglicher Motive ein strengeres Quantitätsprinzip.
Wenn sie den Wortaccent hören ließen, so war dies nur durch den
Wechsel von Tonhöhe möglich, weil die Tonstärke ─ und nur sie ─ vom
Versiktus oder Verston (Taktton) in Anspruch genommen wurde.
§ 81. Wichtige Konsequenzen aus unserem Quantitätsprinzip
für den Dichter.
Aus dem Quantitätsgesetz ergeben sich nachstehende Folgerungen,
die der Dichter bei seinem Schaffen zu beachten hat:
1. Hat ein Takt nur Eine Thesis, so nimmt dieselbe beim Lesen
die gleiche Zeit ein, wie zwei Thesen in einem Takte mit zwei Thesen.
2. Sofern die deutsche Quantität mit dem Accent steht und fällt,
berücksichtigt sie den Sinnton mehr als den Verston.
1. Die nachstehenden Beispiele werden neben denen auf S. 254 beweisen,
wie zwei Thesen keine größere Zeit beim Lesen beanspruchen als eine Thesis:
(trochäisch.)
Hier steht bei jeder Arsis nur eine Thesis, die je ein Achtel Zeitdauer
einnimmt. Anders wird es, wenn wir zu jeder Arsis zwei Thesen setzen, z. B.
(logaödisch.)
Es teilen sich die beiden Thesen (mir in) hier in die Zeitdauer eines
Achteltaktes und erhalten nur je ein Sechzehntel Zeitdauer u. s. w.
Daraus erhellt der hochwichtige, von so manchem Dichter
unbewußt angewandte Satz, daß für einen Trochäus (– ⏑) ein
Daktylus (– ⏑ ⏑), und für einen Jambus (⏑ –) ein Anapäst
(⏑ ⏑ –) eintreten kann.
Durch Beachtung dieses Gesetzes erblüht dem deutschen Dichter Freiheit
in der Bewegung, und es wird daher von nun an sicher auch der Anfänger
häufige Anwendung von demselben machen, sofern er sich den Eindruck seiner
Dichtung durch Recitieren und Deklamieren im Voraus zu vergegenwärtigen
vermag.
2. Jm vor. § 80 sagten wir, daß gute Dichter den Sinnton mit dem
Verston zu vereinen suchen. Bei vielen Bildungen geschieht dies instinktiv.
Und wenn viele Verse der antikisierenden Dichter seit Klopstock uns zusagen,
so haben sie es nur dem Umstand zu danken, daß das Sprachgefühl
eine Vereinung von Sinnton und Verston gebieterisch forderte.
Wo Sinnton und Verston nicht zusammenfallen, vernachlässigen wir
den Versrhythmus zu Gunsten des Sinntons, wenigstens beim Lesen. Wir
lesen also nicht:
Dĕn Jǖng | lĭng brīngt | keĭnēs | wĭedēr(Schiller.)
sondern: Dĕn Jǖnglĭng brĭngt keīnĕs wīedĕr.
Nicht: Bĕrgtrǖm | mĕr fōl | gĕn sēi | nĕn Gǖs | sĕn
sondern: Bērg | trǖmmĕr fōlgĕn seīnĕn Gǖssĕn.
Nicht: Gĕgēn | dĭe Lēg | ĭon̄ | ĕn
sondern: Gēgĕn dĭe Lēgĭon̄ĕn.
Durch solch verständnisvolles Lesen nach Arsis und Thesis lassen sich
manche Jnkorrektheiten in der Silbenmessung beseitigen. (§ 74.)
Wenn wir auch unseren Dichtungen ein bestimmtes Metrum zu Grunde
legen, so darf doch der Versaccent nur in dem Fall sein rhythmisches
Übergewicht geltend machen, als er eben mit dem Satzton zusammenfällt.
Sonst niemals! Keinerlei Hinweis auf früheres Herkommen und Ableitung
darf dieses Gesetz alterieren!! Wir können immerhin die Worte Hebung und
Senkung (Tonstärke und Tonschwäche) zur Bezeichnung der Quantität beibehalten,
da sie die Ursache bezeichnen, aus welcher für unser Ohr die Wirkung
der Länge und Kürze erwächst.
§ 82. Geist unserer accentuierenden Prosodik.
Geist und Sinn unserer heutigen accentuierenden Prosodik läßt
sich nach dem Abgehandelten in folgende Sätze zusammenfassen:
1. Es ist hinfort die besondere Pflege und Beachtung des Sinntons
das Maßgebende, wenn nicht ein der Sprache Gewalt anthuender
undeutscher Rhythmus bestehen soll.
2. Die Beachtung eines bestimmten Metrums innerhalb einer
Dichtung ist aus Rücksichten auf das uns von unsern klassischen Dichtern
überkommene Formprinzip wie auf den melodisch dahin wogenden
Versrhythmus wünschenswert, nicht aber unerläßlich. Der Accentvers
zeigt, daß unsere Sprache den freien, deutschrhythmischen Aufbau einer
nur die Hebungen beachtenden Dichtung verträgt.
3. Der Dichter ─ auch wenn er sich von einem bestimmten
Metrum leiten läßt ─ braucht keinesfalls dem Sinnton zu Gunsten
des Verstons Gewalt anzuthun. Vielmehr darf er sich jede in unserm
Accentprinzip wurzelnde Freiheit gestatten.
4. Die Beachtung einer feineren Betonung bedeutet
für die Zukunft unserer Poesie eine feinere, d. h. vollkommnere
Rhythmik!
1. Da der Dichter mit dem Material der deutschen Sprache arbeitet,
so muß er auch ihren Geist erfassen und die vollkommenste Rhythmik erstreben,
innerhalb welcher die deutschen Accent- und Taktgesetze walten, die keinen
ausländischen Gesetzgeber dulden. Macht sich der deutsche Dichter von fremden
Gesetzen abhängig, so wird ─ wie es thatsächlich z. B. beim Hexameter der
Fall ist ─ ein unvollkommener, undeutscher Rhythmus entstehen, der im Widerspruch
zu unserm ererbten Sprachgefühl steht. Ein gewisses Gefühl, sagt
Palleske (a. a. O. 144), wie es beim Hopserton der Kinder entsteht, mag
auch bei einer unvollkommenen Rhythmik befriedigt werden. Aber Empfindung,
Phantasie und Verstand wird sich doch nur denjenigen Klangbildern dauernd
zuwenden, welche auch in der Form die feine und mannigfaltige, gesetzmäßige
und behende Gliederung widerspiegeln, die wir in dem organischen Gebilde
einer Dichtung genießen und bewundern wollen. Braucht man alle Silben
wie wohlgewählte Mosaiksteine nach ihren Schattierungen, die nicht bloß im
Jambus, sondern im Daktylus &c. auszuproben sind, so wird man ein ganz
anderes Gemälde zusammensetzen, als wenn man bloß zwei verschiedene Farben
anwendet. Nicht Klopstock und seine Nachfolger haben mit Einführung ihrer
Messung die gegenwärtige Verwirrung gebracht, vielmehr muß das Zurückgehen
vor oder vielmehr hinter diese Theorie zur Auflösung metrischer Formschönheit
führen.
2. Ein Schulbuch hat den Satz proklamiert: „Opitz werde überwunden
werden, und Goethe bilde nicht die letzte Hebung unserer Poesie.“ Wenn dies
soviel heißen soll, als: die Zukunft wird einer noch feineren Messung oder
Wägung sich bedienen, als Goethe, so läßt sich dies hören. Die Verbesserungsfähigkeit
des Menschengeschlechts und der Fortschritt ist ein nicht erst neu zu beweisender
Lehrsatz: warum sollte nicht ein Goethe der Zukunft erstehen können!
Wenn aber durch den Ausspruch ein Aufgeben des Formprinzips gemeint sein
soll, aus dem heraus unsere größten Dichtungen geschaffen wurden, so ist zu
betonen, daß diese Dichtungen mit dem Formprinzip fallen würden, da ja
Jnhalt und Form untrennbar sind. Übrigens hat niemand unsere im Vorstehenden
abstrahierten Accentgesetze praktisch mehr geübt als Goethe und Schiller
(vgl. § 116 ff. vom Accentvers). Es ist ja wohl richtig, daß viele Goethesche
und Schillersche Verse nicht allen Anforderungen an Messung und Tonbeachtung
entsprechen. Aber eben darin bewährte und bewies sich der Genius Schillers
und Goethes, daß sie trotz des Mangels der Theorie einer deutschen Prosodik
die Tongesetze der deutschen Sprache übten, ohne sich völlig den Jrrlehren des [259]
Quantitätsprinzips hinzugeben, ja, daß sie es fertig brachten, das äußere
metrische Gerüste aufrecht zu erhalten, auch wo sie dem Sinnton in echt deutscher
Weise gerecht wurden (vgl. den Accentvers § 116).
3. Die Beachtung des Sinntons brachte es mit sich, daß wir mitten in
jambischen Versen z. B. Trochäen und Anapäste &c. finden. Daß ein Recht zur
Anwendung von Anapästen (⏑ ⏑ –) im jambischen Rhythmus oder von Daktylen
(– ⏑ ⏑) im trochäischen Rhythmus vorliegt, haben wir im § 81 bewiesen.
Es fragt sich nun, ob auch an Stelle der Jamben Trochäen und Daktylen
und an Stelle der Trochäen Jamben und Anapäste treten dürfen. Die Beantwortung
dieser Frage wird nach dem Abgehandelten demjenigen nicht schwer
fallen, welcher der Berechtigung des Accentverses und der Skansion nach Arsis
und Thesis das Wort redet, oder der Frage vom Rhythmuswechsel (§ 93) im
deutschen Sinn näher getreten ist.
Wilhelm Jordan hat in seinem epischen Vers der Germanen am
Schillerschen Quinar gezeigt, wie derselbe nach Arsen und Thesen gelesen werden
muß. Palleske meint hierzu: „Jordan habe mit seinem eigenen Maße gemessen;
es höre ferner der Unterschied von Vers und Prosa auf, wenn man mit Jordan
nur nach Takttönen messe.“ Aber Palleske übersieht, daß der Unterschied
zwischen Vers und Prosa bei Wägung nach Arsis und Thesis doch bestehen
bleibt. Das Wunderbare bei den Schillerschen Bildungen ist, daß der Dichter
trotz aller Freiheit in der tonlichen Bewegung doch das Gerüste und den Grundcharakter
des jambischen Rhythmus beizubehalten wußte, daß man das Gebäude
erkennt, auch wo der Versaccent durch den Sinnton überdeckt ist. Der Dichter
hat seine Quinare zählend gebildet, nicht messend. Die Quinare Schillers
richtig (d. h. nach dem Sinnton) gelesen, werden jedes deutsche Ohr befriedigen.
Der Grund hiervon liegt in der Abwechslung, in der Harmonie mit unserm
Sprachgefühl, in der Beachtung und richtigen Stellung schwerer und leichter
Silben (unbekümmert um den Versaccent), endlich in der Skansion nach Arsis
und Thesis.
4. Eine Rhythmik, die nur auf den Wellen des Versaccents sich bewegt,
verknöchert oder wird monoton, weil sie sich vom Metronomen abhängig macht,
der dem Perpendikel der Uhr vergleichbar in bestimmten Zeitintervallen die
Wiederkehr der Arsen fordert und die Thesen in die gleichen Zeitteile zwängt.
Unsere deutsche Prosodik darf sich getrost von diesem Zwang emancipieren;
sie ist einer freien, wenn auch regelvollen Bewegung fähig. Selbst wo sie sich
unter den Einfluß des Metrums stellt, kann sich ihr freier Geist vielgestaltig
entfalten. Wo sie das Metrum durchbricht, bleibt doch der Takt das Grundelement
des Rhythmus und sein Element die Arsis. Der deutsche Sprachgeist
erstrebt Freiheit für sein Empfinden wie für seinen Ausdruck im Vers. Er
darf mit dem Verstakt spielen, gegen ihn ankämpfen, im Sinnton Silben ihm
entgegenstellen, die ihn zu erdrücken scheinen, ja, die ihn durchbrechen, wenn er
nur gegen das Ende der rhythmischen Reihe (vgl. § 89) zum schematischen Maß
zurückkehrt, dem er sich „zu liebendem Vereine wie die Neigung der Pflicht“
ergeben hat.
Ein nach den Gesetzen der accentuierenden Prosodik gebauter Vers wird
fesseln, anregen, veredeln. Sein Rhythmus wird unserm Sprachgefühl wohl
thun, denn er füllt die einzelnen Teile mit Schönheit aus. Daher gewinnt
er auch jedes deutsche Gemüt zum Freund, auf welches nicht Shakespeares
Worte passen:
Über diese Musik hat sich nunmehr die Rhythmik des Näheren zu
verbreiten.
II. Rhythmik.
§ 83. Begriffliches.
1. Rhythmus (von ῥυθμός == ebenmäßige Bewegung) ist die
musikalische Schönheitsäußerung der Poesie in Bezug auf Bewegung
und bedeutet die geordnete Folge und Wiederkehr der betonten und
unbetonten Teile eines Verses oder eines Gedichts (s. § 95): die über
die Worte sich hinziehende Bewegung oder Musik.
Die Lehre vom Rhythmus oder die Kunst desselben heißt Rhythmik.
Die Höhenpunkte der Wellen des Rhythmus werden durch die
Arsen des Verses gebildet.
2. Gleichmäßige Bewegung giebt keinen Rhythmus. Rhythmus
ist der Wechsel im Leben. Er ist außer in der Poesie und in der
Musik überall nachweislich, wo lebendige oder fixierte Bewegung sich
findet, also auch in den Schwesterkünsten der Poesie und der Musik.
3. Der Grundrhythmus der deutschen Sprache ist trochäisch (– ⏑).
1. Durch regelmäßige, taktartige Abwechslung betonter und unbetonter
Silben, durch gleichmäßige Wiederkehr von Hebungen und Senkungen entsteht
harmonische, selbst dem ungebildeten Geschmack wohlthuende, ebenmäßige Bewegung:
d. i. Rhythmus. Jndem das Schwellen und Abnehmen im Redefluß
naturgemäß ein entsprechendes musikalisches Heben und Senken der Stimme
mit sich bringt, wird die Monotonie der Rede durch eine erfrischende Modulation
gehoben, die man wie eine Art Melodie empfindet, weshalb man den Rhythmus
auch die Melodie der Sprache nennen könnte.
Unsere Stimme ist gewissermaßen der Strom, auf welchem die durch das
Metrum gesetzmäßig angeordneten Klänge schwimmend sich fortbewegen; er hebt
die letzteren und senkt sie auf seinen schaukelnden Wellen. Dies ergiebt eine
Art Musik: Nationalmusik.
Wenn Scheffel sagt:
Einsam wandle deine Bahnen
so erhebt er die Stimme viermal (
) und läßt sie viermal sinken.
[261]Ebenso Schiller in der Reihe:
Und es wallet und siedet und brauset und zischt (
),
wo zwischen den hellleuchtenden Höhenpunkten der Stimme je zwei die wallende,
siedende, brausende Bewegung fortführende, wenig betonte Silben die Musik
der Reihe erhöhen.
Diese musikalische Aufeinanderfolge und Ordnung der
tonlichen Silben, dieses gesetzmäßige Aufwogen und Niedersteigen
ist eben der Rhythmus. Jm Rhythmus ist das geheimnisvolle
Agens verborgen, welches dem Volk sein Lied trotz aller Quantitierung und
trotz aller Silbenzählerei der Meistersänger lieb erhielt und es von Geschlecht
zu Geschlecht fortpflanzte. An den Arsen erkannte es den Rhythmus. Diese
setzten ihm taktmäßig Fuß und Hand in Bewegung, und so blieb der Wechsel
der Betonung das Grundelement der deutschen Rhythmik.
Frühere Erklärungen des Begriffs Rhythmus stehen mit unserer Definition
nur teilweise in Widerspruch. Platon definiert Rhythmus als Ordnung der
Bewegung. (Τῇ τῆς κινήσεως τάξει ῥυθμὸς ὄνομα εἴη. Platon de
legg. II.) Aristides Quintil. bezeichnet ihn als Zusammensetzung
geordneter Zeitlängen und meint, der Rhythmus lasse sich erkennen
a. durch das Gehör im Melos, b. durch das Tasten im Schlage des Pulses,
c. durch das Gesicht im Tanz. (ῥυθμὸς τοίνυν ἐστὶ σύστημα ἐκ χρόνων
κατά τινα τάξιν συγκειμένων. Arist. I p. 31 cd. Meibomius 1652.) Der
berühmte Polyhistor des 17. Jahrhunderts Athan. Kircher sagt in seiner Musurgia
universalis (II. Bd. 8. Buch, 6. Kap. Rom 1650): Rhythmus est sonus
quidam proportionatus ex tardis et velocibus motibus, sive, quod idem
est, ex variis acuminis et gravitatis gradibus compositus. Omnes
motus ordinati et certa lege adstricti rhythmi dici possunt u. s. w.
(Vgl. auch Scriptores artis metr. ex recens. H. Keilii p. 608 und 631.)
2. Wo die Töne und die Bewegung gleichmäßig ─ ohne Wechsel ─
sind, da ist kein Rhythmus vorhanden. Beim Dreschen, wo der erste Schlag
betont wird, erzeugt sich der Rhythmus durch die ebenmäßige Wiederkehr des
betonten Taktteils. Er fehlt aber gänzlich beim Glockengeläute und raschen
Trommelwirbel. Bei jeder ohne Jntervalle und Schattierungen fortdauernden Bewegung
entsteht ein verwirrtes Getöse (man vgl. den Wasserfall, den Wind &c.).
Schreitet jedoch Jemand in gemessener, nicht durch beliebige Hast oder Zögerung
unterbrochener Bewegung einher, indem er je den ersten Tritt verstärkt,
oder ist in seiner Rede abgemessene, abgewogene Betonung und gleichmäßiger,
weder durch Affekte beschleunigter, noch durch Absicht verlangsamter Fluß, so
waltet im Gang wie in der Rede Rhythmus: man kann sagen, seine Rede
oder sein Gang sind eurhythmisch (von εὔρυθμος == wohlgemessen).
Auch in den Schwesterkünsten der Poesie ist der Rhythmus nachweisbar.
An einem Bildwerk wird fixierter Rhythmus in der kontrastierenden Hebung
und Senkung der Gliedmaßen fühlbar sein, wie im Tanze oder im ruhigen
Gang der Fuß sich in regelmäßigen Bewegungen hebt und senkt, ähnlich wie [262]
die Meereswellen wechselnd sich heben und senken, anschwellen und abfließen.
Der Rhythmus in der Musik ruht gleich dem Rhythmus in der Poesie in der
Hebung und Senkung. Man beginnt jeden Takt mit einem stärkeren Einsatz,
weshalb die Arsen auch die Kriterien des musikalischen Rhythmus sind.
3. Der Rhythmus in der Poesie ist so verschieden, als die Anordnung
von Arsis und Thesis (also das Metrum) verschieden sein kann. Wir sprechen
daher von einem jambischen (⏑ –), trochäischen (– ⏑), anapästischen (⏑ ⏑ –)
und daktylischen (– ⏑ ⏑) Rhythmus.
Der Grundcharakter unserer Prosasprache ist ein trochäischer, weshalb die
den Gegensatz liebende Poesie demselben auszuweichen strebt und den jambischen
Rhythmus vorzieht, ähnlich wie beispielsweise in der spanischen Sprache mit
ihrem jambischen Grundrhythmus bei poetischen Gebilden (z. B. dem Cid) der
trochäische Rhythmus sich vorwiegend eingebürgert hat. Ein schönes Beispiel
für die Behauptung, daß sich der künstlerische Rhythmus der Poesie allenthalben
in Gegensatz zum unkünstlerischen der Prosa setzt, bilden Schillers Verse:
Diese Verse haben im Bau der Periode und fast in allen Wortfüßen
trochäischen Charakter, während der Versrhythmus jambisch ist.
§ 84. Unterschied zwischen Metrum und Rhythmus.
Metrum bedeutet den Verstakt (– ⏑ | oder ⏑ – | oder – ⏑ ⏑ | oder
⏑ ⏑ –) in seiner Wiederholung als dichterisch formelles Zeitmaß.
Rhythmus bezeichnet ebendenselben Verstakt als musikalisches Zeitmaß
und in seiner tonlichen Wirkung auf unser Ohr. Das Metrum
ist die sichtbare Darstellung von einer Hebung und einer oder zwei
Senkungen. Werden diese Silben gelesen, so erzeugen sie den Rhythmus,
der hauptsächlich durch das Ohr wirkt und als Seele des körperlichen
Metrums erscheint. Beim Metrum kommt das Zeitmaß in
Betracht, beim Rhythmus der Jctus oder Verston.
Der Rhythmus ist lediglich die Musik, welche sich als Wechsel zwischen
betonten und unbetonten Silben über die einzelnen Metren hinzieht und durch
jede falsch betonte Silbe in ihrer regelmäßigen Folge und Harmonie gestört
oder wie von einer Dissonanz unterbrochen wird. Er ist das Geistige, das sich
auf der materiellen Formunterlage des Metrums weiterschwingt. Sein Wesen
ist ─ nach Minckwitz ─ der eigentliche Schwung der Seele, der nach der
Verschiedenheit dieses Schwunges sich in den lebensvollen Auf- und Abschwung
einteilt und in diesen beiden Hauptformen die ganze Kunst und Eigentümlichkeit
der Bewegung des ganzen Jnnenlebens in sich trägt und nach Außen sich
ergießt. Da dieser Auf- und Abschwung die einzelnen Metren als Glieder
des rhythmischen Ganzen beseelt, so können wir den Rhythmus recht wohl
die Seele des Metrums nennen.
Varro sagt, daß aus Stoff (materia) und dem Metrum (dem vom
Stoff erfüllten Maße) die Regel (regula) werde, ein Geregeltes, d. i.
Rhythmisches. (Vgl. auch Script. art. metr. ex rec. Keilii p. 206 u. 282.)
Nach Boeckh (de metr. Pind. p. 18) berücksichtigt der Rhythmus die
Qualität (den Ausdruck, die Betonung), das Metrum die Quantität (die Zahl
der Längen und Kürzen: Rhythmus qualitatis, metrum quantitatis est).
Der Stoff für den Rhythmus ist in der Poesie das Wort (in der Musik
der Ton), während für die Alten schon das bloße Gerüste von Längen und
Kürzen ─ ohne Rücksicht auf konkreten Rede-Jnhalt ─ dem Rhythmus den
nötigen Spielraum zur Entfaltung seiner Thätigkeit bot. Ein Schema von
Längen und Kürzen war ihnen gleichsam der Tanzplatz des Rhythmus. Aus
vier Kürzen (⏑ ⏑ ⏑ ⏑), die ihnen zwar ein Metrum, aber kein Rhythmus
waren, da ja wie im Geräusch keine Silbe vor der andern hervortrat, bildete
ihr Rhythmusgefühl durch Zusammenziehung zweier Kürzen in eine Länge den
Daktylus (⏓⏓ ⏑ ⏑) und den Anapäst (⏑ ⏑ ⏓⏓), wie auch den Proceleusmatikus
(⏑̋ ⏑ ⏑́ ⏑), der eine Art Ditrochäus war und bei uns nur so verstanden
werden könnte (─́ ⏑ – ⏑). Den Alten war der Rhythmus der Vater
des Metrums (πατὴρ μέτρου ῥυθμός), insofern ohne die Bedürfnisse der
Rhythmopöie das Messen und Anordnen der metrischen Längen und Kürzen
gar nicht nötig wäre. (Man könnte bei geschriebenen Dichtungen immerhin
den Rhythmus den Sohn des Metrums nennen, da ja hier das Metrum
das Substrat des Rhythmus ist.)
§ 85. Der rhythmische Takt oder Fuß.
Das Element der Rhythmik ist der rhythmische Takt, welcher
aus einer Arsis mit oder ohne Thesen zusammengesetzt sein kann.
Man nannte den rhythmischen Takt bei den Griechen Fuß (πούς), und
man hatte hierzu guten Grund. Bei ihrem durch den Gesang begleiteten
Tanze kam nämlich auf jeden Takt des gesungenen Liedes ein Niedertritt des
Fußes (== ein pas), wie es heutzutage bei dem Beginn eines Musiktaktes
mit dem Pedal am Klavier geschieht. Der Fuß besorgte das Geschäft des
Taktierens. Jeder der zu singenden Takte wurde durch das rhythmische Zeichen
des Fußtritts seitens des Dirigenten bezeichnet, wodurch begreiflicherweise das
Wort Fuß für das Wort Takt gebräuchlich wurde. Wir wollen in unserer
deutschen Betonungslehre das leicht verständliche und in der Musik gebräuchliche
Wort Takt beibehalten.
Ein rhythmischer Takt kann nur eine Arsis haben, die in ihrer Beziehung
zur Thesis tonlich aufzufassen ist. Wo bei uns zwei Arsen neben
einander folgen, pflegen wir unbewußt die Thesis durch eine Pause zu ersetzen.
So erhalten wir mehrere rhythmische Takte, z. B.
Bei den Alten war mindestens eine Thesis neben der Arsis nötig.
„Denn“, sagt Suidas, „da das schnelle oder langsame Heben und Setzen
(ἄρσις καὶ θέσις) der Füße unter sich ein Verhältnis (λόγον) hat, so entsteht
daraus ein Rhythmus.“ Arsis ohne Thesis gab keinen rhythmischen Fuß.
Die aufschäumende Welle mußte wieder abfließen, der gehobene Fuß mußte
wieder niedergesetzt werden.
Nach unserer zum erstenmal dargelegten Theorie kann jedoch (und obiges
Noten-Beispiel beweist dies) ein rhythmischer Takt auch ohne gesprochene Thesis
sein, wie er deren mehrere haben kann.
Die Verschiedenheit der rhythmischen Takte mögen einige Beispiele illustrieren:
1. Jambisch.
Eĭn Brīef | vŏn īh | rĕr Hānd | (3 rhythmische Takte).
2. Trochäisch.
Lōsĕ | Klǟngĕ |
Wie sie | kommen |
Jm Ge | dränge | (je 2 rhythm. Takte).
3. Daktylisch.
Wōnnĭgĕ | Blǖmĕlĕin (2 rhythm. Takte).
4. Anapäste.
Ĕs vĕrgēht,
Wăs bĕstēht (je 1 rhythm. Takt).
5. Freie rhythmische Takte.
Prīnz Ĕu | gēnĭŭs, dĕr | ēdlĕ | Rīttĕr, |
Wōllt dĕm | Kāisĕr | wīedrŭm | krīegĕn |
Stādt ŭnd | Fēstŭng | Bēlgĕ | rād.
Ähnliche Takte zeigen die Accentverse (§ 116─122).
§ 86. Arten des Rhythmus.
1. Der Rhythmus der antiken Sprachen, bei welchem es auf die
Folge langer und kurzer Silben ankommt, heißt quantitierender
Rhythmus, dem wir unseren in der Betonung gipfelnden accentuierenden
Rhythmus entgegen stellen.
2. Der Rhythmus, welcher das strenge Metrum zur Grundlage
nimmt, heißt Versrhythmus.
3. Sofern er nur die Arsis berücksichtigt und sich um die Thesen
wenig kümmert, heißt er freier Rhythmus (auch accentuierender
Rhythmus).
4. Der mit der Thesis beginnende Rhythmus heißt steigender
Rhythmus; der mit der Arsis beginnende fallender.
1. Quantitierender Rhythmus.
„Aus wie viel Zeiten ist der Rhythmus zusammengesetzt?“ fragt der
ältere Bacchius in seiner Einleitung zu diesem Gegenstand. „Aus drei Zeiten“,
antwortet er, „nämlich aus der kurzen, langen und irrationalen.“ (τούτων
χρόνων. βραχυσυλλάβου τε καὶ μακροῦ, καὶ ἀλόγου.) „Was ist die
kurze Zeit?“ Jene kleinste, die keine weitere Einteilung zuläßt. „Und was
die lange?“ Das doppelte Maß der kurzen. „Was aber ist die irrationale
Zeit?“ Jene, die länger ist, als die kurze, aber kürzer als die lange. Weil
sich nun mit genauer Rechnung nicht ermitteln läßt (διὰτὸ λόγῳ εἶναι
δυσαπόδοτον), um wie viel sie eigentlich länger oder kürzer sei, heißt sie
eben deshalb irrational. „Wie vielerlei Zusammensetzungen der Zeiten giebt
es im Rhythmus?“ Vier. Entweder wird die kurze Zeit der kurzen verbunden
oder die lange der langen; die irrationale der langen, die irrationale
der kurzen. ─ Die Kombination lang gegen kurz und kurz gegen lang hat
Bacchius übergangen, vielleicht wegen des rhythmischen Gleichgewichts, welches
aber keineswegs in numerischer Gleichzahl der Zeiten besteht.
All diese Kombinationen des quantitierenden Rhythmus kennt unser accentuierender
Rhythmus nicht. Durch seine Einfachheit, die in der Betonung ihren
Grund hat, hebt er sich vorteilhaft vom quantitierenden Rhythmus ab.
2. Versrhythmus.
Jener Rhythmus, welcher dem Versschema Leben und Bewegung zu verleihen
hat, wird Versrhythmus genannt. Er ist vom Metrum abhängig; seine
Betonung ist an die Arsis gebunden. Er läuft mit dem Metrum in gleichmäßiger
Bewegung fort und kann daher als gebundener Rhythmus
bezeichnet werden.
Jch gebe zum Beleg eine jambische Strophe aus Th. Souchays Liedern
von der Ostsee, wo der Rhythmus sklavisch an den Jambus gebunden ist:
J̆ch schǖtt | lĕ mīr | dĕn Staūb | vŏm Fūß |
Ăn mēi | nĕr Hēi | măt Schwēl | lĕ ─ |
Ŭnd brīn | ge dir | mein Lied | zum Gruß, |
Du blau | e Ost | seewel | le. ─ |
3. Freier Rhythmus (urdeutscher Rhythmus).
Der Rhythmus, welcher sich wohlgefällig von Arsis zu Arsis schaukelt,
ohne sich um schulgemäß vorgeschriebene Thesen zu kümmern, heißt freier
Rhythmus. Er gehört dem einzelnen Satze an, ohne zum Gesetz für den
folgenden zu werden, z. B. „Nēuĕ kǖhnĕ, bĕgēistĕrndĕ J̆dēen erzēugt nur ein
hēller Kōpf, dēr über einem glǖhenden Hērzen thrōnt.“
Dieser Rhythmus ist unserer freien Sprache würdig; er ist der allmächtige
Verbündete des Sinntons, mit dem im Verein er unüberwindlich ist.
4. Steigender und fallender Rhythmus.
Da die Thesis fast tonlos ist, so gewinnt der mit ihr beginnende Rhythmus
eine fortdrängende, aufsteigende Bedeutung, weshalb man ihn steigend
nennen kann. Umgekehrt wird die Gewalt des Rhythmus (sofern er nämlich
mit der Arsis einsetzt) durch die folgende Thesis mehr abfallend, geringer,
weshalb man ihn füglich als fallend bezeichnen kann.
Beispiele:
a. Steigender Rhythmus.
J̆ch wīll | eŭch ĕrzǟh | lĕn eĭn Mǟr | chĕn găr schnūrrĭg &c.
(Bürger.)
b. Fallender Rhythmus.
α. Sēinĕ hēimătlōsĕn Līedĕr
Lēgt dĕr flǖcht'gĕ Dīchtĕr nīedĕr
Gērn ĭn zārtĕ Fraūĕnhānd;
Blēibt ăuch ēr dĕm Kāmpf vĕrkēttĕt,
Rūht dŏch sānft ŭnd wēich gĕbēttĕt,
Wās seĭn tiēfstĕs Hērz ĕmpfānd.
(Albert Träger.)
β. Sēlĭgĕ, frȫhlĭchĕ Wēihnăchtszēit.
Jn den antiken Sprachen giebt es noch den aus zwei Längen (– –)
bestehenden schwebenden Rhythmus, der ─ wenn wir reine Spondeen hätten
─ in unserer Sprache das Verharren und die ernste Ruhe bedeuten müßte.
§ 87. Prinzip des ursprünglichen urdeutschen Rhythmus
und seine Wandlung.
1. Der freie Rhythmus war ursprünglich das Prinzip unserer
deutschen Verskunst.
2. Der Versuch, den ursprünglichen accentuierenden Rhythmus
durch den quantitierenden zu verdrängen, war ein beklagenswerter
Jrrgang und eine Versündigung am deutschen Sprachgeist.
1. Die Herrschaft des accentuierenden freien Rhythmus in der althochdeutschen
Poesie beweisen die sämmtlichen, in Handschriften erhaltenen altdeutschen
Dichtungen. Vor Allem zeigt uns das Nibelungenlied den freien
Rhythmus. Seine Verse enthalten je 6 Arsen mit willkürlichen, unbestimmten
Thesen, z. B.
Diese Einteilung ergiebt, daß die Dichter des Nibelungenepos lediglich
nach Arsis und Thesis sich richteten und dem freien Rhythmus huldigten. Die
Thesen waren gleichgültig, der Rhythmus bewegte sich von Arsis zu Arsis.
So war es noch zur Zeit des Minnesangs, was die im § 69 S. 225
gegebenen Beispiele zeigen. So blieb es im Volkslied bis in die Neuzeit.
2. Die Kunstdichtung hat nach der ersten Blüte der deutschen Dichtung
Arsis und Thesis nicht mehr beachten zu müssen geglaubt und im Silbenzählen
das Wesen des Versbaues erblickt. Und unsere gelehrten Dichter empfahlen
plötzlich die Rückkehr zur musikalischen Rhythmik der klassischen Sprachen, was
zu Ungeheuerlichkeiten führte, die wir in der Prosodik zeichneten. Jch erwähne
wiederholend nur die Neubildungen von schweren ungeschlachten Zusammensetzungen
behufs Gewinnung von Spondeen. Man that der Sprache Gewalt
an, um einen Rhythmus zu erreichen, der unserem Sprachgeist fremd war und
die Weiterentwickelung unserer Sprache auf lange Zeit hinaus verzögerte.
§ 88. Rückkehr zum urdeutschen Rhythmus.
Das allzu eifrige Hindrängen zum quantitierenden Rhythmus
der Alten konnte doch die Vorzüge unseres accentuierenden Rhythmus
nicht verdunkeln.
Nunmehr dürfte es als Pflicht eines jeden verständnisvollen
Dichters erscheinen, den freien deutschen Rhythmus mehr als seither
zu beachten und zu pflegen.
Die steifen, geschraubten und ungelenken Verse, welche nach den Gesetzen
der quantitierenden Rhythmik gebaut waren, bildeten einen grellen Abstich zu
unserer beweglichen, jung gebliebenen Volkspoesie. Man wagte zwar nicht,
den Griechenfreunden unter den Poeten mit wissenschaftlichen Waffen entgegenzutreten;
ja, man hatte nicht einmal den Mut, sich von den fremdländischen
Metren ganz los zu sagen; aber man dichtete doch auch im Geist des
Volksliedes. Wenn ältere Rhythmiker lediglich am gebundenen Rhythmus in
ihren Längen und Kürzen festhielten, so strebte man doch in einzelnen Dichtungen
ein höheres Jdeal an, als durch einen pochenden Eisenhammer und eine
klappernde Mühle erreicht wird; man erstrebte (meist unbewußt) die Rückkehr
zum urdeutschen accentuierenden, freien Rhythmusprinzip. Goethe (im Faust),
Schiller (in vielen Dichtungen s. § 116─122), Rückert, Geibel, Heine und
viele Andere ließen mehr und mehr für den Einsichtigen die rhythmische Reihe
an der Hebung fortrollen, um so deutsche Melodie zu schaffen. Sie durchbrachen
die Schranken des gebundenen Rhythmus, der sich auf Kosten der
Schönheit und Lebendigkeit sklavisch an's Metrum bannt. Die alten Aöden,
deren göttlicher Gesang jedenfalls nur eine ziemlich monotone rhythmisch melodische
Recitation war, um dem Vortrage Stil, Haltung und Melodie zu geben
(wie noch heutzutage die Rhapsoden in Neapel die Abenteuer Rinaldos, die
Rhapsoden in Persien die ihres Rustem vortragen), sie mochten wohl mit
einer beschränkten Rhythmik auskommen. Wir Deutsche konnten uns mit streng [268]
gebundener Rhythmik mechanisch wiederkehrender Versfüße für die Dauer nicht
begnügen. Wir mußten die Fesseln des Versrhythmus brechen, wenn wir nicht
die deutsche Schönheit einer konventionellen Formenschnitzerei opfern wollten.
Viele hochbedeutende neuere Dichter haben daher ─ ohne Aufforderung
seitens einer bis jetzt nicht vorhandenen accentuierenden Rhythmik ─ die Rückkehr
zum geschichtlichen Grundelement des deutschen Rhythmus in ihren Dichtungen
bereits begonnen, was wir im Kapitel vom Accentvers (§ 116─122)
nachweisen werden. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, daß nunmehr
das deutsche Sprachgefühl siegen und in der neuen Rhythmik der neuen Poesie
erneutes Leben, Schwung und Bewegung verleihen wird.
§ 89. Die rhythmische Reihe.
Die Vereinigung von 2 (bis zu 6) Takten, sofern diese dem
Sinne nach von einem einzigen Hauptaccent beherrscht werden, hieß
bei den Griechen Kolon oder Glied, wofür bei uns die Bezeichnung
rhythmische Reihe entsprechender sein dürfte. Die rhythmische Reihe
reicht so weit, als der logische Nachdruck desjenigen Wortes fortwirkt,
welches den für diese Reihe geltenden Hauptaccent erhält.
Für Bezeichnung ihrer verschiedenen Ausdehnung schlagen wir die
deutschen Benennungen Zweitakt, Dreitakt, Viertakt, Fünftakt, Sechstakt,
oder zweitaktige, dreitaktige, viertaktige, fünftaktige, sechstaktige
rhythmische Reihe vor. Doch können immerhin auch die den Griechen
entstammenden verständlichen Namen Dipodie, Tripodie, Tetrapodie,
Pentapodie, Hexapodie, ─ oder dipodisches, tripodisches, tetrapodisches,
pentapodisches, hexapodisches Kolon beibehalten werden, oder auch dipodische,
tripodische, tetrapodische, pentapodische, hexapodische Reihe.
Eine Dipodie hat 2 Takte, eine Tripodie 3 u. s. w.
Nur ganz ausnahmsweise überschreitet die rhythmische Reihe die Ausdehnung
von sechs Takten. Oft ist sie länger als die Verszeile, oft kürzer,
meist fällt sie jedoch mit ihr zusammen, z. B.
Sie endigt bei uns stets mit einem vollen Worte. Einschnitte (Wortbrechungen)
wie folgende verträgt sie nicht:
(Rückert.)
(Schiller.)
Jm Beispiele von Rückert liegt der Hauptaccent in der Silbe „Geist“;
also heißt die rhythmische Reihe: diese meisterlosen Geister. Jm Beispiele von
Schiller hat das Wort Meer den Hauptnachdruck, weshalb es unbedingt zur
rhythmischen Reihe gehört.
Die Verszeilen sollten eigentlich immer mit den rhythmischen Reihen zusammenfallen,
wie im obigen Beispiele von Scheffel. Jede kurze Verszeile
sollte eine volle rhythmische Reihe sein, wie es z. B. in folgender Strophe
von Heinr. Bosse der Fall ist.
Öfters finden sich schon in kürzeren Verszeilen mehrere, je einen Hauptaccent
besitzende rhythmische Reihen, z. B.
Der Kna | be träumt | : Man schik | ke ihn fort. |
1. zweitaktige Reihe. 2. zweitaktige Reihe.
(Hebel.)
Besonders ist dies aber in allen längeren, mehr als 6 Takte umfassenden
Reihen der Fall, z. B.
Wüsten | könig | ist der | Löwe |; will er | sein Ge | biet durch | fliegen |.
1. viertaktige Reihe. 2. viertaktige Reihe.
Wie es akatalektische (vollständige) und katalektische (unvollständige)
Verse giebt (vgl. § 105), so unterscheidet man auch akatalektische (d. h. mit
dem vollen Verstakt endigende) und katalektische (mit einem halben Verstakt
endigende) rhythmische Reihen. (Jm obigen Beispiele von Bosse ist die 1.
und 3. Zeile akatalektisch, die 2. und 4. sind katalektisch.)
§ 90. Der große Rhythmus.
1. Der große Rhythmus ist der Aufbau ganzer rhythmischer
Perioden aus rhythmischen Reihen. Er wiederholt die Proportionen
der rhythmischen Reihen in großen Dimensionen.
2. Er ist somit die Musik des ganzen Gedichts und bedingt die
Wirkung desselben.
1. Wie sich der einzelne Taktrhythmus als ordnungsmäßige Gliederung der
durch einen Bewegungsstoff ausgefüllten Zeit in der Weise mit anderen Taktrhythmen
zur rhythmischen Reihe vereinigt, daß die Bewegung die einzelnen
Abschnitte vernehmbar erscheinen läßt (indem sie nämlich eine Silbe vor der
andern durch eine stärkere Jntension hervorhebt), so verbinden sich die rhythmischen
Reihen zum großen Rhythmus, welcher somit die Vereinigung größerer
oder kleinerer Gefüge zu einem Gebilde ist und die Strophe oder auch das
ganze Gedicht umfaßt. Eine Jntension niederen Grades trennt die Einzeltakte,
eine Jntension höheren Grades die rhythmischen Reihen als vernehmbare rhythmische
Abschnitte von einander, und zwar bei der Reihe dadurch, daß einer von
den benachbarten Einzeltakten eine stärkere Jntension als die anderen erhält:
eine Jntension höhern Grades. Das nachfolgende Beispiel eines großen Rhythmus
möge dies veranschaulichen:
Die Verbindung dieser rhythmischen Reihen zum großen Rhythmus läßt
ersehen, daß die Reihen im Verhältnis vollständiger Gleichbedeutung zu einander
stehen, also einander coordiniert sind. Während in der rhythmischen Reihe
ein bestimmter Takt einen hervorstechenden Accent enthält, welcher mehrere Takte
zur rhythmischen Reihe verkettet, hat der große Rhythmus keinen besondern
Hauptiktus, sondern es hat der Jktus irgend eines Vordersatzes ganz die gleiche
Bedeutung mit dem Jktus irgend eines Nachsatzes.
Jndem sich der große Rhythmus wie eine von der gleichen Stimmung
erzeugte ebenmäßige Melodie über ganze Gefüge und Satzperioden ausdehnt,
wird er zum „Hin- und Herschwunge“, welcher nach Aristides Quintilianus
den Auf- und Abschwung auseinander rückt und so die Kraft und Eigentümlichkeit
des Seelendranges und der Gemütsäußerung verklärend verschönt zur
Gestaltung und Entfaltung bringt.
2. Es ist begreiflich, daß die Wirkung eines ganzen Gedichts von seinem
eigenartigen großen Rhythmus abhängt. Die Wirkung des großen Rhythmus ist
aber in der Natur des Menschen begründet, wenn sich dieser auch nicht erklären
kann, warum z. B. das erste schwere Taktteil in allen rhythmischen Reihen
der Musik (z. B. in der Mazurka oder im Marsche) so außerordentlich anfeuernd
wirkt
und warum durch den
Wechsel ähnlich betonter Silben mit weniger betonten jene anmutende, angenehme
Abwechslung der Töne erfolgt, die wir in Musik und Poesie &c. eben
Rhythmus nennen.
§ 91. Rhythmische Pausen.
Nicht selten treten am Ende rhythmischer Reihen Pausen ein.
Dieselben müssen als vollgültige Zeitteile der rhythmischen Reihe
besonders bei der Deklamation wie auch bei der wissenschaftlichen Auffassung
hinzugerechnet werden.
Es umfassen diese Pausen in der Regel nur kleinste Zeitteile, also nur
Teile des Taktes. Sie können aber auch einen ganzen Takt und mehr umschließen.
Die ½taktige Pause verleiht der rhythmischen Reihe die Bezeichnung [271]
einer katalektischen, die ganze Pause am Schluß macht sie zur brachykatalektischen
Reihe. (Diese haben die Alten nur bei Dipodien angenommen.)
Beispiele:
(== ½ Taktpause, also:
katalektische Reihe.)
Still mit | Nebel= | glanz ─̇ | – | (½ und 1 Taktpause, also:
katal. u. brachykatal. Reihe.)
(½taktig nennen wir die Pause mit Rücksicht auf Silbenzahl des zweisilbigen
Taktes. Jm Hinblick auf Zeitmaß müßten wir sie ⅓taktig nennen,
was das obige Notenbeispiel veranschaulichen wird.)
Der Uhland'sche Nibelungenvers wird allgemein als sechstaktiger Jambus
aufgefaßt. Und doch ist er bei Hinzurechnung der Pausen ein vollständiger
achttaktiger Jambus, z. B.
(brachykat.)
(Nachdem das Gesetz der rhythmischen Pausen ausgesprochen ist, wird
jeder ersehen, daß am Schluß der ersten rhythmischen Reihe ½ Takt fehlt,
dagegen am Schluß der zweiten Reihe ein ganzer Takt, durch deren Hinzufügung
der Vers ─ wie bemerkt ─ zum achttaktigen Jambus wird.)
Jn derselben Weise wurden auch von geachteten Litterarhistorikern u. A.
häufig achttaktige Verse als siebentaktige aufgeführt, z. B.
a. Jambisch (⏑ –).
(Rückerts Napoleon.)
b. Trochäisch (– ⏑).
α. Strēnge Frǟulein zū begrǖßen mūß ich mīch bequēmen | – |
(Goethe, Das Parterre spricht.)
β. Seht, da sitzt er auf der Matte, aufrecht sitzt er da ─̇ | – | (Hier
ist 1½ Taktpause hinzuzurechnen.)
(Schiller in Nadowessiers Totenlied.)
γ. Rītter, trēue Schwēsterliēbe wīdmet Eūch dies Hērz ─̇ | – | (Ebenso.)
(Schillers Ritter Toggenburg.)
δ. Als ich still und ruhig spann ─̇ |, ōhne nūr zu stōcken | – | (Hier
fehlt in der ersten katalektischen Reihe ½ Takt, in der zweiten brachykatalektischen
ein ganzer Takt.)
(Goethe, Die Spinnerin.)
(Ähnliche Pausen finden sich in Goethes Tischlied, in Offne
Tafel, im Heidenröslein u. s. w.)
ε. Rōsen pflǖcke, Rōsen blǖhn ─̇; mōrgen | īst nicht | hēut'. ─̇ | – |
(Gleim.)
(Hier ist der Vordersatz katal., der Nachsatz katal. und brachykatal.)
Ebenso: Wenn von Flügel und Klavier ─̇ | meine liebsten Lieder. ─̇ –
(Rückert in Beyers biogr. Denkm. 221.)
[272]Es wäre sicher eine sehr unrichtige, leichtfertige Bestimmung des Rhythmus,
wenn wir in solchen Gedichten nur die Takte ohne Einrechnung der
Pausen zählen wollten. Wir müßten dann ─ wie es von mancher Seite
auch geschehen ist ─ bei Gedichten, wie „Deutschland, | Deutschland |
über | Alles, | über | Alles | in der | Welt“ die richtig fühlenden Komponisten
tadeln, die dem Worte „Welt“ eine halbe Note gaben, während
den übrigen Silben je nur ¼ Note gegönnt ist. Jm erwähnten Gedichte
sollte schon der Parallelismus der Glieder darauf hinweisen, daß wir es mit
viertaktigen Reihen zu thun haben, und daß füglich von eingefügten überzähligen
(hyperkatalektischen) dreitaktigen Reihen nicht gesprochen werden kann.
Dieser Parallelismus der Glieder zwingt aber auch, in Gedichten wie
das nachfolgende, die verkürzte Reihe durch Pausen zu ergänzen:
Der Komponist hat in richtigem Gefühle die 3 Worte der zweiten rhythmischen
Reihe als Arsen behandelt und eine vierte Arsis durch eine Pause
ergänzt, so daß bei ihm die zweite Reihe der ersten vollständig entspricht:
Es giebt in jedem Rhythmus ähnliche Beispiele, in denen man instinktiv
versucht, die letzte Arsis mit einer Fermate zu bedecken, um hauptsächlich (wie
in folgendem Beispiel) das stumme e aus seiner Thesisstellung in die Arsis
des folgenden Taktes hinüber zu eskamotieren:
Jm Beispiel Schillers: Ein Löwe tritt | Und sieht sich stumm | Rīngsūm | &c.
müssen dem Worte „Ringsum“ unbedingt zwei durch Pausen getrennte
Takte eingeräumt werden u. s. w.
Das Vorstehende möge genügen, da wir in der Strophik noch einmal
auf die Pausen zurückkommen werden (§ 155).
§ 92. Kompositionen aller möglichen rhythmischen Reihen.
1. Die deutsche Sprache besitzt den größten Reichtum an Kompositionen
in allen nur erdenkbaren Rhythmen.
2. Sie ist in dieser Beziehung allen Sprachen der Welt überlegen.
Der Reichtum an Kompositionen in rhythmischen Reihen zeigt sich ebenso
in zweisilbigen, wie in dreisilbigen Metren.
A. Zweisilbige Metren.
1. Trochäische Kompositionen.
a. Dreitaktige, z. B. Schillers Jägerlied: Mit dem Pfeil, dem
Bogen &c. Ferner: Seit ich ihn gesehen, glaub' ich blind zu sein, von Chamisso.
b. Fünftaktige, z. B. Lieber unterm Fuß der Heidenrosse, von Herder.
c. Zweitaktige, z. B. Gestern kam ich, heute käm' ich, von Rückert.
Oder: Aus der Wolke quillt der Segen, von Schiller, wo der Dichter auch
die Verszeilen nach Dipodien abteilte, weil ein Zusammenziehen wegen des
katalektischen Schlusses mancher Dipodien (Pausen) nicht gut anging, wenn
nicht ungebräuchliche Reihen (sog. prokatalektische Tetrapodien, d. i. solche, die
in ihrem Jnlaute, aber nicht im Ausgang katalektisch sind), entstehen sollten.
2. Jambische Kompositionen.
a. Viertaktige. Hier finden wir katalektische, akatalektische, brachykatalektische
Formen, z. B. Es war ein Kind, das wollte nie | zur Kirche
sich bequemen. (Goethe: Die wandelnde Glocke). Oder: Was hör' ich draußen
vor dem Thor, | was auf der Brücke schallen? (Goethes Sänger). Oder: Lenore
fuhr ums Morgenrot | empor aus schweren Träumen (Bürgers Lenore). Oder:
Wie kommt's, daß du so traurig bist, | da Alles froh erscheint? (Goethes Trost
in Thränen; ähnlich ist sein Fischer komponiert.)
b. Dreitaktige, z. B. Nur wer die Sehnsucht kennt, | weiß, was ich
leide. (Goethes Mignon. Die 1. Reihe ist hier akat., die 2. ist katal.) Oder:
Jch ging im Walde | so für mich hin. (Goethes Gefunden. 1. Reihe ist katal.,
die 2. brachykatal.) Oder: Des Bruders Todschlag erhöht Nitokris. (Platen:
Schatz des Rhampsinit. 1. und 2. Reihe katal.)
c. Fünftaktige, z. B. Verfließet, vielgeliebte Lieder, | zum Meere der
Vergessenheit (Goethe, Am Flusse. 1. Reihe kat., die 2. brachykat.). Oder:
Entzweit mit einem Favoriten | flog einst Fortun der Weisheit zu (Schiller:
Das Glück und die Weisheit. Vgl. das ähnlich komponierte: Mädchen aus
der Fremde.) Die fünftaktigen Kompositionen kommen sehr häufig vor. Man
könnte jene Formen, bei welchen wie in den oben erwähnten Beispielen der
Vordersatz katalektisch und der Nachsatz brachykatalektisch ist == als brachykatalektische
Fünftakte bezeichnen. ─ Dikatalektische Fünftakte
könnte man sie nennen, wenn Vordersatz und Nachsatz katalektisch sind.
Jst jedoch der Vordersatz brachykatalektisch und der Nachsatz katalektisch, so
müßte man dies einen probrachykatalektischen Fünftakt nennen.
Dagegen wäre es ein dibrachykatalektischer Fünftakt, wenn Vordersatz und
Nachsatz brachykatalektisch sind. Der Wechsel an Reihen ist so reizend, wie die
Asymmetrie in der Gothik.
d. Sechstaktige. Beispiele hievon finden sich in Unzahl in unseren
Sonetten, Oktaven, Terzinen. (Vgl. § 165. 166. 169.)
B. Dreisilbige Metren.
1. Daktylische Kompositionen.
a. Dreisilbige Takte wechseln mit zweisilbigen. Der Grund
dieses Wechsels ist meist das Bedürfnis, dreisilbige Eigennamen unterzubringen,
z. B. Āsĭĕn | rīß sĭe | vōn Eŭ | rōpĕn. (Schiller, Hero und Leander.)
b. Dreisilbige Takte bestehen ohne Unterbrechung. Dies
ist eine Nachahmung der Alten. (Beispiele sind unsere Hexameter &c.)
c. Dreisilbige Takte nach bestimmter Vorschrift gemischt.
Für Gewinnung eines gemischten Metrums werden nach bestimmter Regel zweiteilige
Takte eingemischt. Die Griechen nannten diese gemischten Formen
logaödische Metren und unterschieden daktylische und anapästische Logaöden.
(Der Name bedeutet Mischung des prosaischen [λόγος, ⏑ –, – ⏑] und des
poetischen [ἀοιδή, ⏑ ⏑ –, ⏑ ⏑ –] Rhythmus. Beispiele dieser Form geben
wir genügend in der Verslehre.)
Wir könnten auch die daktylischen Kompositionen einteilen in:
a. Dreitaktige, z. B. Glühend trifft mich der Sonne | Pfeil, still
liegen die Weste.
b. Viertaktige, z. B. Ehret die Frauen! sie flechten und weben |
himmlische Rosen in's irdische Leben. (Schiller.)
c. Zweitaktige, z. B. Tage der Wonne | kommt ihr so bald? (Goethe)
u. s. w.
2. Anapästische Kompositionen.
Sie sind meist mit Jamben vermischt, wie z. B. Schillers Reiterlied:
(Goethes Erlkönig.)
Oder der brachykatalektische Viertakter:
(Goethe, Vor Gericht.)
(Goethe.)
Zum Beweis, daß unsere Sprache reicher an Kompositionen rhythmischer
Reihen sei, als andere Sprachen, könnten wir mehrfache Aussprüche
von Gelehrten anführen, welche die verschiedenen Litteraturen gründlich durchgearbeitet
haben und die belebende Vielgestaltigkeit durch Anwendung der
„Katalexis, Prokatalexis, Dikatalexis und den verschiedenen Arten
der Hyperkatalexis“ (namentlich bei unserem Goethe) anerkennen konnten.
Der citierte Westphal meint a. a. O. bezüglich Goethes, „daß derselbe weder
von Aristophanes noch von Äschylus erreicht worden sei. Die spezifisch
Äschyleische Weise, katalektische Tetrapodien mit katalektischen Dipodien und [275]
gedehnten Spondeen zu verbinden, tritt in ihrer Vielgestaltigkeit bei Weitem
nicht so sehr hervor wie diejenige unserer deutschen Brachykatalexis. Und dies
Alles ist ─ etwa mit Ausnahme der nach spanischer Manier angelegten freieren
Bildungsweise ─ originell deutsch, nichts ist den Griechen abgeborgt, denn
fast alle unsere trochäischen Formen finden sich schon im deutschen Kirchenliede des
15. und 16. Jahrhunderts, wo von einer Nachbildung griechischer Metren
offenbar noch nicht die Rede sein konnte.... Katalektische Periodenbildung
nach Art jener Äschyleischen finden wir z. B. im Kirchenlied: „Warum sollt
ich mich denn grämen? | Hab' ich doch | Christum noch |, wer will mir den
nehmen? | “ &c. Aber die Periodenbildung ist hier noch mannigfaltiger als bei
Äschylus. Wenn die griechischen termini technici für unsere deutschen Metren
passend erscheinen, so hat dies seinen Grund darin, daß der die rhythmische
Form schaffende poetische Genius beider Völker von derselben Grundlage ausgegangen
ist. Jn der uns erhaltenen Tradition der Griechen beschränken sich
übrigens die sämtlichen trochäischen Kompositionen lediglich auf die tetrapodische
Reihe.“
§ 93. Rhythmische Malerei.
1. Wie der einzelne Laut (§ 28), so eignet sich auch der Rhythmus
in der Poesie zur dichterischen Malerei.
2. Diese rhythmische Malerei fand ihre Pflege im klassischen
Altertum wie in der Neuzeit.
1. Wie der Tonkünstler die Taktarten je nach dem Charakter seines
Musikstücks wechselt, so macht es der verständnisvolle Dichter mit dem Metrum.
Er. schlingt je nach dem Charakter seiner Dichtung das eigenartige magische
rhythmische Zauberband um seine Worte, die nun getragen von wunderbarer
Musik unaufhaltsam dahinflutend Leben und Thatkraft atmen. Das
Schaukelnde, Rollende, Fliegende, Bewegliche, Neckische, Tanzende, Jagende,
Begeisterte &c. giebt er durch Einfügung von Daktylen oder Anapästen schon
äußerlich zu erkennen; das Ruhige, Sanfte, Ebenmäßige, Würdige, Ernste
durch Trochäen und Jamben, das Schwerfällige durch eingeschaltete Spondeen.
So übt er rhythmische Malerei, indem er eben durch die im Rhythmus
liegende Musik (durch Proportion in Bildung und Stellung) Eindrücke, Bilder,
Empfindungen zu malen sucht.
Die Genialität des wirklichen Dichters offenbart sich in der ungezwungenen
Entwicklung der beweglichen Wellenlinien seines farbigen Produkts, was erst
derjenige begreift, der sich die Fähigkeit verschafft hat, auf dichterisch geistige
Gebiete folgen und das Empfinden der Dichterbrust im melodievollen Gebilde
nachfühlen zu können, d. h. die Bedeutung unserer Sprache für rhythmische
Malerei zu erkennen.
2. Rhythmische Malerei bei den Alten. Schon die Alten haben
die rhythmische Malerei mit Glück angewendet. Virgilius (Äneis 8, 596) [276]
sucht z. B. in der rhetorischen Figur vom dahertrabenden Reiterkorps das von
ihm Dargestellte auch dem Ohre vernehmbar zu machen:
Qūadrŭpĕdāntĕ pŭtrēm sŏnĭtū qŭatĭt ūngŭlă cāmpūm. (§ 54.)
Derselbe Dichter lehrt uns, wie zur Vermeidung des springenden Rhythmus
die Daktylen in Spondeen zusammenzuziehen sind. Da ein spondeischer
Hexameter schwerfällig ist, so gebraucht er ihn, um das wuchtige Hämmern der
Cyklopen zu malen:
Illi inter sese magna vi brachia tollunt. (§ 54.)
(Vgl. noch seinen monströsen Vers, in welchem er des monströsen Polyphem
gedenkt: Monstrum horrendum, informe, ingens, cui lumen ademptum
Aen. 3, 658.)
Mit gutem Grund haben die Alten monoschematische Verse vermieden
(μονόσχημοι, d. i. solche, die aus lauter Daktylen oder lauter Spondeen
gebildet sind). Die Pentaschemoi haben einen Spondeus zwischen Daktylen,
oder einen Daktylus zwischen Spondeen; die Dekaschemoi haben zwei Spondeen
zwischen Daktylen und umgekehrt. Die Mischung von Daktylen und
Spondeen ist von ihnen zu herrlichen Klangwirkungen benützt worden. So
charakterisiert Virgil das wilde Gebrause der Stürme, welche aus dem von
Äolus gespaltenen Berge ausfahren:
Bei Ovid wirkt die rhythmische Malerei anschaulicher als das lateinische
coaxare oder das deutsche quaken. Durch coaxare oder das deutsche
quaken wird das Schreien selbst bezeichnet, womit aqua nichts gemein hat.
Bezeichnender, aber nicht aus Begriffsworten, sondern rein schallnachahmend
ist das berühmte βρεκεκεκὲξ κοὰξ κοὰξ des Aristophanes (Frösche 209).
Den blitzwerfenden Zeus schildert Ovid so:
Hier bildet das fulmine eine Art Echo zu dem Donnerschlag lympum.
Ennius hat unter Anwendung der Allitteration den Ton der Trompete onomatopoetisch
nachgeahmt:
Ähnliche Spielereien finden wir z. B. bei Aristophanes in den Vögeln,
wo Strophen ganz aus τιὸ τιό τιοτιγξ zusammengesetzt sind. (Vgl. Aristoph.
Vögel 738 ff.)
Von neueren Dichtern besitzen wir interessante ähnliche Bildungen. Jch
erinnere nur an die Spaßverse, durch welche Taubmann († 1613) die Schwatzhaftigkeit
der Weiber charakterisiert: »Quando conveniunt Maria, Camilla,
Sybilla, Sermonem faciunt et ab hoc et ab hac et ab illa.«
Rhythmische Malerei bei deutschen Dichtern. Von unseren
deutschen klassischen Dichtern liefert besonders Schiller reiches Material zum
Studium der Eurhythmie. Der Handschuh, Das Lied von der Glocke sind
geradezu Muster-Beispiele der Laut=, wie auch der rhythmischen Malerei, die
hier zu herrlicher Wirkung vereinigt sind. Jch erinnere an folgende Verse
Schillers:
(Das Metrum schmiegt sich der Thätigkeit an und ahmt das gegebene
Bild nach, indem der Dichter anapästisches Maß wählt.)
Ähnlich bei Goethe, indem er im Totentanz anapästisch das Knochengeklapper
nachahmt:
Vgl. bei Goethe noch die gelungene Malerei in Lilis Park, 3. Absatz.
Ebenso bei Reuter:
Ähnlich Jul. Sturm:
Das wiegende Galoppieren (hurre), wie das trabende Geholper (hop hop
hop) malt Bürger, der auch die lautnachahmenden Vokale musterhaft wählt:
Das langsame Einsetzen der Reiter und das Jntrabsetzen malt Rückert
spielerisch, indem er dem beginnenden Jambus Anapäste folgen läßt:
(Man beachte hier auch die absichtsvolle Allitteration.)
[278]Die Bewegung des Nachens zeigt das Metrum eines in Schilderung und
rhythmischer Malerei erhabenen Gedichts von Kopisch. Wir erhalten durch
dasselbe ein treffliches Bild vom schaukelnden Nachen in wallender Flut. Die
für die Vorstellung ergreifende Malerei wird durch den bewegten Wellenschlag
des Rhythmus wunderbar unterstützt:
Der daktylische Rhythmus deutet den Jnhalt des nachfolgenden Verses
von Voß im 70. Geburtstage an:
Näher und näher
(Vgl. das oben erwähnte Quadrupedante putrem sonitu quatit
ungula campum. Es ist neben dem daktylischen Rhythmus auch die Mischung
der Laute k, kl, p, tsch, bei Voß [q, p, k bei Virgil], wodurch das Pferdegetrampel
noch malerischer nachgeahmt wird, als z. B. Bürger malt. § 54.)
Die Daktylen wendet auch Platen an, um das Schaukeln des von den
Wogen bewegten Schiffes wiederzugeben.
Die polternd galoppierende Bewegung des hinabrollenden Steins drückt
Voß auch in der Übersetzung dieser Stelle aus (Odyssee 11, 598: Αὐτὰρ
ἔπειτα πέδονδε κυλίνδετο λᾶας ἀναιδής == Hurtig mit Donnergepolter
entrollte der tückische Marmor; vgl. § 54).
Das anmutige, spielerische, stürmische und doch wieder liebliche Lüfteleben
schildert Rückert durch Daktylenbewegung:
Höchst wirkungsvoll und bezaubernd ist das Metrum in der „erwachten
Rose“ von Fr. v. Sallet. Welche Anteilnahme des Rhythmus an der Malerei, [279]
welche Beweglichkeit, die endlich zum ruhigen Jambenfluß beim Schauen und
Lauschen der 9. Verszeile zurückkehrt, um wieder zu der erschauten Bewegung
der Anapäste zu eilen. Der Reim ohne Rhythmus konnte diese Gewalt nimmermehr
erringen.
Durch die verständnisvolle Aufeinanderfolge der Rhythmen und tönender
Wörter, die entweder selbst bedeutungsvoll sind oder doch als Pronomina auf
ein bedeutendes Wort zurückweisen, wird Anschauung und Gefühl genötigt,
beim Einzelnen länger zu verweilen. Die schroffen Übergänge in ihrer Härte
von einer Vorstellung zur andern schwächen sich ab, eine Vorstellung leitet zur
andern über, das Gefühl wiegt sich wie auf leisen Wellen von Stimmung zu
Stimmung, das ganze wird Melodie.
Wir geben nur noch wenige Proben. Zunächst aus der Goetheschen Lyrik:
Recht anschaulich wirkt die freundliche Malerei A. W. Schlegels, indem
er schildert, wie reine Jamben bei Archilochos, Spondeen besonders bei
Äschylos und die Auflösung in Doppellängen bei Aristophanes stattgefunden
haben:
Der Jambe:
Jordan in „Strophen und Stäbe“ (S. 199) hat sogar einen Text
gewählt, welcher in einer Polkabewegung dem rhythmisch Bewegten vokalisch
imitierenden Ausdruck giebt. Der Text lautet:
Wir denken uns dabei folgendes Schema
dreimal wiederholt, das in der 4. Zeile mit g schließt und in der 2. Strophe
in umgekehrter Folge erscheint.
Zu einem anderen schönen Beispiel rhythmischer Stimmungsmalerei aus
dem Hildebrandslied sagt Jordan (im „epischen Vers“, S. 23):
der dir nu wî-ges warnê nu dih es sô wel lu-stit.
„Die Stimmung nun der aufsprudelnden und selbst den Damm der Vaterliebe
durchbrechenden gekränkten Ehre und Kampfbegier, zugleich der schmerzliche
Hohn, daß der Sohn wie berauscht ist von Streitlust gegen den Vater,
malt sich überaus treffend in der Rhythmik dieses Verses. Drei rasche Senkungen
im Auftakt leiten zwei ernste Trochäen ein, und in vier Senkungen im
Auftakt der 2. Hälfte (von denen übrigens dih mit Nebenaccent zu sprechen
ist) springt dann der Vers zornig an, um plötzlich wie aufseufzend zu stocken
bei zwei unvermittelten Hebungen.“ Jordan sagt: „Jch frage, ist das nicht eine
Sprachkunst von bewunderungswürdiger Feinheit und Vollendung? Und dennoch
konnten wir viele Jahrhunderte hindurch so unverzeihlich dumm sein, der
nichtswürdigen Lüge zu glauben, daß unsere Vorväter, die solche Poeten erzogen
und verstanden, dennoch Barbaren gewesen seien!“
Von dem Vers: ih wallôta sumarô enti wintrô sehstic (Jch
wallete der Sommer und Winter sechzig) behauptet Jordan, daß er alle Vorzüge
vereine: einen reich bewegten und dennoch sanften, mit der Ruhe eines
mächtigen Stromes hingleitenden Rhythmus; eine weiche, sich einschmeichelnde,
doppelpaarige Allitteration, dazu ausgesucht schöne Vokalisation von fast erdenklichster
Mannigfaltigkeit, indem er die ganze Skala der ungemischten Vokale
durchläuft und mit dem Allen in höchster Harmonie der Form und des
Gedankens eine so schlichte und einfach menschliche als tiefe Empfindung. „Dies
Zusammentreffen“, so ruft Jordan aus, „giebt ihm eine wahrhaft ideale Vollendung
und macht ihn für mich zum schönsten aller Verse, die ich kenne.“
Weiter ist einer wunderbar anmutigen melodischen Verschmelzung der
Laut- und rhythmischen Malerei zu gedenken, die Goethe als Geisterchor im
Faust giebt, und worin er mit spielend tändelnden Worten dem Geiste eine
Fülle der lieblichsten Bilder entrollt:
Jnteressant ist noch, wie die Lebhaftigkeit der Schilderung und die rhythmische
Malerei den Dichter oft veranlaßt, mitten im Gedicht der Stimmung
entsprechend das Metrum plötzlich zu ändern und mittels Durchbrechung der
Grenzen des Metrums die Gewalt der Handlung zur Anschauung zu bringen.
So tritt in der fünften Zeile des nachfolgenden Gedichts an Stelle der jambischen
Bewegung plötzlich die entschlossene daktylisch=trochäische, um sodann wieder
dem ruhigen Jambus Platz zu machen.
(Schiller.)
Vgl. hierzu noch folgende Probe von demselben Dichter:
Wie die rhythmische Malerei zur Spielerei werden kann, möge das folgende
zopfige, klangspielerische Gedicht von Jos. Franke zeigen, welches einen
Heerzug, Trompeten, Trommeln &c. malt.
Über Malerei durch den Reim haben wir uns weiter unten beim Binnenreime
zu verbreiten. (Vgl. § 137. 10.)
Jünftes Hauptstück.
Verslehre.
(Metrik.) ──────
Fr. Rückert.
§ 94. Einteilung der Verslehre.
Die Verslehre oder Metrik (μετρική) beruht auf der Prosodie.
Sie zerfällt in die Lehre
1) von den Verstakten,
2) von den Versen,
3) von den streng gemessenen Versarten,
4) von den freien Versarten.
Jm weiteren Sinne, in welchem man auch die Lehre von den Silben
(Prosodie) zur Metrik rechnen könnte, gehört zu ihr noch die Lehre vom Reim
und von den Strophen. ─ Da der Reim lediglich ein Schönheitsmittel des
poetischen Ausdrucks ist, so behandeln wir ihn in einem besonderen an die
Verslehre sich eng anschließenden Hauptstücke, um sodann die Strophenlehre oder
die kunstreiche Verbindung der Verse zu kleineren oder größeren Ganzen folgen
zu lassen.
I. Lehre von den Verstakten.
§ 95. Verstakt und Satztakt.
1. Das kleinste Element eines dichterischen, rhythmischen Ganzen
ist der Verstakt.
2. Je nach Stellung der Arsis verändert sich die Form des
Verstaktes.
3. Vom Verstakt unterscheidet sich der Satztakt (Wortfuß).
[284]1. Verstakt. Wir bezeichnen als Verstakt, was man früher Versfuß
nannte, da derselbe in der rhythmischen Reihe thatsächlich dasselbe ist, was man
in der Musik als Takt auffaßt. (Vgl. § 85.)
Der Verstakt kann bestehen aus einer Hebung, oder aus Hebung und
Senkung, oder aus Hebung und 2 oder mehreren Senkungen. Nie hat er
mehr als eine Hebung, z. B. Āpfĕl, Gĕdūld, Kȫnĭgĭn, Mĕlŏdiē (§ 64). Jm
freien Vers ist die Zahl der Senkungen gleichgültig, z. B. Lȫsĕn Sĭe dĭes |
rǟtsĕlhăftĕ | Schwēigĕn (Schiller). Sĭe ēss | ĕn, sĭe trīn | kĕn ŭnd bĕzāh | lĕn
nĭcht gērn | (Goethe). Schnēck, | Schnēck, | Mǟuschĕn. (Vgl. § 116 d. B.)
2. Je nachdem die ein- oder zweisilbige Senkung nach oder vor der
Hebung steht, erhalten wir verschiedenartige Verstakte: a. steigende ⏑ – und ⏑ ⏑ –,
b. fallende – ⏑ und – ⏑ ⏑.
Beispiele:
a. steigende.
α. Ĕs brāust | ĕin Rūf | wĭe Dōn | nĕrhāll. (Mit je 1 Thesis.)
β. J̆n dĕm Thā | lĕ ĕrglǟn | zĕt dăs hīmm | lĭschĕ Līcht. (Mit je 2 Thesen.)
b. fallende.
γ. Schȫnĕ | Gȫttĭn | Mōrgĕn | rȫtĕ. (Mit je 1 Thesis.)
δ. Ēwiğĕr, gǖtĭgĕr, gnǟdĭgĕr, Mǟchtĭgĕr. (Mit je 2 Thesen.)
3. Satztakt (Wortfuß). Wir verstehen unter Satztakt ein ungetrenntes
ganzes Wort (z. B. Pflanze, Pflanzennahrung), zu welchem ─ sofern es Substantiv
ist ─ auch sein Artikel gerechnet wird, oder auch noch das nach Ton
und Sinn zu ihm gehörige Nebenwort, (z. B. er nimmt es).
Man nannte den Worttakt seither „Wortfuß“, welcher Name schon nach
den aus § 85 sich ergebenden Konsequenzen fallen sollte. Es ist einleuchtend,
daß mancher Satztakt das Maß von mehreren Verstakten auszufüllen im Stande
ist, z. B.
Doch giebt es genug Satztakte, welche einen Verstakt nicht überschreiten,
z. B.
§ 96. Cäsur und Diärese.
Eine Cäsur (== Verseinschnitt, von caedere schneiden) entsteht,
wenn ein Satztakt inmitten eines Verstaktes endigt, eine Diärese (von
διαιρέω trennen), wenn das Ende des Verstaktes mit dem Ende des
Satztaktes zusammenfällt.
Man unterscheidet die Cäsuren und die Diäresen I. in Hinsicht
auf Satz- und Verstakte, II. im Hinblick auf rhythmische Reihen und
Satzganze, III. in Bezug auf ihre geregelte Wiederkehr in einzelnen
Versen.
I. Jn Hinsicht auf Satz- und Verstakte.
Diärese. Mehrere auf einander folgende Verse, deren sämmtliche Satztakte
mit den Verstakten abschließen, also mit diesen zusammenfallen, wirken
eintönig, leiermäßig, ermüdend.
Jch erinnere an das Schlußbeispiel des vorigen § 95, sowie an folgende
Verszeilen, in welchen jeder Vers-Taktschluß eine Diärese zeigt!
Mēinĕr | Schwestĕr | liebĕ | Sprōssĕn | &c. (Lenau.)
Oder: Ĕrschrēckt | ĕntflīeht | dĕr Fēind | dĕn Bērg | hĭnān | &c.
Oder: J̄hrĕ | Schönhĕit, | īhrĕ | Ānmŭt | mūßtĕ | Vēnŭs | sēlbĕr | lōbĕn.
Cäsur. Es gehört zur Schönheit des Verses und erhöht den Wohlklang
der poetischen Rede, daß die Enden der Satztakte und Verstakte nicht
zusammenfallen.
Beispiel. Jm Fēin | dĕslānd | ĕ lēb | ĕn.
Man nennt den Einschnitt des Verstaktschlusses in das den Satztakt
bildende Wort == Worteinschnitt; hingegen den Einschnitt des Satztaktschlusses
in den Verstakt == Verseinschnitt oder Cäsur. Wir haben somit
im Beispiel: „Jm Feindeslande leben“ 3 Worteinschnitte und eine Cäsur!
Die Cäsur verbindet, wie die wechselnde Lage von Steinen eine Mauer
festmacht:
Die Diärese trennt und läßt auseinanderfallen:
Die Cäsur wirkt melodisch, da sie den Fluß unterbricht, der auch den
folgenden Teil des Verstaktes zu überfliegen trachtet.
Die Diärese schließt ab und bedeutet Ruhe, da bei ihr Satztakt und
Verstakt zusammenfallen.
An den Dichter tritt die Forderung heran, das fortgesetzte Zusammenfallen
der Vers- und Wortfüße aus ästhetischen Gründen möglichst zu vermeiden,
d. h. die Diäresen inmitten der Reihen zu umgehen und die melodischen Cäsuren
zu erstreben.
Folgende Beispiele mögen über die Anwendung der Cäsur orientieren:
a. Abteilung nach Satztakten, deren Schluß im Verstakt
die Cäsur bildet.
b. Abteilung nach Verstakten und Bezeichnung der Cäsur
durch den Buchstaben C.
1. Sēi dĕr Gĕ | sāng viēl | tȫnĭg ĭm | wēchsĕlndĕn | Tānz dĕr Ĕmp | fīndŭng.
2. Wīndĕt zŭm | Krānzĕ dĭe | gōldĕnĕn | Ǟhrĕn.
3. Ŏ Vǟ | tĕr, Mǖt | tĕr, ō | Ĕrzīeh | ĕr, hāb | ĕt Ācht!
4. Ĕr stānd | ăuf sēi | nĕs Dāch | ĕs Zīn | nĕn,
Ĕr schāu | tĕ mīt | vĕrgnǖg | tĕn Sīnn | ĕn
Ăuf dās | bĕhērrscht | ĕ Sā | mŏs hīn.
Man wird aus diesen wenigen Beispielen ersehen, wie infolge der Durchschneidung
des Verstaktes (oder was dasselbe ist: infolge des Aneinandergrenzens
und Berührens zweier Wortfüße innerhalb eines Verstaktes)
eine gewisse Einheit der Vielbewegung und eine enge Verschlingung der einzelnen
Verstakte entsteht. Zur Verhütung eines Mißverständnisses ist zu bemerken:
Die aus den Dichtungen unserer Klassiker abstrahierte Forderung, die Versteile
durch Jneinandergreifen der Satztakte und Verstakte zu verschlingen, hat keineswegs
die Bedeutung, daß wir z. B. durchweg den jambischen Vers (⏑ – | ⏑ – | &c.)
mit einem amphibrachischen Worte (⏑ – ⏑) und den trochäischen (– ⏑ | – ⏑ | &c.)
mit einem Kretikus (– ⏑ –) beginnen &c. Es würde dieses sklavische Nachäffen
der Hellenen ein unserem deutschen Sprachgenius entgegen strebendes geschraubtes
Deutsch erzeugen, wie wir es leider bei einigen Übersetzern antreffen. Wir
wollen die Hellenen als Muster verehren, nicht als Tyrannen.
Cäsur und Diärese erhalten je nach ihrer Stellung in den verschiedenen
Verstakten verschiedene Benennungen. Beide heißen männlich, wenn
sie nach einer Arsis eintreten, weiblich, wenn sie nach einer einsilbigen Thesis,
und gleitend, wenn sie nach zwei Kürzen folgen.
Beispiel der männlichen Cäsur.
Beispiel der weiblichen Cäsur.
Beispiel der gleitenden Cäsur.
Beispiel der männlichen Diärese.
Beispiel der weiblichen Diärese.
Beispiel der gleitenden Diärese.
II. Jn Hinsicht auf rhythmische Reihen.
Jene Cäsur und Diärese, welche am Ende der rhythmischen Reihe (§ 89)
steht, hilft die Melodie des Verses zur Geltung bringen und heißt daher rhythmische
Cäsur oder rhythmische Diärese. Da sie an keinen bestimmten Ort und
an keine besondere Regel gebunden ist, so nennt man sie wohl auch freie
Cäsur und freie Diärese.
Beispiel der rhythmischen Cäsur und Diärese.
1. J̆ch wēiß | ĕin Mǟr | chĕn, dāß | ĕin Wān | drĕr kām. | (Jul. Grosse.)
2. Dăs īst | dĕr Mōnd, | dĕr sēi | nĕ blēi | chĕn Fēu | ĕr. (F. Groß.)
[288]III. Jn Hinsicht auf ihre geregelte Wiederkehr.
Jene rhythmische Cäsur oder Diärese, welche in den einzelnen Verszeilen
desselben Gedichtes an der gleichen Stelle wiederkehrt, nennen wir ständige
Cäsur oder ständige Diärese.
Beispiel der ständigen Cäsur:
(Fr. Rückert.)
(Fr. Hofmann, Eselsjagd.)
Ein augenfälliges Beispiel der ständigen Cäsur bildet besonders der
Pentameter, z. B.
Beispiele der ständigen Diärese:
Wenn die ständige Cäsur oder die Diärese am Ende der Verszeile steht,
so erhält sie den Namen Versabschnitt oder Jncision.
Beispiel:
Jm vorstehenden Beispiel sind die Jncisionen der 1. und 3. Zeile ständige
Cäsuren, die Jncisionen der 2. und 4. ständige Diäresen.
Werden längere Verszeilen in je zwei Zeilen zerlegt und so geschrieben,
so entstehen neue Jncisionen.
Beispiele der Jncision.
a. Lange Zeilen:
b. Gebrochene Zeilen:
(C. Beyer.)
Beim Zerlegen längerer Verszeilen in kürzere sollte der Dichter der
rhythmischen Reihe Rechnung tragen, um nicht dem Reim zu Liebe zusammengehörige
Verstakte zu zerreißen, wie dies z. B. bei folgendem anapästischen
Gedichte Rückerts der Fall ist, wo durch Bildung der kurzen Zeilen der Anapäst
zerstückelt wird.
Die Schreibweise in langen Zeilen:
vermeidet diese Zerstückelung. Der Reim Wege ─ Gehege wirkt ja auch als
Mittelreim.
Jm folgenden Gedichte von Goethe:
kann die Jncision der 3. Zeile nicht getadelt werden, da sie den Daktylus am
Ende der 3. Zeile nur zerreißt, um nicht das Geschlechtswort von seinem Substantiv
trennen zu müssen.
§ 97. Über Metrum und Metren.
1. Man nennt den Verstakt ─ wie bereits § 84 erwähnt wurde
─ ein Metrum (Maß), insofern man ihn als Schema oder Muster
für den Aufbau eines ganzen Gedichtes betrachtet: als das dem Gedichte
zu Grunde liegende Formelement.
2. So verschiedenartig die Verstakte sind, so verschiedenartig sind
auch die Metren (== Maße).
1. Das schematische Metrum für den Aufbau des nachfolgenden Gedichts
ist: ⏑ –.
Beispiel:
(Wilh. Jensen.)
2. Wollen wir die im § 95 Ziffer 2 gegebenen Beispiele hinsichtlich der
Verschiedenartigkeit der Metren in's Auge fassen, so müssen wir sagen: Jm
1. und 2. Beispiel beginnt das Metrum mit der Thesis, im 3. und 4. mit
der Arsis. Ferner: Jm 1. und 3. Beispiel (α und γ) ist die Thesis einsilbig,
im 2. und 4. (β und δ) ist sie zweisilbig.
Die Verschiedenartigkeit der Metren äußert sich in ihrer steigenden oder
fallenden Bewegung. Steigend nennt man die Metren, wenn sie mit der
Thesis beginnen (⏑ – und ⏑ ⏑ –); fallend sind sie, wenn sie mit der Arsis
anheben (– ⏑ und – ⏑ ⏑). Das Metrum im § 95 Ziffer 2, α und β ist
steigend, γ und δ ist fallend.
§ 98. Eintaktige (monopodische) und zweitaktige (dipodische)
Messung.
1. Unsere deutschen Maße (Metren) umfassen durchweg nur je
einen Verstakt (Monopodie). Will man die Ausdehnung der Verse
feststellen, so hat man nur die einzelnen Verstakte zu zählen. Wir
können in unserer Poesie nur von einer eintaktigen (monopodischen)
Messung sprechen.
2. Bei den Griechen war die dipodische Messung vorherrschend.
1. Die eintaktige Messung ist für unsere Poesie schon deshalb angezeigt,
weil wir viele eintaktige Verse haben. (Vgl. § 116.) Außerdem empfiehlt
sie sich durch ihre Einfachheit.
2. Bei den Griechen bildeten je 2 Füße ein Metrum, also eine
Dipodie; somit mußten sie sich im Hinblick auf ihre Metren der dipodischen
Messung bedienen. Die verdoppelte Setzung des Jambus (⏑ –) oder des Trochäus [291]
(– ⏑) zu einem Fuße (⏑ – ⏑ –, und: – ⏑ – ⏑) hießen sie eine jambische
oder trochäische Dipodie oder Metrum. Je nachdem bei ihnen ein Vers 1, 2,
3, 4 solcher Doppel-Verstakte umfaßte, wie man sie in der Musik Allabreve=
Takte nennt, bezeichnete man ihn als Monometer (Eintakter), Dimeter
(Zweitakter), Trimeter (Dreitakter), Tetrameter (Viertakter) &c.
Es hieß also beispielsweise der sechstaktige Jambus
⏑ – | ⏑ – | ⏑ – | ⏑ – | ⏑ – | ⏑ – |
bei den Griechen nicht Hexameter, sondern Trimeter, weil sie ihn aus drei
Dijamben (⏑ – ⏑ –) zusammensetzten. Der achttaktige Jambus wie der achttaktige
Trochäus hieß bei ihnen aus demselben Grunde Tetrameter u. s. w.
Um noch ein Beispiel zu geben, so teilten sie diese Verse aus Sophokles'
Antigone so ein:
Es waren nach ihrer Bezeichnung jambische Trimeter (lat. Senare),
während wir sie als sechstaktige Jamben auffassen. (Der Trimeter war
in den Gesprächspartien des altklassischen Drama der gebräuchlichste Vers.
Durch die griechische Messung ist der obige Vers mehr geschlossen, als durch
die deutsche.)
Bei den dreisilbigen daktylischen Versen wandten auch die Griechen monopodische
Messung an. Ein daktylischer Trimeter hat also nur drei Daktylen
(– ⏑ ⏑ | – ⏑ ⏑ | – ⏑ ⏑ |), ein trochäischer dagegen zählte sechs Trochäen
(– ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | – ⏑ |). Auffallend ist es, daß die Griechen
nicht auch bei den dreiteiligen anapästischen Versen (⏑ ⏑ –) monopodische Messung
anwandten. Es hat dies vielleicht seinen Grund darin, daß durch die zweisilbige
Anfangsthesis dieses Fußes ein zu starker Anlauf gemacht wird, so daß
man über die Arsis hinüberschießt und erst im folgenden Verstakt Ruhe erreicht
(⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –): also im rascheren Tempo des Anapästs, den besonders der
Rhythmus der Marschlieder gebieterisch verlangte.
§ 99. Skandieren, Skansion.
Die Beurteilung und Untersuchung der Verse in Hinsicht auf
Metren oder Verstakte wie in Hinsicht auf rhythmische Bewegung
heißt man Skansion (von scando == steigen, vgl. Schillers Distichon:
Jm Hexameter steigt &c. Versum scandere == skandieren).
Skandieren heißt auch, die Verse so lesen, daß die einzelnen betonten
Glieder taktartig genau herausgehoben werden, so daß einzelne Laute hervortreten,
andere zurückgedrängt werden. Es heißt, die musikalische Bewegung
des Verses ─ den Vers-Rhythmus ─ erkennen und lesend zum Ausdruck
bringen. Jn der Musik besorgt der Dirigent die Skansion durch Taktschläge.
Dies kann auch beim Lesen eines Gedichts geschehen. Jn diesem Falle nennt [292]
man den Niederschlag, welcher auf die betonte Silbe fällt, den Jktus
(== Schlag, von ico schlagen. Nach Quintilian ist Jktus der Nachdruck beim
Aussprechen einer betonten Silbe).
Da der Jktus nur die betonte Silbe (Arsis) treffen kann, so erfolgt er
im Jambus (⏑ –) bei der zweiten, im Anapäst (⏑ ⏑ –) bei der dritten
Silbe. Hierin liegt eine Verschiedenheit vom Taktieren in der Musik, wo immer
die erste Note des Taktes den Jktus mit dem Stabe erhält, jedoch nicht immer
der schwere Taktteil (== Arsis) ist. Ein monoton gelesener Vers vernichtet die
wunderbare Musik, welche eine richtige Skansion durch die Deklamation über
die einzelnen Metren zu gießen vermag. Es ist die allergeringste Anforderung
an die verständnisvolle Skansion, jede Arsis mindestens kräftiger zu betonen
als die Thesis, woraus sich das zeitliche Übergewicht von selbst ergiebt.
Der Anfänger thut gut, bei Gedichten erst die Stammsilben zu bezeichnen
(s. Beispiel a), sodann die Thesen und die Taktstriche einzufügen (s. Beisp. b).
a.
b.
(Wilh. Jensen.)
Denkt man sich die Verszeilen mit Noten bezeichnet, so werden folgende
Beispiele verschiedener Metren durch Skansion folgendermaßen hörbar zu machen
sein:
1. Schema: – ⏑
2. Schema: ⏑ –
3. Schema: ⏑ ⏑ –
4. Schema: – ⏑ ⏑
5. Schema eines nur nach Arsen zu skandierenden freien Accentverses:
II. Lehre von den Versen.
Für den wahren Künstler giebt es keine Kleinigkeiten,
ein falscher Vers ist seiner Natur so widrig als
ein falscher Gedanke. Platen. V. 43.
§ 100. Begriffliches über den Vers (Verszeile).
Das Wort Vers (lat. versus von verto == Umwendung) heißt
ursprünglich soviel als Zeile. Sodann bedeutet Vers ─ wegen der
Ähnlichkeit mit einer Furche, an deren Ende man den Pflug umwendet,
eine Reihe oder eine Zeile im dichterischen Schreiben ohne
Rücksicht auf Länge oder Kürze.
Da man in der Volkssprache auch eine Strophe, ferner die Unterabteilung
eines biblischen Kapitels mit dem Namen Vers bezeichnet,
so schlagen wir in zweifelhaften Fällen die Benennung Verszeile für
Vers vor.
Die Verszeile kann einen bis acht Verstakte umfassen. Jhr formeller
Reiz besteht in Befriedigung des Taktgefühles. Man nennt sie je nach der
Anzahl ihrer Takte ein=, zwei=, drei=, vier=, fünf=, sechs=, sieben= und [294]
achttaktige Verszeile. Acht Verstakte bilden in der Regel die äußerste Grenze
der deutschen Verszeile.
Beispiele:
Eintaktige Verszeile: J̆m Wāld, | (vgl. § 116.)
„ „ Jm Wald
Zweitaktige „ J̆st Lūst | ŭnd Friēd. |
Dreitaktige „ Ŏ gōld | nĕs Mōr | gĕnrōt, |
„ „ Ŏ sǖß | ĕ Frǖh | lĭngslūft. |
Viertaktige „ Sŏviēl | nŭn hāb | ĭch mīr | gĕmērkt, |
„ „ Was mir von Büchern frommt zu lesen.
Fünftaktige „ J̆hr schmǟht | ŭnd lǟ | stĕrt dēs | Ăpōl | lŏ Sōhn, |
„ „ Weil er sich nicht an eure Regeln band.
(Emil Rittershaus.)
Sechstaktige „ Ĕr hīlft | dĕr Wīs | sĕnschāft, | wĕil, wēnn |
ĕr diē | bĕschǖtzt, |
„ „ Er auch der Wahrheit hilft und auch der Tugend nützt.
(Gellert.)
Siebentaktige „ Mĭch hāt | ĕin kūr | zĕr Schlāf | ĕrqūickt | ŭnd
glēich | eĭn Traūm | vĕrstȫrt.
Achttaktige „ Sŏllt īch | dĕm Sōh | nĕ mēin | nĕs Hērrn |
nĭcht mēi | nĕs Ār | mĕs Nāch | drŭck lēihn.
„ „ So lang mir Hoffnung blieb, es mög' in seiner
Hand das Reich gedeihn? (Rückert.)
§ 101. Versbau und Satzbau.
1. Die Ausdehnung des Satzes richtet sich häufig nach der Länge
der Verszeile. Jn diesem Falle bildet jede Verszeile einen Satz.
2. Eine einzelne Verszeile kann jedoch aus zwei, in Ausnahmsfällen
sogar aus drei und vier Sätzen bestehen.
3. Jn vielen Fällen überschreitet der Satz die Grenze der Zeile
und dehnt sich in die folgende Zeile hinüber.
4. Nur wenige unserer modernen Dichter lassen Satz, rhythmische
Reihe und Zeile regelmäßig zusammenfallen.
Beispiele:
1. Verszeilen, welche je einen Satz umschließen.
(Robert Reinick.)
[295]2. Verszeilen, welche mehrere Sätze umfassen.
a.
(Adolf Strodtmann.)
b.
3. Verszeilen, welche nur einen Bruchteil eines Satzes
umschließen.
a.
b.
(Christian Scherenberg.)
4. Westphal a. a. O. S. 64 sagt: Eine aus zwei Reihen bestehende
Periode schrieb der griechische Dichter stets in eine Zeile, und diese wurde Stichos
genannt, was eben nichts anderes als Zeile bedeutet. Bei den Römern hieß
sie Vers. Unsere modernen deutschen Dichter schreiben entweder die beiden
periodischen Reihen in zwei besondere Zeilen oder auch wie die Griechen in eine
einzige. Beiderlei Art von Zeilen nennen sie Verse. Doch hängt diese Art
und Weise, die Periode bald in eine, bald in zwei Zeilen zu schreiben, durchaus
nicht mit dem Wesen des Rhythmus zusammen: Wenn auch die Vordersätze
reimen, pflegt man die Periode in zwei Zeilen zu schreiben; wenn bloß die
Nachsätze reimen, folgt man häufig dem griechischen Gebrauche. Daß man für
die einzelnen Reihen vorwiegend bei reimenden Vordersätzen besondere Zeilen
anwendet, hat wiederum keinen in der Sache liegenden Erklärungsgrund. Das
Absetzen der Zeilen in der Poesie soll uns bloß die Übersicht der rhythmischen
Abschnitte erleichtern. Nun kommen uns aber doch da, wo der Reim vorhanden
ist, diese Abschnitte leichter zum Bewußtsein als da, wo er fehlt,
und daher sollte man grade bei nicht reimenden Vordersätzen für diese eigene
Zeilen erwarten.
Wir kommen bei der Lehre von den Strophen darauf zurück und wollen
nur noch an zwei Beispielen zeigen, wie ein und derselbe Dichter gleichlange,
gleichmetrige Zeilen bald ohne Unterbrechung und bald gebrochen schrieb.
Beispiel:
(Uhland: Des Sängers Fluch.)
(Uhland, Merlin der Wilde.)
Der Dichter hätte auch Nr. 1 in 8 und Nr. 2 in 4 Zeilen schreiben
können.
§ 102. Die Elemente des deutschen Versbaues.
Zur Bildung der deutschen Verse bedient man sich nur weniger
Metren oder Muster, mit deren Namen auch die entsprechenden Satztakte
belegt werden können. Es sind 1. der Jambus, 2. der Trochäus
(oder Choreus), 3. der Daktylus, 4. der Anapäst, 5. der Spondeus.
Westphal bezweifelt das Recht, die Namen Trochäus und Jambus aus
der griechischen Sprache auf unsere deutsche zu übertragen, weil es bei den
Griechen lediglich auf die Zeitdauer angekommen sei, während bei uns Hebungen
und Senkungen gleich lang seien. Diesen Jrrtum Westphals haben wir im
§ 80 beleuchtet und nachgewiesen, daß eine Abweichung vom rhythmischen Begriff
der Griechen bei uns wenigstens im Prinzip nicht besteht, indem auch wir lange
und kurze Silben haben. Außerdem meine ich, daß Jambus und Trochäus
bei den Griechen doch wohl nur die verschiedene Stellung der Arsis bezeichneten,
und daß ein Mehr auch die deutsche Poesie nicht von ihnen verlangt. Wir
können somit für die regelmäßig gebauten deutschen Dichtungen die eingebürgerten
uns lieb gewordenen Namen Jambus und Trochäus beibehalten. (Bei
unseren nur nach Arsis und Thesis skandierenden Accentversen haben wir sie
nicht nötig.)
1. Der Jambus. ⏑ –
Der Jambus (ἴαμβος, lat. iaculum == Geschoß) ist der Verstakt,
bei welchem die Senkung (Thesis) beginnt und die Hebung (Arsis) folgt
(z. B. Verstand, Betrug, verirrt, geschickt. Diese jambischen Verstakte
können auch als jambische Satztakte aufgefaßt werden).
Der Jambus ist das Bild des Angreifenden, Aufsteigenden, Leidenschaftlichen,
Handelnden, weshalb er sich als Maß für's Drama eignet. Er bezeichnet
den bewegten Fortschritt. Archilochos, ─ der wie Homer einen Gipfelpunkt
griechischer Bildung darstellte, ─ schnellte seine kurzgeschnitzten, spitzpfeiligen, [297]
beißenden Verse (die man Jamben nannte) auf seine Gegner, die getroffen sich
erhängt haben sollen.
Der jambische Vers war gegen den heroischen, erhabenen daktylischen
Hexameter ─ bevor ihn ernste Dichter adelten ─ die Ausdrucksform für das
Alltägliche, wie denn auch Aristoteles in seiner Poetik bemerkt, „daß im Verkehr
der gewöhnlichen Rede viele Jamben, aber nur selten Hexameter unterlaufen“.
Das Wort Jambus ist dreisilbig (== J=am=bus) auszusprechen, wie
Trochäus oder Spondeus. Eine alte Tradition leitet es von Jambe, der
Magd, her, welche die trauernde Demeter mit allerlei unfeinen Späßen erheiterte,
und zu deren Gedächtnis man sich bei den Demeterfesten ausgelassene
Scherz- und Spottreden zuzurufen pflegte. Diese Jambe scheint aber zweifellos
lediglich aus etymologischer Verlegenheit geschaffen worden zu sein. Jn Wirklichkeit
stammt ἴαμβος von ἰάπτω == lat. iacto == iaculum, ähnlich wie zu
θάμβος (Wurzel ΘΑΦ) ein Præs. θάπτω gebildet werden könnte. (Vgl.
G. Curtius, Grundz. d. gr. Etym. 1879. S. 538 f.)
2. Der Trochäus. – ⏑
Der Trochäus (ὁ τροχαῖος sc. πούς von τροχάω laufen == Läufer
oder Wälzer) ist der umgekehrte Jambus, nämlich ein Läufer, der mit
schwerem Fuß markiert einsetzt, um den leichten Fuß rasch nachzuziehen.
So gelangt er allmählich etwas in's Rollen.
Z. B.:
Worte wie Liebe, Ehre, Gabe sind ebenso trochäische Verstakte wie
trochäische Satztakte. Dagegen umfassen Worte wie Feuereifer, Besenbinder,
überfahren &c. 2 Verstakte, aber nur 1 Satztakt. Für sich betrachtet stellt der
Trochäus das in sich Zurückkehrende dar, das Abgeschlossene, Vollendete, wie
das Ernste, Gemessene, Beschauliche.
Westphal (a. a. O. S. 16) unterscheidet nicht zwischen trochäischen und
jambischen Versen. „Jambische Verse“, sagt er, „sind nichts anderes als
trochäische Verse mit einem vorausgehenden einsilbigen Auftakt“. Jch dächte, der
Unterschied, ob mit einer accentuierten (d. h. durch den Accent lang gewordenen)
Silbe oder mit einer unbetonten kurzen eingesetzt wird, wäre für unsere deutsche
Sprache grade wesentlich genug. Der Grundcharakter unserer Sprache ist
trochäisch und verlangt das Einsetzen mit der Arsis. Es ist auch für die
Wirkung nicht einerlei, ob ich sage:
Oder:
3. Der Daktylus. – ⏑ ⏑
Der Daktylus (δάκτυλος == Finger) unterscheidet sich nur durch
seine zweisilbige Thesis vom Trochäus.
Er dient einer schnellen, langwelligen, mehr langströmenden, als kurzfließenden
Bewegung, z. B.:
(Rückert.)
4. Der Anapäst. ⏑ ⏑ –
Der Anapäst (== Aufschlag, von ἀνά-παιστος, zurückgeschlagen,
zurückprallend) ist ein umgekehrter Daktylus, z. B. Mĕlŏdīe, dĕlĭkāt,
dŭ vĕrlāngst, Kămĕrād. Er ist der mit einem Anlauf aufwärts
drängende Versfuß, der bei den Griechen vor allem in Marschliedern
(ἄγετ' ὦ Σπάρτας εὐάνδρου), dann in der Tragödie, besonders in
Parodos und in Kommos, ferner in Parabasen (Aesch. I. 157),
sowie in Spottgedichten (Plut. Pericl. 33) Verwendung fand.
Das Erkennen des Anapästs bietet dem im Skandieren ungeübten Anfänger
einige Schwierigkeiten, weil auch anapästische Reihen häufig Jamben
enthalten oder mit einem Jambus beginnen. Der Anfänger wird daher gut
thun, zunächst die hervorstechendsten Tonlichter mit Strichen zu versehen, um
sodann erst die Thesen einzufügen.
Beispiele:
a. Reine Anapäste.
(Schiller.)
(Geibel.)
(Uhland.)
b. Mit Jamben beginnende Reihen.
(Rückert.)
[299](Bürger.)
(Goethe.)
c. Jamben und Anapäste gemischt.
(Schiller.)
5. Der Spondeus. – –
Der Spondeus (Gleichschritt, von σπονδεῖος) besteht aus zwei
Einzellängen, z. B. Hānsnārr, Hānsdāmpf, Bēttstrōh, Schnēegāns,
sprāchs ūnd, lāuf zū, schwēig stīll. Er ist der Ausdruck der Ruhe,
des Festen, Schweren, Massigen.
Das Wort σπονδεῖος bezeichnete ursprünglich das zur σπονδή (d. i.
Opferspende, Libation) Gehörige; σπονδεῖον μέλος war das bei Libationen
übliche Lied; σπονδεῖος πούς war das bei Libationen gebräuchliche, feierlich
langsame, aus 2 langen Silben bestehende Metrum, das dem Metrum unserer
in gleich langen Tönen einherschreitenden Kirchengesänge (Choräle) entspricht.
Da die beiden Silben des Spondeus nach den Gesetzen der Prosodik
(§ 75 Ziff. 3) nicht gleichtonig sind, und da überhaupt lediglich der Accent
die Silbe zur langen macht (§ 80), so klingt der Spondeus in unseren
deutschen Gedichten entweder wie eine Art Trochäus (Haūsthü̆r) oder wie eine
Art Jambus (schweĭg stīll); das geübte Ohr merkt freilich sofort, daß die
Thesis nicht 1= oder 2gradig, sondern 3gradig ist. Es ergeben sich auf diese
Weise jambische und trochäische Spondeen, die wir so bezeichnen wollen:
– -─́ und ─́ –.
Jm folgenden Beispiel, das jambisch zu betonen ist, finden sich jambische
Spondeen:
Dagegen bietet nachstehendes Beispiel trochäische Spondeen:
Der reine Spondeus wurde in den alten Metrik schwebender Spondeus
genannt, während man den zur Arsis aufsteigenden jambischen Spondeus den
steigenden und den von Arsis zur Thesis herunterfallenden den fallenden
Spondeus nannte.
Beispiele:
a. Schwebende Spondeen hat unsere Sprache seltsamerweise nur
in den beiden Wörtern:
nicht aber in Wörtern wie Bḗttstrōh, wie Paul Schönfeld in seiner an Wilh.
Jordan adressierten Dichtung (Stuttg., Metzler 1880. S. 192) nachweisen
möchte.
b. Steigende Spondeen.
Vgl. auch obiges Beispiel: Wie Nordwind mutvoll herstürmt.
c. Fallende Spondeen.
§ 103. Elemente des griechisch-römischen Versbaus.
Obwohl die griechisch=römischen Maße fast keine Verwendung im
deutschen Versbau mehr finden, so ist ihre Aufzählung und Vorführung
in der deutschen Poetik geboten, um das Verständnis der früher in
diesen Maßen geschaffenen deutschen Dichtungen zu ermöglichen. Sämtliche
antike Maße lassen sich einteilen in 1. zweisilbige, 2. dreisilbige
und 3. viersilbige.
1. Zweiteilige Maße.
Außer den in unserer Poesie gebräuchlichen zweiteiligen Maßen:
wandten die Alten noch den Pyrrhichius (⏑ ⏑) an, der bei uns nicht
möglich ist, weil wir in jedem Verstakte eine Arsis verlangen.
Als Beispiel für den Pyrrhichius können die Nachsilben (des Wortes
freund=) lic̆hĕ gelten.
2. Dreiteilige Maße.
An dreisilbigen Maßen zählten die Griechen außer den erwähnten:
noch folgende sechs:
[301]Amphibrachys: ⏑ – ⏑. Er entspricht den Wortfüßen oder Satztakten:
ĕrlāubĕn, Gĕrēdĕ, bĕschēnkĕn &c.
Bacchius: ─́ – ⏑. Z. B. Bī́erfǟssĕr, Wḗintrīnkĕr &c.
Antibacchius: ⏑ ─́ –. Z. B. Gĕbū́rtsstādt, dĕr Eī́chwāld, vĕrā́bsǟumt.
(Einige Metriker ─ schon des Altertums ─ verwechseln Bacchius
und Antibacchius und umgekehrt, so daß nach ihnen Gĕbū́rtsstādt ein
Bacchius und Bī́erfǟssĕr ein Antibacchius wäre. Es ist zu bemerken,
daß der Bacchius mit der Arsis anhebt, wozu der Antibacchius eine
Art Gegensatz bildet.)
Amphimacer oder Kretikus: – ⏑ –. Z. B. hēißgĕlīebt, Wassĕrfāll,
kōmm mĕin Lāmm, āltĕs Schāf &c.
Molossus: ─́ – –. Z. B. Birnbaumholz, Kindtaufschmaus, schwermutsvoll.
Tribrachys: ⏑ ⏑ ⏑. Er ist in unserer Sprache (aus dem unter Pyrrhichius
erwähnten Grunde) nicht möglich. Ein Beispiel können die 3 Nachsilben
(in herr=)lĭchĕrĕ oder 2 Nachsilben mit der folgenden Vorsilbe bieten,
z. B. (freund=)lĭchĕ Gĕ=(bilde).
3. Vierteilige Maße.
An viersilbigen Verstakten (Versfüßen) wurden von den Alten 16 unterschieden,
die jedoch meistenteils als Zusammensetzungen (Syzygien) der obigen
Verstakte aufgefaßt werden können.
1. Dijambus == Doppeljambus: ⏑ ─́ ⏑ –. Z. B. Gĕdū́ldbĕwēis, Gĕrī́chtsvĕrschlūß,
Gĕwḗrksvĕrbānd, ŏ sǖ́ßĕr Tōd &c.
2. Ditrochäus == Doppeltrochäus: ─́ ⏑ – ⏑. Z. B. Frḗundĕslīebĕ, Stū́ndĕnzēigĕr,
brā́vĕ Mēnschĕn &c.
3. Dispondeus == Doppelspondeus: ─̋ – ─́ –. Z. B. Wī̋rtshāuseī́nstūrz,
Fō̋rtschrīttsbḗirāt, Nō̋rdwīnd wū́tvōll &c.
4. Prokeleusmatikus oder Dipyrrhichius == Doppelpyrrhichius: ⏑ ⏑ ⏑ ⏑.
Z. B. (dort)ĕn ĭn dĕr Gĕ(fahr); (belei)dĭgĕndĕrĕs; (fürcht)ĕrlĭchĕrĕ. Als
Satztakt kommt aus dem unter Pyrrhichius angegebenen Grunde bei uns
kein Dipyrrhichius vor.
5. Choriambus == Chor-Jambus: ─́ ⏑ ⏑ –. Z. B. Mḗnschĕngĕstālt. Er ist
wie der Antispast aus einem Trockäus und einem Jambus zusammengesetzt.
6. Fallender Jonikus: ─́ – ⏑ ⏑. Z. B. frḗundschāftlĭchĕr. Er ist wie der
folgende aus dem Spondeus und einem Pyrrhichius zusammengesetzt.
7. Steigender Jonikus: ⏑ ⏑ ─́ – Z. B. Rĕgĭmḗntsārzt, dĭe Gĕbī́rgslūft.
8. Antispast: ⏑ ─́ – ⏑ Z. B. Hĭnā́ufwīndĕn, Trĭū́mphzǖgĕ. (Man könnte
ihn den um einen Auftakt verlängerten Bacchius nennen.)
Eine Länge an den Antispast gesetzt giebt den fünfsilbigen hier zu erwähnenden
sog. Dochmius: ⏑ ─́ – ⏑ – z. B.
Man muß den Dochmius wegen des Doppeliktus als Zusammensetzung
von Jambus und Kretikus ansehen: ⏑ ─́ | ─̋ ⏑ –. Der zweite Jktus
war der Hauptiktus (vgl. Christ, Metr. der Griech. u. Römer § 508).
Luther wandte ihn in seinem Lied an: „Ein feste Burg ist unser Gott“,
was er nach den Blättern für das bayerische Gymnasialschulwesen, Bd. X.
1874. S. 203 mit Absicht gethan haben soll. Es giebt übrigens noch
andere Gedichte, in welchen der Dochmius Verwertung fand, z. B.
Ădḗ līebă Jā | ga &c.
9. Erster Epitrit: ⏑ ─́ – – Z. B. Gĕbī́rgslāndschāft, Vĕrbā́ndswērkzeūg.
10. Zweiter Epitrit: ─́ ⏑ – – Z. B. Dī́chtĕrānkūnft, Frḗundĕsēinkēhr.
11. Dritter Epitrit: ─́ – ⏑ – Z. B. Hā́usfrīedĕnsbrūch, Bā́hnschwēllĕnbrūch.
12. Vierter Epitrit: ─̋ – ─́ ⏑ Z. B. Mō̋ndnāchtschī́mmĕr.
13. Erster Päon: – ⏑ ⏑ ⏑ Z. B. frēundlĭchĕrĕ.
14. Zweiter Päon: ⏑ – ⏑ ⏑ Z. B. bĕfrūchtĕtĕ.
15. Dritter Päon: ⏑ ⏑ – ⏑ Z. B. dăs Vĕrlāngĕn.
16. Vierter Päon: ⏑ ⏑ ⏑ – Z. B. gĕbĕnĕdēit.
Es erhellt, daß die fünf einfachen Metren (Trochäus, Jambus, Spondeus,
Daktylus, Anapäst) die Elemente der sämtlichen zusammengesetzten antiken
Metren sind. Man könnte sie daher ─ den zusammengesetzten oder Hilfsrhythmen
gegenüber ─ als die Grundmetren bezeichnen.
Fallende Metren sind: Trochäus, Daktylus, 1. Päon, Ditrochäus,
Bacchius, 4. Epitrit.
Steigende: Jambus, Anapäst, 4. Päon, steig. Jonikus, Dijambus.
Fallend steigende: Kretikus, Choriambus, 2. und 3. Epitrit.
Steigend fallende: Amphibrachys, Antispastus, 2. und 3. Päon.
Steigend schwebende: Antibacchius, 1. Epitrit.
Schwebende: Spondeus, Molossus, Pyrrhichius, Tribrachys, Dispondeus,
Dipyrrhichius, fallender Jonikus.
Schemata:
fallende: | steigende: | schwankende: | schwebende Takte: |
– ⏑ | ⏑ – | ⏑ – ⏑ | – ⏑ – – |
– ⏑ ⏑ | ⏑ ⏑ – | – ⏑ – | ⏑ ⏑ |
– ⏑ ⏑ ⏑ | ⏑ ⏑ ⏑ – | ⏑ – – ⏑ | ⏑ ⏑ ⏑ |
– ⏑ – ⏑ | ⏑ ⏑ – – | ⏑ – ⏑ ⏑ | ⏑ ⏑ ⏑ ⏑ |
– – ⏑ | ⏑ – ⏑ – | ⏑ ⏑ – ⏑ | ⏑ – – |
– – – ⏑ | – ⏑ ⏑ – | – – | |
– – ⏑ ⏑ | – – – | ||
– – – – | |||
⏑ – – – |
§ 104. Verhalten der antiken Maße zum deutschen Versbau.
Von den fremden Maßen eignen sich nur Jambus, Trochäus,
Daktylus, Anapäst und zum Teil der Spondeus für unseren deutschen
Versbau. Die übrigen antiken Metren konnten sich im Ganzen trotz
aller Bemühungen selbst namhafter Dichter einen bleibenden Eingang
in unsere Poesie nicht verschaffen, da sie meist mit unseren Betonungsgesetzen
in Widerspruch treten.
Wenn wir uns nicht in fortgesetzter Drehung und Verrenkung von Satztakten
gefallen wollen, so können wir nur jene fünf Metren für unsere Sprache
acceptieren, denen unsere Satztakte freiwillig und ohne Künstelei sich anpassen
lassen. Es hieße unserer Sprache entsetzlich Gewalt anthun, wollten wir ihre
Betonungsgesetze dem rhythmischen Versaccent zum Opfer bringen. Wir würden
Verse mit solcher Betonung erhalten:
Selbst Platen muß dem Versrhythmus zu lieb betonen (in: Hirte und
Winzerin): nāchgī́ebt, glēichgǖ́ltig, nāchfṓlgen u. s. w. (vgl. hierzu § 74 A). Wenn
man auch zugiebt, daß Kürzen den Vers lebendig machen, und daß z. B. der
Anapäst munterer ist als der Jambus, der 3. Päon lebhafter als der schlaffe
Amphibrachys &c., so kann man doch nicht verkennen, daß ein ganzes Gedicht
in antiken Metren geschraubt erscheint und der in der Sprache begründeten
Betonung großen Zwang anthut.
Vergleichen wir unsere Sprache mit der griechischen, so begegnen wir dort
langen und kurzen Silben in Fülle, während bei uns die Silbe nur durch
Betonung lang wird (§ 80). Dagegen finden wir bei uns einen außerordentlichen
Reichtum an Trochäen und Doppeltrochäen, aber entschiedenen Mangel an
Jamben und Doppeljamben, Überfluß an einsilbigen Wörtern und Mangel an
dreisilbigen; endlich Mangel an Spondeen und Überfluß an Daktylen, welch'
letztere sich durch Flexion oder Steigerung vermehren lassen (z. B. mǟnnlĭchĕ, [304]
grȫßĕrĕ &c.). Es nehmen daher viele deutsche Maße, deren Heimat ursprünglich
Griechenland war, bei uns eine ganz neue Gestalt an, sowohl im Äußeren, als
auch in der Versbewegung. (Auch bei den Römern ist dies der Fall.) So
findet der aufmerksame Leser, daß der deutsche jambische Trimeter größtenteils
mit einsilbigen Wörtern beginnt und schließt, und es gehört große Kunst dazu,
ihn besonders am Ende mit vollen, den Jambentakt hervorhebenden Silbenklängen
abzurunden. Bei den Griechen dagegen sehen wir sehr oft, daß jambische
Versfüße, die aus einem Stück bestehen, den Trimeter beginnen und
schließen.
Ferner enthält der trochäische Vers bei uns weit mehr reine Trochäen,
als Kretiker (– ⏑ –), die bei den Griechen ein treffliches Zusammengreifen und
Verbinden der Satztakte (Wortfüße) hervorbringen.
Endlich müssen bei uns die Satztakte des daktylischen Verses notwendig
einen amphibrachischen Gang erzeugen, da wir fast keine aus einem Stück
bestehenden Anapäste haben, die es möglich machten, nach choriambischem Fall
anapästisch fortzufahren, was doch nötig wäre. So wird sich später bei der
Lehre von den Versen bemerklich machen, daß z. B. der deutsche sapphische
Vers meistenteils nach der 3. Silbe und der alcäische nach der 4. Silbe einen
Abschnitt hat, der z. B. schon bei den Römern sich sehr selten findet.
Unter diesen Umständen kann sich die von Klopstock und J. H. Voß versuchte
Einführung der antiken Maße in unsere Litteratur nicht empfehlen, wenn
auch einzelne Bildungen mit ziemlichem Geschick ausgeführt wurden. So sind
z. B. zehn steigende Joniker: ⏑ ⏑ ─́ – nach Horaz zu einem freundlichen System
verbunden worden:
Aus zwei Jonikern wurde der anakreontische fließende Vers gebildet, der
im Deutschen jambisch gemessen wird, weil er die jambische Form hat u. s. w.
Wir lesen diese Verse anders, als sich dies z. B. Klopstock und Voß dachten,
welche im Gegensatz zu § 80 zwei Kürzen an Wert und Tondauer einer Länge
gleich achteten.
Unsere Ansicht, daß die antiken Maße für unsere Sprache ungeeignet sind,
bestätigen bedeutende Fachmänner, z. B. Edler in: Deutsche Versbaulehre
1842, S. 367; ferner: Moritz Zille in der Vorrede zur Probe einer neuen
Übersetzung der Äneis im Nibelungenversmaße, Leipz. 1863; besonders aber
Rod. Benedix in: Wesen des Deutschen Rhythmus, S. 85, wo er sagt:
„Jn der Nachahmung antiker Versmaße müssen wir entschieden eine Nichtachtung,
ja, eine Mißhandlung des deutschen Rhythmus finden“ u. s. w. Vgl. §§ 65, 71,
88 d. B. Von den Dichtern erwähne ich als Gegner antiker Maße nur H. Heine,
der ausdrücklich erklärt, daß ihm die antiken Versmaße für die deutsche Sprache
gar nicht zusagen. (Vgl. Strodtmann's Dichterprofile. Stuttg. 1879, S. 246.)
§ 105. Klassifikation der deutschen Verse nach ihrem
Schlußmetrum.
Je nach dem Schlußmetrum der Verse unterscheidet man
1. vollzählige (akatalektische) Verse,
2. unvollzählige (katalektische),
3. überzählige (hyperkatalektische).
1. Vollzählige (akatalektische) Verse.
Vollzählig, vollständig oder akatalektisch ist nach Diomedes
(Vgl. Gramm. lat. ex recens. Keilii I. 502.) ein Vers, dessen letztem
Takte (Fuß) keine Silbe zur Vollständigkeit des Rhythmus mangelt,
der also aus vollständigen Metren besteht (nicht aufhört καταλήγειν,
davon: unaufhörlich == vollständig ἀ-κατάληκτος).
Beispiele:
Trochäisch:
(Rückert.)
Jambisch:
(Wilh. Hertz, Hugdietrichs Brautfahrt.)
2. Unvollzählige (katalektische) Verse.
Unvollständig, unvollzählig oder katalektisch (von καταληκτικός)
nennt man diejenigen Verse, deren letztem Takte eine oder zwei Silben
fehlen.
Beispiele:
Jambisch:
Daktylisch:
3. Überzählige (hyperkatalektische) Verse.
Überzählig oder hyperkatalektisch (ὑπερ-κατά-ληκτος) nennt man
die Verse, welche am Ende eine Thesis zu viel haben.
Beispiele:
(Rückert, VII. 190.)
(Bürger, Kaiser und Abt.)
Nach den Worten „schnurrig“ (Beispiel 2) und „zeigen“ (Beispiel 3) treten
keine Pausen ein, vielmehr werden die Thesen ig und en zur Anfangsthesis des
folgenden Verstaktes hinübergelesen, der auf diese Weise zum Anapäst wird,
was aber nach Analogie der vorausgehenden Verszeile nicht der Fall sein sollte.
Es sind somit bei der Schreibweise der Beispiele 2 und 3 in je 2 Zeilen die
Silben ig und en überzählig, folglich die Verszeilen hyperkatalektisch.
Man kann noch brachykatalektische und hyperbrachykatalektische Verse unterscheiden,
denen ein ganzer Takt bis 1½ Takte fehlen &c. &c. Wir verweisen
in dieser Beziehung auf § 91 d. B.
III. Lehre von den streng gemessenen Versarten.
§ 106. Einteilung der deutschen Verse.
Alle nach Metren streng gemessenen Verse unterscheiden wir zunächst
in Rücksicht auf den ihnen zu Grunde liegenden Rhythmus.
Wir teilen sie demnach ein in:
1. jambische,
2. trochäische,
3. kretische und trochäisch=jambische,
4. daktylische,
5. trochäisch=daktylische,
6. anapästische,
7. jambisch=anapästische,
8. mit Spondeen gemischte Verse.
Daran reihen wir in besonderem Abschnitte (§ 116 ff.) die freien Verse,
welche zum Teil nur nach Arsis und Thesis zu skandieren sind (§ 119),
während bei anderen nebenbei auch noch ein formales Prinzip waltet. (§ 118.)
§ 107. Jambische Verse.
Sie sind unter allen deutschen Versarten die gebräuchlichsten,
weil sie sich infolge des trochäischen Grundcharakters unserer Sprache
durch leichte Auftakte (z. B. des Artikels, oder einsilbiger Pronomina)
von selbst ergeben.
Beispiele:
Wir unterscheiden eintaktige bis achttaktige jambische Verse.
1. Eintaktige jambische Verse (jambische Eintakter).
Man findet sie ─ wie die nachstehenden, fast einzigen 6 Proben
unserer Litteratur beweisen ─ selten in längerer Folge und meistenteils
in Verbindung mit mehrtaktigen Versen.
Beispiele:
(Vogl, Jm Wald.)
(Goethe.)
(Rückert, Lieder und Sprüche.)
(Rückert.)
(Ernst II., Herzog zu Sachsen-Koburg: „Warum man trinken darf.“)
Akatalektische und hyperkatalektische Eintakter gebraucht Julius Wolf im
Rattenfänger von Hameln, indem er die Glocke rufen läßt:
2. Zweitaktige jambische Verse (jambische Zweitakter).
Die Alten nannten diese Verse jambische Dipodie. Sie kommen
bei uns meist nur in Verbindung mit ein- oder mehrtaktigen Versen
vor, wie schon vorstehende Beispiele unter a b c (S. 307) ersehen lassen.
Beispiele:
(Rückert.)
(Hölty.)
(Bürger.)
Vgl. noch: Goethes Gefunden, Platens Jch schleich' umher.
3. Dreitaktige jambische Verse (jambische Dreitakter).
Sie kommen meist in vierzeiligen Strophen vor, und zwar so, daß
akatalektische Verse häufig mit hyperkatalektischen, wie auch mit katalektischen
wechseln. Bei den hyperkatalektischen finden keine Pausen
statt. Bei den katalektischen werden die Pausen hinzugerechnet.
Beispiele:
NB. Die Umstellung der Worte:
(Rückert.)
(Goethes Mignon.)
(Dieses Gedicht ließe sich ─ ohne Prokrustes ─ auch daktylisch lesen. Für unsere Skansion
war das Vorwiegen tonlich reiner Jamben entscheidend. Über die Möglichkeit verschiedener Auffassung
in der Skansion vgl. übrigens S. 334 d. B.)
NB. Hier sind sämmtliche Reihen katalektische Dreitakter.
(Uhland, Seliger Tod.)
Vgl. noch Rückerts Kindertotenl. 214, Anastas. Grüns Ring, Uhlands
Schäfers Sonntagslied.
4. Viertaktige jambische Verse (jambische Viertakter).
Der jambische Viertakter kommt akatalektisch, katalektisch und hyperkatalektisch
vor. Bei den katalektischen Viertaktern ist die fehlende Arsis
des 4. Taktes durch eine Pause zu ergänzen. (Vgl. Beispiel d. S. 310.)
Tristan und Jsolt von Gottsried von Straßburg ist die erste größere
Dichtung, in welcher der jambische Viertakter angewandt wurde. Die
Form dieser Dichtung fand Nachahmung in E. Christian Kleist's idyllischer
Erzählung: Jrin, der gelähmte Kranich; ferner in Oskar v. Redwitz' Amaranth;
in Max Waldaus Cordula; in Kinkels Otto der Schütz. Freilich hat
dieser Vers nicht genug Ausdehnung, um die Leidenschaft und das bewegte
Leben in seiner Abspiegelung in ihn hinein gießen zu können, wozu man sich
des jambischen Fünftakters mit größerem Erfolge bediente.
Beispiele:
a.
(Freiligrath.)
[310]b.
(Rückert.)
c.
d.
(Goethe, Wer kauft Liebesgötter?)
Vgl. noch Schillers Kampf mit dem Drachen und Das Mädchen aus
der Fremde; Bürgers Lenore und Das Lied vom braven Mann; Rückerts
Kindertotenl. S. 39; Geibels O Jugendzeit; Uhlands Siegfrieds Schwert;
Lenaus Liebesfeier.
Es giebt genug jambische Dreitakter, welche wegen der hinzuzurechnenden
rhythmischen Pause als brachykatalektische Viertakter aufzufassen und zu behandeln
sind, z. B.
5. Fünftaktige jambische Verse (jambische Fünftakter).
Der jambische Fünftakter ist seit Opitz, der ihn bei den Franzosen
fand, der am meisten in Gebrauch stehende Vers. Er kommt gereimt
in allen Strophenformen vor, besonders aber in den fremden Formen:
Sonett (§ 165), Terzine (§ 166), Stanze (§ 169). Ohne strophische
Verbindung findet er besonders in der nach ihm benannten Jambentragödie
(seit Lessing) Anwendung.
α. Der gereimte jambische Fünftakter.
Er findet sich in kleineren wie auch in größeren Dichtungen.
Friedr. v. Sallet hat eine 495 Seiten umfassende strophische Dichtung
(Laien-Evangelium) in diesem Vers geschrieben. Am meisten ist
er mit katalektischem und brachykatalektischem Schluß in Anwendung.
Beispiele:
a.
(Sallets Laien-Evangelium.)
b.
(Schillers Ring des Polykrates.)
c.
(Uhlands Untreue.)
d.
(Goethe, Lebendiges Andenken.)
Vgl. Schillers Kraniche des Jbykus. Dagegen gehört Anast. Grüns
Der Turm am Strande aus „Schutt“ (Jch war bescheidener Sonettendichter)
bei Zurechnung der rhythmischen Pause zu den jambischen Sechstaktern. Ebenso
Rückerts „Sprich, liebes Herz, in deines Tempels Mitten“ &c.
β. Der reimlose jambische Fünftakter (Blankvers).
Der reimlose jambische Fünftakter ist auch unter dem Namen
„Blankvers“ (blanc-vers) oder „jambischer Quinar“ bekannt. Er ist
der Vers des deutschen Drama. Seine aufsteigende Bewegung entspricht
dem Fortschreiten, Fortdrängen der beweglichen Handlung im Drama,
weshalb er sich ganz besonders für diese Dichtungsgattung eignet. Die
kleineren Gebilde unserer Rede (rhythmische Reihen, Sätze) überschreiten
in der Regel nicht das Maß des jambischen Quinars, weshalb derselbe
auch in dieser Richtung unserem Sprachgeiste verwandt sich zeigt und
Satz= wie Versbau verbindet.
Zuerst wurde er von J. H. Schlegel in seiner Übersetzung der Thomsonschen
Sophonisbe 1758 angewandt, sodann von Chr. Felix Weiße (in Befreiung
von Theben, 1764), endlich von Lessing. Dieser erhob ihn 1779
durch die Form seines Nathan zum Vers des Drama, worauf ihn 1786 auch
Goethe in der Jphigenia und Schiller 1787 im Don Carlos adoptierte. Nach
ihnen wandten ihn an: Heinr. v. Kleist, Grillparzer, Gutzkow, Mosen, Prutz,
Jmmermann, Körner, Uhland, Rückert, Scherenberg (Waterloo), Hamerling
(Ahasver), Gottschall u. A. Letzterer hat ihn im Carlo Zeno (ebenso wie der
Verf. dieser Poetik in seinen mehrfach aufgeführten Kaiserfestspielen Musenweihe,
Kaisergold &c.) gereimt gebraucht.
Zarncke ließ diesem Vers in seiner gründlichen und vielseitigen Schrift
(„Über den fünffüßigen Jambus mit besonderer Rücksicht auf seine Behandlung
durch Lessing, Schiller und Goethe“) eine eingehende, erschöpfende Behandlung
angedeihen und wies nach, wie er von den Provençalen zu den Jtalienern,
dann zu den Engländern und von diesen zu den Deutschen gelangte, bei
denen Lessing und Schiller den Widerstreit von Satz- und Versende wirkungsvoll
lösten, während Goethe nach romanischem Vorbild die Messung veredelte, um
ihn in der Jphigenia und im Tasso einer vollendeten Behandlung entgegen zu
führen.
Bei den Franzosen war der jambische Quinar neben dem Alexandriner
der gebräuchlichste Vers. Sie benützten ihn als Reimvers und bildeten ihn mit
einer konstanten Cäsur nach der vierten Silbe.
Bei den Engländern war sein Ausgang verschieden. Der Miltonsche
Blankvers war unvollständig (katalektisch). Der Shakespearesche Blankvers dagegen
ist bald vollzählig, bald überzählig und hat also je nach dieser Form weibliche
oder männliche Endung. Manche Gelehrte (neuerdings C. G. Ritter in: Theorie
des deutschen Trauerspiels) haben sich gegen den jambischen Quinar im Drama
erklärt. Giebt man aber zu, daß mit dem Dichtertalent ein feineres Sprachgefühl
verbunden ist und somit unsere Sprache lediglich durch unsere Dichter
auf ihre Höhe gehoben wurde, nicht aber durch deren negierende Kritiker, so
wird man schon mit Rücksicht auf die Autorität dieser Dichter dem jambischen
Quinar seine Berechtigung nicht bestreiten dürfen. Einzuräumen ist wohl, daß
es ermüdend wirkt, immer denselben Vers zu hören. Aber dies sollte eben
zur freieren Behandlung dieses Verses auffordern, nicht zur
Beseitigung desselben. Man sollte zur Vermeidung der Einförmigkeit
mit den Cäsuren wechseln; man sollte sich ferner nicht scheuen, jambische
Spondeen einzuflechten; man sollte kein Bedenken tragen, zuweilen den Quinar
um einen oder mehrere Füße zu verkürzen, sofern der Satz schließt und die
rhythmischen Pausen den Restteil zu füllen vermögen; man sollte namentlich
die zur Beschaffung der üblichen fünf Furchen selbst von besseren Dichtern angewandten
Flickwörter möglichst vermeiden, ja, hie und da mit dem Rhythmus
wechseln, um auf diese Weise der bedenklich stumpf gewordenen fünffüßigen
Pflugschar neue Schärfe zu verleihen. Es giebt nichts Widerwärtigeres als
einerlei Musik; sie wird zum Geleier. Der jambische Grundcharakter muß
selbstredend bei jedem Verse vorhanden bleiben, wenn dieser nicht der künstlerischen
Basis entbehren soll. Allein auf diesem Boden kann doch manche
Abweichung von der Schablone gepflanzt werden. Endlich kann durch Cäsur,
Jncision, Einführung von Pausen innerhalb des Verses, Anwendung von
Spondeen &c. (der Aufgabe aller Kunst entsprechend) die dichterische Schönsprache
noch weitere Triumphe feiern. Wir setzen Alle ab bei besonderer innerer Bewegung
in der Rede; sollte diese Freiheit dem Dichter verwehrt sein ─ nur aus
dem Grunde, weil der Vers gerade fünf Schläge haben soll? Je näher der
Dichter der Wahrheit bleibt, desto zutreffender wird seine Schilderung werden.
Rückert hat sicher nicht ohne Absicht zwischen die jambischen Quinare jambische [313]
Achttakter (Ges. Ausg. IX, 206) oder Siebentakter (IX, 161) oder auch Viertakter
(IX, 32) eingefügt, oder an Stelle eines Jambus einen gut wirkenden
Anapäst gesetzt. Z. B.:
Sogar achttaktige Trochäen schob er des Gegensatzes und der Abwechslung
halber ein (Ges. Ausg. IX, 24).
Weiter hat er öfter als Andere hyperkatalektische Quinare gebildet. Dadurch
hat er dieselben infolge der rhythmischen Pause eigentlich zu Sechstaktern
erhoben. Jedenfalls hat er dadurch ─ da ja der nächste Vers auch
wieder mit einer Hebung beginnt ─ die Verse scharf auseinander gehalten.
Die Feinheiten und Freiheiten des Schillerschen Quinars werden wir im Kapitel
vom Accentvers (§ 116) darlegen.
Jn jüngster Zeit hat der talentvolle Dichter Gustav Wacht in „Hermann
der Cherusker“ ganze Takte durch rhythmische Pausen ergänzt oder auch hie
und da einmal einen sechstaktigen Trochäus eingefügt. Wir geben eine Probe,
indem wir die Pausen (–) bemerklich machen:
Segest:
Nach den Angaben von Diez wurde der jambische Quinar schon in der
provençalischen Lyrik sehr frei behandelt; es gingen dort oft mehrere (sogar
bis vier) Trochäen voraus, bis erst im letzten Verstakt der charakterisierende
Jambus eintrat, z. B.:
Ähnliche weitere Freiheiten in Bildung unseres jambischen Quinars teilen
wir im praktischen Teil dieses Werkes (Bd. III. § 3) mit, indem wir für den
Anfänger hier nur noch bemerken, daß im Drama nicht selten eine redende
Person den jambischen Quinar beginnt, um sodann eine andere Person einsetzen
zu lassen, z. B.
Abner: Die er | geschla | gen
Achija: Al | so hat | er sie |
Mit Leib | und Le | ben aus | getilgt? |
Abner: Das nicht |
Doch so | gedämpft, | daß sie | nicht län | ger dräun. |
(Rückert.)
[314]Man bemerke, daß die Worte „die er geschlagen“ mit „Also hat er sie“
einen Quinar bilden; ebenso „Mit Leib und Leben ausgetilgt“ und „Das nicht“.
Weitere Beispiele des jambischen Quinars.
a. Daja. Er ist es! Nathan! ─ Gott sei ewig Dank, (akat.)
Daß Jhr doch endlich einmal wiederkommt. (akat.)
Nathan. Ja, Da | ja; Gott | sei Dank! | doch wa | rum end | lich? (hyperkat.)
Hab ich denn eher wieder kommen wollen? (hyperkatal.)
Und wiederkommen können? Babylon (akat.)
Jst von Jerusalem, wie ich den Weg (akat.)
Seit ab bald rechts, bald links zu nehmen bin (akat.)
Genötigt worden, gut zweihundert Meilen, (hyperkatal.)
Und Schulden einkassieren, ist gewiß (akat.)
Auch kein Geschäft, das merklich fördert, das (akat.)
So von der Hand sich schlagen läßt. (4 Takte.)
Daja. O Nathan (der 5. Takt)
Wie elend, elend hättet Jhr indes (akatal.)
Hier werden können! Euer Haus ... (4 Takte)
Nathan. Das brannte, (hierzu der 5. Takt)
So hab ich schon vernommen. ─ Gebe Gott, (akatal.)
Daß ich nur Alles schon vernommen habe! (hyperkat.)
(Man beachte, mit welcher Berechnung am Schluß rhythmischer Reihen
hyperkatalektische Versschlüsse zur Anwendung kamen.)
(Lessings Nathan der Weise I. 1.)
b. Sextus. Bei Juno, seht! Lukretia am Rocken! (hyperkat.)
Vĕrzeīh | ŭns, ēd | lĕ Bā | sĕ ─ Hīm | mĕl ŭnd Ēr | dĕ!
(hyperkat. mit Anapäst)
Welch ho | hes Wun | der?
Lukretia. Ed | le Herr | ĕn, wĕm gīlt | es?
(hyperkat. mit Anapäst)
Wo ist mein Gatte? Denn am Kriegsgewand (akat.)
Erkenn' ich, daß ihr kommt von Ardea. (akat.)
Sprēcht, īst | ĕr wōhl? |
Volesius. Gānz wōhl, | Lŭkrē | tĭā! | (Spondeen)
Nie war dein Gatte fröhlicher denn heut. (akat.)
(Alb. Lindners Brutus und Collatinus II. 3.)
c. Jrmgard. Jhr Raben dort,
Die ihr den Turm umfliegt, ihr Unglücksvögel, (hyperkat.)
O krächzt mir keine schwarze Botschaft zu! (akat.)
Leiht meinem Liebsten eure dunklen Flügel, (hyperkat.)
Tragt mir mein Glück herauf! ─ Jch fühle nichts, (akat.)
Jch denke nichts, als Jhn im Arm zu halten. (hyperkat.)
Hēilĭgĕr | Gōtt! ─ | J̄́hr hīer!
Meinwerk. | J̄hr hī́er! | Sŏ gēb' | ĭch (Man beachte den
Rhythmuswechsel
der ersten 4 Takte)
Als Echo Euch zurück. An dieser Stätte, (hyperkat.)
Ūnsē | lĭgĕ Frāu, | sōllt' īch | Ēuch wīe | dĕrsēhn. (Man beachte den Wechsel
des Rhythmus in den ersten 4 Takten, bis endlich im 5 Takt der jambische
Rhythmus wieder Platz greift.)
(Adolf Wilbrandts Graf von Hammerstein III. 5.)
[315]6. Sechstaktige jambische Verse (jambische Sechstakter).
Der jambische Sechstakter kommt vor
A. als Alexandriner (⏑ – ⏑ – ⏑ – | ⏑ – ⏑ – ⏑ –);
B. als der neue Nibelungenvers (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ | ⏑ – ⏑ – ⏑ –);
C. als der dem antiken jambischen Trimeter nachgebildete neue Senarius
(wie ihn die Römer nannten: ⏑ – ⏑ – ⏑ | – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) bei dem
die Cäsur den 3. oder auch den 4. Fuß durchschneidet;
D. als hinkender Jambus oder Choliambus (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – – ⏑).
A. Der Alexandriner. ⏑ – ⏑ – ⏑ – | ⏑ – ⏑ ⏑ –.
Dieser Vers besteht aus sechs Jamben mit häufig hyperkat. Abschluß
und einer ständigen Diärese in der Mitte. Er wird dem Mönche
Alexander de Bernay (um 1200 n. Chr.) zugeschrieben. Nach Anderen
hätte er seinen Namen von einer Reimchronik („Alexander le grand“)
aus dem 12. Jahrh., welche in diesem Versmaß geschrieben ist.
Er ist der Nationalvers der Franzosen, die ihn als den heroischen bezeichnen
und namentlich seit Malesherbes im Epos wie im Drama ausschließlich
zur Anwendung bringen. Martin Opitz (1597─1639), der ihn von den
Jtalienern herstammen läßt (vgl. seine Poeterei S. 41), hat ihn bei uns
zuerst eingeführt; Uz hat ihn in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
nicht ohne Glück angewandt, ebenso die Gottschedsche Schule im vor. Jahrh.
Wegen des häufigen Gebrauchs des Alexandriners von der schlesischen Dichterschule
bis zu Lessing nannte man besonders das 17. Jahrh. das Jahrhundert
des Alexandriners. Der Alexandriner jener Zeit hatte etwas Eintöniges,
Klapperndes, was beim französischen Alexandriner nicht auffällt, da man denselben
nicht nach Betonung liest, sondern nach Quantität.
Rückert war es, der den Alexandriner in seiner „Weisheit des Brahmanen“,
ferner in „Rostem und Suhrab“, sowie im „Leben Jesu“ zur Bedeutung
brachte. Kaum daß man den Alexandriner der Uzschen Periode wieder erkennt,
so wesentlich unterscheidet sich der Rückertsche von ihm!
Rückert bildet seinen Alexandriner häufig durch Umkehrung des Nibelungenverses
(⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ | ⏑ – ⏑ – ⏑ – in ⏑ – ⏑ – ⏑ – | ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑).
(Siehe Beispiel weiter unten S. 317.) Ebenso häufig fügt er zwei rhythmische
Reihen von je drei Takten aneinander, so daß zuweilen in der Mitte eine
Taktpause und eine solche am Schlusse der Verszeile zu stehen kommt, wodurch
sein Alexandriner wie ein Oktonar sich darstellt und liest. Jn der Regel
fällt aber doch die Pause in der Mitte weg, und er wechselt dann mit den
Einschnitten an anderen Stellen, z. B.:
a.
b.
c.
Ein Alexandriner, der eine so schöne Abwechslung in der weiblichen und
männlichen Endung wie in den Cäsuren und den rhythmischen Reihen hat,
kann nicht klappern wie der herkömmliche, vererbte, undeutsche Alexandriner;
er verdient daher auch nicht mehr den Namen „Hackbrett“, den ihm der musikalische
Herder gegeben hatte. Freiligrath hat sich in der Behandlung dieses
Verses alle von Rückert errungenen Vorteile angeeignet und (wie mir scheint
nach Heinrich Brockes Vorgang; vgl. Brockes Hauptwerk: Jrdisches Vergnügen
in Gott. Hamburg 1721─48. 9 Bände) eine gewisse Abwechslung durch
Einstreuung kürzerer Verszeilen zu erzielen gesucht. Mit Recht hat er den
früheren Alexandriner einer lahmen Schindmähre, den durch Rückert veredelten
aber einem feurigen, in die Zügel knirschenden Araberhengste verglichen. Es
mochte ihm namentlich die Behandlung der gleich nach der 3. Hebung fallenden
Diärese und die verständnisvolle Accentuierung des Rückertschen Alexandriners
aufgefallen sein. Geibel wurde Nachfolger Rückerts und Freiligraths.
Nur wenige Beispiele aus der ersten Zeit der Alexandriner-Bildungen
Rückerts finden sich, in welchen das Gesetz, die ständige Diärese an's Ende
des 3. Verstaktes zu stellen, verletzt ist. Z. B.:
(Weish. d. Br. 353 und 365.)
(Ebenda 663.)
Der Einschnitt am Ende des 3. Taktes ist hier ganz übersehen.
Durch zusammengesetzte Substantive in den folgenden Beispielen ist der
Fehler wenigstens in etwas gemildert.
(Ebenda 215.)
Weitere Beispiele gut gebauter Alexandriner:
a.
(Gellert.)
b.
(hyperkat.)
(Körner, Gouvernante.)
c.
(Rückert, Weish. d. Br. 380.)
(Wir verweisen auf die Alexandrinerstrophe § 182.)
[317]B. Der neue Nibelungenvers. ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ ‖ ⏑ – ⏑ – ⏑ –.
1. Er ist ein aus zwei dreitaktigen Jamben mit weiblicher Cäsur
nach dem dritten Takt zusammengesetzter jambischer Sechstakter.
2. Man schreibt ihn häufig auch in Halbzeilen.
3. Durch Einfügung von Anapästen gewinnt er an Schönheit.
1. Er ist aus dem alten nach Arsis und Thesis zu skandierenden Nibelungenvers
hervorgegangen, von welchem er sich hauptsächlich dadurch unterscheidet,
daß bei ihm Senkungen und Hebungen kontinuierlich mit einander abwechseln,
während im alten Nibelungenvers eine einzelne als Hebung stehende Silbe die
rhythmische Vertreterin eines ganzen Taktes sein kann. (§ 190.) Zudem können
die alten Nibelungenverse auch mit einer Hebung ohne vorausgehendem Auftakt
beginnen. Denken wir uns die rhythmischen Pausen hinzugerechnet, so wird
der neue Nibelungenvers zum jambischen Achttakter. Vom Alexandriner Rückerts
unterscheidet er sich nur dadurch, daß nach dem dritten Fuß eine überzählige
Kürze eingeschoben ist, hinter welcher eine Hauptcäsur steht. Rückert hat ─
wie S. 315 erwähnt ─ seinen Alexandriner durch einfache Umkehrung des
neuen Nibelungenverses gebildet, z. B.
Rückertscher Alexandriner:
Umkehrung dieser Alexandriner in neue Nibelungenverse:
Ähnlich Geibels „Jch fuhr von Sankt Goar | den grünen Rhein zu Berge. | &c.
Ph. Wackernagel bietet in seiner „Auswahl“ unter der Überschrift:
„Die Nibelungenstrophe“ von S. 340─373 lediglich Alexandrinerverse, eine
Unkenntnis, die schon längst hätte bemerkt werden müssen. Es erzeugt eine
wahrhaft babylonische Sprachverwirrung, wenn dem Schüler ─ wie es die
Autorität Wackernagel thut ─ Rückerts nicht einmal strophisch geteiltes
Epos Rostem und Suhrab oder seine Weisheit des Brahmanen oder seine
Angereihten Perlen, ferner die Gedichte aus dem Cherubinischen Wandersmann
von Angelus Silesius als Proben der Nibelungenstrophe vorgeführt
werden. Wir würden nichts dawider haben, wenn Wackernagel den Alexandriner
als Abart des Nibelungenverses (nicht der Strophe!!) bezeichnet hätte,
welche vom 17. Jahrh. an statt des unbekannt gewordenen Nibelungenverses
als episches Maß gebraucht worden sei u. s. w.
Proben des neuen Nibelungenverses:
a.
(Uhland, Graf Eberhard der Rauschebart.)
[318]b.
(Fr. v. Heydens Epos: Das Wort der Frau.)
c.
(A. Grün, Der letzte Ritter.)
Vgl. noch Uhlands Sängers Fluch, Chamissos Abdallah, Herm. Linggs
Erwartung des Weltgerichts, W. Müllers Der kleine Hydriot, sowie die Mainottin
&c.
2. Der geteilte neue Nibelungenvers. Viele Dichter, denen die Zeile
des neuen Nibelungenverses zu lang ist, teilen diese in zwei Hälften und verleihen
nun jeder Hälfte die Bedeutung eines abgeschlossenen Verses. So entstehen
in der Regel aus der vierzeiligen neuen Nibelungenstrophe zwei viere
zeilige Strophen oder eine achtzeilige. Manche Dichter lassen die ersten Hälften
des neuen Nibelungenverses ungereimt, manche reimen sie.
Proben:
α. Ungereimte Zeilen.
(Scheffel, Trompeter von Säkkingen.)
(Wilh. Müller, Jägers Lust.)
(Moritz Blankarts.)
Der Dichter, der mit Rücksicht auf die rhythmischen Reihen zerstückelte, hätte
schreiben können:
β. Gereimte Zeilen.
(Ernst II., Herzog z. S.=Kob., Der Besuch.)
Vgl. noch Goethes Bundeslied, Uhlands Schenk von Limburg u. s. w.
3. Am wohlklingendsten und freundlichsten gestaltet sich der neue Nibelungenvers
durch verständnisvolle Einfügung von Anapästen.
Proben:
α. Ungeteilte Zeilen.
(A. Grüns Romanzenkranz „Der letzte Ritter“.)
β. Geteilte Zeilen.
(Rückerts Gräber zu Ottensen.)
(Ebenso ist Rückerts „Hofer“ behandelt und geschrieben.)
[320](A. Grün, Das Blatt im Buche.)
(Schiller, Parabeln und Rätsel VIII.)
(Goethe, Nachtgesang.)
(Hier kann vom Anapäst nur gesprochen werden, wenn man den weggelassenen
Auftakt ergänzt; etwa so: „Stĭll trǟu | mĕnd ĕin hālb“ und „Ŏ schlāfĕ! Wăs
wīllst &c.)
Als Beispiele dieser äußerst beliebten Form erwähne ich noch: Chamissos
Abdallah, Runges Blume der Blumen, Uhlands Märchen, Heines „Jch weiß
nicht, was soll es bedeuten“ und „Ein Fichtenbaum steht einsam“, Goethes
Der König von Thule, Scheffels Der Pfahlmann, Platens Die Najade u. s. w.
Viele unserer Dichter wenden das Gesetz der alten Nibelungenstrophe wieder
an, indem sie nur die sechs Hebungen in der Zeile respektieren und die Senkungen
beliebig setzen. Wir kommen darauf im alten Nibelungenvers § 190
zu sprechen, sowie im Kapitel vom Accentverse § 116─122.
C. Der neue Senar. ⏑ – ⏑ – ⏑ | – ⏑ – ⏑ – ⏑ –.
Der neue Senar(ius) unterscheidet sich vom Alexandriner nur durch
seine wechselnde, weibliche Cäsur, (im dritten, zuweilen im vierten Takte),
sowie durch seinen akatalektischen Schluß.
Ein besonderes Schönheitsmoment dieses Verses ist der weibliche Abschluß
der ersten rhythmischen Hälfte, wodurch die zweite Hälfte mit einer Arsis beginnt
und fallende Tendenz erhält, z. B.
(Schillers Jungfrau II. 6.)
Hat der Vers zwei Cäsuren, so steht die erste schon im 2. Takt, die zweite in
einem der letzten Takte. Er enthält zuweilen (nur nicht in der letzten Stelle!)
Anapäste und Spondeen, die ihm Leben und Schwung verleihen, z. B.
Der neue Senarius ist attischen Ursprungs. Er war ursprünglich der
griechische Trimeter, der zunächst durch die Übersetzungen der griechischen
Dramen zu uns kam. Er fand bei den Griechen ─ im Dialog ihrer Dramen
─ eine ähnliche Anwendung wie bei uns der jambische Quinar. Er war die
Versform ihrer Komödie und ihres Dramas (vgl. Ruhnken, zum homerischen
Hymnus auf Demeter, S. 195 ff.). Die Nachäffer der Griechen haben diesen
schönen Vers häufig zum Alexandriner mit zwängender Diäresis umgewandelt
und ihm seinen eigentlichen Charakter geraubt.
Gute Bildung und Verwertung fand er bei Schiller in zwei Scenen der
Jungfrau (Akt 2, Scene 6 und 8), sowie in der Braut von Messina; bei
Goethe z. B. im Faust 2. Teil 3. Akt: Helena &c.; bei Platen in der Verhängnisvollen
Gabel und im Romantischen Ödipus; bei Rückert teilweise im
Napoleon; bei Minckwitz im Prinzenraub &c. Horaz vermischt in seinen Epoden
(ähnlich wie Archilochus) den Trimeter mit fremden Zeilen (5. Buch der Oden),
Voß in seiner Übersetzung und Klopstock thun es ihm nach.
Weitere Beispiele des neuen Senarius.
(J. Minckwitz, Prinzenraub.)
(Rückert, Lieder und Sprüche, 77.)
D. Hinkejamben (Choliambus). ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – – ⏑.
Der Choliambus (von χωλ-ίαμβος == lahmer, hinkender Jambus)
wird auch nach seinem Erfinder Hipponax (540 v. Chr.) Hipponakteus
genannt. Auch unter dem Namen Skazon (von σκάζων, hinkender)
kennt man ihn. Er ist ein vollkommener jambischer Trimeter, der aber [322]
statt des letzten Jambus einen umgekehrten Jambus, d. i. einen Trochäus
oder auch einen Spondeus hat, wodurch die (durch fünf Takte in Fluß
gekommene) Bewegung im letzten Takt plötzlich einen Ruck erhält und
in's Stocken gerät.
Beispiele:
(A. W. Schlegel.)
(Rückert, Ges. Ausg. I. 541.)
II.
VII.
(Rückert an Wangenheim in: Beyer: Fr. Rückert ein biogr. Denkmal S. 438.)
7. Siebentaktige jambische Verse (jambische Siebentakter).
Sie haben in der Regel eine überzählige Kürze oder hyperkatalektischen
Schluß. Jn diesem Falle könnte man sie auch unter Hinzurechnung
der rhythmischen Pause für jambische Achttakter halten. Die
Diärese findet sich gewöhnlich am Ende des vierten Taktes.
Beispiele:
1. Hyperkatalektische jambische Siebentakter.
(Dingelstedts Dichtungen II. 111.)
(Rückert, Saul und David.)
Der hyperkat. Siebentakter kommt meist in Verbindung mit katal. Achttaktern
vor. Er kündigt sich als Siebentakter dadurch an, daß seine letzte überzählige
Thesis ohne Pause zum folgenden Vers hinübergelesen wird, was wir
bekanntlich S. 306 d. B. als Charakteristikum des hyperkatal. Verses lehrten.
Die Anwesenheit einer Pause würde den Vers ohne Weiteres zum kat. Achttakter
erheben. Der Lernende vgl. noch S. 343, 346, sowie 270 u. 305 d. B.
2. Akatalektische jambische Siebentakter.
(Wilh. Müller, Die letzten Griechen.)
8. Achttaktige jambische Verse (jambische Achttakter).
Diesen Vers, welchen die dipodisch messenden Griechen als jambischen
Tetrameter bezeichneten, finden wir häufig in Prologen, seltener
in Dramen. Rückert gebraucht ihn hie und da (z. B. in Saul und
David); ferner Platen (im Harmosan); Rittershaus, W. Müller,
Dingelstedt u. A. Er kommt als Hyperkatalektikus wie als Akatalektikus
und Katalektikus vor.
1. Hyperkatalektische jambische Achttakter.
(Emil Rittershaus, Zu Hilfe.)
2. Akatalektische jambische Achttakter.
(Fr. Dingelstedt, Die Kindesmörderin.)
3. Katalektische jambische Achttakter.
(Fr. Dingelstedt, Der Scharfenstein. Vgl. noch Dichtungen II. 110.)
[324]§ 108. Schreibweise längerer jambischer wie auch trochäischer
Reihen.
Es kommt zuweilen vor, daß längere jambische Reihen gebildet
werden, welche in ihrer Mitte eine ausgeprägte Jncision aufweisen,
indem sie die Halbzeile mit einer Thesis schließen, um das folgende
Hemistichium mit einer Thesis zu beginnen, so daß ein Anapäst entstehen
würde, wenn man ohne Beachtung der Pause weiter lesen wollte.
Beispiele:
(J. J. Honegger, Ruinen.)
Diese Schreibweise ist wohl in kürzeren Reihen zu billigen, wie z. B. beim
Nibelungenvers, weil dort die Wirksamkeit des in unmittelbarster Nähe liegenden
Reimes durch die Unterbrechung nicht wesentlich gestört wird. Bei längeren
Reihen ist jedoch ein ungestörtes ununterbrochenes Hinsteuern nach dem Reimecho
durchaus geboten, wenn die Ablenkung durch eine rhythmische Pause die Schönheitswirkung
nicht alterieren soll. Es empfiehlt sich daher, längere Reihen mit
rhythmischen Pausen zu teilen, also obiges Beispiel Honeggers folgendermaßen
gebrochen zu schreiben:
Vgl. das unschön geschriebene Beispiel Rittershausens in § 193, 3. d. B.
Ähnlich ist es bei trochäischen Versen, wo bei ungetrenntem Schreiben ein
rhythmusverrückender Spondeus zu entstehen scheint, z. B.
(Alex. Kaufmann, Die Eselsmünzen von Mainz.)
Hier muß unbedingt so gebrochen werden:
§ 109. Trochäische Verse.
Trochäische Verse finden sich in allen Längen. Die beliebtesten
sind der viertaktige, der fünftaktige und der achttaktige Trochäus.
1. Eintaktige trochäische Verse (trochäische Eintakter).
Sie kommen in der Regel nur als Reimträger abwechselnd mit
mehrtaktigen Trochäen vor ─ namentlich in Ghaselen mit gebrochen
geschriebenen Zeilen.
Beispiele:
(Rückert, Kindertotenl.)
(Krummacher, Die Geburt Jesu.)
(Sallet, Nachtigall und Rose.)
(Nikolai.)
(Hoffmann von Fallersleben.)
2. Zweitaktige trochäische Verse (trochäische Zweitakter).
Dieser Vers hat seit Goethe, Platen und Rückert Beifall und
Nachahmung gefunden.
Beispiele:
(Rückert.)
(Platen.)
[326]Das Gedicht „An Philomele“ von Th. Souchay besteht aus akatalektischen
zweitaktigen Trochäen, denen einige katalektische eingefügt sind.
Vgl. noch Rückert, Lieder und Sprüche 109, 221.
Folgendes Beispiel bietet katalektische zweitaktige Trochäen, also aus einem
Kretikus (– ⏑ –) gebildete Verse. Der Kretikus kann hier als katalektischer
trochäischer Zweitakter aufgefaßt werden. (Vgl. § 111, S. 334 d. B.) Die
Katalexis wie die kurzen Verstakte zwingen zum Zögern, zum Anhalten, zur
beschaulichen Betrachtung der Einzelvorstellungen.
(Rückerts Ges. Ausg. I. 546. Vgl. noch Kindertotenl. 332.)
Zweitaktige akatalektische und katalektische Trochäen wechseln in der formenschönen
religiösen Dichtung „Dankgebet“ vom Herzog Ernst II. zu Sachsen=
Koburg zur Gewinnung eines strophischen Charakteristikums mit 4taktigen ab:
3. Dreitaktige trochäische Verse (trochäische Dreitakter).
Sie kommen allein wie auch in Verbindung mit mehrtaktigen vor:
(Betti Paoli.)
(Wilh. Müller.)
(M. v. Schenkendorf.)
Die bekannte musikalische Komposition dieses letzten Liedes hat aus diesen
dreitaktigen Trochäen viertaktige gebildet, indem sie dem letzten Trochäus jeder
Zeile zwei Takte einräumte. Vgl. noch Platen: Zwischen Fichtenwäldern; ferner
Fr. Schlegels: Freiheit, so die Flügel; ferner Rückerts: Herz, was willst du
weiter; endlich Schillers Jägerlied aus dem Tell: Mit dem Pfeil, dem Bogen
u. s. w.
4. Viertaktige trochäische Verse (trochäischer Viertakter. Spanischer
Trochäus).
Dieser so häufig angewendete Vers findet sich vollständig und
unvollständig. Verschiedene Dichter haben ihn im Drama angewendet,
z. B. Grillparzer (Ahnfrau 1817), Müllner (Schuld 1816), Houwald,
Zedlitz, Auffenberg.
Herders Cid ist im viertaktigen Trochäus geschrieben. Der 4taktige
Trochäus ist der Nationalvers der Spanier. Eine Diärese findet sich in
ihm zuweilen am Ende des zweiten Taktes. Jn neuerer Zeit ist man bei uns
von seiner Anwendung einigermaßen zurückgekommen, zweifelsohne, weil eben
der Grundrhythmus unserer Sprache selbst trochäisch ist und wir in der Poesie
aus ästhetischen Gründen den Gegensatz erstreben. ─ Victor v. Scheffel hat
seinen Trompeter von Säkkingen in viertaktigen Trochäen geschrieben.
Der viertaktige Trochäus findet sich sonst auch, mit verschiedentaktigen
Trochäen zusammengesetzt, namentlich für kleinere Lyriken verwertet. Vgl. Schiller:
Lied an die Freude (Freude, schöner Götterfunken) und Der Jüngling am
Bache; ferner Goethe: Der Schatzgräber, Glück der Entfernung, Dank des
Paria, und Aus Dornburg; ferner Novalis: Der Kirchhof; Chamisso: Nacht
und Winter; Kopisch: König Jakob von Belvedere; Tieck: Die Poesie; ferner
Dingelstedt: Die Augen der Geliebten, sowie Walhalla; Christ. Weiße: Der
Aufschub; Anast. Grün: Mannesthräne; Hebbel: Der Tod kennt den Weg;
Freiligrath: Der Blumen Rache; Victor von Strauß: Der geheime Bund;
Lenau: Bitte; Rückert: Die sterbende Blume u. s. w.
Beispiele:
1. Akatalektische trochäische Viertakter.
(Herders Cid.)
2. Mit katalektischen Reihen gereimt.
(Scheffel, Trompeter &c.)
3. Mit katalektischen Reihen halbgereimt.
(Anast. Grün, Begrüßung des Meeres.)
4. Mit drei- und zweitaktigen trochäischen Versen abwechselnd
gereimt.
(Goethe, Zauberlehrling.)
5. Fünftaktige trochäische Verse (trochäischer Fünftakter. Serbischer
Trochäus).
Er kommt vollständig, unvollständig und überzählig in Anwendung,
namentlich in epischen Dichtungen. Die serbischen Volkslieder
sind von Th. A. L. v. Jacob im fünftaktigen reimlosen Trochäus übersetzt
worden, weshalb man diesen Vers im Gegensatz zum viertaktigen
sog. spanischen Trochäus den „serbischen Trochäus“ nennt.
Herder hat ihn in seinen Parabeln und Elegien angewandt. Goethe
dichtete in serbischen Trochäen: Morgenklagen; Nachtgesang; Klaggesang von der
edeln Frauen des Asan Aga; Zedlitz: Die Worte des Koran; Wilh. Müller:
Vineta; Kopisch: Psaumis und Puras; Matthisson: Elegie; Heyse: Die Brüder;
Platen: Die Abassiden, u. A.
Es ist unbegreiflich, daß Kurz, der wahrscheinlich nur den Prolog angesehen
hat, in seiner Litteraturgesch. III. 304b. die serbischen Trochäen mit
fünftaktigen reimlosen Jamben verwechseln und behaupten konnte, Platen
habe in diesem Versmaß seine Abassiden geschrieben, woran
Kurz überflüssige Belehrung über geeignetes Versmaß in solchen Dichtungen reiht.
Houwald (Werke V. 395), Bürger (I. 306 ff.), Fouqué (XII. 57), Auffenberg
(I. 23, XX. 144, 229 ff.) u. A. verwandten den Vers in Gedichten.
Auffenberg (X. 279 ff., XIV. 174 ff.) verwertete ihn auch im Drama.
Wir möchten ihn für das Drama nicht empfehlen. Die forteilende Handlung
im Drama scheint nur den rasch aufsteigenden Jambus zu vertragen.
Dazu kommt, daß bei seiner Anwendung wegen des trochäischen Grundrhythmus
unserer Sprache Worttakt und Verstakt zu häufig zusammenfallen und
so meist Diäresen, aber weniger Cäsuren eintreten.
Beispiele:
A. Ungereimt.
(Platen, Abassiden IV. 268.)
(Herder, Werke. Ausg. 1844. S. 213.)
B. Gereimt.
(Rückert, Lieder und Sprüche 25.)
(Die Tonverschiebung von Mītlēid in Mĭtlēid ist fehlerhaft.)
Als weiteres Beispiel des gereimten fünftaktigen Trochäus verweisen wir
auf Schillers Hektors Abschied, auf Lenaus Wandel der Sehnsucht und Kosegartens
Der Traum.
6. Sechstaktige trochäische Verse (trochäische Sechstakter).
Diese Verse wurden von Rückert öfter als von den übrigen
Dichtern angewendet. (Vgl. z. B. Ges.=Ausg. V. 42, 205, 214;
VII. 76, 276 &c.)
Beispiel:
7. Siebentaktige trochäische Verse (trochäische Siebentakter).
Dieser Vers findet sich in Rückerts Ghaselen (z. B. Ges.=Ausgabe
V. 215, 218, 240; VII. 74, 163, 273 &c.), ferner bei Dräxler-Manfred,
A. Grün und Dingelstedt.
Beispiele:
a. Akatalektische, trochäische Siebentakter.
(Rückert.)
b. Katalektische trochäische Siebentakter.
(Dräxler-Manfred, Salomos Ring.)
[331]8. Achttaktige trochäische Verse (trochäische Achttakter).
Dieser Vers könnte als Zusammensetzung von zwei einander
folgenden viertaktigen Trochäen angesehen werden, wenn nicht die
Jncision und der Reim am Ende des achten Taktes ihm den Charakter
des Einheitlichen aufdrücken würden. Am Ende des vierten Taktes
hat er eine stehende Diärese.
Bei Anwendung des männlichen Reims ist der Vers um eine Silbe verkürzt,
also katalektisch.
Ausnahmsweise kann bei allen Takten (nur nicht beim ersten und letzten)
ein Daktylus für den Trochäus eingeschoben werden. Platen und Rückert haben
den achttaktigen Trochäus in ihren Dramen angewandt.
Anastasius Grün hat seine Spaziergänge eines Wiener Poeten in diesem
Vers geschrieben. Dingelstedt seine Spaziergänge eines Kasseler Poeten, Nr. 3
ausgenommen.
Jn kleineren Dichtungen haben ihn gebraucht: Freiligrath (Gesicht des
Reisenden, Löwenritt); Geibel (Negerweib); Platen (Grab im Busento); Robert
Prutz (Bretagne); Adolf Weiß (Aus dem Ursumpf). ─ Goethes „Nachtgefühl“
hat akatalektische Reihen, ebenso das Kirchenlied „Jesus meine Zuversicht“,
endlich Anast. Grün „Sein Bild“ und Wilh. Müllers „Griechenlands Hoffnung“
(Brüder schaut nicht in die Ferne nach der Fremden Schutz hinaus). Jn
der Neuzeit hat den Vers Julius Grosse in seinen weitausgesponnenen esthnischen
Volksmärchen gebraucht: „Die Abenteuer des Kalewiden“, sowie Emil
Rittershaus in „Sonst und Jetzt“ &c.
a. Akatalektische trochäische Achttakter.
(Julius Grosse, Abenteuer des Kalewiden.)
(Anast. Grün, Antworten.)
b. Katalektische trochäische Achttakter.
(Anast. Grün, Sein Bild.)
[332](Platens Werke IV. 17.)
Eleasar:
Samuel:
(Rückert.)
§ 110. Kretische und trochäisch-jambische Verse.
Nicht selten finden sich im trochäischen Versgerüste Jamben, ähnlich
wie bei den Hinkejamben am Schluß der Zeile ein Trochäus angehängt
ist. Schließt sich dem Trochäus ein Jambus an (– ⏑ ⏑ –), so entsteht
für das Auge ein Daktylus, dem eine einzige lange Silbe folgt, oder
ein Choriambus.
Als trochäisch=jambische Verse sind zu bezeichnen:
A. Der kretische Vers und B. die choriambischen Verse.
A. Der kretische Vers (– ⏑ – | – ⏑ – | – ⏑ | – ⏑ | – ⏑ |).
Er enthält zwei Cretici und drei Trochäen.
Beispiel:
(Rückert.)
B. Choriambische Verse.
Zu den trochäisch=jambischen Versen rechnet man auch die in
unserer poetischen Sprache mehrfach verwerteten choriambischen Verse.
Sie bestehen ihrem Ursprung nach aus einem Choriambus (d. i. aus
einem Choreus oder Trochäus und einem Jambus – ⏑ ⏑ –) oder aus
zwei und drei Choriamben mit einleitendem trochäischen und abschließendem
jambischen Verstakte. Choriambische Verse sind 1. der
asklepiadeische Vers und 2. der glykonische Vers.
1. Asklepiadeischer Vers.
Der griechische Bukoliker und Epigrammendichter Asklepiades
(Lehrer Theokrits) vereinigte zwei oder drei Choriamben mit vorausgehendem
Trochäus und einem am Schluß folgenden Jambus zu Versen,
die man asklepiadeische Verse nannte. Man unterscheidet den kleinen
und den großen asklepiadeischen Vers.
a. Kleiner asklepiadeischer Vers.
Er besteht aus: Trochäus, zwei Choriamben und einem Jambus.
Beispiel:
b. Großer asklepiadeischer Vers.
Er besteht aus: Trochäus, drei Choriamben und einem Jambus.
Beispiel:
(Voß.)
2. Glykonischer Vers.
Er entspricht dem kleinen asklepiadeischen Vers, welchem ein Choriambus
fehlt. Er besteht also nur aus einem Choriambus mit vorangehendem
Trochäus und folgendem Jambus.
Beispiele:
(Rückert.)
Vgl. noch: „Unter duftenden Gärten ruhn“ von Hölderlin, sowie
Rückerts Kindertotenlieder S. 166.
§ 111. Daktylische Verse.
Der kräftig einsetzende Daktylus malt durch seine leichten, rasch
folgenden Thesen das Bewegliche, Lebendige, Jubelnde, Begeisternde, wie
die Beispiele im Kapitel von der rhythmischen Malerei beweisen (vgl.
§ 93). Erst die Neuzeit befleißigt sich reiner, den deutschen Accent
beachtender Daktylen, während man früher nicht selten schwere Silben [334]
in die Thesen und selbst Artikel wie Formsilben in die Arsis verlegte
und z. B. den Kretikus und den Trochäus als Notbehelf für den fehlenden
Daktylus anwandte oder aber fehlerhaft skandierte.
So hat ein Litterarhistoriker das Gedicht:
bei dem augenfällig jede Verszeile aus einem Kretikus oder nach S. 326 aus
einem katalektischen zweitaktigen Trochäus besteht, ohne sich um den Tonwert und
Accent von Wörtern wie „Lamm“, „Band“ zu kümmern, als ein aus eintaktigen
daktylischen Versen bestehendes Gedicht aufgefaßt. Ebenso wurde
Citherbubens Morgenlied von Schmidt von Lübeck:
als daktylische Dichtung ausgegeben. Manche Verse erscheinen dem Anfänger
wie Daktylen, ohne es zu sein. So sind die beiden ersten Verse der duftigen
Dichtung „Vögelein, zart und fein“ von Herzog Ernst II. z. S.=Kob.:
zweitaktige katalektische Trochäen. (Vgl. S. 309 d. B.)
Selten kommt es vor, daß einmal ein Daktylus einen für sich bestehenden
Vers bildet, während sich zwei=, drei=, vier- und fünftaktige daktylische Verse
ziemlich häufig finden, wobei wir die Wahrnehmung machen, daß der letzte Takt
in der Regel unvollständig ist, da unsere Sprache zwei Kürzen am Ende der
Zeilen nicht verträgt.
Es giebt ein= bis achttaktige daktylische Verse.
1. Eintaktige daktylische Verse (daktylische Eintakter).
Beispiel:
(Goethe, Claudine.)
2. Zweitaktige daktylische Verse (daktylische Zweitakter).
Dieser Vers kommt ebenso für sich allein, wie in Verbindung mit
mehrtaktigen Daktylen und mit gleitendem Reime vor.
Beispiele:
a. Zweitaktige Daktylen.
(Goethe.)
[335]b. Jn Verbindung mit katalektischen Zweitaktern.
Chor der Engel:
Chor der Weiber:
Chor der Engel:
Chor der Jünger:
(Goethes Faust.)
Bei folgenden Zweitaktern ist der zweite Daktylus seinem Tonwert nach
lediglich ein Kretikus (– ⏑ –):
(G. F. Schmidt von Lübeck.)
Jm nachfolgenden Gedichte wechseln zweitaktige Daktylen mit katalektischen
viertaktigen:
(Rückert.)
[336]Jn nachfolgenden Beispielen, in denen trochäisch schließende und auf die
Arsis ausgehende zweitaktige Glieder wechseln, ergänzen die rhythmischen Pausen
je den zweiten Takt:
(Goethe, Frühzeitiger Frühling.)
(Goethe, Ein Gleiches.)
Vgl. noch Neanders Kirchenlied „Lobe den Herren, den mächtigen
König der Ehren“ und Körners Gebet während der Schlacht. Jm ersteren
Gedichte finden sich 2=, 3=, 4= und 5taktige Daktylen, im zweiten wechseln
2= und 4taktige miteinander ab.
3. Dreitaktige daktylische Verse (daktylische Dreitakter).
Sie kommen in der Regel katalektisch und in Verbindung mit
mehrtaktigen Daktylen oder Trochäen vor.
Beispiele:
(Schiller, Die Erwartung.)
(Wessenberg, Sehnsucht.)
4. Viertaktige daktylische Verse (daktylische Viertakter).
Sie haben meist katalektischen Abschluß mit abwechselnd weiblicher
und männlicher Endung.
Beispiele:
(Goethe, Wechsellied &c.)
(Hier besteht in dem 1. Vers eine durch die rhetorische Pause auszufüllende
syllabische Katalexis, in dem 2. Vers eine disyllabische.)
(Goethe, Kophtisches Lied.)
(Schiller, Würde der Frauen.)
(Wir können den Trochäus am Schluß der Reihen ganz gut vertragen,
da seine Thesis die gleiche Zeitdauer mit den beiden Thesen eines Daktylus
einnimmt. § 80 d. B.)
(Schiller, Eleusisches Fest.)
(Salis.)
Mit dreitaktigen Daktylen vermischt.
(Rückert.)
5. Fünftaktige daktylische Verse (daktylische Fünftakter).
Sie haben katalektischen Schluß und abwechselnd weibliche und
männliche Endung.
Beispiele:
(Rückert, Lieder und Sprüche.)
(Neander.)
[338]6. Sechstaktiger daktylischer Vers (daktylischer Sechstakter).
Er ist der daktylische Hexameter. Neben ihm besteht der gebräuchliche,
mit Spondeen gemischte, sog. heroische Hexameter, den wir
wegen seiner hohen Bedeutung, und weil er meist nicht reiner daktylischer
Sechstakter ist, weiter unten im § 115 ausführlich behandeln
werden.
Es giebt kaum ein Gedicht, das ganz aus daktylischen Hexametern besteht;
in der Regel sind Spondeen oder Trochäen eingemischt. Der 6. Takt ist jederzeit
katalektisch, um den in's Rollen gekommenen Fluß zu hemmen.
Beispiele:
(Rückert.)
(Ed. Mörike, Jdylle vom Bodensee.)
7. Siebentaktige daktylische Verse (daktylische Siebentakter).
Sie kommen sehr selten vor. Unter Anderm finden sie sich in
Rückerts, durch Jolowiczs Polyglotte (Leipzig 1856) bekannt gewordenen
Übersetzung des Liebesidylls „Gita-Gowinda“ mit seinen großblumigen,
in üppigster Wort- und Bilderfülle prangenden Versen, in
welchen die Reime spielerisch klingen wie die Schellen an den Füßen
der gottgeliebten Schönen. Meist wechseln sie mit wenigertaktigen
Daktylen ab.
Beispiele:
8. Achttaktige daktylische Verse (daktylische Achttakter).
Sie kommen meist mit Spondeen und Trochäen vermischt vor
und haben nach dem 4. Fuß eine stehende Diärese.
Beispiele:
(Max Beilhacks Erynnis, gedichtet 1871.)
§ 112. Trochäisch-daktylische Verse.
Man nennt diese, Ende des vorigen Jahrhunderts häufig angewandten,
wegen ihrer Herkunft zuweilen auch dipodisch gemessenen
Verse, logaödische Verse. (Vgl. S. 274 u. 347 d. B.) Daktylen
und Trochäen sind so verbunden, daß die daktylische Bewegung in die
trochäische übergeht und mit ihr schließt, und zwar im Gegensatz zu
Versen, wie die nachstehenden, bei welchen der trochäische Charakter
vorherrschend, siegend wird:
(J. Falk.)
Zu ihnen gehören:
1. der adonische Vers,
2. der Hendekasyllabus und der phaläkische Vers,
3. der pherekratische Vers,
4. der kleine und
5. der große logaödische Vers,
6. der priapische Vers,
7. der sapphische Vers.
1. Adonischer Vers.
Beim adonischen Vers ist der Daktylus mit einem Trochäus verbunden
(– ⏑ ⏑ – ⏑). Er ist nach S. 336 ein kat. daktyl. Zweitakter
und bildet immer den Schlußvers der sapphischen Strophe (§ 161. 1.).
Beispiele:
(Goethe, Hochländisch.)
Man vgl. noch Rückerts Nordische Gäste, Lenaus Primula veris &c.
Die Verdoppelung dieses Verses (– ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑) bildet den großen
adonischen Vers.
2. Der Hendekasyllabus oder Elfsilbner und der phalkäische Vers.
a. Der Hendekasyllabus (Plur.: Hendekasyllāben) besteht aus vier
Trochäen und einem Daktylus (– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑).
Der Daktylus steht entweder als zweiter oder als dritter Takt,
zuweilen sogar als erster.
b. Folgt der Daktylus nach dem ersten Trochäus, so bezeichnet
man den Vers als phaläkischen Vers. Diesen Namen dankt dieser
besonders von Catull angewandte Hendekasyllabus dem griechischen
Lyriker Phaläkos.
Beispiele des Hendekasyllabus und des phaläkischen Verses.
Vgl. noch Rückerts „Schwālbĕn hāttĕn ăn meinem Haus gesiedelt“;
Matthissons Milesisches Märchen; Ramlers Nänie auf den Tod einer Wachtel;
Rückerts Hendekasyllaben mit der Betonung des Plurals Hendekasyllāben.
Das Gegenstück zum phaläkischen Vers war der alcäische Vers (§ 114. 2.
S. 348 d. B.).
3. Der pherekratische Vers.
Er ist der gebräuchlichste aller nach den äolischen Lyrikern benannten
„äolischen Verse“ und besteht aus Trochäus, Daktylus und
Trochäus (– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑). Somit ist er eigentlich ein adonischer Vers
mit vorausgehendem Trochäus. Den Namen verdankt er dem griechischen
Dichter Pherekrates (um 420 v. Chr.).
Beispiele:
(Grūndlōs und trōstlōs hat der Dichter falsch betont:
grūndlŏs und trōstlŏs. Es sollte 5. 3. 1. betont
werden, während der Versrhythmus betont 5. 2. 1.)
(Rückerts Kindertotenlieder 133.)
(Rückert.)
Vgl. noch Klopstocks Zürcher See (z. B. V. 7: Komm in rötendem Strahle).
[341]4. Der kleine logaödische Vers. Er hat am Schluß einen Trochäus
mehr, als der adonische Vers, z. B. – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑.
5. Der große logaödische Vers. Er besteht aus zwei Daktylen
und zwei Trochäen, z. B. – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑.
6. Der priapische Vers. Er besteht aus einem glykonischen und
einem in derselben Zeile angefügten pherekratischen Verse,
z. B. – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – | – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑.
7. Der sapphische Vers.
Seinen Namen hat er von der Dichterin Sappho, die ihn zuerst
anwandte. Er unterscheidet sich vom phaläkischen Vers nur dadurch,
daß stets der dritte Takt den Daktylus hat (– ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑).
Die Alten hatten in diesem Hendekasyllabus im letzten Takt einen
Spondeus.
(Platen.)
(Voß.)
Der größere sapphische Vers (– ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑)
kommt in unserer poetischen Litteratur nur höchst ausnahmsweise in
den Dichtungen der Zeitgenossen Klopstocks vor.
§ 113. Anapästische Verse.
Wie ein schwerer Vogel erst einen Anlauf machen muß, bevor er
in's Fliegen kommt, und wie ein beladener Wagen nur langsam einsetzt,
bis er in der Ebene lustig rollend weiter sich bewegt, so setzen inhaltschwere
anapästische Reihen gewöhnlich langsam mit einem Jambus ein,
bevor sie ihre charakteristisch rollende Bewegung annehmen. Es widerstrebt
unserm Gefühl, die rhythmische Reihe mit zwei Thesen zu beginnen;
auch verlangt die rhythmische Malerei für Unterbrechung des hastigen
Forteilens zuweilen nur eine Thesis. Dies ist wohl der Grund, weshalb
man so selten ganze Gedichte aus reinen Anapästen antrifft. Beim
Recitieren des Anapästs liest man die beiden Thesen so, daß sie den
gleichen Tongrad zu haben scheinen, z. B.
Es giebt eintaktige bis achttaktige anapästische Verse.
[342]1. Eintaktige anapästische Verse (anapästische Eintakter).
Sie kommen meist nur in Verbindung mit anderen Versen vor.
Beispiele:
(Lenau.)
2. Zweitaktige anapästische Verse (anapästische Zweitakter).
Es sind beliebte Verse, die auch mit mehrtaktigen vorkommen. Meist
haben sie akatalektischen, zuweilen jedoch auch hyperkatalektischen Schluß.
Beispiele:
(Goethes Mailied.)
(Man beachte den Rhythmuswechsel durch Eintritt von zwei trochäischen
Zweitaktern.)
Zweitaktige Anapäste hat Goethe häufig in seiner schnadahüpflartigen
Kriegserklärung eingeflochten, z. B.
Jm zweitaktigen Anapäst sind die sogenannten bayerischen Schnadahüpfl
gedichtet, die ähnlich klingen wie Goethes schnadahüpflartiges Schweizerlied oder
wie sein Freibeuter, z. B.
a.
b.
(Goethe, Freibeuter.)
Bei hyperkatalektischen Reihen zieht man, ohne Pausen zu machen, meist
deren letzte Thesis zum Anfangstakt der ihnen folgenden Reihe hinüber:
(Goethe, Verschiedene Empfindungen.)
3. Dreitaktige anapästische Verse (anapästische Dreitakter).
Reine dreitaktige Anapäste erhalten wir, wenn wir bei den daktylischen
Dreitaktern die überzählige letzte Silbe einer jeden Verszeile
zum Jambus der nächsten Verszeile rasch hinüberlesen, was indes der
Reim zuweilen erschwert.
(Salis.)
Jn nachstehenden Versen Schillers folgt ein dreitaktiger Anapäst einem
viertaktigen; in den beiden letzten Zeilen bleibt der anapästische Rhythmus vorherrschend,
obwohl Jamben eingestreut sind:
Vgl. Anast. Grüns Blatt im Buche, Scheffels Pfahlmann.
4. Viertaktige anapästische Verse (anapästische Viertakter).
Wo diese Verse rein anapästisch sind, bildet der männliche Reim die
Jncision, welche noch durch die rhythmische Pause verstärkt wird.
Jn viertaktigen Anapästen, denen in einzelnen Zeilen Jamben eingefügt
sind, ist die Löwenbraut von Chamisso geschrieben, ferner Schillers Des
Mädchens Klage, Herders Eistanz u. s. w. Auch in Platens romantischem
Ödipus finden wir viertaktige Anapäste, deren erster Takt oft ein Jambus
ist. Jn Bürgers Lied vom braven Mann sind die beiden letzten Verszeilen
jeder Strophe ebenso gebildet. Das von Platen in Nachbildung des Schah
Nameh-Versmaßes angewandte Metrum (Werke II. 333) wurde mehrfach
als anapästisch aufgefaßt, während Platen an den Kretikus dachte und demzufolge
gelesen haben will:
Jn einer Anzeige von Schacks Firdusi (Augsb. Allg. Ztg. Nr. 130.
Jahrg. 1877) nennt Bodenstedt dieses Versmaß persisch: Mutakarib und
teilt eine von ihm selbst übersetzte Probe mit, die so beginnt:
Eine Reihe kürzerer Anapäste mit Schlußvers heißt Anapästensystem.
Beispiele:
a. Anapästische Verse.
(Geibels Babel.)
(Bürger, Der Kaiser und der Abt.)
(Die vorstehenden Verse können auch als gute Amphibrachen skandiert werden:
⏑ ⏑ | ⏑ – ⏑ | ⏑ – ⏑ | ⏑ – ⏑ |.)
(Goethe, Hochzeitslied.)
(Die beiden letzten Verszeilen sind katalektische Viertakter.)
(Goethe, Der getreue Eckart.)
[345](Die beiden dreigliedrigen Perioden dieser Strophe schließen je mit einem
katalektischen Viertakter ab.)
b. Anapästensystem.
(Chamisso.)
5. Fünftaktige anapästische Verse (anapästische Fünftakter).
Der fünftaktige Anapäst findet sich in unserer Litteratur nur selten.
Er hat meist hyperkatalektischen Schluß.
Beispiel:
(Uhland, Die Mähderin.)
6. Sechstaktige anapästische Verse (anapästische Sechstakter).
Der daktylische Hexameter mit fallendem Rhythmus wird zum
anapästischen Hexameter mit steigendem Rhythmus, wenn er einen Auftakt
erhält. Von sämmtlichen derartigen Bildungen nimmt Ewald
Christian von Kleists Frühling eine hervorragende Stelle ein.
Beispiel:
(Aus Kleists Frühling.)
7. Siebentaktige anapästische Verse (anapästische Siebentakter).
Häufige Verwendung in der poetischen Litteratur fand der hyperkatalektische
siebentaktige Anapäst, den man als achttaktigen katalektischen
Anapäst ─ als den sog. aristophanischen Tetrameter ─
auffassen kann, und dies besonders dann, wenn die Hebung des siebenten
Takts unter Hinzurechnung der Pause über die beiden Thesen des
achten Takts hinüber angehalten wird, so daß die letzte Silbe wieder
in die Arsis kommt (z. B. Zīn--kēn). Manche Gelehrte haben seine [346]
Einführung irrtümlich Platen, dem Nachahmer des Rückertschen Ghasels
zugeschrieben, der ihn in seinen 2 Lustspielen und Parabasen von 1835
reimlos anwendet. Aber Rückert hat denselben lange vor Platen in
seiner 1815 erschienenen, die aristophanische Form wiedergebenden Komödie
„Napoleon“ mit Glück angewendet, weshalb wir ihm das Verdienst
der Einführung nicht antasten lassen wollen. Um den Schluß
der sehr langen Zeile zu markieren, vermählt ihm Rückert die Assonanz.
Beispiele:
a. Assonierend.
(Rückerts Napoleon.)
b. Mit Endreim:
Platen (wie auch Gottschall im Carlo Zeno) reimt zuweilen den siebentaktigen
Anapäst.
(Platen.)
(Man beachte die ständige Diärese nach dem 4. Takte.)
Wo man den hyperkatalektischen siebentaktigen Anapäst als Achttakter aufrecht
hält, könnte man ihn ─ selbstredend nur unter Anrechnung der mit
der Jncision verbundenen rhythmischen Pause ─ einen akatalektischen
Achttakter nennen.
8. Achttaktige anapästische Verse (anapästische Achttakter).
Als katalektische anapästische Achttakter können wegen der langen
Pause die Goetheschen Verse in „Ergo bibamus“ aufgefaßt und geschrieben
werden. Bei Goethe sind die Zeilen gebrochen geschrieben.
Jn unserer Schreibung ist nur die 3. Verszeile akatalektisch.
Beispiel:
§ 114. Jambisch-anapästische Verse (gemischte Anapäste
mit steigendem Rhythmus).
Die Zahl dieser gemischten Anapäste ist außerordentlich groß.
Man kann sagen, daß dieselben von jedem besseren Dichter mit Vorliebe
zur rhythmischen Malerei verwendet werden. Entweder der Jambus
wird benützt, um die rasche Bewegung des munteren Anapästes
zu zügeln, oder der Anapäst wird angewendet, um die langsame Bewegung
des aufstrebenden Jambus in's Rollen zu bringen. Schillers
Anapäste fügen viel öfter den Jambus ein, als die Goetheschen. Sie
sind fast sämmtlich gemischt (logaödisch).
Bei den deutschen gemischten Anapästen ist die Stellung des
Jambus eine durchaus willkürliche, also keineswegs schematisch feststehend
wie im alcäischen Verse.
A. Deutsche jambisch-anapästische Verse.
Beispiele:
(Schiller, Graf von Habsburg.)
(Schillers Reiterlied.)
(Schiller, Die Worte des Glaubens.)
(Schiller, Des Mädchens Klage.)
[348]Vgl. noch Schiller: Die Worte des Wahns; Die vier Weltalter &c.
(Scheffel im Trompeter.)
B. Der alcäische Vers.
Zu den jambisch=anapästischen Versen zählt besonders der von
Alkäos (um 610 v. Chr.) herrührende sog. alcäische Vers, der aus
fünf Takten besteht, von denen die drei ersten und der fünfte jambisch
sind, während nur der vierte anapästisch ist (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ –).
Beispiele:
(Herder.)
§ 115. Mit Spondeen gemischte Verse.
A. Der Hexameter (Sechstakter).
1. Der Hexameter oder das Hexametron (ἑξάμετρος) ist ein aus
sechs Metren bestehender Vers. Er stammt von den Griechen und wird [349]
─ wegen seiner Verwendung im heroischen Epos ─ auch Heroon oder
heroischer Vers genannt. Mit Rücksicht aus seine erste Entstehung in
den delphischen Orakelsprüchen nannte man ihn wohl auch das theologische
Metrum, zuweilen auch das pythische.
Unter seine ersten vier Takte können beliebige Spondeen eingemischt
werden. Der fünfte Takt jedoch ist fast ausnahmslos ein
Daktylus.
2. Wegen seiner langen Ausdehnung ist die Cäsur im Hexameter
wesentlich. Die sogenannte heroische Cäsur durchschneidet den dritten
Takt entweder nach der Arsis (männlich) oder nach der Thesis (weiblich).
Die elegische Cäsur durchschneidet den vierten Takt nach der Arsis.
Sie ist also immer männlich.
Neben diesen wesentlichen Cäsuren giebt es noch verschiebbare,
der Verschönerung dienende Cäsuren.
3. Fehlerhaft ist die Cäsur am Ende des dritten Taktes; ebenso
fehlerhaft ist die Verbindung der Cäsur nach dem zweiten Takt mit der
bukolischen Cäsur.
4. Zu den Feinheiten des Hexameters gehört der anapästische
Gang, der schon im zweiten Takt beginnen kann.
5. Jm deutschen Hexameter sind Trochäen zulässig.
6. Eine geschichtliche Form des Hexameters ist der Kleistsche
anapästische Hexameter.
7. Weiteren Formen (z. B. dem Leoninischen Hexameter) sowie
einer Kritik der hexametrischen Gedichte hat die Geschichte und Litteratur
des Hexameters näher zu treten.
8. Gereimte Hexameter sind in unserer Poesie nicht empfehlenswert.
9. Überhaupt ist der Hexameter im Hinblick auf unsere accentuierende
Prosodik als ein undeutsches Maß zu bezeichnen.
1. Ursprünglich bestand der Hexameter wohl aus sechs Daktylen, deren
in's Unendliche forthüpfende, von einer Reihe in die andere ungeteilt hinüberflutende
Bewegung man dadurch zur Ruhe zu bringen suchte, daß man an
Stelle des letzten Daktylus einen hemmenden oder verlangsamenden Spondeus
oder Trochäus setzte (– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏒).
Dadurch wurde auch der Eintritt einer neuen Reihe markiert und die
Gliederung durch einen Ruhepunkt bemerklich gemacht. Um die klappernde
Eintönigkeit und eine gleichmäßige ermüdende Wiederholung der übrig bleibenden
fünf Daktylen zu vermeiden, hat man auch hier als hemmendes Mittel je nach
Bedürfnis die ersten vier Daktylen mit Spondeen vertauscht, hütete sich aber
(bis in die Neuzeit), den fünften Daktylus anzutasten, den man unter allen
Umständen als Charakteristikum des Hexameters stehen ließ, und der nur höchst
ausnahmsweise behufs rhythmischer Malerei durch einen Spondeus ersetzt wurde,
in welch äußerstem Ausnahmefall man den Hexameter als spondeischen Vers
(versus spondaicus) bezeichnete.
Die Einführung des Spondeus in die ersten vier Takte des Hexameters
ist berechtigt, da ja das Traurige, Langsame, Schwere nicht die hüpfende Form
des heiteren Daktylus verträgt. Da dem Griechen zwei Kürzen für eine Länge
galten, so war die Einführung des Spondeus in den Vers leicht ausführbar,
und man hatte nur darauf zu halten, daß zur Wahrung des Verscharakters
der fünfte Takt ein Daktylus blieb.
Das Schema des Hexameters ist nun folgendes:
─́
─́
─́
| ─́
– ⏑ ⏑ ─́ ⏒.
Ein Blick in das Wesen des Hexameters zeigt uns das allerwärts wirkende
Gesetz von Satz und Gegensatz: das Gesetz des Parallelismus
der Glieder (parallelismus membrorum). Wie dieses geistige Gesetz der
Satzbildung z. B. in der Poesie der Hebräer maßgebend war, so findet es
auch beim Hexameter seinen sprachlichen Ausdruck im metrischen Gleich= und
Gegengewicht.
Schon Aristoteles nennt die drei ersten Takte des Hexameters das rechte
und die drei letzten das linke Glied des Hexameters. Er unterscheidet also
zwischen Vorder- und Nachsatz.
Minckwitz bekämpft die Schulregel, wonach der fünfte Takt des Hexameters
ein Daktylus sein müsse; er spricht also gegen die daktylische Grundform des
Hexameters, und zwar aus dem Grund, weil Homer im Hexameter (den letzten
Takt ausgenommen) beliebig Daktylen und Spondeen angewendet habe.
2. Cäsuren. Um der Eintönigkeit in noch anderer Weise entgegen zu
treten, hat man den Mittelschnitt verschoben und darauf Rücksicht genommen,
daß Wort- und Verstakte nicht zusammen fallen. Die so entstandenen Cäsuren
treten mit dem Rhythmus in Gegensatz, sofern sie nicht mit dem Ende der
rhythmischen Reihe zusammenfallen. Voß hat die Cäsuren auch für die deutsche
Poesie zum einheitlichen Gesetz erhoben.
Es giebt nunmehr im Hexameter notwendige, von jedem Dichter
zu beachtende Cäsuren und zufällige oder schmückende.
Notwendige Cäsuren im dritten oder im vierten Takte. Es sind:
I. die männliche Cäsur im dritten Takte. (Griech. πενθημιμερής
== aus fünf halben d. i. 2½ Teilen bestehend.) Man nennt sie auch die
epische oder heroische Cäsur. Sie ist die gebräuchlichste.
II. Die seltenere weibliche im dritten Takte zwischen den beiden
Kürzen dieses Taktes, die somit den dritten Takt als Trochäus mit nachfolgender
kurzer Silbe erscheinen läßt. (Griech. μετὰ τρίτον τροχαῖον == d. i. nach
dem 3. Trochäus.)
III. Die männliche im vierten Takte verbunden mit einer männlichen
Nebencäsur im zweiten Takte. Sie ist nicht so häufig als die beiden vorhergehenden.
Man nennt sie die elegische Cäsur. (Griech. ἑφθημιμερής ==
aus sieben halben d. i. 3½ Teilen bestehend.)
Zufällige, lediglich dem Schmuck und der Verschönerung dienende
Cäsuren. Sie finden sich:
I. Jn der ersten Hälfte des Hexameters in Verbindung mit der
elegischen Cäsur. Sie ist die soeben unter III. erwähnte Nebencäsur im
zweiten Takt und hat folgende erlaubte Verschiebungen:
a. Frāgt nūr: ‖ hāt sīch | Cǟsăr bĕ | klāgt; ‖ dĕr gĕ | wāltĭgĕ | Fēldhērr?
b. Frēund sēi | stīllĕ, ‖ dŭ | jūbĕlst zŭ | frǖh, ‖ dŭ bĕ | glǖcktĕr Gĕ | trēuĕr.
c. Jēnĕr gĕ | biētĕrĭsch ‖ mēidĕt dĕn | Gēiz ‖ ăls dĕn | Ānfăng dĕs | Lāstĕrs.
II. Jn der ersten Vershälfte in Verbindung mit der heroischen
Cäsur.
a. Nīmm, ‖ mēin | Brūdĕr, dĕn | Vērs ‖ āls | Bēispīel | schȫnĕr Cä̆ | sūrĕn.
b. Sprīch dŏch ‖ ŏ | gǖtĭgĕr | Frēund, ‖ zēig | Frēundĕn dĭe | ōpfĕrndĕ | Frēundschāft.
c. Schmūckvōll, ‖ Dīchtĕr, sĕi | dū, ‖ dăß dĕn | Lēsĕr ĕr | frēuĕ dăs | Kūnstwērk.
d. Wēlch' Ănă | pǟst! ‖ Āls | Tākt ‖ dū | sūchst ĭhn vĕr | gēblĭch ĭm | Sēchstākt.
III. Jn der zweiten Vershälfte.
Jch erwähne hier nur die allbeliebte, zierdevolle sog. bukolische oder idyllische
Cäsur am Ende des vierten Verstaktes, die wegen des Zusammentreffens des
Worttaktes mit dem Verstakte bukolische Diärese genannt werden sollte.
a. Ālsō | sprāch dĕr Prŏ | phēt, ‖ dĕr gĕ | fēiĕrtĕ, |*⌒| ēhrt sĕin Gĕ | dǟchtnīs.
b. Phȳllĭs bĕ | gēgnĕtĕ | Chlōĕn ŭnd | lāchĕltĕ. |*⌒| Sōll ĕs nŭr | Hōhn sēin?
Die bukolische Tiärese fand häufige Verwendung in den bukolischen
ländlich=idyllischen Dichtungen, z. B. des Bukolikers Theokrit.
3. Fehlerhafte Cäsuren. Aus dem Studium guter Hexameter erkennt
der Lernende die Mannigfaltigkeit der verschönernden Cäsuren, wie er auch
die fehlerhaften unterscheiden lernt.
Fehlerhaft ist es z. B., die Cäsur an's Ende des 3. Taktes
zu setzen, weil sie einer den Vers in zwei Hälften teilenden Jncision gleichkommen
würde.
Vernachlässigung der Cäsur zeigen folgende Hexameter Platens:
Die weibl. Cäsur
im 4 Daktylus
nennt A. W.
Schlegel (Werke
III. 24.) „durchaus
unstatthaft“.
4. Feinheiten im Hexameter. Zu den schönsten Hexametern wird ─
weniger wegen seiner fehlerhaften Accentverlegung ─ als wegen seines männlichen,
weiblichen und daktylischen Schlußfalls der folgende gerechnet:
(Bei Vṓrbīld findet hier mit Rücksicht auf den Versrhythmus eine undeutsche
Accentverschiebung statt.)
Der Gang (allure), die Bewegung des Hexameters, wird durch die
Satztakte bestimmt. Am anmutigsten ist der anapästische Gang, weil hier die
Satztakte am häufigsten von den Verstakten durchschnitten werden, z. B.
Auf diesen schönen Hexameter passen Schillers Worte:
Lauter spondeische oder lauter daktylische Satztakte sind unschön, weil sie
eben lauter trennende Diäresen ergeben, z. B.
Erst in der künstlerischen Wahl und Abwechslung der Satztakte liegt die
Schönheit des Verses. Man vgl. die im Kapitel von der rhythmischen Malerei
gegebenen Beispiele (s. § 93). Mehr als zwei Wortdaktylen sollte schon die
Beachtung der vorgeschriebenen Cäsuren verbieten. (Vgl. S. 286. d. B.)
5. Der Trochäus im Hexameter. Einige Gelehrte und Dichter (z. B.
A. W. Schlegel, Werke III. 20) haben sich gegen Anwendung des Trochäus
(an Stelle des Spondeus) erklärt. So hat A. W. Schlegel in seinem Gedicht
„Rom“ den Trochäus ganz auszuschließen gesucht. Ein Gleiches hat
Wolf in seinen Proben einer neuen Übersetzung der Odyssee in
Hexametern erstrebt.
Westphal meint, daß der Hexameter aufhöre, ein griechischer Hexameter
zu sein, wenn man auf die lange Silbe eine kurze folgen lasse, wenn
man also einen Trochäus einfüge. Jch glaube, daß Schlegel, Wolf und
Westphal schon deshalb im Unrecht sind, weil man beim Recitieren dem Trochäus
genau dieselbe Zeitdauer zu geben hat, als der Daktylus beansprucht
Trochäen, namentlich wenn sie durch eine weibliche [353]
Cäsur geteilt werden, erhöhen zweifellos den Wohllaut des Hexameters, auch
gewähren sie (vereinzelt zwischen Daktylen oder Spondeen, und ohne daß also
ein Trochäus dem andern folgt) den Reiz der Abwechslung. Der schlechteste
Vers von Voß (Odyss. 15, 333: Sīnd mit Brōt und Flēisch und Wēine
stets belastet) ergiebt z. B. nicht weniger als 4 Diäresen. Unsere Accentgesetze
begünstigen einen Trochäus weit mehr als einen Spondeus, welch letzterer
im deutschen Hexameter überhaupt nur dann passieren kann, wenn er trochäisch
gelesen wrd.
6. Kleist's anapästische Hexameter. Eine besondere Art jambischanapästischer
Hexameter hat Ewald von Kleist in seinem mehr erwähnten
Gedicht Frühling gebildet. Desgleichen Uz 1742 in seiner Ode auf den
Frühling.
Diese sind lediglich aus einer Veränderung des jambischen Sechstakters
(Alexandriners) hervorgegangen. Wie der Alexandriner haben sie den jambischen
Auftakt (Anakrusis). Sie sind reimlos und verändern die Cäsur gleich dem
heroischen Hexameter.
Beispiel:
Wir bilden diesen Hexameter nachstehend zum Alexandriner zurück:
Läßt man den Auftakt bei dem Kleistschen Hexameter ganz weg, so
erhalten wir daktylische Sechstakter wie die im Vorstehenden abgehandelten
Hexameter. Betrachtet man aber den 1. Fuß als Jambus, so erhalten wir
anapästische Verse. (Vgl. Beispiel § 113. 6. S. 345. d. B.)
7. Zur Litteratur und Geschichte des Hexameters ist zu bemerken,
daß der Hexameter bei den alten Griechen und Römern 1. in epischen
Dichtungen angewandt wurde von Homer, Apollonius, Ennius, Virgil,
Ovid u. A.; 2. in Lehrgedichten von Hesiod, Theognis, Virgil, Lucrez
u. A.; 3. in Satiren von Horaz, Persius, Juvenal &c.; 4. in Hymnen
von Kallimachos &c.; 5. mit dem Pentameter vereinigt von Kallinos,
Tyrtäos, Mimnermos, Ovid, Tibull, Properz &c.; 6. mit Jamben von
Horaz &c.; 7. mit dem archilochischen Vers von Archilochos. Jtalienische
jambische Hexameter bildete Annibal Caro, französische Baïf, (beide im
16. Jahrhundert, also etwa hundert Jahre früher als die Deutschen) englische
Stanyhurst, Sidney, Fraunce, der 1670 Heliodors Äthiopica in englische
Hexameter übersetzte; schwedische Adlerbeth in seinem Virgil; holländische
Meermann; ungarische Barot und Debrentei; auch spanische finden
sich Anfangs des 17. Jahrhunderts.
Der Hexameter ging auch in die lateinische Poesie des Mittelalters über;
hier mußte der Schluß des Verses mit der Hauptcäsur im 3. Takte reimen.
Dieser Vers, den man den leoninischen nennt, bequemte sich der altdeutschen
Langzeile an. Johannes Clajus (nicht zu verwechseln mit Joh. Klai S. 51 d. B.)
bildete den leoninischen Reim im deutschen freilich recht accentwidrig nach:
(Es könnte doch unmöglich anders, als so skandiert werden:
Was den deutschen Hexameter anlangt, dessen Geschichte W. Wackernagel
geschrieben hat, so ist zu bemerken, daß nach Fischart, Eisenbeck, Johannes
Clajus († 1592), Heräus, K. Geßner, von Birken, Chr. Weiße und Gottsched
(die auch einzelne gereimte Hexameter schrieben), Klopstock der Erste
war, der den deutschen Hexameter in seinem für Regeneration der deutschen
Sprache epochebildenden Messias im Jahre 1748 zur Einführung brachte.
Trotz glücklicher Anschmiegung desselben an deutsche Spracheigentümlichkeiten
kann heutzutage der Klopstocksche Hexameter den Anforderungen der accentuierenden
Metrik nicht mehr genügen, da ja seitdem unsere Sprache durch unsere
Dichter hohe Vollendung, Geschmeidigkeit und wahrhaft klassische Rundung
erhielt. Es würde interessant sein, eine neue Ausgabe des Messias zu veranstalten
und die nach dem Standpunkt der heutigen Prosodik und Metrik
nötigen Änderungen beizusetzen. Wie Klopstock, so sündigten gegen die richtige
Betonung mehr oder weniger auch Uz, Kleist, Voß, Goethe, Schiller,
Uhland, A. W. Schlegel (der übrigens unter den sämtlichen Romantikern
die reinsten Hexameter gebildet hat), Platen, Rückert, Heyse (Thekla),
Hamerling (König von Sion) bis zu Biesendahl, der seine 1879
erschienene „Kaisertochter“ in diesem Versmaße geschrieben hat. Man kann
daher getrost in den Satz einstimmen: Es giebt kein einziges, aus
einer größeren Anzahl von Hexametern bestehendes deutsches
Gedicht, welches durch und durch korrekt wäre. (Vgl. auch Platens
Ausspruch unter Beispiele des Pentameter S. 359.)
8. Gereimte Hexameter. Für die Wirkungsweite des Reimes ist der
Hexameter fast zu lang. Ohnehin entzieht die Beachtung des Rhythmus unsere
Aufmerksamkeit dem Reime vollständig. Rückert hat öfters daktylische Hexameter
in je zwei Verszeilen verteilt und gereimt, z. B.:
- 1. Wǟr' ĭch dĭe | Lūft, ŭm dĭe | Flǖgĕl zŭ | schlāgĕn,
- 2. Wōlkĕn zŭ | jāgĕn,
- 1. Über die Gipfel der Berge zu streben,
- 2. Das wär' ein Leben!
- 1. Bräuten an ihrem Gewande zu säuseln,
- 2. Locken zu kräuseln,
- 1. Düfte von beiden als Steuer erheben,
- 2. Das wär' ein Leben!
9. Über Verwendbarkeit unseres Hexameters in der deutschen
Poesie. Der Hexameter kann bei uns nimmermehr die Bedeutung beanspruchen,
die er bei den Griechen und Römern erlangt hatte, was schon ─ abgesehen von
dem Mangel prosodisch reiner deutscher Spondeen, abgesehen von der schwierigen
Bildung der Cäsuren, abgesehen davon, daß die Position bei uns keine Rolle
spielen kann, und abgesehen von dem zur Ausfüllung nötigen Übermaß von
Beiwörtern (z. B. Und es versetzte darauf die edle verständige Hausfrau) ─
durch unsere Betonung bedingt ist.
Welchen Anstoß bietet z. B. die Stellung von Tonsilben in der Thesis
oder reiner Kürzen in der Arsis des Verses. Deutsche Wörter, wie z. B.
Fūßvȫlkĕr, Jāgdschlīngĕn, blōndlōckĭg &c. sind im Hexameter absolut nicht unterzubringen,
und es ergeben sich die geschraubten, prosodisch fehlerhaften Verse,
wie wir davon nur einige wenige im Kapitel von den Jnkorrektheiten in der
Silbenmessung (§ 74 S. 237) mitgeteilt haben.
Wilhelm von Humboldt weist unserem Goethe („Briefwechsel“, Brockhaus
1876, S. 19 und 34) eine ganze Musterkarte von Jnkorrektheiten nach
und erbietet sich (a. a. O. S. 45), mit Brinkmann die prosodischen Fehler
anzustreichen, Versetzungen zur Abhilfe vorzuschlagen und an Goethe zu senden.
Goethe nimmt das Anerbieten unter Anerkennung der seiner Dichtung anhaftenden
Mängel an (a. a. O. S. 56). Er sagt: „Man mag sich noch so sehr
zum Allgemeinen ausbilden, so bleibt man immer ein Jndividuum, dessen
Natur, indem sie gewisse Eigenschaften besitzt, andere notwendig ausschließt.“
(Auf Seite 72 spricht er von seiner Feile.)
Unserem Heine kommt Klopstocks Messias, „den er nicht lesen könne“, wie
eine poetische Predigt vor, (vgl. Strodtmanns Dichterprofile S. 247) und
dieser bedeutende Dichter erklärt sich nachdrücklich gegen die deutschen Hexameter.
„Selbst wenn sie ganz richtig und vortrefflich gebaut sind,“ ruft Heine aus,
„so daß nichts daran auszusetzen ist, gefallen sie mir doch nicht. Nur einige
Ausnahmen giebt es, und das sind gerade nicht die besten, z. B. Goethes
römische Elegien. Schlegel sagte mir, Goethe habe ihm seine Manuskripte vorgelesen,
und er (Schlegel) habe ihn auf manchen Verstoß in der Versifikation
aufmerksam gemacht; aber Goethe habe dann in der Regel gesagt, er sehe
wohl, daß das nicht ganz richtig sei, aber er möge es doch nicht ändern, weil
es ihm so besser gefalle als das Richtigere.“ Heine fragt: „Worin liegt
das nun?“ Und Wedekind antwortet: „Jm Geist der deutschen Sprache“,
setzt aber hinzu, daß er dies bis jetzt nicht näher entwickeln könne, was wir
ihm beim Mangel einer deutschen Prosodik recht wohl glauben wollen.
Zille (in „Probe einer neuen Übersetzung der Äneïs im Nibelungen=
Versmaße.“ Leipzig 1863) sagt mit Recht: „Es ist kaum ein undeutscheres
Versmaß zu denken als das des Hexameters, zumal wenn derselbe nicht frei
geschaffen, sondern einem römischen oder griechischen Dichter nachgebildet
ist. Wider den Geist der deutschen Sprache verstößt der Anfang mit schwerer
Silbe (?); undeutsch ist der immer wiederkehrende zweisilbige Ausgang; [356]
undeutsch die große, besonders durch Daktylen vermehrte Länge. Dazu kommt
nun bei einer Übersetzung die verschiedene Wortfügung. Wie verschieden ist
der Satzbau der lateinischen und der deutschen Sprache! Diese Verschiedenheit
macht den Gang des deutschen Hexameters steif und gezwungen; somit kann
nur etwas Eckiges, Hölzernes und Klappriges ohne angenehme Bewegung, ohne
leichten Fluß und Wohlklang zu Tage treten.“ Zille vergißt freilich in seiner
geharnischten Expektoration, daß wir doch mehrere Gedichte besitzen, deren Hexameter
leidlich mit dem Genius unserer Sprache im Einklang stehen; z. B.
Hartmanns Jdyll Adam und Eva, Friedr. Hebbels Mutter und Kind, Amalie
von Helwigs Die Schwestern von Lesbos, Goethes Hermann und Dorothea,
Mörikes Jdylle vom Bodensee, Heyses Thekla, Gregorovius Euphorion, Hamerlings
König von Sion, Biesendahls Kaisertochter. Daß diese Dichtungen
mehr als halbwegs gelungen sind, beweist freilich nur die Technik der
Dichter, schließt aber die Wahrscheinlichkeit nicht aus, daß diese Gedichte strophisch
und gereimt noch wirkungsvoller sich gestaltet haben würden. Wohlklingend
knappe strophische Muster, die mit Kraft und Fülle metrische und prosodische
Korrektheit verbinden, vermögen ganz anders zu wirken als der langatmige
Sechstakter, der meist der deutschen Sprache Gewalt anthut. Den markgräfler
Bauern behagten die im Hexameter geschriebenen Jdyllen J. P. Hebels (vgl.
Werke 1871. S. 1. 21. 45. 58) keineswegs. Sie behaupteten, „das
seien gar keine Gedichte“. Der Jnhalt gefiel ihnen, aber von der Form
wollten sie nichts wissen. Westphal (a. a. O. S. 217) ist mit der Anwendung des
Hexameters z. B. in Schillers Spaziergang ebenso wenig als in Goethes Hermann
und Dorothea einverstanden. Er sagt: „Schon Manchem hat den Genuß an
jener Dichtung der leidige Hexameter verkümmert. Unsere neueren Dichter
beweisen darin einen durchaus richtigen Takt, daß sie sich so wenig wie möglich
mehr dem Hexameter und dem Elegeion zuwenden.“ Auch der Germanist
J. B. Moritz Haupt verwahrt sich gegen den deutschen Hexameter &c.
Beispiele des Hexameters.
Zur Vergleichung drucken wir zunächst eine Stelle aus dem Klopstockschen
Messias ab, der wir ein Schlegelsches Musterbeispiel von Hexametern sowie ein
Beispiel von Geibel folgen lassen:
a.
(Klopstock, Messias X.)
(Die Stellung: „Wēltrĭchtĕr, Sōhn mīch“ würde die undeutsche Accentverschiebung
mildern. Ebenso: „Wēltrĭchtĕr, Gōtt“ in der drittletzten Verszeile. [357]
Freilich würde dadurch der 5. Takt Spondeus werden. Die Betonung
der Silbe lich in der 7. Zeile ist fehlerhaft, unschön.)
b.
(A. W. Schlegel, Der Hexameter.)
(Aus Geibels klass. Liederbuch S. 108.)
(NB. Man beachte die Accentverschiebung „nāchsī́nnend“.)
B. Der Pentameter oder das Elegeion.
Jm Gegensatz zu dem in's Unendliche fortstrebenden, forteilenden
Hexameter setzt der aus 2 katalektischen Dreitaktern zusammengesetzte
Pentameter der Bewegung zweimal einen energischen Halt entgegen.
Man kann sagen, er besteht aus zweimal je 2½ Takten, oder auch:
er besteht aus 6 Takten, von denen der dritte und der letzte unvollständig
sind, so zwar, daß der dritte und sechste Takt nur die Arsis
behalten haben.
Nur in den beiden ersten Verstakten kann für den Daktylus der
Spondeus oder Trochäus gesetzt werden. Bei den letzten Takten ist
wegen des daktylischen Grundcharakters und mit Rücksicht auf den
beflügelten Abschluß der Daktylus beizubehalten.
Rechnet man die nach der Arsis des dritten und sechsten Taktes entstehende
rhythmische Pause der fehlenden Thesis an, so ist der Pentameter als
Hexameter aufzufassen: als dikatalektisches Hexametron. Die Griechen legten ihm
den Namen Elegeion bei. Daß man ein Recht hat, die Pausen in Anrechnung
zu bringen, beweist der Umstand, daß diese Pausen beim Lesen des
Pentameters in der That beachtet werden.
(Schema: –
| –
| – ‖ – ⏑ ⏑ | – ⏑ ⏑ | – ‖ .)
Wie das Schema zeigt, so hat die ständige Cäsur immer nach der Arsis
des dritten unvollständigen Taktes zu stehen, wo auch im Lesen eine Pause zu
machen ist, so daß diese als Jncision erscheint. Es ist ein Fehler, daß W. Schlegel
diese Jncision durch ein umklammerndes Wort überbrückt hat. (Vgl. sein „Rom“:
C. Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter im Distichon.
Der Pentameter tritt wegen seiner scharfen Pausen, welche die
kurzen rhythmischen Reihen bedingen, nur in Verbindung mit dem Hexameter
auf, für dessen hinausstrebenden Charakter er gewissermaßen ein
Haltpunkt wird.
Man nennt das so entstandene Verspaar ein elegisches Distichon
(δίστιχος zweizeilig == Doppelzeile).
Dieses Distichon war die kleinste lyrische Strophe der Alten. Römische,
griechische und moderne Dichter (Ovid, Tibull, Properz, Tyrtäos; Schiller, Goethe,
Hebbel, Rückert und viele Andere) dichteten Elegien, Sinnsprüche, Epigramme
und ausnahmsweise sogar längere Gedichte in dieser einfachen Form. (Vgl. die
längeren Gedichte Schillers: Pompeji und Herkulanum und Der Spaziergang.)
Dieses Versmaß, bei Elegien verwendet, wurde das elegische genannt;
bei Epigrammen gebraucht, nannte man es das epigrammatische. Jhm
ist entgegengesetzt das heroische, bei welchem ausschließlich der Hexameter
Verwendung fand. Ein klassisches Zeugnis sagt: „Nach dem Takte des Gesanges,
den Demodokos vor den Phäaken im Hexameter anstimmte, ward ein nachahmender
Reigen getanzt, wozu die Umstehenden den Takt schnippten oder
klatschten; nach dem Takte der tyrtäischen Kriegslieder, in denen Hexameter und
Pentameter wechselten, gingen die Lacedämonier in gemessenem Schritte gegen
den Feind.“ Durch diesen Ausspruch ist der von uns an anderer Stelle
erwähnte, heutzutage nur noch geahnte musikalische Rhythmus in den Distichen
der alten Griechen bezeugt.
Rückert hat eine große Anzahl von Gedichten in elegischen Distichen geschrieben,
wie z. B.
Schlegel verbindet die einzelnen Distichen zu einer großen Strophe in
seinem tonlich nicht fehlerfreien Gedicht: Elegie. Bequem haben sich Schiller
und Goethe die Bildung von Distichen gemacht, wie z. B. für ersteren [359]
die Distichen „Macht des Weibes“, für letzteren die Distichen „Vier Jahreszeiten“
beweisen.
Die Verbindung zweier Distichen zu einer Strophe erstrebten viele Dichter,
besonders Rückert (vgl. Ges.=Ausg. V. 62) und Voß. Bronislaw (vgl. Die
Bauhütte 1874. S. 176) reimt den letzten Pentameter seiner Doppeldistichen.
Beispiel einer Distichenstrophe:
(Voß.)
Schon vor Gottsched wurden Strophen aus elegischen Distichen öfters mit
dem Reim versehen, was uns überflüssig, ja, gewagt erscheint und zwar im
Hinblick auf den charakteristischen Rhythmus, der unsere ganze Aufmerksamkeit
absorbiert. W. Wackernagel weist solche gereimte Distichenstrophen nach in
Kl. Schriften 1873, S. 54. 57. 59. 60. Der Reim erscheint hier wie ein
rhythmushemmendes Bleigewicht.
Andernteils bedingt der weibliche Reim den Fortfall von Spondeen, die
doch durch ihre leichtartige Doppeltönigkeit für die Lautmalerei sehr dienstlich sich
erweisen können und auch sonst den sechsten Takt gewichtiger und markanter
erscheinen lassen als Trochäen.
Weitere Beispiele des Pentameter:
a. Pentameter in Verbindung mit dem Hexameter (Distichen.)
(Platen.)
(Die Worte „dḗshālb“ und „Klṓpstōck“ erhalten hier eine ebenso undeutsche
Accentverschiebung als das Wort „Dḗutschlānd“ in dem Distichon, welches
Goethes „Hermann“ anerkennt.) Platen versichert, nie ein richtig
gebautes Distichon gelesen zu haben, und giebt das nachstehende als
Probe eines guten, wobei aber doch auch die undeutsche Accentverschiebung
„wēh ḗuch“ zu rügen ist.
b. Pentameter selbständig, in gebrochenen Verszeilen.
Man begegnet in einzelnen Ausnahmsfällen Pentametern, welche in zwei
Zeilen geschrieben und gereimt sind. Man faßt dann die einzelnen Zeilen als
katalektische daktylische Dreitakter auf. Vgl. das Gedicht von Wessenberg:
(Man beachte die fehlerhafte Accentverschiebung:
Sieh her.)
D. Weitere Verbindung des Hexameters mit anderen Versen.
Neben der so bekannten und geläufigen Vermählung des Hexameters
mit dem Pentameter finden wir ihn auch noch verbunden I. mit
dem Tetrameter, II. mit vier- und sechstaktigen Jamben, III. mit dem
archilochischen Verse.
I. Hexameter und Tetrameter.
Beispiel:
II. Hexameter mit vier- und sechstaktigen Jamben.
a. Mit jambischen Viertaktern.
Beispiele:
Rückert wählte nach Art der horazischen Epoden diese rhythmisch=wirkungsvolle
Form zur Einleitung seines modernen Jdylls „Wettgesang“:
b. Mit jambischen Sechstaktern.
Beispiele:
α.
β.
(Geibels klass. Liederbuch S. 120.)
[361]III. Der Hexameter und der archilochische Vers (– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –).
(Archilochisches Distichon.)
(Aus Geibels klass. Liederbuch. Nachbildung der Ode des
Horaz: An Manlius Torquatus.)
IV. Lehre von den freien Versarten (Accentverse).
§ 116. Erklärung und Entwickelung der Accentverse.
1. Neben der großen Menge deutscher Verse, denen ein ganz
bestimmtes Metrum, d. i. also ein streng geregeltes Formprinzip zu
Grunde liegt, findet der geübte Metriker viele Verse, bei denen ein
bestimmtes, gesetzmäßig geregeltes Metrum nicht nachweisbar ist, bei
deren Aufbau für den Dichter lediglich die Arsen bestimmend waren,
während Thesen entweder gar nicht oder in willkürlicher Zahl eingefügt
wurden. Man nennt sie Accentverse. Verstakte im Sinne der seitherigen
Schulmetrik kennen diese Verse nicht.
2. Macht man vor den Arsen Taktstriche, so erhält man ein
buntes Gewimmel aller erdenkbaren Verstakte; ja, es ergiebt sich noch
manche Kombination, nach welcher der Lernende vergeblich in einer
Poetik sich umsehen wird, wodurch aber der Accentvers eine z. B. den
Hexameter weit überragende rhythmische Beweglichkeit erhält.
3. Jm altgermanischen epischen Vers waltete das accentuierende
Prinzip.
4. Heinrich Heine war der Erste, welcher den Mut hatte, die
schulmäßige Metrik zu durchbrechen und sich in seinen Schöpfungen ─
erst instinktiv, dann bewußt ─ dem altgermanischen Accentvers zuzuneigen.
5. Alle übrigen Dichter haben instinktiv mehr oder weniger dem
Accentvers gehuldigt.
1. Accentverse in der weitesten Bedeutung können alle unsere deutschen
Verse genannt werden, sofern bei ihnen eben nicht die Zeitmessung, sondern
lediglich die Betonung entscheidend ist. Jm engeren Schulsinn ─ den wir
hier beanspruchen ─ versteht man jedoch unter Accentversen nur diejenigen
Verse, bei denen kein feststehendes, durch regelmäßige, kontinuierliche Wiederkehr
bestimmter Metren entstandenes Gesetz waltet, bei denen vollständige Freiheit
der Bewegung herrscht und die Zahl und Wahl der Thesen ganz dem Geschmack
und Belieben des Dichters überlassen bleibt. Der Accentvers ist der eigentlich
deutsche Vers im eminenten Wortsinn. Seine feste Haltung und metrische
Geschlossenheit ruht im Accent und daher auch ─ soweit er gereimt ist ─
im accentuierenden Reime.
Jn einzelnen seiner Takte kann die Thesis ganz und gar fehlen.
Beispiele:
(Viktor Blüthgen.)
(Nach W. Jordan.)
(Schiller, Schlacht.)
(Aus Kohls Kinderliedersammlung Nr. 41.)
[363]Mit | Süd= | Kling= | Sing= |
Prall= | Tral= | Klang | Sang |
Hall | lal | singt. | klingt. |
sprüht | Lied |
(Vossens Scherzsonett, bei welchem jeder Vers nur aus einer Arsis besteht.)
(Paul Schönfeld.)
(Goethes Rastlose Liebe am Schluß.)
(Wilh. Müllers „Mein“.)
(Recitation.)
(Nach W. Jordans Der epische Vers.)
[364]Jn manchen Takten des Accentverses können drei und mehr Thesen eintreten,
die sodann rasch (gewissermaßen in einem Zeitteil) gelesen werden
müssen, damit nicht die zweite oder dritte dieser Senkungen den Ton erhalte.
Man eilt eben nur von Hebung zu Hebung, z. B.:
a.
(Heine.)
b.
(Schiller, Braut von Messina.)
(Goethes Epiphanias.)
(Goethe.)
(W. Jordan.)
(Adolf Stöbers Grab zu Würzburg.)
2. Beim Accentvers herrscht nichts weniger als Regellosigkeit. Er trägt
vielmehr den logischen Gesetzen wie den Vorschriften der Symmetrie, des Wohllauts
und des ästhetisch Schönen vollste Rechnung.
Große Dichter lassen sich nicht durchweg und allenthalben in die Schablone
bannen; sie durchbrechen sie, wo der Geist des Wortes es erheischt, um
diesen zum Ausdruck zu bringen.
3. Der epische Vers der alten Germanen war im eigentlichen Sinn
Accentvers und zwar bis zu der Zeit, in welcher das fingron scriban (== das
mit den Fingern schreiben) begann und das Dichten vom Mund zum Ohr
allmählich endigte, was zum Teil schon in dem zur Zeit Ludwig des Frommen
gedichteten Heliand der Fall war. (Vgl. Windisch, der Heliand und seine
Quellen; sowie für die nachfolgenden Beispiele das Supplement zu Jordans
Nibelunge, Beispieltafel und S. 17 ff.) Die altgermanischen Sprachen
kannten ebenso wenig feste Längen und Kürzen als die neuhochdeutsche. Alle
Vokale konnten die Arsis erhalten und sogar einen vollen Takt füllen,
wenn der Begriff in ihrer Silbe gipfelte, während andererseits die
tönendsten Vokale und Diphthonge sogar zum fast zeitlosen Vorschlag oder Abschlag
heruntergesetzt werden konnten, wenn die Bedeutung des Begriffs in der
benachbarten Silbe ruhte. So ist es trotz aller quantitierenden Versuche
und Schulregeln bis auf unsere Tage geblieben. Jordan weist nach, daß z. B.
unser i eigentlich eine Kürze, au eine schwere Länge sei, und wir trotzdem sagen
können:
ich auch, desgleichen auch ich.
Der altepische Vers der Germanen gestattete in der That bei hastiger
Bewegung ganz wie der unserige sogar 4= und 5silbige Thesen. Vgl. noch
das folgende Beispiel Jordans a. a. O.:
Jm Heliand finden sich mit Hinzurechnung der Thesis im vorhergehenden
Fuß sogar 6 Senkungssilben nebeneinander.
Es ist wunderbar, daß man das wohllautende, frei=rhythmische Gesetz des
epischen Verses der Germanen bis zu Heinrich Heine nicht erkannte, um
die Rückkehr zu demselben zu versuchen.
4. Heinrich Heine hat sich ihm zuerst und trotz des Geschreis der
Schulpedanten, die seine Verse für rhythmisch unstatthaft und nachlässig bezeichneten,
praktisch zugewandt. Er bedeutet somit in der Rückkehr zur altgermanischen
Rhythmik eine Epoche! Bei Würdigung der feinfühligen
Sorgfalt und Sauberkeit im Schliffe seiner Lieblingsstrophe tritt ganz und voll das
Verständnis des urdeutschen rhythmischen Gesetzes entgegen. Am meisten überrascht
der Wohllaut des freien Rhythmus in seinen reimlosen und anscheinend
regellosen „Nordseebildern“, so daß der Vollender des ächtdeutschen freien
Rhythmus, Wilhelm Jordan, versichern konnte, er kenne in modernen Gedichten [366]
keinen schmiegsameren Rhythmus, keine mundgerechtere Anordnung der Konsonanten,
keine Vokalisation, deren Wechsel und melodische Folge mit gleich feinem
Verständnisse für Redestimme und Ohr berechnet sei, überhaupt kein Poem,
das durch Sprachmusik allein schon den Hörer entzücke wie das genannte.
Man vergleiche z. B.
Heute darf ein Jeder rühmend nachsprechen, daß in Heines
Dichtungen instinktiv der unsterbliche, urgermanische Sprachgeist
auflebt und waltet, und daß durch ihn allein unsere
Sprache nach tausendjähriger Jrrfahrt in der Fremde heimgekehrt
ist zum rhythmischen Gesetze des altgermanischen
epischen Verses.
5. Wir finden dieses Gesetz zwar auch in den Dichtungen unserer übrigen
Dichter zum Ausdruck gelangt, aber doch nur ausnahmsweise dann, wenn ihnen
die einschnürende, pressende Form des vorgeschriebenen Metrums unbequem wurde
oder sie sich von der freieren Rhythmik eine besondere Wirkung versprachen.
Vgl. Schiller:
(Braut von Messina.)
Jn Schillers jambischem Quinar seiner sämtlichen dramatischen Stücke
(mit Ausnahme der Jungfrau von Orleans und der Braut von Messina) herrscht
zwar formell, d. h. der Silbenzahl oder der räumlichen Ausdehnung nach, das fremde
Gesetz des zwängend gliedernden Jambus; doch läßt er innerhalb desselben den
freien deutschen Accent walten: das nach Arsis und Thesis skandierende
urdeutsche Gesetz, das viele Darsteller, die den jambischen
Versrhythmns auf der Bühne zum Ausdruck bringen wollen,
so lange nicht verstehen, bis durch wiederholtes Lesen der heilige
Geist unserer accentuierenden deutschen Sprache sie überkommt
und der „improvisatorische Jnstinkt“ sie (nach Jordan)
vor Verdunkelung und Verderbnis durch eine fremd octroierte
falsche Metrik bewahrt! Man wird bei genauer Würdigung des
Schillerschen Bühnenverses zugeben müssen, daß sich derselbe nur dadurch von
dem epischen altgermanischen Vers unterscheidet, daß die Symmetrie seiner Taktzahl
wechselt, indem nicht durchweg vier Hebungen, sondern oft nur 2─4
seine Gruppen bilden, z. B.
(Don Carlos.)
(Braut von Messina.)
Wollte der Deklamator die Schiller'schen Bühnenverse durchweg nach den
Anforderungen des Versrhythmus lesen, sofern sie die Silbenzahl des jambischen [368]
Quinars einhalten und somit Silbenschema und Rahmen desselben
ausfüllen, so würde wohl selbst der letzte deutsche Bauer den Kopf schütteln. Er
wird daher gut thun, bei den im § 118 näher zu behandelnden Versen, immer
die Arsen zu bezeichnen, um richtig zu deklamieren, z. B.
1. Halt eīn, Ūnglǖckliche! Wēhe! Wēhe!
Du lēugnest der Sōnne lēuchtendes Līcht
Mit blīnden Aūgen! Die Gȫtter lēben.
Erkēnne sīe, die dich fūrchtbar umgēben.
2. Wēlcher es sēi, er hat mein Hērz erfrēut.
3. Wēichet zurǖck! Sie schrēckt der fremde Ānblick,
4. Lāngsam kēhrt die Besīnnung ihr zurǖck.
5. Wēh, wēh mir! O entsētzensvōlles Līcht!
6. Geschlēcht. | Wēh! | Wēhe! | Wēhe! | Wēhe!
7. Gūtmǖtge Thōren, wās gewīnnen wīr.
8. Flūche mir nīcht! Von dīr kānn ich's nicht trāgen.
9. Lēbe, wēr's kānn, ein Lēben der Zerknīrschung.
10. Lēbe, mein Sōhn! Lāß dēine Mūtter nicht
Frēundlōs im Lānd der Frēmdlinge zurǖck,
Rōhhērziger Verhȫhnung prēisgegēben,
Weil sie der Sȫhne Krāft nicht mēhr beschǖtzt &c.
(Schillers Braut von Messina.)
Der mehrfach citierte Wilh. Jordan hat einige Schauspieler nach seinem
Geständnis auf das Geheimnis der Schillerschen Rhythmik (durch welche Heine
vielleicht den Anstoß zu seiner Befreiung von den Banden der Schablone erhielt),
aufmerksam gemacht und bei denselben eine künstlerische Methode begründet, die
er auch durch seine verständnisvollen Vorträge in dankenswerter Weise anbahnt.
Jn freierer, vielleicht absichtsvollerer Weise als bei Schiller, kommt das
Gesetz des freien Rhythmus bei Goethe im ersten Teil des Faust zur Geltung,
z. B.
Victor v. Scheffel, der instinktiv mehr als andere Dichter den Accentvers
pflegt, nennt den „oftmals schiefen“ Trochäenbau seines Trompeters von Säkkingen
„nicht zart geraten“. Aber das Schiefe und Ungeratene verliert sich,
und die Fehler verwandeln sich plötzlich in rhythmische Schönheiten und in
Wohllaut, sobald man vom Standpunkte des freien Rhythmus nach Arsis und
Thesis skandiert, z. B.
Nach Trochäen gemessen müßte das Ganze als durchaus verfehlt, als
gründlich fehlerhaft bezeichnet werden, während die Skansion nach Arsis und
Thesis über jede Schwierigkeit hinweghilft. Man kann behaupten, daß die
meisten der in § 74 gerügten prosodischen Jnkorrektheiten wegfallen, sobald man
nach Arsis und Thesis skandiert und diese Beispiele vom Standpunkte des freien
Rhythmus taxiert. Dadurch erscheinen aber sämtliche dort angeführte Gedichte
als Beiträge und Belege für den Nachweis, daß unsere deutschen Dichter gegen
die Zwangsjacke der steifmonotonen Schablone von jeher angekämpft und instinktiv
dem Rhythmus des altgermanischen epischen Verses gehuldigt haben, bis endlich
der geniale H. Heine ─ wenn auch vorerst nur praktisch ─ in seinen Dichtungen
die undeutschen Fesseln sprengte und dem Deutschtum wie ein Entdecker
das altgermanische Gesetz des freien Rhythmus neu zurückgab.
§ 117. Einteilung sämtlicher deutschen Accentverse.
Jndem wir die seit Decennien mühsam aus allen Dichtern ausgewählten,
nunmehr auf unserem Pulte vereinten, sämtlichen freigebildeten
Dichtungen gruppieren, ergiebt sich folgende Einteilung derselben:
1. Symmetrische Accentverse (Silbenzählungsverse), welche
das äußere Gerüste und den Grundrhythmus eines bestimmten Versschemas
aufrecht zu erhalten streben und dasselbe nur durch Verletzung
des Versrhythmus stellenweise durchbrechen. Beispiele: Der Trompeter
von Säkkingen von Scheffel und sein Waltharius, Schillers Bühnenverse
&c.
2. Strophisch vereinte Accentverse mit zumeist unsymmetrischer,
willkürlicher Zeilenlänge, die in ihrer Verbindung symmetrische,
kontinuierliche Strophen bilden, aber nur nach Arsis und Thesis zu
skandieren sind. Beispiele: Was blasen die Trompeter von Arndt, die
fünf Kindermärlein von Rückert, das Volkslied: Prinz Eugenius der
edle Ritter, Geibels König Sigurds Brautfahrt, Hamerlings Vaterlandslied,
P. Schönfelds Deutsches Lied.
3. Freie Accentverse, für die wir den Namen „neuhochdeutsche
Leiche“ wegen ihrer Ähnlichkeit mit den mittelhochdeutschen Leichen
einführen möchten. Sie beanspruchen volle Freiheit in der Zeilenlänge
wie in Anordnung und Folge der Arsen, die oft dicht neben einander
stehen, oft durch beliebig viele Thesensilben getrennt sind. Sie haben [370]
teils keine strophische Gliederung, teils sind ihre Strophen von den
Satzschlüssen, vom Gedanken und von der Empfindung des Dichters
abhängig. Nur bedeutende Dichter vermögen sie zu bilden. Beispiele:
Schillers Handschuh, Scheffels Bergpsalmen, Goethes Über allen
Wipfeln ist Ruh &c.
4. Deutsche Hebungsverse mit einer bestimmten Arsenzahl.
Beispiel: Jordans Nibelunge.
5. Freie Volksverse (Knüttelverse), welche ähnlich den symmetrischen
Accentversen wie metrische Verse erscheinen möchten, dabei
aber den Schulregeln der Kunst bewußt wie unbewußt in's Gesicht
schlagen. Sie sind die Domäne der Dichterlinge, wenn gleich auch
bedeutende Dichter sie anwandten.
§ 118. Symmetrische Accentverse (Silbenzählungsverse).
Wie der Musiker die Takte zwar einhält, dabei aber doch durch
Synkopen, Fermaten, Figuren, Koloraturen, Vorschläge, Pausen &c.
alle möglichen Freiheiten zur Erreichung einer schönen Wirkung sich
gestattet, so haben auch viele Dichter einen bestimmten Versrhythmus
einzelnen Dichtungen zu Grunde gelegt, denselben aber aus Rücksichten
der tonlichen Schönheit unbewußt, oder auch mit Absicht durchbrochen
und oft mehr, oft weniger Arsen in der Verszeile gegeben.
Schon die Silbenzählungsverse der Minnesinger setzten sich über eine
bestimmte Anzahl von Arsen hinweg. Schwere und leichte Silben folgten
einander im bunten Gemisch. Es kam nur darauf an, daß jede Zeile die
entsprechende Silbenzahl hatte, gleichviel welcher Art die Silben ihrem Tonwert
nach waren.
Die Meistersänger, welche in der Länge der einzelnen Zeilen wechselten
und oft manche ganz gefällige Bildungen schufen, zählten ebenfalls nur die
Silben der korrespondierenden Zeilen, die in geregelter Aufeinanderfolge angeordnet
waren. Auch sie beachteten nicht eine durch ein bestimmtes Metrum
gebotene Anzahl von Arsen.
Verschiedene neuere Dichter sind in diese Bahn getreten, ohne es ursprünglich
beabsichtigt zu haben. Sie hatten es sich vorgenommen, trochäische
oder jambische Verse zu bilden ─ und es entstanden Accentverse.
So hat Scheffel z. B. in der „Zueignung“ seines Trompeters, worin
er ja den trochäischen Grundcharakter wahrt, sehr viele Verse gebildet, die kaum
einen einzigen Trochäus enthalten, wenn auch ihr äußeres Gerüste die Silbenzahl
des trochäischen Viertakters beibehält. Vgl. neben dem Beispiel in § 116
Verse wie diese:
Ähnliche nach Arsis und Thesis zu skandierende Silbenzählungsverse finden
wir bei Scheffel noch viele, z. B. in seiner „Teutoburger Schlacht“, wo dem
Dichter der trochäische Viertakter vorleuchtete und der trochäische Grundrhythmus
auch durchweg gewahrt ist:
(Die 3 ersten Zeilen dieses Beispiels haben nach Art des akatalekt. Viertakters
je 8 Silben, während die beiden letzten Zeilen nach Maßgabe des katalekt.
Viertakters nur je 7 Silben aufweisen. Dabei kann die 3. Zeile nur jambisch
gelesen werden, und bei der 5. muß man mit einem Daktylus einsetzen.)
Nachstehende Beispiele Scheffels (aus den Bergpsalmen) haben die Silbenzahl
anapästischer Viertakter, können aber nur als maßfüllende Accentverse
─ als Silbenzählungsverse ─ passieren:
Das letztere Beispiel würde geradezu als Monstrosität des anapästischen
Viertakters erscheinen, wenn es versrhythmisch so gelesen werden sollte:
Ăls schōn | dĕs Hōch | thăls Schnĕeūr | grŏßvătēr | . ─ Jm „Waltharius“
hat Scheffel lediglich die sechs Hebungen des Nibelungenverses eingehalten, die
Senkungen aber beliebig eingesetzt.
Wie Schiller anstatt jambischer Quinare silbenzählende symmetrische Accentverse
bildete, habe ich durch Beispiele in § 116 dargethan. Vgl. dort besonders
die hierher gehörigen Proben 1─10 S. 368. Ähnliche Bildungen lassen sich bei [372]
allen besseren Dichtern nachweisen, die nach Schillers und Heines Vorgang den
Mut hatten, sich zum freien Rhythmus emporzuschwingen. Aus der reichen
Zahl vor mir liegender, ausgewählter Beispiele gebe ich zum Beleg nur die
folgenden:
a. 1. Jch ūnterschrēibe nīcht, ĭch wīllĭgĕ
Nīe, nīemāls ĭn dĭe Trēnnŭng ūnsrĕr Ēhĕ. ─
2. Stōlz, Ēhrĕ, hāb ĭch dīr sĭe nĭcht gĕōpfĕrt.
3. Ūnsrĕ Vĕrgāngĕnhĕit hāst dŭ vĕrschmēlzt.
4. Frēi ĭst mĕin Hērz, frēi, wĭe dĭe wāhrĕ Līebĕ.
5. Vĕrǟndĕrŭngĕn ĭn Gĕfǖhlĕn ŭnd ĭn Trācht.
6. Schlēudrĕ mīch vŏr dĭe Fǖßĕ dēinĕr Mȫrdĕr.
7. Die wīlden Mǟchte mēiner glǖhnden Brūst
Stǖrzĕn hĕrvōr und schmīeden mēine Ārme
Um dēinen Lēib; vĕrzēhrĕndĕs Vĕrlāngĕn
Prēßt dēinĕs Būsĕns Zūckĕn ăn mĕin Hērz u. s. w.
(Proben aus Ludw. Schneegans' Marie, Königin von
Schottland. III, 3.)
b. 1. O krächzt mir keine schwarze Botschaft zu!
Lēiht mēinĕm Līebstĕn ēure dunklen Flügel,
Trāgt mĭr mĕin Glǖck hĕrāuf. Jch fǖhle nīchts &c.
2. Ēlĕndĕr Prīester du, was weiß dein Herz.
3. Jhr mögt ihn enden oder einst am Tag
Des ēwĭgĕn Gĕrīchtes ihn vertreten.
4. Sōnst, bĕim Ăllmǟchtgen, rēiß ich sie zurǖck,
5. Tāuchst dū ĭn's Mēer der Ewigkeit hinunter.
6. Rōllĕ dĭe Āugĕn nicht so wild. Jch will &c.
7. J̆n dĕs Kāisĕrs Nāmĕn! ȫffnĕt mīr dăs Thōr.
8. Tǖrmĕr, gĭeb Āntwōrt, kōmmĕ, wās dă kōmmĕ.
(Proben aus Ad. Wilbrandts Graf v. Hammerstein. III, 5.)
c. 1. Tōd sēinĕn Fēindĕn, Tōd! Schlāgt sīe ăn's Kreūz &c.
2. Rīef: Lōbĕt Hānnĭbāl, sŏ vīel ĭhr wōllt &c.
3. Kāum wăr dăs Wōrt hĕrāus, so teilte sich
Dūmpfbraūsend schōn die Flūt. Zŭ dĕm Pălāste &c.
4. Hēil sēi dem Sȳphax! Sȳphax! Sophonīsbe! &c.
5. Freīwīllig in den Flāmmentod sich stürzte &c.
6. Sīegprāngend ǖber Trǖmmĕr ŭnd Rŭīnen.
7. Rēich mir die Hānd, du mēin, o schȫner Trāum.
(Proben aus Robert Prölß' Sophonisbe. I, 5.)
d. 1. Schlēichĕnd dŭrch āllĕ Ādĕrn rānn's. Dăs Hāar
Stānd mīr zŭ Bērg, ĭn wǖstĕm Schwīndĕl krēistĕ
Nācht, Wēlt ŭnd Lēbĕn brāusĕnd ŭm mĕin Haūpt.
2. Hārt wĭll ĭch wērdĕn. Mǖßt ĭch nīcht ĭn Schām &c.
3. Kōmm! wĭr sĭnd wōhl gĕlēitĕt. Hīntĕr ūns &c.
4. Dĕin Kȫnĭg schlǟft, sāgst dŭ? Sō rēcht, sō rēcht.
5. Kōmm! ─ Kōmm! ─ Zŭrǖck! Gēh dīesĕs Wēgĕs nīcht.
6. Wēh, wēh, ĕr hāscht năch mēinĕm Hāar, ĕr fāßt mīch!
7. Dĭe Hānd ăn mēinĕr Hānd! ─ Gȫttĕr ŭnd Mēnschĕn.
(Probe aus Paul Heyses Sabinerinnen. II, 5.)
Man beachte, wie in sämtlichen Beispielen die Silbenzahl vom Schema
des jambischen Quinars eingehalten wurde, wie aber dem Accent ein vorwiegendes
Recht eingeräumt ist. Beispiele zu diesem Abschnitte finden sich noch
in Rückerts Napoleon II. Teil S. 88 und S. 89, ebenso S. 91 am Schluß
u. s. w.
§ 119. Strophisch vereinte Accentverse.
Es giebt viele Gedichte, welche in regelrechte Strophen eingeteilt
sind, deren Verse jedoch nicht nach einem bestimmten Metrum gebildet
wurden, bei denen vielmehr nur das Gesetz von Arsis und Thesis
waltet. Die Zeilenlänge der einzelnen sich folgenden oder korrespondierenden
Verse kann sich gleichen wie in den obigen Beispielen des
jambischen Quinars; sie kann aber auch verschieden sein.
Schon bei den Minnesingern im 11. und 12. Jahrh. wechselten Verse
von größerer und geringerer Länge, deren Arsenzahl bestimmt, symmetrisch
war, während beliebig viele Thesen eingefügt waren. Das Nibelungenlied, die
althochdeutsche Allitteration, das Volkslied, komische dramatische Poesien wenden
strophisch vereinte Accentverse an. Von den neueren Dichtern finden wir solche
Strophen und Verse ausnahmsweise bei Arndt, Herder, Schiller, Uhland,
Rückert, Heine, A. Grün, Hamerling u. A.
Beispiel a:
1. Strophe.
2. Strophe.
(Der Marner. Vgl. Rückerts Ges. A. V, 149.)
Man ersieht, daß die Silbenzahl der korrespondierenden Verse der zweiten
Strophe genau die gleiche ist wie in der ersten, während von einem kontinuierlichen
Metrum keine Rede sein kann. (Vgl. hierzu die Beispiele in § 68.)
Beispiel b:
1. Strophe.
b.
2. Strophe.
Hier ist die Silbenzahl der korrespondierenden Verse verschieden, und nur
die Anzahl der Arsen ist die gleiche.
Ähnlich ist es bei den nachfolgenden Dichtungen, von denen der Raumersparnis
halber je nur eine Strophe stehen soll:
c.
(Hans Sachs, vgl. Tittmann 2, 67.)
d.
(Arndt.)
e.
(Uhland, Taillefer.)
f.
(A. Grün, Der treue Gefährte.)
g.
(Hamerling, Vaterlandslied.)
[376]h.
(Geibel, König Sigurds Brautfahrt.)
Geibel hat in dieser Dichtung, ähnlich wie Hamerling im Vaterlandslied,
den 3 ersten Versen jeder Strophe je 6 Arsen gegeben, die 4. Zeile bedachte
er mit 7 Arsen für Erreichung eines strophischen Charakteristikums. Sein
Schema war daher:
Für weitere Beispiele erinnere ich nur noch an die in alle Anthologien
und Lesebücher übergegangenen 5 Kindermärchen Rückerts, sowie an dessen
Gedichte: Das Mädchen von Potsdam, Auf die Schlacht von Leipzig, Festlied
&c.; an Schillers Bürgschaft; an Heines Fichtenbaum, welche Gedichte
sämtlich nach Arsis und Thesis skandiert werden können, und bei denen nur
die Strophen genau symmetrisch geordnet sind. Ähnliche Beispiele in reicher
Auswahl finden sich auch in Uhlands Schriften Bd. III. (Cotta 1866.)
§ 120. Freie Accentverse (neuhochdeutsche Leiche).
Diese Verse sind echt deutsche Verse im vollen Wortsinn, freie
Verse, deren Ausdehnung, Arsenzahl und =anordnung, deren Schluß,
deren Einteilung, deren Verbindung zu freien Strophen (von welch
letzteren keine der andern ähnlich zu sein braucht) ganz von der subjektiven
Empfindung und dem Belieben des Dichters oder vom Herkommen
abhängig ist. Sie kümmern sich weder um ein äußeres
Formgerüste wie die silbenzählenden Accentverse, noch um strophische
Gliederung wie die strophisch vereinten Accentverse. Zu ihrer Bildung
gehört Geist und Phantasie, weshalb nur bedeutende Dichter sie bilden
dürfen, wenn sie nicht wie Prosa erscheinen sollen. Sie finden sich
ebenso gereimt wie reimlos.
Da bei diesen durchaus zwanglosen, willkürlich gebauten Versen (ähnlich
wie bei den altdeutschen Leichen oder den von Rückert eingeführten Makamen)
ein den Bau bestimmendes äußeres Formelement nicht ersichtlich sein kann, so
sehen sie wie Prosa aus und stehen ihr auch äußerlich am nächsten. Jn einer
fortlaufenden Zeile geschrieben, wird man sie für poetische Prosa erklären, [377]
namentlich wenn der Reim fehlt. Wo der Reim vorhanden ist, ─ wie in
Schillers Handschuh ─, repräsentiert derselbe ein mächtiges Formelement. Er
bestimmt dem Hörer die Länge der Zeilen, die wahllos bald aus Jamben,
bald aus Trochäen, Daktylen und Anapästen bestehen, ohne nach tonmetrischen
Gesetzen symmetrisch angeordnet zu sein.
Aus vielen freien Accentversen Heines (z. B. Die Nacht am Strande,
Seegespenst, Morgengruß, Frieden, Nordseebilder &c.) ersieht man, wie der
Dichter durch je ein paar Zeilen nach Belieben eine gleiche Anzahl von Arsen
eingehalten hat, wie er aber sodann nach jeder rhythmischen Pause sofort eine
neue Anzahl von Arsen beliebte. Es fehlt eben jeder metrische Maßstab.
Ähnlich ist es bei den bedeutendsten freien Accentversen unserer klassischen
Dichter Goethe und Schiller, die übrigens von Rückert in den Makamen
(vgl. § 186), was Freiheit, Beweglichkeit und gewandt sprachlichen Ausdruck
betrifft, weit übertroffen werden.
Als Beispiele der freien Accentverse sind außer den erwähnten noch
anzuführen:
1. Goethes Ganymed, Prometheus, Gesang der Geister über den Wassern,
Das Göttliche, Wanderers Nachtlied („Über allen Wipfeln ist Ruh“), Harzreise
im Winter, Pilgers Morgenlied, Mahomets Gesang, Grenzen der Menschheit &c.
2. Schillers Laura am Klavier, Melancholie an Laura, Der Handschuh,
Das verschleierte Bild &c. (Die ersten drei Beispiele sind gereimt, das letzte
hat reimlose Verse.)
3. Victor v. Scheffels Bergpsalmen.
4. Otto Bancks Sonnensegen, Die Kunst &c.
5. Friedrich Halms Jtalien &c.
6. Hamerling: Vor einer Genziane.
7. Friedrich Rückert: Das Licht, und Die Makamen.
Auch von Ada Christen (Haltlos), Emil Claar (Mondnacht) und
anderen Dichtern, besonders aber von Gust. Kastropp (dessen nach Weise der
Makame gedichteter Heinr. v. Ofterdingen) besitzen wir beachtenswerte freie
Accentverse.
Beispiele:
(Scheffels Bergpsalmen.)
(Otto Banck, die Kunst.)
[379](Heine, Frieden.)
(Goethes Ganymed.)
(G. Kastropp, Heinr. v. Ofterdingen.)
§ 121. Deutsche Hebungsverse.
Sie stimmen mit den freien Accentversen durch den Ausschluß
jeglichen strophischen Zwangs sowie darin überein, daß sie den Thesen
keinerlei Beachtung schenken. Dafür aber beachten sie eine bestimmte
Anzahl von Arsen und nähern sich dadurch den symmetrischen Accentversen.
(S. 370.) Es sind prächtige Verse, die dem Dichter einen über
das Metrum hinausgehenden Spielraum in der Silbenentfaltung einräumen;
sie ergötzen durch ihren Wohllaut und sind unserer Sprache
mit ihrem ausgeprägten Accent durchaus entsprechend. Rückert hat
sein Epos Nal und Damajanti in diesen Versen geschrieben (vgl.
Probe bei § 139. 2).
Für Weiterpflege dieser Verse hat sich Wilhelm Jordan und nach
ihm Richard Wagner verdient gemacht. Den Jordanschen reimlosen
Vers im „Nibelunge“ mit seinen vier Hebungen und seinen Allitterationen
dürfen wir wohl mit Recht als den neuhochdeutschen epischen
Vers bezeichnen. Seine Einführung ist eine That.
Der epische Vers, wie ihn nach Rückert, der übrigens diesen Vers reimte,
Jordan zum erstenmal unserer Litteratur in vollendeter, auf deutschen Tongesetzen
beruhender Weise wiedergab, hat vier Hebungen, und ist gleichzeitig
mit der Allitteration verbunden. Jndem wir alle tonlichen und sprachlichen
Vorzüge des Jordanschen epischen Verses gebührend und rückhaltlos anerkennen,
sind wir nur im Hinblick auf die ununterbrochen fortgesetzte Anwendung
der konsonantischen Allitteration der Ansicht, daß durch deren überreichen
Gebrauch im Epos die mit Konsonanten beginnenden Worte allzusehr in den
Vordergrund geschoben worden, wodurch zweifellos der Wohlklang der sich fortbewegenden
Rede durch mangelnde Abwechslung mit vokalisch beginnenden Wörtern
beeinträchtigt wird. Die Häufung der Konsonanten und die gesuchte Anwendung
derselben verursacht nachweislich mehr oder weniger ein Zischen und Schwirren
der konsonantischen Anlaute, und ein Aneinanderkleben der konsonantenbildenden
Organe, so daß den Hörer mitunter Sehnsucht nach dazwischen zu streuenden,
hellklingenden, vokalisch anlautenden Begriffswörtern ergreift.
Beispiele des Jordanschen epischen Verses.
a.
(W. Jordans Nibelunge Bd. I, 1.)
b.
(W. Jordans Nibelunge II, 213.)
[382]Beispiele des R. Wagnerschen epischen Verses. (Abwechselnd
3 und 2 Hebungen.)
(Wagner, Ges. Schriften VI, 61.)
(R. Wagners Ring des Nibelungen I.)
§ 122. Freie Volksverse (Knüttelverse).
1. Es sind ungemessene Verse ohne bestimmten Rhythmus und
ohne geordnetes Metrum. Jhre Gefügigkeit und ihr dichterischer Wert
stehen meist auf schwachen Füßen, weshalb man bei dem Worte Knüttel= [383]
vers an das Verbum knütten oder knoten oder kneten (den Teig),
oder an Knüttel (d. i. ein derber Stock zum Prügeln) denken mag.
Weigand leitet das Wort Knüttel mit einiger Kühnheit von
Knüppel oder Knuppel her (neuniederländisch Knuppelvers, Kluppelvers
== ein Vers rauh wie Knüppel, mit Klopfen zusammenhängend).
2. Zur Erreichung einer bestimmten Wirkung schreiben auch bessere
Dichter freie Volksverse. Es sind dies veredelte freie Volksverse.
1. Der Zusammenhang des Wortes Knüttelvers mit knütten, knoten oder
kneten ist etymologisch nicht nachweisbar, und es haben sich daher unsere
Sprachforscher eine recht vergebliche Mühe gemacht, als sie eine anknüpfende
Verbindung mit altdeutschen, lateinischen oder griechischen Wörtern aufzuspüren
versuchten. Knüttelverse gab es schon in früher Zeit, ohne daß sie so
benannt wurden. Es waren meist gemeine, holperichte, knüppelige, knüttelige,
niedrig komische Reimereien, die sich z. B. nachweislich als Anfang aller deutschen
Versmacherei schon bei einem Martin Götz finden. Mit schlechten,
komischen, unreinen Reimen werden sie heute noch von den ungebildetsten Menschen
der niedrigen Volksschichten gebildet.
Z. B.: a.
b.
Der Name Knuppelvers kommt schon in einer 1611 erschienenen Schrift
von Schuppius († 1661) vor („solche ungereimbte Verse und Knüppelhardusse“).
Dagegen erscheint der Name Knüttelvers in unserer Sprache erst am
Anfang des 18. Jahrhunderts, und man bringt diese Benennung mit dem
seiner Zeit berühmten Abt Benedict Knüttel in Verbindung, der von 1683
bis 1732 Vorstand des württembergschen Cisterzienserklosters Schönthal war,
wo bekanntlich Götz von Berlichingen begraben liegt. Es war eine zur Manie
gewordene Lieblingsbeschäftigung dieses Abtes, Denksteine, Mauern, Thüren,
Wände &c. mit selbstgefertigten deutschen oder lateinischen Versen zu verzieren,
die in einfachster Form oder Formlosigkeit ─ zwei- und mehrzeilig (und meist
nach dem Spruch: „Reim dich oder ich fress' dich“) zusammengeknotet waren.
Anonym ließ Knüttel zwei sehr selten gewordene Bücher erscheinen, die dergleichen
Verse enthielten. Sie fanden Beifall und Nachahmer; man sprach von
Versen nach Knüttel, und so bildete sich wohl mit der Zeit der Name Knüttelreim
und Knüttelvers.
Als Beispiel aus seinen vorliegenden erwähnten Büchern mögen nachstehende
Strophen dienen:
Der freie Volksvers in seiner Opposition gegen prosodische und metrische
Gesetze war doch die beliebte Weise der Meistersänger, welche meist viertaktige
Jamben mit Trochäen bunt vermischten, d. h. vier Hebungen und beliebige
Senkungen gaben und paarweise reimten.
Hans Sachs wandte ihn an; ebenso findet er sich in Waldis Fabeln, in
Rollenhagens Froschmäusler, in späteren Gedichten von Opitz, bei Zachariä u. s. w.
2. Der veredelte freie Volksvers. Jn unserem Jahrhundert bis
in die Gegenwart benützt man den freien Volksvers in der Dichtkunst nur,
um eine komische, burleske Wirkung zu erreichen, z. B. bei Trinksprüchen,
Gelegenheitsgedichten, ironischen Zeitungsversen und humoristischen Veranlassungen.
Man bildet ihn bei solchen Anlässen meist nach Art der Meistersänger, also in
der Regel mit vier Hebungen, beliebigen Senkungen und gepaarten Reimen.
Auch bessere Dichter haben Knüttelverse gebildet, wobei sie geschickt die
Gleichheit des Versmaßes vermieden, absichtlich gegen den Reim wie gegen
Rhythmus verstießen, um durch buntes Gemisch und Regellosigkeit der Verse
eine komische Wirkung zu erzielen. Dabei haben sie natürliche, ungezwungene
Diktion angewandt und in Bezug auf Länge oder Kürze der Strophen möglichster
Gleichheit sich bedient; dadurch verrieten sie freilich dem Eingeweihten
die hochgeübte Künstlerhand.
Götzinger rechnet irrtümlich auch die Langzeile mit sechs Hebungen (den
alten Nibelungenvers) zu den Knüttelversen. Aber er vergißt, daß gerade dem
Nibelungenvers ein sehr bestimmtes, festes Kunstgesetz zu Grunde liegt, also
bei ihm von jener Regellosigkeit, welche im freien Volksverse waltet, nicht
gesprochen werden darf.
Als Muster veredelter freier Volksverse beachte man die Zeilen Schillers
mit vier Hebungen und fortlaufenden glatten Reimen in der Kapuzinerpredigt;
einzelne Knüttelverse Wielands; Goethes Hufeisen und sein Gedicht Hans
Sachsens Sendung; Rückerts Held Davoust, Der Papagei, Die unechten Fahnen
von der Hanauer Schlacht, wo der Dichter selbst den Bänkelsängerton des
Knüttelverses traf; ferner L. Eichrodts Jakob und Söhne (in hortus deliciarum);
Buschs Max und Moritz; Kortums Jobsiade; mehrere Gedichte Scheffels im
Gaudeamus (z. B. die Teutoburger Schlacht); Hebels Die Mutter am Christabend
u. s. w.
Beispiele des herkömmlichen freien Volksverses (Knüttelvers).
a.
(Eichrodt, Jakob u. Söhne.)
[385]b.
c.
d.
e.
f.
Diese Form von Knüttelversen ist auch unter dem Namen Schnadahüpfl
(oder Schnaderhüpferl, wie sie Simrock nennt, vgl. dessen „Die deutschen
Volksbücher“, VIII, 338) bekannt.
g.
(Volkslied. Nach Simrock, Die deutsch. Volksb. VIII, 447.)
Vgl. einzelne Beispiele unter Volkslied, Bd. II dieses Werks.
Beispiele des veredelten freien Volksverses:
(Rückert, Die unechten Fahnen.)
(Aus Kortums Jobsiade. 19. Kap.)
[E388]Sechstes Hauptstück.
Die Lehre vom Gleichklang.
(Reim.)
──────
§ 123. Grundbegriffe des Gleichklangs oder Reimes.
1. Ein wesentliches Moment im deutschen Versbau ist der Gleichklang
zweier oder mehrerer Laute, Silben oder Wörter im Anfange
oder am Ende einer oder mehrerer Verszeilen oder Versteile. Den
Gleichklang am Anfange (d. h. im ersten Teile der Wörter) nennen wir
Buchstabenreim (a. Anreim oder Allitteration; b. Vokalreim oder
Assonanz), den Gleichklang am Ende der Wörter Silbenreim
(Konsonanz), oder Reim im engeren Sinn. Man könnte den
Gleichklang als Klang-Echo (enger: als Buchstaben-Echo und Silben=
Echo oder als Tonlicht) bezeichnen.
2. Wie der Rhythmus Schönheit in der Bewegung der Verse
verursacht, so ist der Gleichklang eine Schönheitsäußerung in Bezug
auf Ähnlichkeit oder Gleichheit der Sprachklänge.
3. Der Gleichklang hat eine logische, eine metrische nnd eine
ästhetische Aufgabe und Bedeutung. Dies garantiert ihm seine Zukunft.
1. Der Gleichklang oder Reim eignet sich ganz ausnehmend für unsere
deutsche Sprache, die durch ihn infolge ihrer vielen vollen Vokalschlüsse melodiösen
Klang erhält. Der Mangel vollständiger Flexion beim Nomen wie beim Verbum
prädestiniert unsere Sprache für den Reim. Das Wort Reim (hrimum altdeutsch,
rim im Mittelhochdeutschen, rima in den romanischen Sprachen, rime
im Französischen &c.) kann vom alth. rîman (== zählen) abgeleitet werden.
Jm Mittelhochdeutschen bedeutet rimen soviel als reimen. Ein rimaere war
ursprünglich ein Verszähler oder Reimer.
Die älteste Form des Gleichklangs ist der Buchstabenreim (vgl. § 126).
[389]2. Wenn der Gleichklang Äußerung und Ausdruck des Schönen sein soll,
so muß er mehr noch als die Verstonlichter (Versaccente) hervorleuchten, und zwar
einesteils durch stärkere Betonung, andernteils dadurch, daß er der rhythmischen
Bewegung einen gewissen Halt verleiht. Die Verbindung in den Versteilen
und Versen stellt er dadurch her, daß er im Hinblick auf den tonangebenden,
ersten Gleichklang, dessen Wiederspiegelung er sein soll, seinen Lichtglanz auf
die ganze, durch ihn zu zierende Zeile wirft, also gewissermaßen in seinem
Begriff den wesentlichen Jnhalt derselben vereinigt und zugleich durch die
Erinnerung an den vorigen Gleichklang auch den sinnlichen Jnhalt und Eindruck
der vorigen Zeile wiederholt.
Jn dem Beispiele:
bringt z. B. das Echo tot das Wort rot samt der Zeitbestimmung in Erinnerung
und in parallele Berührung.
3. Der Reim in seiner heutigen ausgebildeten Form, die von der Weise
der ursprünglichen Knüttelverse (vgl. § 122) himmelweit verschieden ist, kann
jedenfalls nicht als poetische Spielerei angesehen werden. Er hat vielmehr eine
hohe Bedeutung:
a. eine logische, sofern er den logischen Wert der Begriffe hervorhebt,
was beispielsweise die in die Reimstelle gestellten Begriffswörter in Goethes
Faust illustrieren können: Das Wort war Sinn, ─ That ─, Kraft &c.;
b. eine metrische, sofern er die einzelnen Verszeilen oder Versteile
enger zusammenschnürt und verbindet;
c. eine ästhetische, sofern er den Versen eine wohlklingende, gefällige
und schmuckvolle Abrundung verleiht.
Diese Bedeutung dankt der Gleichklang seinem hervorleuchtenden Accent;
sie verbürgt ihm seine Zukunft. Es wäre nicht unmöglich, daß wir mit zunehmender
philosophisch ästhetischer Bildung einigermaßen von dem die Ausbildung
metrischer Kunst erschwerenden Reim zurückkommen könnten. Ein Blick auf die
neuen deutschen Hebungsverse Jordans und Wagners, sowie auf die freien Accentverse
könnte diese Erwägung hervorrufen. Freilich müßte unsere Sprache die
Fähigkeit rhythmischer Bewegung in noch höherem Grade erreichen, als dies
z. B. selbst in den Schillerschen Jambendramen der Fall ist. Aber auch dann,
wenn der Gebildete der Zukunft vielleicht mehr und absichtsloser, müheloser in
rhythmischen Weisen sprechen sollte, als man dies von den griechischen Dichtern
rühmt, die nicht selten ex tempore in Hexametern sich unterhielten, wird bei
der accentuierenden Eigenart unserer Sprache der Reim immerhin eine wünschenswerte
Zierde unserer deutschen Verse bleiben.
§ 124. Zur Entstehungs-Geschichte des Gleichklangs im
allgemeinen.
1. Über die erste Entstehung des Gleichklangs ─ beziehungsweise
des Vollreims ─ lassen sich wissenschaftlich verbürgte Angaben nicht
machen.
2. Einzelne leiten ihn von den Persern her, andere von den
Hebräern, wieder andere von den Arabern.
3. Jedenfalls entwickelte er sich als Naturnotwendigkeit unserer
accentuierenden Sprache von selbst.
1. Die Griechen, welche wir als Vorbilder geschichtlicher dichterischer Form
verehren, haben den Gleichklang als Kunstmittel nicht angewandt. Sie hatten
kein Bedürfnis für denselben. Jhnen genügte der Versrhythmus, der sich im
Wechsel von Kürzen und Längen manifestierte. Jm Lateinischen ist die Anwendung
des Reims als sog. Leoninischer Reim bekannt (vom Kanonikus Leo,
der um 1160 Hexameter und Pentameter reimte. Vgl. S. 354 d. B.).
Die Chinesen mit ihren einsilbigen, des Rhythmus schwer fähigen Wörtern
sind das einzige Volk, welches den Reim mindestens 2000 Jahre vor Chr.
Geburt gebrauchte.
2. Ebenso findet sich der Reim in der ältesten persischen Litteratur, weshalb
einige meinen, der deutsche Reim rühre von den Persern her.
Rückert sagt hinsichtlich der Entstehung des persischen Reimes als eines
„Nachtönens“ oder Echos:
Wilhelm Jordan (im „epischen Vers der Germanen“) sagt, er wage
die erste Entdeckung des Reimes den Hebräern zuzuschreiben, da er keine
älteren Reime kenne als die des alten Testaments. Anders als in der altdeutschen
Reimpoesie, wo die Sprache die schöne Fülle ihres Leibes bis zur
Atembeschwerde einschnürte, um sich nach fremdländischen Mustern einen nicht
passenden Schmuck anzulegen (nämlich ein Mittelding zwischen Reim und Assonanz
vgl. z. B. die 1. Strophe des Ludwigsliedes S. 420 d. B. unter O=A=
Assonanz), ja, wo der Reim die angeborne geistig bedeutsame Musik alterierte
und an der Verwüstung der schönen Sprache teil genommen habe, sehen wir
im Hebräischen den Reim ohne Vorbild in wimmelnder Menge aus dem
Sprachorganismus durchaus freiwillig aufblühen. Jordan nennt die hebräischen
Reime symmetrisch geordnete Gleichklangsgebilde, von denen die Sprache der
Hebräer voll stecke, und bietet ─ freilich etwas ungenau in Wiedergabe und
Übersetzung ─ als Beleg für die „bewußte Reimkunst der Hebräer“ folgende
Stellen aus dem Hohenliede:
Hareï̇ni
Eth marëch
Haschmiï̇ni
Eth kolëch. ─
Kumí lâch
Rajati
Ulechí lâch
Japati.
(Dieses verstellte, ungenau gelesene und übersetzte Citat lautet so:
2,10:
kûmi lâch rajâthi,
ulĕchi lâch jâphâti.
2,14:
harîni eth maraich,
haschmîënî eth kôlëch
lâch heißt nicht für mich, sondern umgekehrt dir, aber es wird mit solchen
Jmperativen, [wie kûmi, lechi] wo es Rest eines abgeblaßten Dat. commodi
ist, nicht übersetzt.)
Jmmerhin könnte dieses Beispiel (u. andere, vgl. Jordan a. a. O. S. 9)
für die hebräische Poesie mit ihrem vorherrschenden Rhythmus (vgl. De Wette,
Lehrb. d. hist.=krit. Einleitung in die Bibel I, § 126 ff., sowie dessen Kommentar
über die Psalmen, Einleitung § 7) beweisen, daß der in ihr sich zeigende
Reim, wie alle nicht aufgepfropften poetischen Formen nicht absichtlich erschaffen,
sondern vorgefunden sei. Jordan will nicht behaupten (a. a. O. S. 10),
daß alle übrigen Völker den Reim erst von den Juden gelernt hätten, vielmehr
hätten ihn auch andere Sprachen ganz in derselben Weise wie die Hebräer
entwickelt. Wie das zufällige Auftauchen des Reimes Schritt für Schritt zum [392]
Wahrnehmen und zuletzt zum bewußten Erkünsteln im Reimgebrauche führte, sei
in den Tragödien des Sophokles zu beobachten. Merkwürdig in diesem Sinne sei
auch ein sekundäres Eintreten des Reimes in den Dainôs der Littauer, deren
Hauptelement ihrer Volkspoesie der Deminutivausdruck ist, z. B. moczutte ─
wargdienutte. (Jch verweise hier auf eine dankenswerte Arbeit von Ley
über die Allitteration im Hebräischen: de allitteratione quae vocatur in
sacris Hebracorum litteris usurpata. I. Gymnas.=Progr. Saarbrücken
1859. S. 4.)
Einige Gelehrte sind der Ansicht, daß der Reim von den Arabern zu
uns gedrungen sei. Heyse führt z. B. in seiner deutschen Grammatik zur
Begründung seiner Anschauung den Mangel der Sprache an Silbenmaß an,
wodurch sie wie die neueren Sprachen überhaupt genötigt gewesen sei, durch
Symmetrie im Klang das fehlende Ebenmaß der ganzen Form der Dichtungen
zu ersetzen.
Jch halte die Herleitung unsres Reims von den Arabern für verfehlt, da
z. B. schon die poetischen Denkmäler der Kelten in künstlichen Reimen älter
sind, als die arabische Herrschaft in Europa.
3. Der deutsche Reim ist vielmehr eine Naturnotwendigkeit unserer accentuierenden
Sprache: er ist die durch Accent und Stabreim selbst
entwickelte Schönheitsblüte sprachlichen Wohlklangs. Jmmerhin
dürfte der ernsten Forschung der Nachweis gelingen, daß unser deutscher Reim
durch den Einfluß der lateinischen Reimpoesie bedeutend gefördert wurde.
Besaßen doch schon die früheren Römer den Reim (Plautus hat beispielweise
die Allitteration im „Miles gloriosus“ angewandt), wenngleich derselbe vor
den entlehnten griechischen Formen in ihrer Poesie nicht so recht aufkommen
konnte. Die Römer traten auch in diesem Stücke, wie in so vielen, mitten
hinein zwischen uns und das Griechentum.
§ 125. Der Reim als Element und Tharakteristikum
unserer deutschen Dichtersprache.
1. Wie die rhythmische Poesie dem Süden angemessen ist, so
der Reim dem Norden, insbesondere unserer deutschen Sprache.
2. Er fördert den Parallelismus der Gedanken.
3. Seine Pflege muß eine Hauptaufgabe unserer Dichter bleiben.
1. Der Süden mit seinem vielen Sonnenlicht entspricht dem beschaulichen
Genießen, der idealen Schönheit, dem Tanz und der lebhaft gestikulierenden,
rhythmisch beweglichen Darstellung, welcher der Reim ein Hemmnis sein würde.
Der Norden mit seinen dunklen kühlen Wäldern entspricht einer düstern Lebensauffassung,
dem Ernste, der Nachahmung und dem markierenden Reim.
Der Südländer, dem die Fristung der Existenz weniger Sorge verursachte
als dem Bewohner der nordischen Gegenden, und der viel längere Zeit die
Schönheit der licht- und farbenstrahlenden Natur bewundern konnte, ─ er
wurde schon frühe zur Musik, zur Melodie und ihrer rhythmischen Äußerung
hingedrängt, daher auch zur Erfindung der musikalischen Jnstrumente: Panflöte,
Schalmei, Horn, Orgel, Violine, sowie der rhythmischen Trommel &c.
Die Natur erzeugte Musik, Gesang, Poesie, und es ist aus diesem Grunde
erklärlich, warum die Völker an den gesegneten Küsten des Mittelmeeres in
der Pflege der freien Künste die erste Stelle einnahmen, warum die rhythmische
Poesie an Wohlklang, Zartheit und Vollendung namentlich in Griechenland
zunahm, wo Schulen entstanden, welche die rhythmische Kunst fort entwickelten,
ebenso bei den nachbildenden Lateinern, welche die Bildungselemente der Griechen
in sich aufnahmen.
Arm an Schönheit, arm an melodievollen, wenn auch nicht an weichen,
süßen Wörtern und Klängen schufen sich die nordischen Sprachen im Gleichklang
eine Art Ersatz für den wellenförmigen Rhythmus der Sprache südlicher Völker,
dessen ihre nur praktischen Zwecken dienende Mitteilungsweise gar nicht fähig
war. Der Nordländer, der wenig Sinn für den Rhythmus hatte, klammerte
sich an den betonenden Gleichklang des Anfangskonsonanten; ─ und eigentümlich,
charakteristisch deutsch mögen seine allitterierenden Schlachtgesänge erbraust sein.
Erst später bildeten sich die verschiedenen Arten des Gleichklangs aus, was
wir weiter unten zeigen werden.
2. Der schmückende und die Betonung unterstützende Reim wurde allmählich
von den bedeutsamsten Folgen für die gesamte Art und Weise deutsch=poetischer
Darstellung; er wurde ein Charakteristikum für die ganze deutsche
Poesie. Bei den Alten stand jeder Vers selbständig für sich oder konnte wenigstens
so stehen. Ein kleinstes Gedicht konnte allenfalls (möglicherweise) ─ auf
einen Hexameter beschränkt ─ durch eine einzige Zeile repräsentiert werden.
Bei uns fordert jeder Vers mindestens einen zweiten, um den Reim oder die
Allitteration und die Assonanz zu vollenden. Das kürzeste Gedicht kann bei
uns nur zweizeilig sein, weshalb ─ eben infolge dieses zweigliedrigen
Klangverhältnisses oder Klang-Echos ─ der Parallelismus der Gedanken in
unserer neueren Poesie, namentlich der Spruchpoesie, weit mehr vorhanden ist,
als in der griechisch=antiken.
3. Durch eine mehr als tausendjährige Anwendung ist der Reim bei uns
ein elementares, geradezu unentbehrliches Besitztum unserer poetischen Sprache
geworden. Will sich dieselbe, die doch durch eigene Kraft von der Antike und
von der Anlehnung an andere Völker und Sprachen sich losgerungen hat, immer
mehr dem Jdeale einer deutsch=nationalen poetischen Sprache zuwenden,
so muß sie auch den deutschen Reim weiter pflegen. Denn der Umstand, daß
einzelne Dichter bald in den Konsonanten, bald in den Vokalen den Reim
verdarben, spricht gegen diese Dichter, nicht aber gegen den Reim.
§ 126. Einteilung der Gleichklangsformen, sowie der im
Volksmund lebenden sprichwörtlichen Formeln.
I. Man unterscheidet folgende Arten von Gleichklängen:
a. Stabreim oder Anreim, den die Metriker seit dem 16. Jahrh.
mit dem Namen Allitteration bezeichnen.
Er ist jenes Tonlicht, welches auf die Klangechos der Stammsilben durch
gleiche Anfangsbuchstaben hinweist (z. B. Es sinken die Säulen des Sonnenpalasts).
Er findet vorwiegend Anwendung in der älteren germanischen Poesie, dagegen
kommt er nur vereinzelt in der neueren vor.
b. Ausklang. Man versteht darunter jenes Klangecho, welches
die Stammsilben durch Übereinstimmung der Konsonanten im Auslaut
betont.
Beispiele: Recht und Pflicht, Eichen und Buchen, Wald und Feld.
Wir begegnen dem Ausklang fast nur in einzelnen Ritornellen und hier meist
nur in Verbindung mit der Assonanz.
c. Assonanz oder Vokalreim. Er bezeichnet jenes Klangecho,
welches durch Wiederkehr gleicher Vokale oder Diphthonge entsteht.
Beispiele: Donner rollet in den Wolken, wider Wissen und Willen, Tag
und Nacht, Rauch und Staub, Zeit und Weile, Hunger und Kummer, kurz
und gut. Die Assonanz findet sich bei uns meist nur in Nachahmungen und
Übersetzungen der spanischen Dichtung.
d. Der Reimwetzler. Er ist eine Art Assonanz, bei welcher
die nachfolgenden Konsonanten derart abgewetzt und abgeschliffen sind,
daß ein unreiner Reim entsteht.
Beispiele: Gärtchen ─ Pförtchen, Geläute ─ Weite, umsonst ─ Kunst,
können ─ beginnen, Menschen ─ Wünschen, wimmert ─ dämmert, schämen ─
Blumen, sprossen ─ lassen. Vgl. das Beispiel Wilh. Müllers § 167, sowie
Beispiele in § 143 und § 135 d. B. Der Reimwetzler bildet den Übergang
von der Assonanz zum Reim. Da wir ihn als unreinen Reim verurteilen müssen,
so können wir uns mit ihm in dieser Poetik nicht weiter beschäftigen. Einige
Berechtigung erhält er, wenn die Assonanz unabsichtlich zum Reim wird.
(Vgl. ein Beispiel Heines § 135: Gabe ─ Grabe.)
e. Der eigentliche Reim (Vollreim oder Konsonanz). Bei
ihm wiederholt das Klangecho ganze Silbenteile, Silben oder Wörter.
Er ist ein charakteristisches Schönheitsmittel unserer deutschen Poesie. Beispiele:
Heute rot, morgen tot. Alte soll man ehren, Junge soll man lehren.
II. Den unter a─e vorgeführten Arten von Gleichklängen entsprechen
eine große Anzahl sprichwörtlicher Formeln, Verbindungen und
Redensarten, die im Volksmund „gäng und gebe“ wurden. Sie sind [395]
teils Ausdruck des deutschen Sprachrhythmus, teils bilden sie volksmäßig=geläufige
Proben der einzelnen Gleichklangsformen:
a. Reimlose, die Gewalt des deutschen Sprachrhythmus
bekundende, sprichwörtliche Formeln:
Beispiele: Anfang und Ende, Donner und Blitz, Ebbe und Flut, Grund
und Boden, Hab und Gut, Haut und Knochen, immer und ewig, Kampf und
Streit, lauter und rein, Mark und Bein, nackt und bloß, Ochs und Esel,
Pauken und Trompeten, Qual und Plage, Schloß und Riegel, Schnee und Eis,
Treu und Glauben, Vater und Mutter, Wasser und Brot, Zwerg und Riese,
zittern und beben. (Vgl. die sprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache in
Herrigs Archiv für das Studium der neueren Sprachen Bd. 48, 435; 49, 139;
50, 83; 51, 195; 52, 61; 54, 55 ff. Ferner die vollständigere Vorführung
derselben in Sanders Abriß d. deutsch. Silbenmessung &c. Berl. 1881.)
b. Sprichwörtliche Formeln der vokalischen Allitteration.
Beispiele: arm und elend, arm und alt, Augen und Ohren, außen und
innen, aus und ein, Ecken und Enden, oben und unten.
c. Sprichwörtliche Formeln der konsonantischen Allitteration.
Beispiele: Bauer und Bürger, Bausch und Bogen, backen und braten,
biegen oder brechen, bitter und böse, blitzblau, braun und blau, durch dick und
dünn, Donner und Doria, drauf und dran, frank und frei, Feuer und Flamme,
Freund und Feind, frisch=fromm=fröhlich=frei, Fürst und Volk, Gift und Galle,
ganz und gar, glänzen und gleißen, Glück und Glas, Gold- und Geldeswert,
Griesgram, grasgrün, Haus und Hof, hehr und hoch, hin und her, Himmel
und Hölle, Huhn und Hahn, jauchzen und jubeln, Kaiser und König, Kisten
und Kasten, Kind und Kegel, Küche und Keller, Kreuz und Quer (Laut: kw),
kurz und klein, Land und Leute, je länger je lieber, Leib und Leben, Leid
und Lust, Lieb und Leid, Liebeslust, los und ledig, Mann und Maus, müd
und matt, Nacht und Nebel, Nahrung und Notdurft, nie und nimmermehr,
null und nichtig, nun und nimmer, prahlen und prunken, Rast und Ruh,
Roß und Reiter, Röslein rot, rosenrot, sagen und singen, Sammelsurium,
Sammet und Seide, sanft und selig, Schimpf und Schande, Schand und Spott,
Schirm und Schutz, Schloß und Schlüssel, Stecken und Stab, Stahl und Stein,
starr und steif, Stock und Stein, Stumpf und Stiel, süß und sauer, Tichten
und Trachten, Tod und Teufel, trüb' und traurig, Thür und Thor, wann und
warum, Witwen und Waisen, Wind und Wetter, Wehr und Waffen, Wein
und Weib, Wissen und Gewissen, zart und zierlich, zimperlich und zärtlich,
ziehen und zerren, zittern und zagen, Zins und Zoll, Zucht und Zier.
d. Sprichwörtliche Formeln der Assonanz.
Beispiele: A=Assonanz. Acht und Bann, er aß und trank, Kraft und
Gewalt, Land und Stadt, Martern und Qualen, Wall und Graben, älter und
kränker. E=Assonanz. Derb und fest, Scherz und Ernst, Herr und Knecht, [396]
Herz und Seele, leben und sterben, Weh und Schmerz. I=Assonanz. Brief
und Siegel, hin und wieder, wider Wissen und Willen. O=Assonanz. Lohn
und Kost, Not und Sorge, Spott und Hohn, Zorn und Groll. U=Assonanz.
Blut und Wunden, Hunger und Durst, Schlucht und Kluft, schuldig und verbunden.
Ü=Assonanz. Grünen und blühen. Au=Assonanz. Braun und
blau, Rauch und Staub, glauben und schauen. Ei=Assonanz. Bein und
Stein, Weib und Wein, Zeit und Weil', heimlich und leis'. Eu=Assonanz.
Es fleucht und kreucht.
e. Sprichwörtliche Formeln des Vollreims.
Beispiele: Stammlaut a. Saft und Kraft, Sack und Pack, mitgegangen,
mitgefangen, mitgehangen, schalten und walten, Rand und Band, Sang und
Klang, Rat und That, Ach und Krach, Handel und Wandel. Stammlaut ä,
e oder ö, Ächzen und Krächzen, Weg und Steg, Dreck und Speck, hehlen und
stehlen, Krethi und Plethi (2. Sam. 8. 18), weh- und demütig, sterben und
verderben, Ehstand und Wehstand &c. Stammlaut i oder ü. Singen und
springen, Schritt und Tritt, Titel ohne Mittel, windig und findig; hüben und
drüben, gebügelt und geschniegelt, bücken und drücken, Hülle und Fülle. Stammlaut
o. Verschroben und verschoben, toll und voll, Sonne und Wonne,
gestorben und verdorben, Not und Tod. Stammlaut u. Lug und Trug,
knuffen und puffen, Gruß und Kuß, Gut und Blut, Schutz und Trutz, Rumpf
und Stumpf. Stammlaut au. Verbauern und versauern, Saus und Braus.
Stammlaut eu und ei. Kreucht und fleucht, scheiden und meiden, rein und
fein, das Mein und Dein, weit und breit u. s. w.
I. Der Stabreim oder die Allitteration.
§ 127. Gesetz und Wesen des Stabreims und seine Bedeutung
für die deutsche Accententwickelung.
1. Der Name Stabreim (Stabung) deutet zunächst auf die Runen
hin, welche sich auf Stäben befanden und lange vor Einführung des
Christentums bestanden. Später wurde in der Schrift das erste Zeichen
der Begriffswörter mit größerem Stabe gebildet, und man nannte nun
hauptsächlich die Anfangszeichen Stäbe. Den in diesen Anfangsstäben
sich wiederholenden Gleichklang nannte man Stabreim oder Anreim,
wofür ─ wie § 126 erwähnt ─ im 16. Jahrh. die Bezeichnung
Allitteration aufkam.
2. Das Wesen des Stabreims beruht in der Wiederkehr gleicher
Anfangsbuchstaben (auch Doppelkonsonanten) bei den begrifflich bedeutenden
Wörtern (Stammsilben), die auf diese Weise als wichtige Arsen
hervorgehoben werden. Der Stabreim verlieh unserer Sprache höchstwahrscheinlich
ihr accentuierendes Gepräge. Somit ist er für die
Entwickelung derselben von der allergrößten Bedeutung.
3. Die Accentbezeichnung durch den Stab bedingt es, daß nur
Hebungen den Stabreim haben können.
1. Unser Stab ist dem griechischen πούς == Fuß, oder dem (von uns
vorgeschlagenen Worte) Verstakt entsprechend. Die Griechen hatten verschiedene
Füße, während die alten Deutschen nur den einen, den Accent bedingenden,
oder auch durch den Accent bedingten Stab hatten. Mit dem Stab begann
der altdeutsche Verstakt und endigte vor dem nächstfolgenden Stab. Die Thesen,
welche ganz fehlen konnten, waren beliebig. Jn dem Beispiele:
finden wir vier Stäbe oder Verstakte, von denen nur die 3 ersten allitterieren.
2. Die Stabreime sind Erinnerungspfosten, welche auf die starkbetonten
Silben im Voraus aufmerksam machen. Sie gleichen den von der Sonne beglänzten
Berggipfeln, zwischen denen die schattigen Thäler und Ebenen liegen.
Ohne Zweifel wurde man durch die wuchtigen, die Ordnung der Verse herstellenden
Stäbe gewöhnt, den ersten Buchstaben der Stammsilbe zu betonen, wodurch sich
der deutsche Accent auf der Stammsilbe festsetzte und entwickelte, ja, wodurch unsere
Sprache zur accentuierenden Sprache gebildet wurde. Als Schmuck der gedankenschweren
Silben markierte und bezeichnete der Stabreim dem Rhapsoden von
vorne herein unverkennbar die Satz- und Redetöne.
3. Der Stabreim kann demnach nur mit betonten Silben verbunden werden.
Es ist somit ein Hauptgesetz, daß nur die Hebungen (Stammsilben) allitterieren
dürfen, wodurch die Ansicht halbgebildeter Dichterlinge fällt, daß die Gleichheit
beliebiger Wortanfänge Allitteration sei. Wortanfänge mit gleichen Konsonanten
allitterieren nur dann, wenn sie zugleich den Hauptton des Wortes haben,
So allitterieren Gelder und Geduld ebensowenig als Rose und Rubin, oder
willkommen und Wunde; wohl aber Geld und Gut, Geduld und denken, Rose
und Rauch, Rubin und Bohne, willkommen und Kunde, Wunde und Wein.
„Jm Zau | berzor | ne zan | ken“ (⏑ – | ⏑ – | ⏑ – | ⏑) allitteriert wiederholt,
weil sich die allitterierenden Stammsilben im Tongewicht entsprechen; „im
Zau | berzorn zan | ken“ (⏑ – | ⏑ ⏑ – | ⏑) allitteriert nur einmal, weil hier
„Zorn“ in die Thesis gedrängt ist und den Ton und mit ihm die Bedeutung
einer Arsis verliert.
Es erhellt, daß die Allitteration am Platze ist, wo eine sinnlich starke
Hauptvorstellung echoartig fortgeleitet und verstärkt werden soll, wo also der
Wortklang für diese Vorstellung eine nachahmende sinnliche Fülle besitzt und
das Ohr ebenso berührt wie die Vorstellung den Sinn. Jn allen anderen
Fällen ist sie unverstandene Spielerei Unverständiger. Auch bessere Dichter
haben ausnahmsweise falsche Allitterationen gebildet z. B.
Jn diesem Beispiele kann doch nur so betont werden;
Somit können die Wörter die und du nicht zur Allitteration verwendet
werden. Aus demselben Grunde durfte das Wort „deiner“ im folgenden
Beispiel nicht allitterieren. Die Betonung ist:
(Simrocks Edda.)
Beispiele guter, den Accent beachtender Stabreime:
a. Jede Zeile hat 2 Stäbe, die nicht sämtlich allitterieren.
Diesem schon 1814 gedichteten Liede setzte Rückert 1863 die nachfolgenden
drei Strophen zu (Vgl. meine Neuen Mitteilungen über Rückert. I. 223.
und 240.):
Man lernt aus diesem Beispiele Rückerts, wie der Dichter durch die
allitterierenden zwei oder drei Anfangskonsonanten die ihn bewegende Vorstellung
sinnlich anklingen läßt; wie er ferner solche Wörter wählt, die den
Eindruck möglichst wahr und anschaulich wiedergeben; wie er endlich strebt,
daß jedes neue Wort der Hauptvorstellung ähnlich klinge, um schon durch den
Klang an dieselbe zu erinnern. Dies ist aber ─ wie S. 397 gelehrt wurde
─ die Aufgabe der Allitteration; sie soll den Eindruck der Hauptvorstellung
fort erhalten, währen machen durch die Hauptlaute der die Fortdauer bezeichnenden
(sich im Anfangsbuchstaben ähnelnden) Wörter.
b. Jede Zeile hat 4 Stäbe, die nicht sämtlich allitterieren.
(Müller von der Werra, Rüpellied.)
c. Jede Zeile hat 4 Stäbe mit beliebigen Thesen.
(Aus Simrocks Eddaübersetzung. 6. Aufl. I. 209.)
§ 128. Metrische Bedeutung des Stabreimes.
1. Der Stabreim stellt die metrische Verbindung zwischen den
Klängen der Verse her, also auch zwischen dem Jnhalt der Begriffe.
Ursprünglich verband er die altgermanischen Langzeilen miteinander.
Jn der ersten Hälfte derselben befanden sich in der Regel zwei Stäbe,
in der folgenden Hälfte nur einer, und dieser war der Hauptstab.
2. Die dem centralen Hauptstab vorausgehenden allitterierenden
Anlaute nennt man Stollen oder Liedstäbe. Sie sind die metrischverbindenden
Glieder.
3. Der Stabreim verbindet in der Regel zwei kürzere Verszeilen
(oder auch nur eine längere Verszeile). Jn neueren Gedichten bindet
er zuweilen auch 3 und 4 Zeilen.
4. Um in langen Zeilen den Stabreim dem Ohre bemerklicher
zu machen, rückt man nicht selten die allitterierenden Stäbe jeder Zeile
eng aneinander.
5. Jnteressant ist die metrische Verbindung zweier Langzeilen
durch ein besonderes Kettenglied.
6. Die Allitteration war ursprünglich das wesentlichste versregelnde
Kunstmittel.
7. Eine gesetzmäßig bestimmte metrische Gliederung von regelmäßig
4 Hebungen kann in der früheren Allitterationspoesie nicht
nachgewiesen werden. Jn Jordans Nibelunge besteht sie.
1. Der Stabreim erstrebt vor Allem durch Hervorhebung der Arsen die
musikalische und mnemonische Verbindung der Zeilen. Oft erfolgt die Verbindung
(wie beim Beispiel a in § 127) in der Art, daß in der ersten
Halbzeile derselbe Stab gewöhnlich zweimal und in der darauf folgenden Halbzeile
zum drittenmal wiederkehrt. Oft aber geht dem centralen Hauptstab
behufs Versverkettung nur ein Stollen voraus, wie aus demselben Beispiele
(a in § 127) ersichtlich ist. Seltener finden wir 4 allitterierende Stäbe in
derselben Zeile, wie z. B.
a.
(Beowulf.)
b.
(Rich. Wagner, Werke 6. 327.)
[401]Vgl. hiezu Beispiel a § 127: „Wieder wie weiland wacht er und wacht.“
Das von Rückert beachtete Gesetz von drei Allitterationen in 2 Halbzeilen
wurde am häufigsten von den späteren Skalden angewandt, die sich ─
beiläufig bemerkt ─ zur alten Verskunst verhielten wie die Meistersänger zu
den Minnesingern.
2. Fast in allen Beispielen, welche 3 Allitterationen auf 2 Zeilen verteilen,
bilden die beiden ersten gleichen Anlaute die Stollen, und erst der
dritte Gleichlaut ist der centrale Hauptstab. Daß übrigens die 3. Allitteration
nicht durchweg Hauptstab ist, dieser vielmehr vom Sinn und Jnhalt der Verszeilen
abhängig ist, beweise folgendes Beispiel:
3. Die meisten Allitterationen verbinden nur 2 kurze oder 1 lange Zeile,
vgl. Beisp. b u. c § 127. Ein Mittel zur Steigerung der Wirkung der Allitteration
ist die durch Wiederholung desselben Stabes in der nächsten (zuweilen
in der 3. u. 4.) Langzeile bewirkte metrische Verbindung dieser Zeilen, z. B.:
4. Je schlichter, je mehr der Prosa sich nähernd der Jnhalt des Stabverses
ist, desto weniger Stabreime enthält er. Je leidenschaftlicher er sich
gestaltet, desto häufiger werden die gleichen Anlaute. Bei wenig Allitterationen
und in langen Zeilen steigert man daher die Wirkung dadurch, daß man die
allitterierenden Stäbe möglichst nahe an einander rückt, um je den neuen Gleichlaut
wie ein wirkliches Klangecho zu empfinden, z. B.
(Heliand.)
5. Die metrische Verbindung zweier Langzeilen durch ein besonderes
Kettenglied, das man als Nebenallitteration auffassen kann, hat neben der
metrischen Bedeutung auch eine mnemonische. Man vergleiche die folgenden
Beispiele aus dem Beowulf:
hlûdne in healle paer was heorpan Sweg
swutol sang scopes: saegde se pe cupe. ─ ─
wig weorpunga wordun Baedon
paet him gast Bona geoce gefremede.
Obwohl der Deutsche im allgemeinen die deutschen Verse des Beowulf wie
des Hildebrandsliedes fast ebensowenig verstehen mag, als das Chinesische, so
habe ich doch diese Beispiele der Form halber hergeschrieben, um auch dadurch
zu zeigen, wie unser Ohr anders geworden ist, sofern es nicht mehr als gültigen
Stabreim anerkennt, wenn von einer Doppelkonsonanz nur der erste Konsonant
wiederkehrt u. s. w.
6. Wie die Allitteration als versregelndes Kunstmittel mit Bewußtsein
schon bei den ältesten deutschen Litteraturwerken benützt wurde, ist leicht nachweislich.
Man bediente sich dabei der meist aus 8 Hebungen bestehenden
Langzeile (Otfriedsche Strophe vgl. § 68), z. B.
Siè sint so sáma chuani sélb so thie románi
ni thárf man thaz, ouh rédinon, thaz kríachi in thes giwídaron.
(Sie sind eben so kühn, selbst wie die Römer,
nicht darf man dazu reden, daß Griechen sie darin übertreffen.)
(Aus Otfrieds Krist I, 59 u. 60.)
Diese Strophe war durch Jncisionen geteilt, und nur die Allitteration
hielt sie zusammen, indem sie meist im ersten Bruchstück zweimal, im zweiten
einmal den gleichen Anfangsbuchstaben brachte. Ausnahmen von dieser Regel
gab es genug.
Wir wählen noch ein anderes Beispiel aus dem ältesten deutschen Gedichte,
dem Hildebrandsliede, in welchem der Kampf des Sohnes mit seinem
unbekannten Vater ─ ähnlich wie in Rückerts Rostem und Suhrab ─ erzählt
wird.
Man ersieht hieraus, wie durch die Allitteration die Versgrenze bemerklich
gemacht wurde und wie es schon die Alten verstanden, gewisse ─ selbstredend
durch den Sinn verbundene ─ Worte durch das gemeinsame Anfangszeichen
als zusammengehörig zu charakterisieren, wozu ihnen 3, 4, zuweilen nur 2
Hauptvorstellungen ─ durch gleiche Anlaute hervorgehoben ─ genügten. Vgl.
hierfür noch den aus dem Hildebrandslied entlehnten Vers:
7. Wenn auch die meisten älteren Allitterationsverse vier Hebungen hatten,
so hat man sich doch an diese metrische Form nicht gebunden. Nach Lachmann
(Abhandl. d. Berl. Ac. 1833) war man geneigt, eine solche metrische
Gliederung namentlich im Hildebrandslied anzunehmen, bis Vetter in seiner
dankenswerten Arbeit (zum Muspilli und zur germanischen Allitterationspoesie,
Wien 1872) das Gegenteil nachwies. Jordan hat die Gliederung mit 4 Hebungen
in seinem Nibelunge zum Gesetz erhoben.
§ 129. Die Allitteration als Schönheitsmittel wie als
lautmalende Figur.
1. Die Allitteration hat in ästhetischer Beziehung großen Zauber,
ja, eine unwiderstehliche Gewalt.
2. Jhre Wirkung ist der Wirkung der Musik vergleichbar.
3. Sie wurde mit Erfolg zur Lautmalerei verwandt.
4. Es tritt die Aufforderung an uns heran, unser teilweise
abgehärtetes Ohr für Wahrnehmung der Feinheiten der früher so
wirkungsvollen Allitteration neu zu bilden.
1. Jeder musikalische Stab ist nach Jordan gewissermaßen eine freundliche
Luftfigur, deren mehrmalige, in rhythmischen Pausen erfolgende Wiederkehr
eine unbeschreibliche musikalische Wirkung übt und das Wohlgefallen des Ohres
in ähnlicher Weise erweckt wie die gleichen Schwingungszeiten und Wellenbreiten
des reinen Tones. Die unwiderstehliche Gewalt des Stabreims beruht darin
(Jordan a. a. O. 39 u. 41), „daß seine sinnlich wahrnehmbaren Harmonien zugleich
Harmonien der Wortseelen sind, weil die verwandten Wortseelen sich verkörpert
haben zur im eigentlichen Sinn ähnlichen, d. i. dieselben Ahnen verratenden
Kopfbildung gleichen Anlauts, weil daher Sinn und Musik des
Anlauts auf das Vollkommenste passend einander anerschaffen sind kraft einer
uranfänglichen, aus entlegenen Jahrtausenden ererbten und dennoch in unserer
wunderbaren Sprache wie in keiner zweiten schöpferisch lebendig gebliebenen
Symbolik der Laute. Der Stabreim vermählt die Worte nach ihren Markknochen,
nach den Hirnschalen, die den seelischen Nerven einschließen. So
bietet er als geheimnisvoll anregende Nebengabe einen Hinweis auf die Blutsverwandtschaft
der Wortstämme, auf die tiefe Symbolik der Sprache und läßt
uns Blicke thun in deren ferne Jugend.“
2. Das bereits im Kapitel über Lautmalerei (§ 28) Entwickelte läßt
bezüglich der einzelnen Konsonanten und Vokale verstehen, wie die Stabmusik
der Empfindung angepaßt werden kann, welche der Jnhalt hervorrufen soll.
Bei verständnisvoll gebildeten Allitterationen umstrickt süße Musik das Ohr,
z. B. in folgendem Wartburgspruche (aus Gottfr. v. Straßburg Tristan und Jsolt):
Ein jedes empfindet den Wohllaut, den die Wiederholung des allitterierenden
L hervorruft. Ähnlich ist es mit dem allitterierenden g in folgendem Verse
des Hildebrandliedes (vgl. S. 402):
u. s. w. u. s. w.
3. Die besten Dichter bis in die Neuzeit haben die Allitteration zur
Lautmalerei verwendet, was schon einige Beispiele in § 28 S. 124 ff. beweisen.
Jch wähle aus dem mir vorliegenden Material nur noch wenige
Beispiele.
Bürger malt im hohen Lied von der Einzigen, z. B. die Seligkeit eines
Zustandes durch das weiche W (Wonne) und führt nun solche Zeit= und
Eigenschaftswörter in seine Schilderung ein, die dem Worte Wonne im Anklange
gleichen, die also ein Weniges, ein Etwas von dem Worte Wonne
(nämlich den an Wonne erinnernden weichen W-Anfang) haben, wodurch
das Wort Wonne unserem Ohre so wohlklingend wird, ja, wodurch im
Voraus der wonnige Charakter des Wortes Wonne über das ganze gegossen
wird. Man höre:
Wem erschienen bei solch wonnebeginnender Malerei nicht Wiese und
Wasserspiegel und Wange und Wehen durch Wonne verklärt!
Man vgl. hierzu einige Stellen aus Fouqués Sigurd der Schlangentöter
(Werke I, 9 ff.), der eine Fülle guter Allitterationen bietet:
S. 56. Weit ist die Welt,
Asen wollten wissen,
Wie weit sich Welt erstreckt &c.
„ 62. Wurdur hat das Gewordne gelenkt,
Werdandi lenkt das Werdende jetzt.
„ 84. Weberin, webe fort.
Nornen auch weben fort,
Dein Leben zu Lieb und Leid
Führen unreißbare Fäden,
Fingen früh' an ihr Gespinnst
Eh' flog dein Weberschifflein &c.
„ 85. Würziger, wonniger Wein &c.
Vgl. hier auch die Allitterationen in Tegners Frithjofs Sage (übers. v.
Mohnike, wie von Simrock). Ferner Chamissos „Das Lied von Thrym“.
Ferner viele Gedichte Goethes z. B.
(Goethe, Ballade I, 140.)
[405](Goethe, Christel I, 14.)
(Goethes Fischer.)
Das sich wiederholende l setzt in nachstehendem Sonett „Deutung“ von
A. W. Schlegel den Eindruck fort, den der süße L-Klang des Wortes Liebe
hervorzaubert. Z. B.
Vgl. hierzu das Beispiel in § 128. 2. S. 401. Ferner:
(Goethes Sänger.)
Vgl. auch Bürgers Vorgesang:
Morgen liebe, was bis heute nie der Liebe sich gefreut &c.
sowie die Verse a und b S. 129 d. B.
Eine hörbare wellige Luftbewegung erzeugt das h in folgender Allitteration
Rückerts (39. Makame S. 292):
Prächtig malend ist das h in Schillers Taucher:
Goethe läßt in Mahomets Gesang die Bäche klagen und beginnt abwechselnd
zwei oder drei Tonsilben mit dem gleichen Konsonanten, um den Eindruck andauern
zu lassen, z. B.
Noch wirkungsvoller erweist sich diese Allitteration, wenn sich der Silbenreim
zu ihr gesellt. Vgl. Goethes Erlkönig mit der inkorrekten, aber wenig
störenden Allitteration Gewand. Ferner:
(Goethes Mignon.)
(Fouqué.)
[407](Man beachte, wie der Dichter zur Verstärkung des Eindrucks die den
sch=Laut wiederholenden Wörter zischen und rauschen (vgl. den § 54 über
Onomatopöie) verständnisvoll einfügte.)
Vgl. noch die allitterierenden Stellen in Uhlands Eberhard, Klein Roland,
das Schloß am Meer, ferner in W. Müllers Glockenguß zu Breslau und in den
weiter oben erwähnten Dichtungen.
4. Wenn man bedenkt, welche malend ergreifende Wirkung die Allitteration
in den obigen Beispielen neuerer deutscher Dichter übt, so wird man zugeben,
daß dies noch weit mehr in einer Zeit der Fall gewesen sein muß, wo die Allitteration
noch das einzige, die symmetrische Gliederung der Rede bezweckende
Kunstmittel war, wo sie nicht als etwas Zufälliges herantrat, sondern die gesetzmäßige
wesentliche Form der deutschen Dichtkunst war, wo die Recitation der
allitterierenden Gedichte in langsam feierlicher Weise mit Emphase bei den
betonten, durch den Gleichklang verbundenen Silben verweilen durfte. Wie mochte
sie selbst die Phantasie der harten Krieger mächtig angeregt haben!
Wie abgehärtet unser Ohr gegen das unserer Vorfahren in Hinsicht auf
Wahrnehmung der Feinheiten des Stabreims geworden ist, geht schon daraus
hervor, daß den Altdeutschen eine 2 oder 3malige Wiederholung des gleichen
Anlauts vollkommen genügte (z. B. der maie machet hohen muot), was bei uns
nicht allenthalben als beabsichtigte Allitteration auffiel. Wurde ja doch von
einem mitteldeutschen Dichter allen Ernstes gefragt (als ich auf die nachahmenswerten
feinen Allitterationen in Sigurd der Schlangentöter von Fouqué, ferner
im Lied von Thrym von Chamisso, im Mädchen aus der Fremde von Schiller
und im Frühlingslied von Heine aufmerksam machte), ob die erwähnten Allitterationen
nicht zufällig den Dichtern untergelaufen seien!! ─
Solcher Unwissenheit gegenüber dürfte die Mahnung gerechtfertigt erscheinen,
die Allitteration in ihrer Bedeutung und in ihrer lautmalenden
Wirkung auf das Ohr mehr als bisher zu studieren.
§ 130. Formen des deutschen Stabreims.
Wir unterscheiden:
I. den vokalischen Stabreim, welcher die betonten Wörter mit
ungleichartigen Vokalen anfängt;
II. den konsonantischen Stabreim, welcher die betonten Silben
durch die gleichen Konsonanten beginnt. Er ist die gebräuchlichere
Stabreimform und zerfällt in mehrere Unterabteilungen.
I. Der vokalische Stabreim.
Beim vokalischen Stabreim allitteriert nicht der gleiche Vokal
sondern ohne Unterschied jeder Vokal oder Diphthong
mit jedem anderen, z. B. Anfang und Ende; Ansicht und Einblick; [408]
Armut und Überfluß. Der gleiche Vokal (z. B. Andacht und Absicht)
würde Allitteration und Assonanz zusammenfallen lassen, weshalb man
ihn absichtlich vermeidet.
Die Vokale und Diphthonge (sagt Jordan a. a. O. S. 30) üben die
allitterierende Wirkung lediglich vermöge des Umstands, daß der Germane ganz
wie der Grieche keinen Vokal, ─ auch nicht wenn er am Anfang der Silbe
oder allein steht ─ auszusprechen vermag, ohne einen leisen, aber deutlichen
Vorhauch, der für alle Vokale genau der nämliche ist. Dieser von den
Germanen nicht geschriebene, von den Griechen als spiritus lenis angedeutete
h=Konsonant ist nach Jordan das Allitterierende der Vokale.
Wir sind zwar nicht im Stande, den Jordanschen Vorhauch mit dem Ohre
wahrzunehmen, wollen aber gern gelten lassen, was der berühmte Rhapsode
sagt, da in der That vokalische Allitterationen in alten Dichtungen nachweislich
sind.
Beispiel aus dem Angelsächsischen:
a. Einst war das Alter, da Ymir lebte. (Simrocks Edda 1876. 6. Aufl. S. 347.)
b. earm ic väs on êdhle thînum, ‖ thät thu vurde eádig on mînum.
(Arm war ich in deinem Erblande, ‖ daß dir Überfluß würde in meinem.)
Jördh fannsk áeva | nê úpp─híminn (altnordisch).
(Nicht Erde war irgend | noch Überhimmel.)
Beispiel aus Wilh. Jordans Sigfridsage (Nibelunge I.
Frankf. 1874):
a. Einst das Ufer des Eilands aufstieg.
b. Voll edler Anmut war Sigfrids Antlitz,
Die holde Mädchen entflammt zur Minne.
c. Nachdem sie erklommen die höchste Klippe
Am äußersten Ende der Jnsel Helgis.
NB. Der Vokal e in erklommen allitteriert nicht zur folgenden Zeile.
II. Der konsonantische Stabreim.
Beim konsonantischen Stabreime beginnen die betonten Wörter
(Stammsilben) mit dem gleichen Konsonanten, oder auch Doppelkonsonanten,
z. B. Liebe, Leid, laben, Leben; Wonne, wehen, Wasser,
Wiege; streiten, stricken, streichen, Strang, Strauß &c. Zu betonen
ist, daß alle Konsonanten von gleichem Klange, wie z. B. die labialen
v und f, und ph, pf, b, p, w allitterieren können, z. B. Felder und
Wälder jenes Philipp stehen immer vor mir. Fisch und Vogel &c.
Man unterscheidet schwache, starke, volle, verschlungene, trennende
und reiche konsonantische Allitteration oder Stabung.
a. Schwache Allitteration.
Es ist dies jene Allitterationsart, bei welcher bloß eine Hebung
der ersten mit einer Hebung der zweiten Vershälfte allitteriert.
Beispiele:
a. Hamburg und Lübeck
Legt er in Acht.(Rückert.)
b. Hadubraht gimahalta | Hiltibrantes sunu (altniederd.)
(Hadubrand sprach, | Hildebrands Sohn.)
c. Bisher war's ein Kranz, ─ nun wards eine Krone.
(Wilh. Jordans Nibelunge I, 79.)
NB. Beispiel b. gehört zur starken Alliteration, wenn man gimahalta auszeichnet.
b. Starke Allitteration.
Bei ihr allitterieren zwei Hebungen der ersten mit der ersten
oder zweiten Hebung der letzten Vershälfte oder umgekehrt:
α. Die beiden Stollen der ersten mit der ersten Hebung der
letzten Vershälfte:
Beispiele:
(Simrocks Edda S. 347.)
β. Die beiden ersten Stollen mit der zweiten Hebung der letzten
Vershälfte, welche in diesem Fall kein einsilbiges Wort und auch nicht
die zweite Hälfte einer Zusammensetzung sein darf:
Beispiele:
(W. Jordans Nibelunge II, 1.)
γ. Ein Stollen der ersten auf die zwei Stäbe der zweiten Vershälfte:
Beispiele:
(W. Jordans Nibelunge II, 3.)
[410]c. Volle Allitteration.
Bei ihr allitterieren die sämtlichen Hebungen mit einander.
Beispiele:
(W. Jordans Nibelunge II, 1.)
d. Verschlungene Stabung.
Man bezeichnet die Allitteration mit diesem Namen, wenn im gleichen
Verse eine Hebung der ersten mit einer Hebung der zweiten Vershälfte
allitteriert, während gleichzeitig die zweite Hebung der ersten Vershälfte
mit der anderen Hebung der letzten Vershälfte allitteriert.
Diese doppelpaarige, von zwei verschiedenen, einander in derselben Langzeile
umschlingenden Stäben gebildete Allitteration fügt sich in ihrer Abwechslung
schmiegsam der natürlichen Satzfolge unserer heutigen Sprache an.
Wir finden folgende Stabungsschemata:
a b b a
a b a b
a a b b
Das Schema a a b b fällt am besten in's Gehör und übt die meiste Wirkung.
Beispiele:
Schema: a b b a.
(W. Jordans Nibelunge.)
Schema: a b a b.
(W. Jordans Nibelunge.)
Schema: a a b b.
(W. Jordan.)
[411]Eine besondere Form der verschlungenen Allitteration wird durch Verbindung
des konsonantischen mit dem vokalischen Stabreim gebildet:
Beispiel:
(W. Jordans Nibelunge.)
e. Trennende Allitteration.
Sie entsteht, wenn die Hebungen jeder Verszeile unter sich allitterieren.
Sie bewirkt eine schöne metrische Gliederung:
Beispiel:
(Simrocks Eddaübersetzung 6. Aufl. I, 304.)
f. Reiche Allitteration.
Die spätere Allitterationspoesie hat nicht selten die Verse durch
Zusätze oder Füllungen bereichert, insbesondere den Anfang des zweiten
(die sog. Mâlfüllung). So entstand namentlich im Angelsächsischen
als neue Versform ein Vers mit einem Zusatzstab und beliebig viel
Stabreimen, deren geringste Zahl drei war.
Beispiel:
§ 131. Der Stabreim innerlich aufgefaßt.
Man kann den Stabreim auch nach den Vorstellungen in's Auge
fassen, welche die ihn tragenden Wörter ausdrücken. Diese Vorstellungen
können 1. in einem verwandten, 2. in einem kontrastierenden und
3. in einem indifferenten Verhältnisse zu einander stehen.
1. Stabreim für verwandte Vorstellungen.
Jn den allitterierenden Wörtern dieser Gruppe herrscht Gleichheit
des Sinnes. Der Dichter wählt meist Wörter, welche im Verhältnis
der Zusammengehörigkeit und der Verwandtschaft zu einander stehen.
Beispiel:
2. Stabreim für kontrastierende Vorstellungen.
Die allitterierenden Wörter sind dem Sinn nach häufig entgegengesetzt.
Beispiel:
(W. Jordan.)
3. Stabreim für indifferente Vorstellungen.
Bei ihnen zeigt sich weder Übereinstimmung, noch Verwandtschaft,
noch Kontrast. Sie stehen inhaltlich gleichgültig einander
gegenüber.
Beispiel:
(Fouqué.)
(Goethe.)
(W. Jordans Nibelunge.)
§ 132. Historische Entwickelung des Stabreims.
1. Die Allitteration ist vorhomerischen Ursprungs.
2. Die ältesten Denkmäler unserer Litteratur waren allitterierend.
Die Allitteration bildete die Grundlage (Knochengerüst) unserer frühesten
poetischen Sprache. (§ 126.)
3. Als die Allitteration ganz und gar abkam, blieben doch die
Reste derselben in einzelnen Liedern wie auch im Volksmunde.
4. Unsere besten Dichter haben der Allitteration einige Berücksichtigung
geschenkt. Aber sie wurde nicht immer von den Lesern bemerkt.
Bereits Fr. de la Motte Fouqué strebte den Stabreim als
Band der Verszeilen in die neue deutsche Poesie wieder einzuführen.
5. Wilhelm Jordan ist der Neubegründer der Allitteration; ihm
schloß sich Richard Wagner an.
1. Wilhelm Jordan, der erste Erneuerer unseres Epos und seiner Form,
der das alte Gesetz erfüllte und ein neues schuf, sagt über den Stabvers
(a. a. O. S. 16 ff.): „Der Stabvers hat mit dem rhythmisch strengeren
Sloka offenbar ein älteres arisches Vorbild gemein, und auch seinen Klangschmuck,
der zugleich seine Gedächtnishafte bildet; den Stabreim scheinen
unsere Vorfahren aus einer früheren Heimat im Osten mitgebracht zu haben.
Denn wir finden die Allitteration mit Bewußtsein angewendet in den volksmundartlichen
Lustspielen der römischen Komiker, ebenso bei griechischen Dichtern,
namentlich bei Sophokles. Auch bei Homer kommt sie vor, und während
große Strecken fast leer von ihr sind, findet sie sich an andern so gehäuft,
daß man glauben könnte, hier habe der Poet den Stoff geschöpft aus älteren
Liedern in Allitterationsversen. Die Kenntnis der Allitteration scheint also in
vorhomerischer Zeit den Vorfahren der Hellenen, Lateiner und Germanen gemeinsam
gewesen zu sein.“
2. Nachweislich waren alle ältesten Denkmäler unserer Litteratur allitterierend,
weshalb man füglich die erste Periode unserer Litteratur die Allitterationsepoche
nennen könnte. Allitterierend sind z. B. der altsächsische Heliand;
der angels. Beowulf, das altniederd. Hildebrandslied, das Muspilli, das Wessobrunner
Gebet; im Altnordischen die vom Norden uns geretteten, von unsern
Altvordern herrührenden Lieder der sog. späteren Edda, wo sich regelmäßige
Strophen (erendi, vîsa == Weisen) von gewöhnlich 8 Halbzeilen (Fornyrdalag
oder Starkadarlag) oder 6 Versen (Liódhahâttr) bildeten, wogegen später
Reim, Assonanz und regelmäßige Metren eindringen. Jm Angelsächsischen
ist fast die ganze poetische Litteratur allitterierend, selbst Predigten in Prosa
bedienten sich der Allitteration.
Der Stabreim war die ursprüngliche Wiege, welche das deutsche Wort
zuerst in poetischen Rhythmen geschaukelt hat. Er ist viele Jahrhunderte der
einzige Vers der deutschen Poesie geblieben. Erst als römisches, romanisches
und romantisches Wesen dem Deutschen sein Deutschtum auszutreiben begann,
ward auch diese einzige, echt deutsche Form der Poesie verdrängt, unsere deutsche
Göttersprache verwelscht und hinein massakriert in importierte Versformen
romanischen und semitischen Ursprungs. (Jordan a. a. O. S. 56.)
Wie schön klang der Stabreim, z. B. im Muspilli:
Sorgên mann diu sela
za uuedermo herje
Uuanta ipu sia daz satanazses
daz leitit sia sâr
In fuir enti in finstri:
unzi diu suona argût,
si gihalot uuerdê
kisindi kiuuimmt,
dar iru leid uuirdit,
dazi ist rehto virinleh Ding etc.
Wie verständnisvoll wendet noch Otfried in seiner zugleich den Schlußreim
einführenden Evangelienharmonie den Stabreim an. Vgl. § 68, sowie die
folgende schön klingende Stelle: de cantico sanctae Mariae I. 7. 1─10:
Thó sprah sca mária,
si was sih blídenti
Nu scal géist minër,
mit lidin líchamen
Ih frawon drúhtine;
fréw ih mih in múate
Want er ótmuati
nu sáligont mih álle
Máhtig drúhtin,
det er wérk mariu
thaz siu zi húge hábeta;
bi thaz arúnti.
mit sélu gifúagter,
drúhtinan díuren.
alle dága mine
gote héilante.
in mir was scówonti,
wórolt íó bi mánne.
wih námo siner!
in mir ármeru.
Jn der Allitterationsperiode war die Betonung der ersten Silbe jedes
Wortes Regel. Alle Wörter fügten sich; und wäre die Allitteration bei uns
herrschend geblieben, so hätten sich zweifellos auch die Fremdwörter (§ 78)
dieser deutschen Accentuation anbequemen müssen. Nach Überhandnahme des
Reims erhielt sich die Allitteration noch längere Zeit hindurch neben dem
eigentlichen Reime in Minneliedern und Heldengesängen. Selbst im Krönungslied
Heinrich III. (1039) findet sie sich noch.
3. Die im Volksmund ─ besonders auch durch die Rechtspflege ─
lebendig erhaltenen Allitterations-Anklänge (vgl. § 126. 2. b und c) beweisen,
wie fest die Allitterationen im Volke haften und wie gern dasselbe
durch Wiederholung der Anklänge accentuiert. Wie lebendig dieses Gefühl
geblieben ist, und wie seine Befriedigung ergötzt, beweisen auch unzählige allitterierende
Versuche, die zum Teil der Prosa angehören oder gesuchte Spielereien
sind. Man vgl. zum Beispiel die nachstehende Rauchrede aus jüngster Zeit:
„Raucher! Richtig rauchende Raucher rauchen rauchende Rauch-Ripp ruhig
'runter. Ruhig rauchende Raucher rauchen reizende runde Rauchringe. Robuste
Raucher rauchen ranzige, runzlige Runkelrüben-Rolle. Rapide Rosse reitende
Raucher rauchen Riemen rüttelnd. Rennende Raucher rauchen rar. Reelle
rauchende Raucher rauchen recht reine Rauchrohre. Raubritter, Räuber, Rinaldo,
ruppige Rangen rauchen riechenden Ratiborer, Rawitscher. Russische radikale
Reformer rauchen Rettige, rothe Rüben, Rapunze. Rhetorische Rauchredner
reden rauchend recht rührend. Reimende Raucher reimten rauchend rabiat:
Rauch-Reime. Riecher rümpfende Raucher riechen rauchend Rauch. Reiche
riechende Raucher riechen raren Rauch. Rochrige Raucher riechen recht rochrichen
Rauch ─ Raucher! rauche, rooche, rieche ─ Ruhe!“
4. Die im Accent begründete, nachdrückliche Wirkung der Allitteration
hat selbst ─ wie einst einen Shakespeare in England ─ unseren Goethe
zur Anwendung des Stabreims entflammt. Shakespeare hat den Stabreim
beim jedesmaligen Erscheinen der Hexen im Macbeth, sowie in Ariels Gesängen
(im „Sturm“ 1. 2) angewandt, was seine Übersetzer Schlegel und Tieck
nicht bemerkten. Dennoch war die Anwendung weder zufällig noch unabsichtlich. [415]
Der Sehende erkennt in diesen Stellen feste Regel und klaren Zweck.
Mächtig erhöht der Stabreim den altertümlich schreckhaften Eindruck der Erscheinungen,
und es werden die Schicksalsschwestern dadurch in die Sphäre
einer eigenartig germanischen Anschauungs- und Empfindungsweise gezogen:
Ähnlich in der Rede Banquos und der Schicksalsschwester durch 21 Zeilen,
desgleichen im 1. Auftritt des 4. Aktes (z. B. Fillet of a fenny snake &c.).
So verstand es Shakespeare, dem Zusammenklang zauberische Beweiskraft zu
verleihen und den Eindruck auf Ohr und Geist des Hörers zu verstärken.
Goethe hat in noch wirkungsvollerer Weise die Allitteration verwendet,
und zwar kunstvoll und in freier Weise, so daß sie das Auge des Laien nicht
ohne Weiteres entdeckte und letzterer geneigt war, sie für zufällig zu halten.
Jch verweise auf die Beispiele von Goethe in § 129 d. B.
5. Ein rundes Jahrtausend war seit dem letzten deutschen Poeten vergangen,
der die Allitteration im Heliand anwandte, als nach Fouqués Vorgang,
welcher die Allitteration in großem Stil wieder anwandte (Werke, Band
1─3), der geistreiche Dichter Wilhelm Jordan das Wiederaufleben der
Allitteration forderte und dieselbe in seinem epochebildenden Epos „Nibelunge“
erfolgreich anwandte. Jhm schloß sich der bahnbrechende Dichterkomponist
Richard Wagner an, der wie kein Zweiter die Bedeutung des Stabreims
für den deutschen Rhythmus erkannte und seinen „Ring des Nibelungen“
(6. Bd. seiner ges. Schriften) in Allitterationen schuf. Die Allitteration in
dieser Dichtung ist für die Recitation passend und auch für den Gesang nicht
tadelnswert, sofern die „zuweilen zischenden Stäbe“ durch den melodischen
Gesang auseinander gehalten werden.
Da sich in den vorhergehenden Paragraphen genug Beispiele aus W. Jordans
Nibelunge finden, so geben wir nur noch einige Proben aus Richard Wagners
Nibelungenring.
a.
b.
Jn die Fußstapfen Jordans und Wagners ist Gustav Wacht getreten,
der in seinem Trauerspiel „Hermann der Cherusker“ Allitterationen verständnisvoll
gebraucht, z. B.:
Jm Gegensatz zur süßlich leichten Manier, lediglich die abgetretenen Bahnen
des Endreims in der Erzählung sorglos zu wandeln, wirkt es erfrischend,
durch die markig wuchtige Allitteration einen strafferen, männlicheren Stil angebahnt
zu sehen. Ein allitterierendes, auf die Gesetze der accentuierenden
Metrik gebautes Gedicht im Sinne Jordans und Wagners entspricht so ganz
der Beschreibung Goethes im Faust (II, 3):
Helena: Vielfache Wunder seh' ich, hör' ich an,
Erstaunen trifft mich, fragen möcht' ich viel.
Doch wünscht' ich Unterricht, warum die Rede
Des Mann's mir seltsam klang, seltsam und freundlich:
Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen,
Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt,
Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.
Faust: Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker,
O so gewiß entzückt auch der Gesang,
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.
Doch ist am sichersten, wir üben's gleich;
Die Wechselrede lockt es, ruft's hervor.
Helena: So sage denn, wie sprech ich auch so schön?
Faust: Das ist gar leicht, es muß vom Herzen gehn.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt ─
Helena: Wer mitgenießt.
Faust: Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück,
Die Gegenwart allein ─
Helena: Jst unser Glück.
II. Der Ausklang.
§ 133. Wesen des Ausklangs und seine Verwendung.
1. Eine Art Allitteration, welche in Übereinstimmung der die
Silben schließenden Konsonanten besteht, heißt Ausklang. (Vgl.
§ 129. 1. 6.)
2. Er wurde nicht zur metrischen Gliederung gebraucht.
3. Er wird zuweilen durch den Anlaut verstärkt.
1. Beispiele: Macht ─ Pracht ─ Sucht; Hinz ─ Kunz; Dampf ─
Rumpf; Ost ─ West; leben ─ schieben; sterben ─ darben; schlicht ─ schlecht;
tuscheln ─ zischeln; guten Tag ─ guten Weg; Wald ─ Feld; Geld ─
Gold; Jammer ─ Kummer; Hand ─ Mund; sündlich ─ schändlich.
2. Der Auslaut ist nicht angewendet worden, um der Rede eine bestimmte
Gliederung zu verleihen; man hat durch ihn lediglich den Begriffswörtern eine
eigenartige tonliche Auszeichnung geben wollen, einen Nachdruck in der Betonung,
welcher ihre Bedeutung malen und charakterisieren sollte.
3. Der Ausklang kann verstärkt werden, wenn er mit dem ähnlich anlautenden
Konsonanten verbunden wird.
Beispiele: Piff ─ paff ─ puff; Sing und Sang; Kling und Klang;
Thür und Thor.
Nach Aufnahme des Christentums mit seiner tiefinnerlichen Gemütswelt
verlangte die Verinnerlichung des Volkslebens nach einem Fallenlassen der
„heidnischen“ mythischen Allitteration im Anlaut wie im Ausklang. Man
erstrebte ein wirksameres, kräftigeres Kunstmittel für metrische Bindung der Verse
und gelangte zur Assonanz wie zum Reime.
III. Die Assonanz oder der Vokalreim.
§ 134. Wesen der Assonanz und Anforderungen.
1. Die Wiederkehr der gleichen Vokale oder Diphthonge in den
betonten Silben (Stammsilben) einer Verszeile, oder auch nur im
letzten Verstakte der einzelnen Verszeilen heißt Assonanz, auch Stimmreim
oder Vokalreim. (Vgl. § 126. 1. c. und 2. d. S. 394. 395.)
2. Die Assonanz hat ein versregelndes Ziel.
3. Sie verlangt daher Reinheit der assonierenden Vokale.
4. Der Kunst des Dichters ist es vorbehalten, schon im Anfang
seines Gedichts durch Binnenassonanzen zu betonen und auf die
Schluß-Assonanz hinzuweisen.
1. Bei der Assonanz kommt es lediglich auf Gleichheit der tönenden
Vokale an, die Konsonanten können durchaus verschieden sein. Wegen ihres
tönenden Charakters kann man die Assonanz als Stimmreim (Vokalreim)
bezeichnen.
2. Am gebräuchlichsten war bei uns die Schlußassonanz am Ende der
Verszeilen. Sie diente zur Markierung der Versgrenzen und hatte somit vorzugsweise
ein versregelndes metrisches Ziel. Sie hat aber auch eine rhythmische
Bedeutung, insofern sie innerhalb der einzelnen Zeilen im Gegensatz
zur malenden plastischen Allitteration musikalischer Natur ist und durch ihre
wellenartige Betonung dem Gedicht einen bestimmten Gefühlscharakter verleiht.
3. Selbstredend ist für Erreichung einer musikalischen Wirkung vor Allem
Gleichheit der assonierenden Vokale und möglichste Vermeidung des faden e
als Assonanz zu fordern. Eine Verdunkelung würde schon entstehen, wenn
klangverwandte Vokale oder Diphthonge mit einander vermischt würden (z. B.
e mit ä und ö, ei mit eu und äu, i mit ü &c.). Jndes findet man diese
Vermischung bei Klangähnlichkeit nicht so selten.
4. Es ist geraten, in den ersten Versen einer assonierenden Dichtung
Binnenassonanzen anzuwenden, um den assonierenden Vokal von vornherein
zu markieren (vgl. § 135. U-Assonanz. S. 126). Auch darf behufs Einprägung
und Bemerklichmachung des assonierenden Vokals im Anfang des
Gedichts keine große Verwickelung vorkommen. Höchstens können am Anfange
einfach sich durchkreuzende Assonanzen eintreten.
§ 135. Arten der Assonanz.
Die von Minckwitz gelehrte rationelle Einteilung der Assonanzen in
a. einsilbige (z. B. Grund ─ ruht, kalt ─ kahl), b. zweisilbige (z. B.
Blüte == blühen, wissen ─ schicken, langsam ─ Altar, Arbeit ─ allzeit,
Zeitung ─ eirund, Ohnmacht ─ Tonfall), c. dreisilbige (z. B. horchende
─ forderte, trockene ─ wohnende, Gartenhain ─ Hahnenschrei, Friedensbruch
─ Himmelslust) hat wenig Zustimmung und Nachfolge gefunden.
Viele beliebten die Einteilung in a. männliche Assonanzen (z. B.
groß ─ hoch), b. weibliche (z. B. raufen ─ glauben), c. schwebende
oder spondeische (z. B. Maitag ─ eintrat), d. gleitende oder dreisilbige
(z. B. Miederchen ─ Fingerchen), e. reiche (z. B. bleibt treue Gäste
─ weint Freudenthränen). Wir schlagen die einfachere Einteilung vor
in 1. freie Assonanzen innerhalb der Verszeilen und 2. versgliedernde
Assonanzen am Ende der Verszeilen.
1. Freie Assonanz (onomatopoetische Assonanz).
Sie verleiht dem Gedichte ein rhythmisches Gepräge und trägt
mehr als die versgliedernde Assonanz einen onomatopoetischen Charakter.
Besonders wirksam erweist sie sich, wenn sie mit der Allitteration verbunden
ist. Wegen ihres freien Eintritts und ihrer sonstigen Anspruchs= [419]
losigkeit wird sie häufig gar nicht als beabsichtigte Assonanz empfunden,
namentlich wenn sie sich wie eine Art Binnenreim einführt.
Beispiele:
(Goethes Hochzeitlied.)
Diese Assonanzen sind onomatopoetische Assonanzen im eminenten Sinn
(vgl. § 28, ferner § 138. 10).
(W. Jordans Nibelunge I, 85.)
(Lessing.)
(Jn den vorstehenden kunstvollen Versen verbindet Goethe mit der Assonanz
den Endreim. Verständnisvoll läßt er die Vokale i, o, u, a nacheinander
assonieren. Die Vorstellungen „hoch“ und „Wolke“, oder „Bach“ und „Thal“
sind sich eben so verwandt als „schwanken“ und „wandeln“, weshalb man
dieses Beispiel als Probe der Assonanzen mit verwandten Vorstellungen geben
könnte, sofern man sich zu einer derartigen Einteilung entschließen wollte.)
(Goethe.)
[420](Rückert.)
2. Versgliedernde Assonanz am Ende der Verszeilen.
Wir unterscheiden versgliedernde Assonanzen a. mit gerader Vokalfolge,
b. mit gekreuzten Vokalen, c. mit eingefügten reimlosen Zeilen,
d. mit spondeischem Versschluß.
Beispiele:
a. Assonanzen mit gerader Vokalfolge.
Durchgeführte weibliche J=Assonanz.
(v. Zedlitz.)
Durchgeführte männliche A=Assonanz.
(Fr. Rückerts Napoleon I. S. 5.)
U=Assonanz.
Siehe das Beispiel Fr. Rückerts S. 126 d. B.
A=O=Assonanz. (Paare.)
(1. Strophe aus dem Ludwigslied.)
b. Assonanzen mit gekreuzten Vokalen.
J=A=Assonanz.
(Eichendorff.)
Ö=J=Assonanz.
(Fr. Schlegel.)
c. Assonanzen mit eingefügten reimlosen Zeilen.
Schema: x a x a weiblich. (Vgl. S. 454.)
(Heines Don Ramiro, Buch der Lieder IX, 33.)
d. Assonanzen mit spondeischem Versabschluß.
Ei=A=Assonanz. (Durch A-Assonanz unterbrochen.)
(Apel, Zauberliebe.)
U=O=Assonanz. (Durch reimlose Zeile unterbrochen.)
(F. Schlegels Roland.)
U=A=Assonanz. (Jn gerader Folge.)
(Rückert, Napoleon.)
A=A=Assonanz. (Jn gerader Folge.)
(Rückert, Napoleon.)
Als weitere Beispiele der verschiedenen Assonanzformen erwähne ich noch:
Weibliche O-Assonanz: Uhland, der Sieger.
Weibliche A-Assonanz: Uhland, der nächtliche Ritter.
Männliche A-Assonanz: Uhland, St. Georgs Ritter.
Weibliche U-Assonanz: Chamisso, das Mädchen zu Cadix.
Männliche U-Assonanz: Fr. Schlegels 7. Romanze aus „Roland“.
Weibliche J-Assonanz: Rückerts „Assonanzen“.
[423]Männliche J-Assonanz: Rückerts deutsches Künstlerfest, ferner Platens
Gambacorti und Gualandi.
Weibliche Au-Assonanz: Uhlands Romanze vom kleinen Däumling.
Männliche Au-Assonanz: Platens Gründung Karthagos u. s. w.
§ 136. Geschichtliche Entwickelung der Assonanz.
1. Die Assonanz war ursprünglich der spanischen und portugiesischen,
wie auch der alten skandinavischen Poesie eigen; doch kam
sie ziemlich häufig auch im Altdeutschen vor.
2. Sie leitete von selbst zum Endreim hinüber.
3. Die Romantiker brachten sie neu zu uns aus Spanien.
4. Rückert wandte sie mit Beachtung des Charakters der Vokale
an, wie wir dies S. 121 d. B. näher dargelegt haben.
5. Die Assonanz lebt im Reime und in der Annomination fort.
1. Die Vergleichung romanischer (spanischer, portugiesischer), skandinavischer
und althochdeutscher assonierender Gedichte ergiebt, daß die Assonanz am klangvollsten
in den romanischen Sprachen wirkt, wo die Konsonanten nicht so wie
in der deutschen Sprache verdüstert und eingehüllt werden, d. h. wo Vokalismus
und einfache Konsonanten vorherrschend sind. Namentlich in der spanischen
Sprache wirkt die volkstümlich gewordene Assonanz äußerst klangvoll, weshalb
dort (z. B. in Romanzen) die gleiche Assonanz durch das ganze Gedicht sich zieht.
2. Nachdem die Assonanz in unseren althochdeutschen Dichtungen bis in's
11. Jahrhundert hinein eine beschränkte Verwendung gefunden, verband sich mit
ihr der gleiche Ausklang ─ und der Endreim war gefunden (z. B. Tisch ─
Fisch; Herz ─ Schmerz). (Vgl. § 126. 2. e.) Der Reim war an sich naturgemäß
schon da gegeben, wo nach dem Vokal kein Konsonant mehr folgte
(z. B. bau ─ schlau ─ schau ─ trau; neu ─ treu). So leitete die
Assonanz von selbst zum Schlußreim hinüber. Sie könnte mit Beziehung auf
letzteren als Halbreim bezeichnet werden. Jedenfalls ging sie dem Schlußreim
voraus, was schon Proben aus Otfrieds Evangelienharmonie beweisen. Es
ist daher eine irrige Ansicht gewisser Litterarhistoriker, daß die Assonanz eine
Abart und Verarmung des Reimes sei.
3. Die strenge Assonanz war bei uns längst vergessen, d. h. durch den aus
ihr erblühten Reim vollständig seit einem Jahrtausend verdrängt (nur einzelne
Volksgesänge waren noch assonierend), als sie durch die deutschen Romantiker
Anfangs unseres Jahrhunderts aus ihrer Heimat Spanien neu bei uns eingeführt
und von ihnen wie auch von unsern Klassikern Goethe, Schiller, Rückert als
treffliches Mittel für Lautmalerei verwendet wurde. (Jch erwähne außer den
im § 135 erwähnten Assonanzen noch die an Archaismen reiche Romanze „Die
Zeichen im Walde“ von Tieck, in welcher nur Assonanzen auf u sich finden.)
4. Die bedeutendste assonierende Dichtung der Neuzeit ist unstreitig Rückerts
Komödie Napoleon, in welcher nachweislich der lautmalende Charakter der [424]
einzelnen Vokale entgegentritt. (Vgl. S. 121 d. B.) Rückert hat wie kein Zweiter
der Übereinstimmung der Vokale mit den bezüglichen Gefühlszuständen allüberall
Ausdruck verliehen. Zu erwähnen ist in dieser Hinsicht freilich auch Duttenhofers
Cidübersetzung (Berlin 1853).
5. Erhalten konnte sich die Assonanz bei uns nicht, da sie durch ihre
höhere Entwickelungsstufe ─ den Reim ─ in wirkungsvollster Weise ersetzt
wird. Doch haben sie manche Dichter der Neuzeit zur Verstärkung des Reimes
neben demselben angewendet, ja, sie in unvergleichlicher Schöne im Reime selbst
als ein den gewöhnlichen Reim hell überstrahlendes, versregelndes Tonlicht fortleben
lassen.
Jch gebe der Nacheiferung einige würdige Proben:
a.
b.
c.
(Freiligrath.)
Volkstümlich ist noch jene Verbindung der Assonanz mit der Allitteration geworden,
welche wir (§ 48. 9. S. 191 d. B.) als Annomination abhandeln konnten.
IV. Der eigentliche Reim oder Vollreim.
§ 137. Wesen und Bedeutung des Vollreims.
1. Bezieht sich der Gleichklang nicht nur auf einzelne Konsonanten
oder Vokale, sondern auf ganze Silben, die dem Tone nach übereinstimmen
und sich gleichsam decken, so heißt er Reim, auch Vollreim,
Silbenreim, Konsonanz. Er ist eine Verbindung von Assonanz
mit End-Allitteration, oder die Übereinstimmung des betonten Vokals
und der demselben folgenden Konsonanten und Vokale.
2. Die den Silbenreim bildenden Klänge stechen als hellstes Klang=
Echo hervor, als Tonlichter, welche eine Zeitlang im Gedächtnis
haften bleiben. Dies ist die mnemonische Bedeutung des Vollreims.
3. Er hat aber auch eine ästhetische wie eine versregelnde metrische
Bedeutung. (Vgl. hierzu § 153.)
1. Der Vollreim ist die Manifestation eines sich selbst genießenden, mit
sich spielenden, beschaulichen Gefühls, und die Schönheitsblüte unserer deutschaccentuierenden
Poesie.
2. Jndem die nicht reimenden Klänge dem Ohre rascher entschwinden,
werden die Hauptvorstellungen auf die reimenden Klänge zurückgeführt, die
nun den Versen einen bestimmten Klangcharakter verleihen. Sie führen die
durch sie ausgedrückten Vorstellungen unserem Sinne näher und prägen sie
haftend ein.
3. Die ästhetische Wirkung beruht darin, daß der Reim den Versen
Schmuck und Klang verleiht. Die versregelnde Tendenz beweist er
dadurch, daß er einesteils trennend und gliedernd, andernteils verbindend
und verknüpfend wirkt:
a. trennend und gliedernd,
indem er die Grenzen der einzelnen Verse betont und mehrere Verse als einheitliches
Ganzes ─ als Strophe ─ darstellt;
b. verbindend und verknüpfend,
indem er den versaufbauenden Rhythmus wunderbar verstärkt. Wenn auch
der Rhythmus des Reims entbehren kann, so kann doch der Reim den Rhythmus
nicht missen. Der Reim bindet ─ so zu sagen ─ musikalisch. Wie
in einem schönen Tonlicht beglänzt und konzentriert sich die rhythmische Tonwelle
der Verszeile im schärfer betonten, durch eine rhythmische Pause markierten
Reim, um in der korrespondierenden Zeile wie von Turmspitze zu Turmspitze
hüpfend, Accent und Pause zu wiederholen.
§ 138. Arten des Vollreims.
Je nach der Endung der reimenden Worte, ferner nach der Silbenzahl
derselben (ob ein=, zwei- oder mehrsilbig), endlich nach dem Verhältnis
der reimenden Worte untereinander unterscheidet man folgende
15 Arten des Vollreims:
1. männlichen Reim, 2. weiblichen, 3. gleitenden, 4. schwebenden,
5. Doppelreim, 6. identischen, 7. reichen Reim (Ghaselenreim), 8. mehrfachen
Reim, 9. Anfangsreim, 10. Binnenreim, 11. Mittelreim,
12. Kettenreim, 13. Echo, 14. Kehrreim, 15. Schlußreim.
1. Männlicher (jambischer oder stumpfer) Reim.
Wie man die Endung eines Wortes männlich nennt, wenn
dieses mit einer Hebung schließt, (z. B. Gĕbrāuch, Vĕrstānd), weiblich,
wenn es mit einer Senkung endigt, (z. B. Līebĕ, Glāubĕ, Hōffnŭng),
so nennt man auch den Reim männlich oder weiblich, je nachdem er
mit einer Arsis oder Thesis endigt, (z. B. Haus ─ Maus, Thal ─
Strahl sind männlich; Tische ─ Fische, Worte ─ Pforte sind weiblich).
Weil die Arsis häufig durch ein einsilbiges Wort und der männliche
Reim überhaupt nur durch die letzte Silbe der Verszeile gebildet wird, so
nennt man ihn zuweilen auch den einsilbigen Reim. Die Minnesinger [426]
bezeichneten den männlichen Reim als stumpfen Reim, während sie die zwei=
und mehrsilbigen Reime klingende nannten.
Der männliche Reim giebt einer ernst männlichen, entschlossenen Stimmung
Ausdruck; er verleiht dem Verse Bestimmtheit, Kraft und Würde.
Beispiele des männlichen Reims:
a.
(Fr. Rückert.)
b.
(Wolfg. Müller von Königswinter.)
2. Weiblicher (trochäischer, klingender) Reim.
Hier müssen zwei Silben auf einander reimen: eine betonte und
eine tonlose (– ⏑, also ein Trochäus auf einen Trochäus z. B. schauen
─ tauen, Reigen ─ schweigen, Ehre ─ Wehre), weshalb er auch
der zweisilbige Reim heißt. Er giebt dem Verse Weichheit, Milde,
Biegsamkeit und Geschmeidigkeit.
Beispiele:
a.
(Ludw. Eichrodt, Melodien S. 76.)
b.
(Wilhelmine Gräfin Wickenburg-Almâsy.)
3. Gleitender (daktylischer) Reim.
Bei ihm reimen sich drei Silben, von denen nur die erste betont
ist, während die beiden anderen kurz sind (– ⏑ ⏑), z. B. Fīngĕrchĕn
─ Dingerchen, Abende ─ labende, achtende ─ schmachtende. Überzählig
nennt man ihn, wenn er jambische oder trochäische Verse abschließt.
(Vgl. unten die Beispiele c und e.)
Dieser dreisilbige Reim verleiht dem Verse Lebendigkeit, Munterkeit, weshalb
man ihn gern zur poetischen Malerei verwendet.
Beispiele:
a.
b.
c.
(Hans Sachs.)
Rückert gebraucht den gleitenden Reim mit Vorliebe in seinen Makamen.
Sodann in kleineren Gedichten, z. B. die christliche Kritik mit den Reimen:
gräuliche ─ abscheuliche, fledermausige ─ Grausige, gräßliche ─ häßliche &c.
Ferner im Trinkspruch zu griechischem Wein &c., dessen Strophenanfänge lauten:
d.
Ferner: „Wieviel Lachegötterchen“ mit den Reimen: Lächelengelchen,
Wängelchen, Spötterchen, Versöhnerchen, Verschönerchen. Ferner: Die Buße
(entledigen ─ predigen); der Prediger (Prediger ─ lediger); Stellen aus
Hafisens Liedern (Trunkene ─ Entsunkene); Perücke und Brille (Gefährlichkeit
─ Beschwerlichkeit ─ Verehrlichkeit ─ Weltunentbehrlichkeit); Erotische Blumenlese
Nr. 4 (verführerisch ─ aufrührerisch); Wechselbedürfnis (Bedürfigen ─
Unterwürfigen); in Rostem und Suhrab (Lebenraubenden ─ feuerschnaubenden).
Von Goethe haben wir einzelne Proben bereits unter den daktylischen
Versen gegeben. Jch erinnere daher hier nur noch an die daktylischen Reime
im Schlußchor von Lila, Werke VIII. 200, Ausg. 1840 (Zitternden ─ verbitternden,
verbündete ─ begründete, entronnenen ─ gewonnenen &c.); im
Schmiedchor von Pandora in Werke X. 275 (entzündete ─ verbündete ─
ründete, lebendige ─ Verständige ─ bändige); in Wanderers Gemütsruhe in
Werke IV. 58 (Niederträchtige ─ Mächtige).
Matthisson bietet in seiner Skolie (Gedichte S. 75) die daktylischen
Reime: entsiegelten ─ geflügelten, mosigen ─ rosigen; Uhland im Nachruf: [428]
erglühende ─ blühende, sowie im Vorwort versammelten ─ stammelten;
Platen im 105. Ghasel (Werke II. 53): rastete ─ belastete, gastete ─
hastete, fastete ─ betastete; Heine (IX. 59): Wellenschaumgeborene ─
auserkorene u. s. w.
4. Schwebender (spondeischer) Reim, und 5. Doppelreim.
Ein schwebender Reim entsteht, wenn ein Spondeus mit einem
andern Spondeus reimt. Er kann sinkende und steigende Tendenz
haben (sinkende z. B.: Hā́ftkrāft ─ Krā́fthāft, Nā́chtmāgd ─ Prā́chtjāgd,
Hā́ndbānd ─ Sā́ndlānd, Nṓtbōot ─ Tṓdnōt; steigende z. B.
spǟt sǟ́t ─ sǟt spǟ́t, blēib nā́h ─ schrēib dā́).
Jeder schwebende Reim kann auch als Doppelreim aufgefaßt
werden, aber es giebt viele Doppelreime, welche keine schwebenden Reime
sind; sie entstehen, wenn an eine der beiden Silben des Spondeus oder
an beide zugleich tonlose Silben angefügt werden. (Beispiele B. S. 429.)
Rückert hat den schwebenden Reim, sowie den Doppelreim der letzten Art
häufig in seinen Makamen verwendet.
Beispiele:
A. Spondeische Doppelreime (schwebende Reime).
a. Sinkend spondeische:
α.
(Rückerts Makamen S. 55.)
β.
(Aus einem in steigenden Jonikern (⏑ ⏑ ─́ –) geschriebenen
Gedicht Albr. von Hochwalds.)
γ.
(Rückerts Makamen S. 98.)
[429]Vgl. hierzu noch die Rückertschen Gedichte: Nachtwache, Brief an die
Mutter, An den Gevatter Kupferstecher Barth, Meine Ansicht, Das Weinhaus,
sowie das schöne Beispiel § 152 II. 1 d. Weiter vgl. Goethes „Dreistigkeit“
(im Westöstl. Divan) mit Reimen wie Laut stört ─ aufhört, Erzklang ─
Herz bang &c. Ferner die „Schwergereimte Ode an Reimbold“ von J. H. Voß
und dessen „die Versuchung“ mit Reimen wie Reimsucht ─ Honigseimsucht,
Harzwald ─ schwarz wallt. Ferner Glaßbrenners Verkehrte Welt (9. Kap.)
mit Reimen wie gedacht ich ─ Pracht dich, acht ich ─ lacht ich &c. Ferner
Platens verhängnisvolle Gabel mit Reimen wie nicht mehr ─ Menschengesicht
mehr, reich sein ─ zugleich sein. &c.
b. Steigend spondeische:
(Rückerts Makamen S. 98.)
B. Doppelreime mit einer oder zwei tonlosen Silben.
a. Sinkend=spondeische Doppelreime mit tonloser Schlußsilbe.
(Rückert, Die Klanggeister.)
b. Doppelreime mit der tonlosen Silbe an der ersten reimenden
Arsis (== kretischer oder amphimakrischer Reim).
α.
(Man beachte bei diesen Versen Rückerts die gewandte Verbindung des Reims
mit der Allitteration!)
β.
(Pocci.)
[430]γ.
(G. Fr. Daumer, Hafis.)
Diese kretischen Reime finden sich bei Rückert häufig z. B. in der Poesie
am Feste:
Ferner in der Ferienreise:
Ferner in vielen seiner Ghasele, z. B. Vom künftigen Alter, Versehn,
Hingegangen in den Wind, Und dann nicht mehr, Jm Sonnenschein, Absolut,
Sei mir geküßt, Liebesmut, Schlußlied u. s. w.
Platen wendet diesen Reim ebenfalls in vielen Ghaselen an, z. B. im
1. 2. 3. 4. 6. 7 u. s. w.
Goethe bedient sich dieses Reims in Lilis Park (z. B. reißen sich ─
beißen sich). Ferner im Heideröslein (z. B. breche dich ─ steche dich). Ferner
in Epimenides Erwachen (z. B. im 5. Auftritt: Wahn und Bahn ─ an
und an).
Georg Jäger bevorzugt diesen Reim in Nr. 1, 2, 3, 4 und 7 seiner
Schwertsprüche (vgl. 1870─71 Stuttg. 1879 S. 80), z. B.
c. Doppelreime mit einer tonlosen Silbe an jeder reimenden
Arsis.
α.
(Rückert, Makamen.)
β.
(Rückert, Nal und Damajanti.)
6. Jdentischer Reim.
Er ist die Wiederholung des in der Reimstelle stehenden Wortes,
also eine Art unbeabsichtigtes Echo. Er macht einen schweren Eindruck
und wird daher nur selten angewendet. Zuweilen wird mit dem korrespondierenden
identischen Reimklang ein verschiedener Sinn verbunden.
Jn diesem Falle verliert er einen Teil seiner Jdentität (z. B. weine!
und die Weine; Heer und her; würde und die Würde &c.).
Beispiele des identischen Reims.
a.
(Schiller, Ritter Toggenburg.)
b.
c.
d.
(Bürger.)
7. Der reiche Reim (Ghaselenreim).
Er ist die Verbindung eines Voll-Reimes mit dem identischen
Reime.
Er kommt vorzugsweise im Ghasel vor, weshalb man ihn auch Ghaselenreim
nennen kann. Nach Rückerts Vorgang wurde er auch von Platen,
Daumer und anderen Dichtern angewendet.
Beispiele:
a.
(Rückert.)
b.
(Platen II, 3.)
c.
(Bodenstedt.)
d.
(Rückert, Die hausbackene Poesie.)
[432]e.
(Rückert, Rostem und Suhrab.)
Vgl. hierzu Ghasele von Platen, Daumer, sowie die folgenden von
Rückert: Jch sah empor und sah in allen Räumen Eines (Reim: Schäumen
Eines ─ Träumen Eines &c.); Tritt an zum Tanz! wir schweben in den
Reihn der Liebe (Reim: Pein der Liebe ─ Lebenswein der Liebe
─ Sein der Liebe &c.); Komm, Komm! du bist die Seele der Seele mir
im Reigen (Reim: hier im Reigen ─ Zier im Reigen ─ dir im
Reigen &c.); Heut, o heut will ich dich, dich besiegen, o Schmerz!
(Reim: erliegen, o Schmerz! ─ Kriegen, o Schmerz &c.); Wie die
Sonn' am Himmelsbogen frei und froh (Reim: Meereswogen frei und
froh ─ gewogen frei und froh ─ entzogen frei und froh &c.); O
welche Werkstatt hegst du mir im Herzen (Reim: trägst du mir im
Herzen ─ pflegst du mir im Herzen &c.); Noch eine Stunde laßt mich
hier verweilen im Sonnenschein (Reim: teilen im Sonnenschein
─ Zeilen im Sonnenschein ─ Pfeilen im Sonnenschein &c.); O
Wieg', aus der die Sonnen steigen, o heiliges Meer! (Reim: Sonnen neigen,
o heiliges Meer! ─ Schweigen, o heiliges Meer &c.); Meiner Seele
Morgenlicht, sei nicht fern, o sei nicht fern! (Reim: Traumgesicht, sei nicht
fern, o sei nicht fern! ─ licht, sei nicht fern, o sei nicht fern! &c.)
u. s. w.
8. Mehrfacher Reim.
Der mehrfache Reim entsteht, wenn mehr als zwei Arsen miteinander
reimen, oder wenn wie in den Beispielen b und c mehrere
Reimarten (Binnenreim, identischer Reim, Schlußreim) sich verbinden.
Er ist meistenteils Spielerei eines reimgewandten Dichters.
Beispiele:
a.
(Ernst Eckstein.)
b.
(Rückert.)
c.
(Rückerts Makamen 9.)
[433]d.
9. Der Anfangsreim.
Er reimt die Anfangsworte der Verse, und zwar gepaart und
gekreuzt.
Wie der Kettenreim und das Echo ist er selbst in der Hand des besseren
Dichters eine Art Spielerei, da ja der Sinn am Anfang des Verses noch keinen
Eindruck gewonnen haben kann. Die Aufmerksamkeit ist am Anfang auf das
Kommende gerichtet, weshalb ein Ruhepunkt an der Spitze der Strophe hemmend
empfunden werden muß.
Er tritt ebenso allein als in Verbindung mit dem Endreim auf.
Beispiele:
a. Gepaarte Anfangsreime.
b. Gekreuzte und unterbrochene Anfangsreime.
α.
β.
γ.
(Vgl. hierzu das Beispiel § 48. 2: „Was singt und sagt ihr“ &c.)
c. Anfang und Schluß des Verses reimen:
α.
(Rückert.)
β.
γ.
(Rückert.)
d. Anfangsreim mit Binnenreim in der 5. Verszeile und gekreuztem
Endreim.
(Zesen, Jugendflamme.)
10. Der Binnenreim.
Er besteht aus Reimklängen innerhalb der Verszeile.
Beispiele:
a.
b.
(Klaj, vgl. Wackernagels Deutsch. Leseb. II, 411 ff.)
c.
d.
(E. Ch. Homburg.)
e.
f. Vgl. außer den Goetheschen Beispielen in § 135 noch aus dem Hochzeitlied:
g.
(Platen, 12. Ghasel.)
Als ein Beispiel der Verwendung des Binnenreims zur Lautmalerei ist
neben dem Goetheschen Hochzeitliede das unter Lautmalerei (§ 28) gegebene von
Clemens Brentano („Es sauset und brauset das Tambourin“) zu erwähnen.
Der Lernende möge für Würdigung der Lautmalerei Goethes aus dem Hochzeitlied
I. 156 ersehen, wie durch die Wiederholung desselben Klangs in den
Wörtern knistern, flistern; dappeln, rappeln &c. eine treue Nachahmung des
nächtlich unsicheren und verworrenen Spukgetöses entsteht u. s. w., wie somit
der Dichter-Künstler im Binnenreim ein treffliches Mittel zur Lautmalerei besitzt,
das er freilich sparsam verwenden muß, wenn die Dichtung nicht den Charakter
einer spielerisch tändelnden Reimerei erhalten soll.
11. Der Mittelreim.
Bei ihm reimt die Mitte des einen Verses mit der Mitte des
folgenden Verses. Meistenteils besteht neben ihm auch der Endreim.
Er wird irrtümlich zuweilen mit dem Binnenreim verwechselt. (Vgl.
z. B. Sanders Abriß d. deutsch. Silbenmessung S. 117 § 176 Z. 15
und 25.)
Der Mittelreim wird zum Endreim, wenn die Verszeilen gebrochen geschrieben
werden, was sehr häufig bei den Nibelungenversen geschieht. (Vgl.
S. 318 ff. d. B.)
Beispiele des Mittelreims:
a.
b.
c.
(Rückert.)
d. Aus der staubigen Residenz
Jn den laubigen frischen Lenz,
Aus dem tosenden Gassenschrei
Jn den kosenden stillen Mei (man beachte diese Rückertsche Schreib=
u. s. w. weise, die falsch schreibt, um rein
zu reimen; freilich ist die fränkische
Dialekt-Unsitte mit schuld.)
Ähnlich wie Rückert in d reimt Overbeck in seinem Fischerlied:
e.
(Müller von der Werra.)
(Man beachte Lautmalerei und Allitteration.)
[436]f.
(Rückert, Rostem und Suhrab.)
12. Der Kettenreim.
Bei ihm reimt das Ende der Verszeile fortlaufend mit einem
Worte innerhalb des folgenden Verses, so daß sich der Reim wie
eine geschlossene Kette durch die ganze Dichtung zieht.
Beispiele:
(Fr. Schlegel.)
(Vgl. noch von demselben „Der welke Kranz“.)
Ähnliche künstelnde Spielereien finden sich mehrfach bei Rückert, z. B.:
Oder:
13. Das Echo.
Das Echo gehört (wie auch der Refrain) streng genommen zu
den Wiederholungen. Wir zählen es zu den Reimarten, da es lediglich
eine Wiederholung des Reimes ist. Zuweilen wiederholt es eine ganze
Verszeile und wird dann selbst zum Vers.
Das Echo bringt den Gleichklang zur höchsten Bedeutung und steigert so
das malerisch musikalische Moment. Zugleich wirkt es dadurch auf unsere
Phantasie, daß unsere Natur durch dasselbe am Reime spielend sich beteiligt.
Spanische Dichter des 16. und 17. Jahrhunderts, sowie die Pegnitzschäfer wandten
es mehrfach an. Auch bei den Romantikern findet man es, z. B. bei Tieck
im Oktavian, bei A. W. v. Schlegel im Waldgespräch, in Volksliedern, ferner
bei Rückert u. A.
Beispiele:
a.
(A. W. v. Schlegel, Waldgespräch.)
b. Jungfrau.
Echo.
Jungfrau.
Echo.
Jungfrau.
Echo:
Jungfrau.
Echo.
(Aus dem Wunderhorn I, 357. „Altjungferlied.“)
c.
d.
(Tieck.)
[438]Zur Vergleichung diene folgendes französische Echo aus dem 16. Jahrhundert:
14. Kehrreim oder Refrain (Rundreim == versus intercalaris).
Er ist eine stetige, regelmäßige Repetitionsform, bei welcher ebensowohl
einzelne Worte (ja sogar Empfindungslaute), als ganze Sätze
und Satzverbindungen wiederholt werden können. Wiederholung ganzer
Zeilen oder Strophen nennt man Kehrzeilen und Kehrstrophen. Je
nachdem der Kehrreim zu Anfang der Strophe oder in der Mitte, oder
am Ende derselben vorkommt, nennen wir ihn Anfangs=, Mittel= oder
Endkehrreim. Der End- oder Schlußkehrreim ist der wirkungsvollste,
da in ihm wie in einer Spitze Ton und Stimmung des Liedes ausläuft;
er wird vorzugsweise Refrain genannt. Behält der Kehrreim
seine Form durch das ganze Lied bei, so nennen wir ihn „fest“;
bleiben sich jedoch nur einzelne Teile desselben gleich, während andere
wechseln, so heißt er „flüssig“.
Der Kehrreim heißt bei den Lateinern wegen seiner Einschaltung in das
Gedicht versus intercalaris == Schaltvers. Bei den Griechen nennt man
ihn ὁ ἐπῳδός == Nachsang. Bei den Franzosen hieß er ursprünglich
Refloit, jetzt Refrain. Die Bezeichnung Kehrreim ist eigentlich nicht ganz entsprechend,
da es in der antiken Poesie, wie bei uns, Refrains giebt, welchen
der Reim fehlt (bei Catull vgl. z. B. 61, 62, 64; bei Theokrit Jd. 1 und 2,
deutsche Beispiele finden sich unten; diese Verse sind eben nicht Kehrreime,
sondern Kehrverse). Die französische Benennung Refrain (vom lat. refringere
== brechen, welche eigentlich „Sprichwort“ bedeutete), hat einen Vorzug, indem
sie an die stetige Wiederkehr der an der Küste sich brechenden Wogen erinnert,
─ entsprechend dem wogenden Rhythmus der Strophe, sofern derselbe im
Kehrreim einen Halt und einen Damm findet. Der Kehrreim ist aus den
gottesdienstlichen Lob- und Bitt-Gesängen hervorgegangen; an deren Strophenabsätzen
das Volk in das Schlußwort oder in die letzte Verszeile einstimmte,
die der einzelne Sänger vorgesungen hatte. Jm Volksliede entfaltete der Kehrreim
sodann seine größte Bedeutung, da dieses ursprünglich Chorgesang war und
den subjektiven Dichter ganz verleugnete.
Der Kehrreim verleiht ferner den religiösen Hymnen und den patriotischen
Liedern großen Effekt. Er verstärkt den Ernst und potenziert die Komik. Er ist
von Natur lyrisch, setzt aber eigentlich ein episches Gedicht voraus. Jmmer neu
drückt er die Empfindung aus, die durch die Reflexion des Erzählten angeregt
wird; er ist also die an die Epik angereihte Lyrik. Rein episch ist er, [439]
wenn er einen Bestandteil der Erzählung bildet, diese ergänzend und weiterführend;
rein lyrisch, wenn er der Empfindung des Dichters Ausdruck verleiht;
dramatisch, wenn er die Handlung redend fortleitet; didaktisch,
wenn er an den Verstand appellierend eine allgemeine Lehre enthält.
Der Lyrik und Epik (Balladen und Romanzen, die ja lyrisch=episch oder
episch=lyrisch sind) ist der Kehrreim besonders eigen. Jn architektonischer Hinsicht
ist er dem Volksliede insofern zu statten gekommen, als er in das lockere Gefüge
die festen Säulen stellte, an denen der lose Strophenbau einen Halt gewann.
So förderte er den Sinn für Symmetrie und lenkte zu einer harmonischen
Gruppierung der einzelnen Gedichtsteile. Wie das Versmaß und der Endreim,
so dient auch der Kehrreim dem allgemeinen Gesetze des Rhythmus, ─ der
Einheit in der Mannigfaltigkeit. (Vgl. A. W. Grube, Ästh. Vorträge II. 103 ff.)
a. Einfachste Art des Kehrreims und der unterbrechende
Kehrreim.
Einfachste Kehrreimart.
Als Beispiele für die einfachsten Kehrreime erinnere ich an die Jauchzerlaute
in Volksweisen (z. B. bei den Frühlingsliedern „heiaho, hollerei“); an
die Fidellaute im venetianischen Fischerlied („Fidelin, lin, lin“); an das „Ade“
in den drei Reitern; an das „O“ im schottischen Volkslied Edward (Herders
Stimmen der Völker); an den Tanzlaut traranuretum, traranuriruntundeie bei
Nithart (vgl. Bartsch, deutsche Liederdichter des 12. bis 14. Jahrh. 1879,
S. 103) u. s. w.
Unterbrechende Kehrreime.
Jnteressant ist der Kehrreim im folgenden italienischen Ständchen, wo er
die dritte Verszeile abbricht, um sie in der folgenden Strophe neu aufzunehmen
und zu vollenden:
Ähnlich komponiert ist der musikalisch und malerisch wirkende Goethesche
Nachtgesang mit seiner lieblichen Nachtmusik im Refrain:
Vgl. hierzu Schubarts († 1791) „Hirtenlied bei der Krippe“ mit
seinem Refrain: Schlafe! Himmelssöhnchen, schlafe!
Noch schärfer und schneidender ist die Unterbrechung im Volkslied vom
grimmigen Bruder, wo der Kehrreim selber wieder unterbrochen wird:
Welche Kraft liegt in dieser unbewußt kunstvollen Behandlung des Kehrreims,
der (als ein Urteil aussprechender Chor) die Schwester richtet, die ihre
Verbindung mit dem Ritter geheim halten und als Jungfrau gelten will!
Noch wirksamer gestaltet sich der Doppelrefrain in folgendem schottischen
Lied von Burns, das ich nach der Übersetzung W. Herfords gebe. Während
der erste Refrain einem Aufjubeln gleicht, stimmt der zweite das Gemüt herab:
b. Feste und flüssige Kehrreimsformen.
Jn den nachfolgenden Strophen ist der Kehrreim: „so freudevoll ─
so leidevoll“ gegenüber dem unveränderlich durch das ganze Gedicht hindurchgehenden
festen Schlußkehrreim: „es steht nach ihr mein Verlangen“
flüssig, da er sich nicht durch das ganze Gedicht hindurch behauptet.
c. Flüssiger Kehrreim.
Bei den epischen Kehrreimen, welche die Erzählung mit fortführen, kommt
der flüssige Kehrreim zu größerer Entfaltung, indem z. B. die Prädikate bleiben
und das Subjekt sich ändert oder das Subjekt bleibt und das Prädikat wechselt.
Vgl. z. B. Chamissos Gedicht „die Sonne bringt es an den Tag,“ wo
der Kehrreim auf siebenfache Weise so umgestaltet wurde:
1. 5. und 9. Strophe: Die Sonne bringt es an den Tag.
2. „ Du bringst es doch nicht an den Tag.
3. 6. 7. 8. 10. 11. „ Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
4. „ Was bringt die Sonne nicht an den Tag?
12. „ Sie bringt es doch nicht an den Tag.
13. „ Nun bringt's die Sonne an den Tag.
14. „ Die Sonne bracht' es an den Tag.
Welche musikalische Gewalt der Kehrreim im Volksliede hat, zeigen Lieder
wie dieses:
Das Volkslied hat sich bei flüssigen Kehrreimen nicht mit einfachen
Sätzen begnügt, sondern zuweilen ganze Satzverbindungen angewandt, so daß
ganze Strophen den Kehrreim bilden, indem eine Hälfte feststehend bleibt,
während die andere, sich umwandelnde, den flüssigen Kehrreim darstellt.
(Aus „Gesänge der Serben“ von Siegfr. Kapper II.)
Einen mustergültigen flüssigen Doppel-Kehrreim bietet das stimmungsvolle
Gedicht „Vögelein, zart und klein“ vom Herzog Ernst II. zu Sachsen-Koburg=
Gotha (in der als Manuskript gedruckten Gedichtsammlung „Aus frühen Tagen“),
das auch noch durch Abwechslung des trochäischen mit dem daktylischen Versrhythmus
wie durch sein strophisches Charakteristikum wertvoll genug erscheinen
dürfte. Wie eine feste Säule bringt der Kehrreim am Anfang und Ende der
Strophen Einheit in die bewegliche rhythmische Mannigfaltigkeit und steigert
den Gedanken von Strophe zu Strophe, um in der Schlußstrophe wie in
einer Spirale sich zum idealen Höhenpunkt empor zu ziehen:
d. Didaktischer Kehrreim.
Beispiel:
Die Lehre: Die Gedanken sind frei zieht sich durch die sämmtlichen
Strophen in lieblichster Weise hindurch und charakterisiert den Kehrreim
als einen didaktischen.
Bei Goethe, Uhland und Rückert finden wir noch sentimentale,
tragische, komische, humoristische, schwermütige, leichtsinnige, einsamklagende,
heitere, zarte, wie kräftig derbe didaktische Kehrreime.
Jch erinnere an Goethes „Sah ein Knab' ein Röslein stehn“; ferner an
den schönen Refrain in Gretchens Lied: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist
schwer!“ u. s. w.
e. Goethesche Kehrreime.
Folgendes Beispiel beweist, wie Goethe die Kehrreims-Jnterjektionen bereits
einführt, noch lange bevor es zum allseitigen Zusammensingen kommt:
Siebel.
Frosch.
Altmeyer.
(Ähnlich Rückert im Napoleon S. 40, wo das Sassá! Sasasá sasasássa
immer wieder in der Folge auftritt.)
Als Probe wie Goethe den festen Refrain des Volksliedes nachbildete,
erinnere ich an das sehnsuchtsvolle Mignonlied, wo der Refrain:
sehnsuchtsvoll alle Gefühle entfacht.
Auch im flüssigen Kehrreim hat Goethe Vorbildliches geleistet. Vgl. das
Gedicht: „Offene Tafel“, das mit dem Refrain schließt:
Nachdem Hänschen sechsmal ausgeschaut hat und Niemand kommt, tritt
die zweifelnde Frage im Kehrreim ein:
worauf die neue Form die Strophe schließt:
f. Uhlands Kehrreime.
Uhlands Lieder zeigen weder die kräftigen, derben, ja drastischen Kehrreime
des Volksliedes, noch die hinreißenden, schmelzenden Refrains der Goetheschen
Lyrik; es fehlt ihnen auch die Leidenschaft. Doch sind Refrains, wie
der im Trinklied, in Vorwärts, in Schwindelhaber, in Schäfers Sonntagslied,
in Frühlingsglaube, in Des Knaben Berglied, in das Glück von Edenhall
&c. schöne Beweise von Naturwahrheit und Frische. Von den beiden letzteren
schreibe ich einige Strophen her, um eine Probe des flüssigen wie des feststehenden
Kehrreims von Uhland zu geben:
Markig feststehend ist der Refrain in des Knaben Berglied:
g. Rückertscher Kehrreim.
Mehr als Goethe, Uhland u. A. hat Rückert, der sprachgewandte Meister
der Form, den Kehrreim in den verschiedensten Formen anzuwenden verstanden,
wobei wir freilich an vielen seiner Kehrreime die lyrische Kraft und
Unmittelbarkeit des Volksliederrefrains vermissen. Jn folgendem Liede (Ges.=
Ausg. I. 414) macht er den Anfangsvers zum Kehrreim:
Jm Gedicht „Um Mitternacht“ sind Anfangsvers und Schlußvers als
Kehrreim benützt:
Eine ganze Strophe benützt der Dichter als Kehrstrophe im folgenden
Gedicht des Liebesfrühlings:
Ein schönes inniges Gedicht in den Kindertotenliedern Rückerts zeigt uns
die Vereinigung des flüssigen und feststehenden Kehrreims:
Jn noch glücklicherer Weise hat der Dichter den dialektischen Strophenkehrreim
im Gedicht: Aus der Jugendzeit benützt. Durch die der Refrainstrophe
(Als ich Abschied nahm) bei ihrem zweiten Auftreten eingeschaltete
Zeile (War die Welt mir voll so sehr) wird der Sinn der ersten Refrainstrophe
flüssig gemacht. Aber bei der Schlußwiederholung erscheint die Strophe
in ihrer ursprünglichen Form, wodurch derselben eben die vollste lyrische Kraft
verliehen ist.
Ergreifend und begeisternd wirkt der Kehrreim am Anfang und am Schluß
der Strophe im Lied: „Das ruft so laut.“
(Rückerts Ges.=Ausg. I. 230.)
[449]Den flüssigen Kehrreim zeigt Rückert mustergültig im bekannten Kindermärchen:
„Vom Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen ─“ u. s. w.
Rückertscher Ghaselenrefrain.
Zur Vermeidung allzulanger Verszeilen in einzelnen Ghaselen hat Rückert
dieselben häufig in je 2 oder 3 Zeilen zerlegt. Es entstanden auf diese
Weise gefällige Strophen von 4 oder 6 Zeilen, bei welchen der identische
Ghaselenreim nun zum Refrain wurde.
1. Probe halbierter Zeilen:
Vgl. hiezu von Rückert aus den „Östlichen Rosen“: Jhr Freunde! Eures
Nachtdurchschwärmens seid eingedenk; ferner: Liebste! So im Herzen dein gedenk
ich; ferner: Wenn nicht mein Herz der Verwalter hier bliebe; ferner:
Die Liebste steht mir vor den Gedanken u. A.
2. Probe gedrittelter Zeilen:
(Rückert.)
Ähnlichen Refrain hat das Ghasel Rückerts:
Daumer hat in einer Nachbildung (Hafis S. 38) die Zeilen nicht so
oft gebrochen:
Gedrittelte Zeilen mit Refrain finden sich noch bei Rückert in den Östlichen
Rosen (Ausg. 1822) S. 230, 234, 250, 278, 313, 315, 317, 320.
Diese Ghaselen=Refrains, die durch Rückert eingeführt wurden, haben
durch ihre rasche Wiederholung und enge Verbindung etwas Überwältigendes.
Sie konzentrieren das ganze dichterische Empfinden um den einzigen Punkt
des Refrains, der meist feststehend, zuweilen aber auch flüssig erscheint. So
zeigt auch Rückert in der Behandlung des Refrains, wie seine Poesie in der
formellen Technik hochbedeutend ist und allen Freimunden der Zukunft als
Muster dienen kann.
h. Auswahl aus den Kehrreimen anderer Dichter.
Zum Schluß bieten wir noch einige der bekanntesten Refrains anderer
Dichter, um den Lernenden über die möglichen Formen desselben einen erschöpfenden
Überblick zu gewähren.
Clemens Brentano giebt in seinem bekannten Lied aus Ponce de
Leon einen freundlichen, in der 3. Strophe flüssigen Anfangskehrreim:
Jn wirkungsvoller Weise gebraucht Wolfg. Müller den stehenden Kehrreim
in seinem enggeschlossenen, tief empfundenen Gedichte: „Mein Herz ist
am Rheine,“ das er mit einer durch Veränderung der 5. Zeile flüssig gewordenen
Kehrstrophe architektonisch schön abschließt:
Müller von der Werra bietet in seiner Johannisrose den stehenden
Anfangs- und den flüssigen Schluß-Kehrreim:
Ergreifend wirken die Kehrreime von Georg Herwegh. Jch erinnere an
den stehenden (Mein ganzer Reichtum ist mein Lied) in dem berühmten Gedichte
„Leicht Gepäck“, sowie an den flüssigen im Reiterlied:
Julius Mosen benutzt die Eingangsworte als Refrain, nachdem er dieselben
wiederholt hat, um Alles im Blick nach drüben zu vereinigen.
Jm folgenden Gedichte Chamisso's ist der Refrain eine reimlose Zeile,
wie das meist in Strophen von ungleicher Verszahl der Fall ist.
Ähnlich verfuhr Chamisso in seinem Gedichte: Tragische Geschichte, wo
immer nach der zweiten Zeile der Refrain kommt: „Der Zopf, der hängt
ihm hinten.“
Einen schönen epischen Refrain bildet Scheffel in einem dem Täufling
Hermann Ganzhorn in Cannstatt geweihten Gelegenheitsgedicht, das auch
wegen seiner Accentverse und seiner onomatopoetischen Allitterationen und Assonanzen
beachtenswert ist:
i. Der Schaltvers.
Vom Refrain unterscheidet sich der sogenannte Schaltvers dadurch, daß er
eine Verszeile (Vers) an einer bestimmten Stelle der Strophe wiederholt.
Beispiel:
(Voß.)
15. Der Schlußreim.
Der Schlußreim besteht zwischen dem Schluß einer Verszeile und
einer oder mehreren anderen. Er ist die gebräuchlichste und wichtigste
Reimart. Jn den meisten Fällen versteht man unter Reim schlechthin
den Schlußreim, da in der That die Mehrzahl der Reime Schlußreime
sind (wie z. B. die männlichen, weiblichen, gleitenden, schwebenden,
identischen, reichen Reime, der Doppelreim und das Echo).
Jm Folgenden widmen wir der Stellung und Anordnung des Schlußreims
besondere Beachtung.
§ 139. Stellung und Aufeinanderfolge des Schlußreims.
Die Schlußreime sind bezüglich ihrer Stellung entweder in Paaren
einander folgend, oder sie sind mannigfach verschlungen. Die sich entsprechenden
Reimglieder nennt man die Arme des Reims.
Bei einem Reim mit nur zwei Armen ist dreierlei möglich: a. es reimt
sich Zeile auf Zeile (Reimpaare), b. es reimt die erste mit der dritten, die
zweite mit der vierten Zeile (gekreuzte Reime), c. ein Reimpaar umschließt
das andere (umarmende Reime). Bei einem Reim mit 3 Armen kann die
Stellung noch verschiedener sein (verschränkte Reime). Die Folge der Reime
heißt Reimverschlingung. Sie wird durch Buchstaben bezeichnet, so zwar, daß
die gleichen Reime gleiche Buchstaben tragen.
(Die erste Reimzeile bezeichnet man also mit a, ebenso die ihr entsprechende,
die zweite Reimzeile und die ihr entsprechende mit b u. s. w., die reimlosen
Zeilen bezeichnet man meist mit x.)
1. Gepaarte Reime oder Reimpaare (Dilettantenreime).
(Schema: aa, bb, cc u. s. w.)
Die aus dem Althochdeutschen überkommenen Reimpaare bilden
die allerälteste Form des deutschen Schlußreims. Wir finden sie in den
meisten althochdeutschen Gedichten, und zwar von Otfrieds Evangelienbuch
an bis in die neueste Zeit. Wegen ihrer häufigen Anwendung
von Dichterlingen und Reimschmieden kann man sie füglich als die
Dilettantenreime bezeichnen.
Jn Reimpaaren sind geschrieben: Das Ludwigslied (S. 43 d. B.);
Der arme Heinrich von Hartmann von Aue; Reinhart von Heinrich dem Glichesäre;
Reineke Vos; Edelstein von Bonerius; Gedichte von Hans Sachs (z. B. [455]
Das menschlich Herz, Der Frosch und die Maus &c.); Froschmäuseler von Rollenhagen;
Eulenspiegels guter Rat und Sprüche; Schwäbische Kunde, Siegfrieds
Schwert, Die Rache, der weiße Hirsch von Uhland; Es ging ein Mann im
Syrerland von Rückert, welcher auch das romantische Epos Nal und Damajanti
in altdeutschen Reimpaaren dichtete; Der Reiter und der Bodensee von Gustav
Schwab; Der Sohn der Witwe und Der alte Müller von Chamisso; Erlkönig,
Legende, und viele Sprüche von Goethe u. s. w. Der deutsche Spruch,
das Sprichwort, das Schnadahüpfl &c. lieben besonders die Form der Reimpaare.
Der Volksdichter, der die Kunstreime nicht kennt, hält sich meistenteils
nur an diese einfache Form.
Beispiele der Reimpaare:
1. Einfachste Form der Reimpaare:
a.
b.
c.
(Chr. Ad. Overbeck.)
d.
(Angeblich von Luther.)
e.
f.
g.
h.
(Luther.)
2. Beispiele älterer Reimpaare:
Man vgl. hierfür die Proben S. 222 u. 225 d. B.
3. Neuere Beispiele:
a.
(Uhlands Schwäbische Kunde.)
b.
(Fr. Rückert.)
[456]2. Schlagreim.
So nennt man denjenigen gepaarten Reim, bei welchem mehr als
zwei Verse fortlaufend mit dem gleichen Reime endigen. Die gleichen
Reime folgen einander so zu sagen „Schlag auf Schlag“. Sie können
männliche, weibliche, gleitende, schwebende Endung haben. Schema:
a a a oder a a a a oder a a a a a &c.
Beispiele:
A. Mit männlichem Schluß:
a.
b.
(Rückert.)
B. Mit weiblichem Schluß:
a.
b.
(Gellert.)
C. Mit schwebendem Schluß:
Häufig wendet Rückert den Schlagreim in den Makamen an.
Beispiel:
(Makamen S. 16.)
3. Gekreuzte Reime.
Schema: a b a b c d c d &c. oder a b c d a b c d &c.
(Rückert.)
4. Umarmende Reime.
Schema: a b b a.
(Rückert, Vierzeilen.)
Da die beiden ersten Strophen der Sonette umarmende Reime haben,
so verweisen wir für weitere Proben auf die Beispiele in § 165. Besonders
ist § 291, 6 zu vergleichen.
5. Verschränkte Reime.
Schema: a b c a b c oder a b c d a b c d.
a.
(Rückerts Kindertotenl. S. 266.)
[458]Für weitere Beispiele des Schema a b c a b c verweisen wir je auf die
letzten sechs Zeilen einiger im § 165 beim Sonett gegebenen Beispiele.
b.
(Rückert nach Schenk Ulrich von Winterstetten.)
6. Unterbrochene Reime.
Sie entstehen, wenn eine nicht reimende Zeile von einer reimenden
„unterbrochen“ wird oder umgekehrt, so daß nur die 2. und 4. oder
die 1. und 3. &c. reimen. Schema: x a x a oder a x a oder a a x a oder
a x a x.
Beispiele:
(Rückert, Ritornelle.)
(Rückert.)
§ 140. Anwendungsfähigkeit des Reims.
1. Der deutsche Reim ist eine Zierde ruhiger Maße, weshalb er
vorwiegend in unserer Lyrik und Epik zur Verwendung gelangt, wo
das musikalische Element auf Kosten des begrifflichen in den Vordergrund
tritt.
2. Seine Anwendungsbefähigung ist eine unbegrenzte. Doch bleibt
er im großen Drama, im Roman, in der Novelle &c. besser weg.
3. Auch ist er nicht am Platze in jenen antiken Maßen, in welchen
der Versrhythmus allzu vorwiegend das Ohr in Anspruch nimmt.
1. Der Reim bedeutet durch den sich an ihn knüpfenden starken Accent
eine Art sehendes Hören. Er verschafft unserer Poesie den gesteigerten Genuß
der Klänge. Er bietet den einzelnen Versen schmuckvolle Tonlichter und verleiht
ihnen dadurch ästhetische, metrische und mnemonische Bedeutung. Romanzen, [459]
Balladen, deutsche rein lyrische Gedichte &c. würden daher ohne Reim ihres vornehmlichen
Schmucks entbehren. Daß einem Genius auch Gedichte ohne Reim gelingen
können (vgl. Goethes Seefahrt, die Musageten, Morgenklagen, der Besuch,
Magisches Netz, der Becher &c.), beweist nichts gegen den Reim, da derselbe im
Fall der Anwendung sicher auch diesen Gedichten zur Zierde gereicht und ihre
Wirkung erhöht haben würde.
Jordan, der als Gegner des Reims der Einführung desselben „einen Teil
des nationalen Unglücks“ zuschreibt, an dem wir ein Jahrtausend zu tragen
gehabt, nennt ihn zwar den Verwüster und Verstümmler der Sprache und
namentlich den Zerstörer des Epos, für das Jordan jede Art Strophe verwirft.
Aber er will doch dessen bedeutende Wirkung und eigenartige Schönheit
bei gewissen Dichtungsgattungen (namentlich in gehobenen Stellen des Drama,
im poetischen Pamphlet, in der komischen Dichtung &c.) nicht leugnen. Er
sagt: „da wir seiner mächtig geworden sind und ihn mit Anmut und Wohllaut
zu verwenden gelernt haben, ihn wegen der Qual und Einbuße, die
das gekostet, wieder zu verbannen, ohne Hoffnung, das Verlorene dadurch
wieder zu gewinnen, das wäre gleicher Unverstand, als wollte man einen jetzt
passenden Hut fortwerfen, weil man ihn dreifach überzahlt hat, und weil er
eine Zeit lang zu eng war und Kopfschmerzen verursachte.“ Zum Trost meint
Jordan: „Ob auch Wohllaut und glatte Rhythmik schwieriger geworden sind:
an Konsonanzen, die dem stabreimenden Poeten eine Fülle milder und energischer
Akkorde zur Verfügung stellen, ist unsere Sprache reicher geworden,
denn die Vereinigungskraft ihrer Wurzeln hat ihre Weltflora seit den Zeiten
des Hildebrandlieds vielleicht verhundertfältigt.“
2. Trotz seiner unbegrenzten Anwendungsbefähigung bleibt der Reim in
großen Dramen besser weg, weil er der Handlung ästhetische Ruhepunkte
setzt, welche die Aufmerksamkeit ablenken. Ebenso kann der Reim entbehrt
werden im Roman und in der Novelle, sowie bei großen Epen, die der
Anschauungspoesie angehören, die sich also nicht vom Gefühl bestimmen lassen,
denen er mindestens eine Art zweizeiliger Strophe schafft, und somit die freie
Bewegung hindert. Ebenso kann er bei der Ode fehlen, sowie bei pathetischen
Monologen.
Jn jenem Drama, dessen Grundzug lyrisch ist (im dramatischen Gedicht),
oder durch das eine komische ironische, naive Wirkung erzielt werden soll,
(im feinen Lustspiel) ist der Reim nicht zu tadeln. Als Beispiele guter Verwendung
erwähne ich: Rückerts Napoleon, Platens Verhängnisvolle Gabel,
Goethes Faust, sowie (aus neuester Zeit). Doczi's Kuß.
3. Der Reim wurde nachweislich in allen Versmaßen angewandt. Dadurch
widerlegt sich die leichtfertige Behauptung, daß er nur für jambische und
trochäische, höchstens noch für daktylische Verse anwendbar sei. Allerdings
eignet er sich am besten für Jamben und Trochäen; aber er nimmt sich auch
ganz gut in kurzen anapästischen und daktylischen Reihen aus, sofern der Versrhythmus
kein Übergewicht über ihn erlangen kann.
Jm daktylischen Vers, besonders bei scherzhaftem Jnhalt, ist er ein unwesentliches
Zubehör, da er ja im günstigsten Fall nur das Gefühl des Scherzhaften
steigert.
Der daktylische Hexameter verträgt den Reim am allerwenigsten, weil der
künstliche Rhythmus dieses Verses die Aufmerksamkeit zu sehr für sich in Anspruch
nimmt und die Wirkung des Reimes aufhebt. Der Leser kann unmöglich
mit seinem Sinn beide Elemente (Rhythmus und Reim) im langen
Hexameter umfassen. Der Reim lenkt vom rhythmischen Element ab, welches als
äußerlich abgemessene Bewegung dem Gehörsinn ebenso nahe steht, als der
Reim. (Vgl. S. 354 u. 359 d. B.) Freilich haben Platen und Rückert
daktylische gereimte Verse geschaffen, aber sie fanden weder Erfolg noch Nachahmung.
Jn neuester Zeit hat der bahnbrechende Rud. v. Gottschall in seinen
„Neuen Gedichten“ nach Uzens Vorgang den Versuch gewagt, antike und
antikisierende Strophen durch den Reim unserem Ohre angenehm und genießbar
zu machen.
Jn ähnlicher Weise haben nur H. Stadelmann und Gravenhorst
Antikes modernisiert. Gottschall hat die Strophen gut auseinander gehalten,
er hat Überschreiten aus einem Vers in den andern (Enjambements) vermieden
und durch den Reim rhythmusunterstützende Ruhepunkte geschaffen.
Er hat dadurch bewiesen, daß auch lange, schwere, antike Strophen, die sonst
nur das Auge als solche aufzufassen vermag, durch den Reim auch für das
Ohr charakteristisch unterschieden werden können, ja, er hat den Rhythmus begrenzt
im Sinne Guests, der in seinem Buche („History of English
Rhythm.“ London 1838) treffend sagt, daß der Reim marks and defines
and thereby strengthens and supports the rhythm. &c.
§ 141. Auswahl der Reimart.
Welche Reimart hat der Dichter für die jedesmalige Dichtung
zu wählen?
Nicht für jedes Gedicht paßt jede Reimart, da die Dichtungen verschiedenen
Charakter haben. Männliche Reime eignen sich für kräftige,
bestimmte Dichtungen und Rythmen, weibliche für weiche Gefühle,
gemischte für gemischte Gefühle u. s. w. Bei jambischem Rhythmus
fügt sich der männliche Reim. Für trochäischen, ebenso für den daktylischen
(wegen der Schlußthesis) ist der weibliche Reim angezeigt.
Der männliche Reim ist die Offenbarung einer gewissen Kraft und Entschiedenheit,
der gegenüber der weibliche Reim das Jnnige, Milde, Weiche,
Zarte, Süße zum Ausdruck bringt. Der Charakter der Dichtungen bedingt also das
Reimgeschlecht. Wie z. B. Rückert bei ernsten, kräftig anfeuernden Gedichten (z. B.
Landsturmlied, Lied von der Leipziger Schlacht) den männlichen Reim anwendet, [461]
so sind beim Sonett, das ursprünglich bei Petrarca, Camoëns der
Liebe geweiht war, die 14 Reime weiblich. Rückert und Redwitz wählten das
Sonett für kräftige Kriegsgesänge, aber sie wandten auch in einzelnen Fällen
den männlichen Reim an oder legten wenigstens kräftig wirkende Stammsilben
in die Reimstelle, welche die angehängte tonlose Silbe hellstrahlend überleuchteten
(z. B. Schande, Blitze, Sitze, Strande, Rande, Spitze, Austerlitze, Vaterlande,
Gauen, Geheule, Vertrauen, Keule, bauen, Säule. Rückert Ges. Ausg. I. 15).
Flüchtige Bewegung, Lebhaftigkeit &c. wird man durch den daktylischen
Reim bezeichnen, dagegen einen Stillstand in der Handlung durch den jambisch=
(oder trochäisch=) spondeischen. So wertvoll für die Wirkung eines Gedichts
die anzuratende verständige, beabsichtigte Abwechslung männlicher und weiblicher
Reime sein kann, so sehr verrät Willkür in der Wahl der Reimart den
Dilettanten u. s. w.
§ 142. Architektonik des Reims.
1. Die Architektonik des Reims verlangt ein verständnisvolles
Abmessen seiner musikalischen Wirkung.
2. Sie zeigt sich auch in dem berechneten, engen Aneinanderfügen
der Reimklänge.
1. Die Wirkung des Reims ist eine ziemlich elastische und weitreichende.
Wir finden z. B. bei Platen und Rückert selbst noch den achttaktigen
Jambus gereimt. Dem Ohr wird es freilich ziemlich schwer, die sich entsprechenden
Reime auf einander zu beziehen, und es geht häufig die musikalische
Wirkung des Reims nahezu verloren, so daß nur die das äußere Gewicht
markierende architektonische Bedeutung des Reims übrig bleibt.
Für die musikalische Wirkungsweite der Reimklänge ist es jedenfalls von
Wert, wenn nicht zu viele Verstakte zwischen denselben liegen; namentlich dann,
wenn reimlose Reimpaare von gereimten umschlungen sind und die rhythmische
Pause verlängernd wirkt. Jn diesem Falle können die Reime musikalisch nicht
mehr auf einander bezogen werden, wenigstens wird die musikalische Wirkung
schwerlich mehr gut empfunden werden, z. B.:
(Oers Weißes Sachsenroß.)
Vgl. noch von Bürger: Knapp', schwemm' und kämm' mein Roß, wo
erst am Ende der 4. Verszeile das Reimecho „genoß“ kommt. Diese Reime
sowie die Reime Wald und hallt im vorstehenden Beispiel liegen für unsere Empfindung
offenbar zu weit auseinander. (Vgl. hierzu auch Alexis Aars „Herbstlied“, [462]
wo das umklammernde Reimecho nach zu Dach erst am Ende der
6. Verszeile kommt.)
Jm Sonett und in der Vierzeile steht der Gleichklang der ersten Zeile
mit dem der vierten Zeile in Beziehung. Bei so weit auseinander liegenden
Reimen muß der Dichter selbstredend besonderes Gewicht auf die eindringende,
materielle Bedeutung des Reims legen, auf die Kraft und Klangfarbe
der Vokale, auf den Wortaccent (Leid und Zeit wirkt z. B. stärker
als Herzeleid und jederzeit; Dach und Krach stärker als Dach und nach u. s. w.).
Dann aber ist bei der Deklamation von Gedichten mit weit auseinander
liegenden Reimen auf die Endpause als Versgrenze zu halten, die ja nur
rhythmischer Natur zu sein braucht (also nicht zugleich grammatisch=syntaktische
Pause). Mit anderen Worten: Der Reim ist tonlich und zeitlich auszuzeichnen,
z. B.
2. Enges Aneinandertreten der Reime und enges Verschlingen
derselben ist da geboten, wo ein buntes Mancherlei von Anschauungen und
Bildern kaleidoskopisch an der Seele vorüber ziehen soll. Wer dieses begreift,
wird Gedichte, wie „Göttin im Putzzimmer“ von Rückert (II, 109):
oder Goethes „Ameisenchor“ (Faust II. Werke XII, 126):
nicht ─ wie es geschehen ─ für Spielereien ansehen.
Wie finden übrigens genug Reimspielereien, die durchaus wohlgefällig
wirken, und bei denen es der Dichter verstand, der Künstelei fern zu bleiben,
was nachfolgende, gewandte Reimerei Rückerts beweisen dürfte:
Erst durch das Studium unserer besten Dichter gelangt man zur Überzeugung,
daß Maß und Reim keine zufälligen, willkürlichen Beschränkungen der
deutschen Sprache sind, sondern daß sie unserem Gedankenausdrucke Reiz und
Wirkung verleihen, ja, daß sie die mannigfachsten Äußerungen unserer Empfindungen
und Gefühle unterstützen und verschönen.
§ 143. Anforderungen an den Reim.
Die Anforderungen an den Reim umfassen: I. Reinheit, II. Neuheit,
III. Wohlklang und IV. Würde desselben.
I. Reinheit des Reims.
Die Reinheit des Reims verlangt:
1. Gleichartigkeit des Klanges der Diphthonge und der Vokale.
2. Gleichartigkeit der Konsonanten.
3. Gleichartigkeit der Silbenquantität.
1. Gleichartigkeit des reimenden Klanges der Diphthonge und
der Vokale.
Rein ist der Reim, bei welchem der betonte Diphthong oder Vokal übereinstimmt.
Die Reinheit des Reims verlangt also, daß auf den Diphthong im
Reimecho wieder ein Diphthong (z. B. schauen ─ bauen), auf den einfachen
Vokal wieder ein einfacher (z. B. Wand ─ Hand), auf den kurzen Vokal
wieder ein kurzer (z. B. Damm ─ Stamm), endlich auf den langen wieder
ein langer folge (z. B. Lohn ─ Sohn).
a. Diphthonge. Unrein ist somit der Reim, wenn sich folgen:
ei ─ eu, z. B. leidvoll ─ freudvoll, Wein ─ freun, eitel ─ Beutel,
Eiche ─ Seuche, neigen ─ beugen, schmeicheln ─ heucheln.
ai ─ eu, z. B. Mai ─ neu.
ai ─ äu, z. B. Kaiser ─ Häuser.
eu ─ äu, z. B. Heut ─ Geläut.
ei ─ äu, z. B. Weite ─ Geläute. Man vgl. Heines Frühlingslied:
Zu dem unreinen Reime Geläute ─ Weite kommen im vorstehenden
Gedichte noch die barbarischen Reime Haus ─ schaust. Das Gedicht hat seine
Beliebtheit weniger diesen Nachlässigkeiten im Reime als der Wahrheit des
Gedankens und der Ursprünglichkeit des Gefühls zu danken.
b. Vokale. Unrein ist der Reim, wenn sich folgen:
i ─ ü, z. B. zieht ─ Gemüt, frisch ─ Gebüsch, Spiegel ─ Flügel,
lieben ─ üben, richtig ─ tüchtig, schmiegen ─ fügen.
e ─ ä, z. B. bewegen ─ Schlägen, selige ─ überzählige.
e ─ ö, z. B. selige ─ fröhliche, Magdalene ─ Schöne, nennen ─
können, beten ─ Nöten, gesetzt ─ ergötzt, beschweren ─ hören.
ö ─ ä, z. B. höflich ─ sträflich, mögen ─ Schlägen, hört ─ erklärt,
unterthänig ─ König (Schiller im Ring des Polykrates).
Ungeachtet der unglückseligen Lehre Bürgers, daß man ö nicht zu blöken
und ä nicht zu bläken brauche, um das Anstößige des Reimes ö ─ ä zu
vermeiden, muß doch der Reim ö ─ ä als unrein verurteilt werden. Platen,
der dem Dichter eine mäßig gebrauchte Freiheit gestatten will, erklärt den
Reim ö ─ ä (Werke V, 43) „für eine Barbarei, von der in den alten Helden=
und Minneliedern keine Spur sei, und die wir den Meistersängern
und dem in den ästhetischen Handbüchern an die Spitze unserer Litteratur
erhobenen Opitz zu danken hätten, der sich wahrscheinlich einer korrupten
schlesischen Aussprache befliß &c.“
c. Kurze (⏑) und lange (–) Vokale oder umgekehrt. Unrein ist
der Reim, wenn sich folgen:
ă ─ ā, z. B. ăch ─ stāch, Făll ─ Thāl, Spăß ─ Grās, Găssen ─
Strāßen.
ĕ ─ ē, z. B. Hĕrr ─ Mēer, Wĕtter ─ Übertrēter, wēhren ─ zĕrren,
sēhnen ─ trĕnnen.
ŏ ─ ō, z. B. dŏch ─ hōch, Rŏß ─ grōß, wŏllig ─ wōhlig.
ĭ ─ ī, z. B. wĭll ─ vīel, Wĭlle ─ Stīele.
ŭ ─ ū, z. B. Flŭcht ─ Krūg, Schlŭß ─ Grūß, Grūß ─ Kŭß.
2. Gleichartigkeit der reimenden Konsonanten.
Die Reinheit des Reimes verlangt auch Übereinstimmung der Konsonanten
(z. B. Band ─ Hand, Wort ─ Hort). Unrein ist daher der Reim, wenn
die Konsonanten im Klang verschieden sind. Es dürfen sich also in der Regel
nicht folgen:
b ─ p. Unrein sind daher: Knabe ─ Knappe, rauben ─ Raupen,
schreibest ─ kneipest, liebst ─ piepst. (Vgl. übrigens weiter unten bei a.
S. 466 z. B. Abt ─ tappt.)
b ─ f, b ─ w, b ─ v. Unrein sind daher: Raben ─ schlafen (vgl.
Rückerts Barbarossa), Fabel ─ Tafel (Goethe, Fuchs und Kranich), beben ─
Löwen (Wieland), schöbe ─ Möve.
d ─ t. Unrein sind: Freude ─ heu'te, Boden ─ drohten, öde ─
erhöhte, schaden ─ nahten. Wo der Klang nicht verschieden ist, muß der Reim
d ─ t als rein gelten, z. B. scheiden ─ Zeiten, vergeuden ─ bedeuten,
Handel ─ Mantel, Boden ─ angeboten. (Vgl. unten a.)
g ─ ch, g ─ k, g ─ ck. Unrein sind z. B. Sieg ─ siech, Tag ─
Fach, Sarg ─ stark, Gesang ─ Dank, gemengt ─ denkt, singt ─ trinkt,
Weg ─ Dreck, mag ─ Geschmack. Bei gleichem Klang ist der Reim g ─ ch
rein z. B. Augen ─ brauchen, Berge ─ Lerche, zeigt ─ schleicht, Zweige
─ Reiche, zeugtest ─ leuchtest. (Vgl. unten a.)
h als stummes Dehnungszeichen wird übersehen. Rein sind also z. B.
Freie ─ Weihe, schreien ─ Reihen, befreien ─ verleihen, gut ─ ruht.
m ─ n. Unreinen Reim ergiebt die Verwechslung dieser Konsonanten,
z. B. ihm ─ fliehn, Scham ─ gethan, Odem ─ Boden.
s ─ ß ─ ss. Über Reinheit oder Unreinheit des Reims bei s ─ ß ─ ss
entscheidet die Aussprache. Unrein ist z. B. blasen ─ hassen, fraßen ─ Gassen,
Glaser ─ Wasser, riesig ─ bissig. Rein dagegen: Eis ─ heiß, las ─ saß,
weiß ─ leis, lasen ─ saßen, preisest ─ heißest, erwiesen ─ genießen.
(Vgl. unten a.)
z ─ ds. Unrein ist daher z. B. Mainz ─ Feinds.
Grenze der Zulässigkeit unreiner Reime im Vokal und
Konsonanten.
Die deutschen Dichter des 13. Jahrhunderts befleißigten sich einer peinlichen
Reinheit des Reims im Vokal und Konsonanten. Es kamen bei ihnen
nachweislich Gedichte von 50000 Verszeilen ohne einen einzigen unreinen Reim
vor. Von den Neueren ist Platens Reinheit der Reime zu rühmen. Dagegen
sind unserem formgewaltigen Fr. Rückert ein paar tausend unreine Reime in
seinen 200000 Versen nachzuweisen, obwohl gerade er im Streben nach Reinheit
des Reims bis zur pedantischen Übereinstimmung der Schreibung des Reimechos
ging. (So schreibt er beispielsweise: Odem ─ Bodem == Boden, Eisen ─
beisen, red' es ─ bedes == beides, sättigen ─ bestättigen, Spieß ─ bewieß,
Spindel ─ Bindel, Rede ─ Fede, Schätze ─ Gesätze, Kerze ─ Merze, Schimpfe
─ Nimpfe, Tafeln ─ Stafeln == Staffeln, Samen ─ zusamen. Noch fehlerhafter
sind seine Reime: Thoren ─ Zoren == Zorn, er schaltet ─ haltet == hält,
u. s. w. Freilich ist er nicht immer der Autor dieser Schreibweisen. Bodem
ist z. B. alte Form und noch im Dialekt lebendig; bestättigen ist eine verbreitete
ältere Schreibung; zusamen ist ursprünglich im Mhd. so geschrieben worden &c.)
Es hieße entschieden zu weit gehen, wenn man im Hinblick auf Rückerts
Beispiel verlangen wollte, daß in den Reimwörtern die Genauigkeit bei allen
Buchstaben peinlich genau durchzuführen sei. Der Reim ist für das Ohr und
nicht für das Auge bestimmt. Jn der Aussprache ist zuweilen der weiche Laut
so verhärtet, daß er mit dem harten ganz gut reimt (z. B. Preis ─ Fleiß,
Loos ─ groß, Gras ─ Fraß, Magd ─ sagt, Mord ─ Wort, sehr ─ Meer,
Plus ─ Kuß, Tag ─ nach &c.).
Daher kommt es, daß viele Reime, welche in der Schreibung unrein
erscheinen, in der Aussprache rein sind und somit in beschränktem Maße gestattet
werden können: a. in Hinsicht auf die Aussprache ihrer Vokale und Konsonanten
in der hochdeutschen Sprache, b. in gleicher Beziehung im Dialekt.
a. Jm Hinblick auf die Aussprache im Hochdeutschen.
Als rein kann der Reim angesehen werden, wenn sich die Aussprache der
reimenden Vokale und Konsonanten deckt. Dies ist häufig der Fall in den
Ähnlichkeitslauten:
ä ─ e. Hier kommt die verschiedene Aussprache unseres e in Betracht,
die selbst in dem gleichen Worte prinzipiell verschieden sein kann, z. B. in lehren.
Es kann daher ausnahmsweise reimen: Gräten ─ beten. Aus dem gleichen
Grunde ist nähren ─ leeren reiner als wehren ─ leeren. (Dialektisch wird
dieses Wort verschieden behandelt, bald wie französisch é, bald wie è. Dies
gilt noch mehr von lehren [goth. laisjar], das z. B. die Franken ganz anders
sprechen, als die Altbayern, welch letztere bekanntlich „aales“ oder wenigstens
„villes gedennt“ aussprechen, was wir schärfen und umgekehrt.)
eu ─ äu, also rein z. B. freun ─ dräun.
ai ─ ei, z. B. Hain ─ rein.
äh ─ e, z. B. Zähre ─ Cythere.
äh ─ ee, z. B. Ähre ─ Leere.
v ─ ph, z. B. Levir ─ Zephyr.
s ─ ß, z. B. Rose ─ große.
b ─ p, z. B. Abt ─ tappt.
d ─ t, z. B. scheiden ─ begleiten.
g ─ ch, z. B. Zweig ─ Reich.
bt ─ pt, z. B. erlaubt ─ Haupt (vom mhd. Houbet).
b. Jm Hinblick auf die Aussprache im Dialekt.
Die Gelegenheitsreime namentlich in komischen Poesien dürfen sich selbstredend
mehr nach der provinziellen Aussprache richten. So reimt man z. B.
in Meißen so:
Jn Schlesien aber reimt man so:
Brockes (in Weichmanns Poesie der Niedersachsen I. 2, Hamburg 1722) [467]
meint für jene Zeit, daß ein Schlesier reime: umsonst und Kunst, können und
beginnen; ein Sachse: Fürsten und knirschten, Löwen und geben, Riesen und
fließen, weiten und beiden; ein Niedersachse: Tag und brach, Glas und Faß,
weil der erste in dergleichen Wörtern seinem o und ö einen Ton giebt, der sich
dem u und i etwas nähert; der andere zwischen den st ein ch einzuschieben
gewohnt ist, und der dritte sein g am Ende recht wie ein ch ausspricht, welches
denen, die das g fast wie ein k vorbringen, eben so fremd klinget, als unsern
Ohren in Niedersachsen die oben erwähnten Beispiele unerträglich fallen.“
Dies gilt auch noch für unsere Zeit. Dabei ist zuzusetzen, daß die
österreichischen Dichter mehrfach gedehnte und verschärfte Vokale verwechseln
(z. B. will ─ viel, lassen ─ Straßen), die fränkischen ei und eu (z. B.
heilen ─ heulen, eilen ─ Eulen, Eifel ─ Teufel), die sächsischen e ─ ö und
g ─ ch (z. B. Berge ─ Störche), die obersächsischen und oberösterreichischen
g ─ k und ch ─ g (z. B. versank ─ klang == klangk, Schwank ─
Sang == Sangk, Wink ─ Ring == Ringk, blinkt ─ bringt == bringkt, kriecht ─
siegt, raucht ─ saugt, zeigen ─ reichen. Blumauer reimt: Sack ─ Tag ─
mag, indem er das g in Tag und mag wie k ausspricht). Von den Schwaben
sagt Kern (Stuttg. Gymn.=Progr. 1858): „Bekanntlich ist der Schwabe, wenn
man ihn seiner Natur überläßt, nicht im Stande, i und ü vor m und n auszusprechen,
sondern er setzt dafür ganz gesetzlich e, wie auch statt u in demselben
Falle o.“ Eine Eigentümlichkeit des Schwäbischen ist es, das aus a
stammende e in der Aussprache dem i nahe zu bringen, während umgekehrt
das aus i stammende e guttural gesprochen wird, was man außerhalb Schwabens
dadurch bezeichnen würde, daß man ä schriebe. Nun lautet jedoch das kurze i
ebenso weit fast wie e, so daß jenes aus a stammende e und dieses i gleichklingen,
somit also denken und trinken reimt, oder Bindle auf Bändle,
Kindle auf Händle, ferner Erbsünde auf Hände ─ Brände. Die Schwaben
unterscheiden übrigens ei in Reif (== pruina, ahd. hrîfo, engl. rope) und
Reif (== orbis) &c.
Aus der schwäbischen Aussprache lassen sich manche unreine Reime Schillers
in seiner ersten Periode erklären, wenn auch nicht entschuldigen, z. B. Menschen
─ Wünschen (in Leichenphantasie), wimmert ─ dämmert (in Melancholie an
Laura), nun ─ Ton (in Laura am Klavier), ferner: erschienen ─ grünen,
verjüngt ─ springt, Spiegel ─ Flügel, Zeus ─ Reis, Steige ─ Zeuge &c.
(in Klage der Ceres).
Jn Schillers „Die Götter Griechenlands“ finden sich folgende unreine
oder verfehlte Reime:
regiertet ─ führtet, drücken ─ Blicken, dreht ─ Majestät, geweint ─
Freund, gebieten ─ hüten, Feuer ─ Leier, Gestalten ─ wallten, Güte ─
blühte, Gespann ─ voran, gestiegen ─ Vergnügen, beste ─ Gäste, Stille
─ Hülle, Kuß ─ Genius, Notwendigkeit ─ Menschlichkeit, Sterblichen ─
Erinyen, an ─ kann, Blick ─ zurück, Trefflichkeit ─ Dankbarkeit, freuten
─ Zeiten, edelster ─ göttlicher.
Auf Schillers unreine Reime bezieht sich das bekannte Epigramm „Kennzeichen“
in A. Wendts deutschem Musenalmanach Jahrg. 1832 von A. W.
Schlegel:
Der Schweizer Bodmer reimte: Hunnen ─ ersonnen, kömmt ─ stimmt &c.
Bürger reimt: jener ─ schöner, Betrübten ─ Geliebten, gebeut ─
Schüchternheit &c.
Hölderlin: Schönen ─ Sehnen, verhüllt ─ gestillt &c.
Scheffel in den Bergpsalmen: Walkyren ─ führen &c.
Rückert in Barbarossa: sitzt ─ stützt, Barbarossa ─ Schlosse &c.
Aber auch Goethe hat viele unreine Reime, z. B. Getränke ─ Gelenke,
anführt ─ paralysiert, gehn ─ schön, verschmähn ─ stehn, Pfühle ─ Spiele,
Trübe ─ Liebe, Gehör ─ mehr &c.
Die meisten unreinen Reime findet man in Volksliedern, wo sich der Dialekt
oft allmächtig zeigt, wo aber auch das redigierende Volk manchen reinen Reim
durch die Aussprache unrein macht, oder ihn ganz und gar beseitigt. So sind,
─ um nur ein Beispiel anzuführen ─ zweifelsohne die Worte „wiedrum
kriegen“ und „groß und klein“ dem bekannten Volkslied „Prinz Eugen, der
edle Ritter“ erst später eingefügt worden. Ursprünglich mag dasselbe wohl
gereimt haben:
1. Strophe:
7. Strophe:
(Vgl. Sanders a. a. O. S. 116.)
Eduard Mörike, der die Gedichte Wilh. Waiblingers 1844 bearbeitete
und herausgab, fügte manchen unreinen Reim ein, und ein Freund verteidigte
diese Reime (in den Monatsblättern zur Ergänzung der Augsb. Allg. Zeitg.
Jahrg. 1845, S. 401): „Mörike will in einem freieren Gebrauch dieser
Form, worin nämlich Reime wie Stille und Fülle, Breite und heute
sparsam eingemischt werden, vorzüglich beim Sonett und der achtzeiligen Stanze
alles Ernstes eine Schönheit finden, indem dergleichen Lautmodifikationen, weit
entfernt, ein gebildetes, aber unbefangenes Ohr zu verletzen, vielmehr einigen
Reiz auf dasselbe ausüben, der auf vermehrter Mannigfaltigkeit beruhe. Die
gelinde Abbeugung von dem, was regelmäßig zu erwarten war, sei dem Gehör
als graziös willkommen. Hierin aber liege bereits die Forderung einer
sehr mäßigen Anwendung oder vielmehr Zulassung dieser Würze, die freilich
ungesucht sich nur zu oft aufdrängen will.“
Einer ähnlichen Anschauung huldigt Christian Kirchhoff-Altona im Deutschen
Dichterheim Jahrg. 1881. Nr. 9. Er setzt die Entscheidung über Zulässigkeit
unreiner Reime in das Ermessen des gebildeten Geschmacks, wogegen die Redaktion
durch die Erklärung sich verwahrt, „daß die Aufnahme dieser Ausführung
keineswegs die künftige Duldung unreiner Reime im D. Dichterh. zur
Folge haben werde“.
Wir müssen schon aus metrischen wie aus ästhetischen Gründen die der
Regellosigkeit Thür und Thor öffnende Anschauung von der Ungefährlichkeit
unreiner Reime bekämpfen.
3. Gleichheit der Silbenquantität.
Zur Reinheit des Reimes gehört es, daß die accentuierte oder arsische
Silbe reimt, nicht die thetische wie in den falschen Reimen Vergeßlichkeit,
Ewigkeit ─ Heiterkeit, Vorsehung ─ Behandlung, Spiegelung ─ Hoffnung,
feierlich ─ freventlich, hinein ─ Fältelein. Reine Reime müssen
auch hinsichtlich der Silbenquantität gleichartig sein, z. B. verderblich ─
unsterblich. Nicht aber verblich und unsterblich.
Es verstößt gegen die Silbenquantität wenn ein weiblicher Reim als
Echo eines schwebenden Reimes gewählt wird. Z. B. hēißt ēr ─ Mēistĕr
(== Mēistēr), nīmm ēs ─ Grīmmĕs, dāß ēr ─ Wāssĕr.
(Scheffel, Trompeter.)
„Er“ ist im letzten Beispiel so schwer, daß es einer Arsis gleich kommt;
man macht vor dem Wort unwillkürlich eine Vortragspause, weshalb man
durch den Gleichklang gezwungen ist, auch die Nachsilbe bei Trompeter zu
betonen, was durchaus unschön oder komisch klingt. Reden auf Trompeten
ergiebt gleich leichte Silben, nicht aber „gēht ēr“ und „Trompētĕr“.
Gegen die Quantität verstoßen ferner alle den gleichen prosodischen Betonungsgesetzen
widersprechenden Reimsilben oder Wörter, insofern Ableitungssilben
geringeren Ton haben als Reimsilben und somit kein reines Klang-Echo ergeben
können, z. B. Leid ─ Unaussprechlichkeit, Kraft ─ Ritterschaft,
klein ─ Mägdelein, Sinn ─ Schäferin, hin ─ Müllerin, Ding ─ Schmetter=
ling, Blütezeit ─ Vergessenheit, bereit ─ Seligkeit, Streit ─ Sicherheit,
Kraft ─ Mannschaft, klar ─ offenbar, Lamm ─ Bräutigam, Ruhm
─ Altertum.
Die Reinheit verbietet aus Gründen der Silbenquantität, Formwörter
(z. B. Präpositionen, Konjunktionen, Artikel, Ableitungs- oder Flexionssilben)
zur Reimverbindung zu wählen, z. B.
a.
b.
(Freiligrath.)
c.
d.
(Rückert.)
Gegen die Reinheit ist es, wenn auf eine hochtonige, ungereimte Silbe
unmittelbar die reimende folgt und durch die Bedeutung ihrer Stellung eine
Accentverschiebung veranlaßt. Z. B.
Die prosodische Reinheit fordert endlich eine solche Stellung des Reimworts,
daß sich der natürliche Leseton von selbst den Reimwörtern zudrängt. Das
Reimwort darf nicht den Satzaccent verschieben, wie in folgenden Beispielen,
wo es vor den Arsen Möros und Er die Silbenquantität verändert. Das
kurze schlich wird betont und lang, und das zum Wort spellt gehörige Er
bekommt den unverdienten Hochton:
a.
b.
Der Satzaccent ist: schlīch Mȫ́ros, nicht schlī́ch ÷ Mȫros &c. Ferner:
Mit scharfer Zunge spēllt ĕr, nicht spēllt ḗr &c.
II. Neuheit des Reims.
Sie haßt das bequeme Erfassen abgenutzter Begriffswörter (z. B.
Wort ─ Ort, Herz ─ Schmerz, Sonne ─ Wonne, Lust ─ Brust),
überhaupt alle trivialen, verbrauchten Gemeinplätze.
Um die Neuheit des Reims zu erreichen, ist selbstredend Neuheit des
Stoffes nötig. Dies hat nächst Rückert u. A. besonders Freiligrath begriffen. [471]
Rückert erschloß uns den Orient, und Freiligrath, der in Wüsten und Wälder
Afrikas und Amerikas führt, verpflanzt die Poesie aus den engen Räumen der
idyllischen Dachstube hinaus auf den großen mannigfach belebten Schauplatz der
Welt, der auch neue Reime bietet. Seine Reime überraschen mehr noch als die
Rückertschen durch ihre Neuheit. Jch erinnere nur an Reime wie Sevilla, Mantilla
(Piratenromanze), Nacken, Schabracken, Gnu, Karrou (Löwenritt), Cochenille,
Vanille (Scipio), Mantille ─ Vanille (Madrid), Mulatte ─ Fregatte (Florida),
Dschagga's ─ Quagga's (Am Kongo) u. s. w. Das Neue ist eben hier wirklich
Fremdes, Wälsches.
Platen sagt: Da schon früher durch Rückert, in seinen lyrischen Werken,
Formen behandelt wurden, die einen kunstvollen, vielfachen Reim erfordern,
so fällt die bekannte Ausrede von der Reimarmut der deutschen Sprache ohnedies,
wenigstens was den Reim betrifft, weg, und bloß die Armut bleibt als
Prädikat für ungeschickte Dichter übrig.
III. Wohlklang des Reims.
1. Der Wohlklang verlangt für die Reimstelle begrifflich wichtige
Stammsilben.
2. Er verbietet schwülstige Konsonantenhäufungen.
3. Er fordert Abwechslung im Reimgeschlecht und in den Reimwörtern.
4. Er verbietet Verletzung der grammatikalischen Regeln sowie
Unnatur in der Wortbildung, ferner den Gebrauch undeutscher oder
unverständlicher Wörter, (vgl. § 26), ferner die Auseinanderreißung
zusammengehöriger oder mehrsilbiger Wörter oder Satztakte, endlich
zu häufige Anwendung des e=Lautes.
5. Er fordert berechnete Lautmalerei.
6. Er haßt das Geschraubte.
1. Der Wohlklang fordert, das geistig bedeutungsvollste Wort des Verses
in die Reimstelle zu setzen, um dem Reim den Charakter des Erfrischenden,
Jnteressanten, Kräftigen, Bezaubernden &c. zu geben.
Bedeutungslose Zahlwörter, Hilfszeitwörter, Fürwörter &c. gehören nicht
in die Reimstelle, da sie mindestens matt und schwach wirken und höchstens
den Eindruck des Klingklangs erzeugen.
Man vgl. folgende unschöne Beispiele:
a.
(Bürger.)
(Die Reime hat, Stadt, und kann sind für den Jnhalt von minder
wesentlicher Bedeutung und verdienen nicht das Übergewicht des Klangs, das
ihnen die Stellung verleiht. Vielmehr liegt der Nachdruck in den Wörtern
selig und Liebchen, und dann in Graf, Fürst, die nun gar zum Nachteil
des Gedichts durch die betonten Reime tonliche Einbuße erleiden.)
b.
(Hölty.)
(Die inhaltlosen Reime sich und mich verdrängen die Wirkung der
bedeutenderen Wörter Kränze und dauern und verstoßen so gegen den
Wohllaut.)
c.
d.
(Freiligrath.)
e.
f.
(Schiller.)
g.
h.
(Rückert.)
2. Der Wohlklang verbietet Konsonantenzusammensetzungen,
wie stand'st, sandt'st, trompet't u. s. w.
(Bürger.)
3. Der Wohlklang verlangt Abwechslung der Reime, was nicht
Beschaffenheit und Geschlecht des Reimworts betrifft (also männliche zwischen
weibliche Reime). Es ist ermüdend, ganze Gedichte auf keit und ung, Liebe
und Triebe, Herz und Schmerz gereimt zu sehen. Triviale Reime sind
ohnehin nur in Verbindung zu gebrauchen; z. B. Weltschmerz, Eisenherz.
4. Der Wohlklang verbietet unnatürliches Schrauben der Wortfolge, Verstümmelung
der Wörter, Provinzialismen, Fremdwörter &c.
Beispiele:
a.
(Rückert, Die Gräber zu Ottensen.)
[473]b.
c.
d.
(Rückert.)
Der Wohlklang verwahrt sich gegen Auseinanderreißung des Reimworts:
Oder:
(Voß.)
Ebenso verwahrt sich der Wohllaut gegen die Unsitte, notwendig zusammengehörige
Satzteile (Satztakte) z. B. nach Artikel, Bindewort, Verhältniswort,
Fürwort &c. auseinanderzureißen, die zwar im reimlosen Redevers, nimmermehr
aber im Reimvers getrennt werden dürfen, da gerade die Absicht des Reims
ist, Trennung aufhebend, d. h. verbindend zu wirken.
a.
b.
c.
d.
(Rückert in Die Nachtigall.)
e.
(Rückert in Beruhigung.)
f.
(Göckingk.)
Vgl. auch die obigen Beispiele c. d. e. h. S. 472 und a─d. S. 470 d. B.
[474]An Schillers Trennungen hat man sich gewöhnt, z. B.
Gegen den Wohllaut sind die vielen Reime auf den doppelten e=Laut,
wie leben : streben, gehen : stehen. „Solche Reime,“ sagt Heine, „muß man
nach Möglichkeit vermeiden, es ist kein Metall darin.“
5. Der Wohlklang fordert berechnete Lautmalerei, wovon sich in § 28
und 138. 10. S. 434 Proben genug finden. Gegen eine Überkünstelung
sträubt sich jedoch unser Gefühl. Man vergleiche z. B. das nachfolgende
reimspielende, tändelnde Gedicht, das uns durch sein Formübermaß unnatürlich
erscheint, da in der That durch den Klang die Dichtung musikalisch zugedeckt
und diese klingklangmäßig unschön wird.
6. Endlich fordert der Wohlklang, daß die Verschlingung der Reimverse
keine allzu gekünstelte, verwickelte, geschraubte sei, weil dadurch die musikalische
Wirkung aufgehoben werden würde.
IV. Würde.
Gegen die Forderung der Würde verstoßen gewöhnliche, gemeine,
unedle Reimworte, die man beim Druck nur durch Punkte bezeichnen
möchte.
Wir verweisen zur Probe auf S. 111. 7. 1. d. B., sowie auf das
bekannte Gedicht Bürgers an Göckingk mit Reimen wie Katzendreck, endlich auf
einzelne Blumauersche Verse (vgl. § 146. S. 484 d. B.), die ebenso würdelose
Reime enthalten, wie manche Gedichte Heines. (Vgl. S. 99 d. B.)
Viel eher möchten wir für die Komik berechnete gewöhnliche Reime mit der
Würde des Reims vereinbar halten, wie z. B.
Ein großer Verstoß gegen die Würde ist es, wenn durch den Reim unnatürliche
oder gar plebejische Zerreißungen von rhythmischen Reihen erfolgen,
welche zu ablenkenden unwürdigen Betrachtungen herausfordern. Wenn z. B.
nach Maßgabe des Rhythmus in dem nach der Melodie: „Was mein Gott
will, das g'scheh' allzeit“ komponierten Kirchenlied „Sei Gott getreu!“ (vom
biederen, sonst verdienten Mich. Franck, † 1667 zu Koburg) der andächtige
Christ in der 2. Strophe singen soll: „Sei Gott getreu, laß keinen Wind“ [475]
(das Reimecho der 3. Zeile lautet: Jst er dein Vater, du sein Kind), so
klingt diese Zeile wie eine Profanation, deren verletzenden Eindruck die 2. Zeile:
„Des Kreuzes dich abkehren“ nicht zu verwischen vermag u. s. w. Dies haben
einzelne Herausgeber von Gesangbüchern gefühlt, weshalb sie die Stelle, die
sich u. A. im alten Augsb. Gesangbuch Nr. 258 noch in ihrer Ursprünglichkeit
findet, abänderten in: „Laß dich den Wind des Kreuzes nicht abkehren“.
Alb. Knapp hat mit feinem Takt die ganze Strophe getilgt. (Vgl. Evang.
Liederschatz, Stuttgart 1837. Nr. 1657.)
§ 144. Zur ältesten Entwickelungsgeschichte des deutschen
Vollreims.
1. Der deutsche Vollreim tritt in einzelnen Spuren und Anfängen
bereits in unserer ältesten poetischen Litteratur auf. (Vgl. § 124.)
2. Systematisch gebraucht findet er sich zum erstenmale in Otfrieds
Evangelienbuch. (Vgl. S. 43 und 222 d. B.)
3. Heinrich von Veldeke brachte ihn Ende des 12. Jahrhunderts
zur Blüte.
1. Jn keimartigen Anfängen zeigt sich der Reim schon in den allerältesten
allitterierenden Gedichten unserer Litteratur, z. B. im ersten der Merseburger
Heilsprüche (vgl. Grimm, Abh. d. Berl. Ak. 1842. S. 19):
Auch im Wessobrunner Gebet finden sich Keime des Reims neben der
herrschenden Allitteration, nämlich die reimende Tautologie enteô ni uuenteô,
ferner die Reimwörter widarstantanne ─ piwîsanne ─ gauurchanne,
endlich die otfriedisch gebildete Verszeile: in dîno ginâda rehta galaupa.
Das Hildebrandlied hat folgende Reimzeilen:
Vers | 15. | Dat sagêtun mi usere liuti. |
„ | 22. | arbeolaosa (er rêt ôftar hina) dêt. |
„ | 56. | in sus hêremo man hrustî giuuinnan. |
„ | 58. | der si doh nu argôsto ôstarliuto. |
„ | 67. | unti im iro lintûn luttilô uurtun. |
Jm Muspilli (vgl. das Beispiel in § 132. S. 413 d. B.) finden sich
solche:
Vers | 32. | Uuânit sih kinâda diu uuênaga sêla. |
„ | 66. | diu marhâ ist farprunnan, diu sêla stêt bidungan. |
„ | 67. | ni uueiz mit uuiû puoze sâr verit si za uuize. |
„ | 85. | denne varant engilâ uper diô marhâ. |
Jn lateinischen litterarischen Denkmälern unseres deutschen Volks (z. B.
in der lex salica, in der vita Sancti Galli aus dem 8. Jahrh. &c.) findet
sich der aufkeimende Reim bereits lang vor Otfried, der ihn freilich in seinem
Evangelienbuch zum erstenmal konsequent anwandte, übrigens aber keinerlei
Anspruch auf seine Erfindung macht und machen kann. (Vgl. Kelle a. a. O.
S. 89 und 90.)
Sonst findet sich der Endreim noch im 9. Jahrh. im Bittgesang an den
h. Petrus, ferner in Christus und die Samariterin. (Vgl. Müllenhoff, Denkmäler
deutscher Poesie und Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrh. S. 44 ff.)
Reimähnliche Wendungen und natürliche Reimformeln, wie wir solche im § 126
geben konnten, ferner die gereimten sog. Bauernregeln &c. herrschten bei uns
lange vor Ausbildung des Reims, welcher ganz ursprünglich wohl nur in
Sentenzen gebraucht worden sein mag: als das gleichtönende Gereimte in
auseinander liegenden Schlußsilben.
2. Zur Herrschaft gelangte der Vollreim ─ wie erwähnt ─ durch seine
Verwendung im Otfriedschen Evangelienbuch seit 868 n. Chr.
Über Otfrieds Metrik habe ich Wesentliches auf S. 222 d. B. gegeben.
Jch füge hinzu, daß bei Otfried die Reimzeile der Allitterationszeile genau
entspricht, und daß bei der Reimzeile nur das versregelnde Band ein anderes
war. Die ursprünglich nur durch Allitteration aneinander geschlossenen zwei
Vershälften werden in der Reimzeile durch die Endreime weiter untereinander
verbunden. Daher müssen auch (Kelle a. a. O. S. 94) je 2 durch den Reim
gebundene Zeilen als eine Langzeile aufgefaßt werden, daher bilden ferner bei
Otfried je 2 Verse eine Strophe. Die Allitteration war zu Otfrieds Zeit und
später noch nicht verschwunden; die alten Reime waren überhaupt häufig noch
allitterierender oder assonierender Natur. Der Assonanz mußte der Reim selbst
noch im 11. Jahrhundert weichen.
Otfried hat durch 2 Accentzeichen meist die 1. und 3. der 4 Arsen in
der Zeile hervorgehoben, also die beiden Dipodien in ihren Anfängen. (Vgl.
S. 222 d. B.) Auf diese Weise übte er die Betonung, die in der Folge
immer größeren Einfluß gewann und durch den Schlußreim (den gewissermaßen
musikalischen Schluß=Ton) noch mehr gepflegt wurde. So begründete Otfried
unbewußt den Schlußreim als den stärksten Accent, der nach und nach
die Blüte und höchste Steigerung, ja das Ziel wurde, zu welchem das Steigen
und Sinken der ganzen Tonreihe hineilte, der sich im bedeutendsten Wort=
und vollen Zusammenklange zeigte, ja, der ankündigend und aufrufend nah und
weit entfernte Zeilen verband und so überhaupt durch die mannigfachsten
Wechsel und Verschlingungen vor allem den Bau der Stanze oder Strophe
bestimmte. (Westphal.)
3. Mit Heinrich von Veldeke (auch Fr. von Hausen darf als Miteröffner
der klassischen Periode lyrischer Technik genannt werden) tritt Ende des
12. Jahrh. die siegreiche und unbestrittene Herrschaft und die genaue
Beachtung des Vollreims ein, wenn auch die vollständige Regelung des Versmaßes
erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrh. nach Veldekes Vorgang sich [477]
vollzog. Heinrich von Veldeke bedeutet somit eine Art Epoche im
historischen Entwickelungsgang des im Minnesang zur höchsten
Blüte gelangten Vollreims. Mit ihm beginnt die eigentliche Periode
des genauen Reims, die bis Mitte des 13. Jahrh. währte. Hatte man
seither (bis Mitte des 12. Jahrh.) immer stumpfe (männliche) Reime verwendet,
so entstanden mit Abschleifung der Endsilben auch weibliche Reime.
Es bürgerten sich die aus der althochdeutschen epischen Langzeile hervorgegangenen
Reimpaare ein: die sogenannten höfischen Reimpaare.
§ 145. Erstarkung des mittelhochdeutschen Reims und seine
Weiterbildung bis in die Neuzeit.
1. Der Vollreim in der klassischen Periode höfischer Lyrik zeigt
bereits, daß unsere Sprache für den Reim recht gut geeignet ist.
2. Der weibliche Reim wurde erst seit Heinrich von Veldeke
gepflegt. Man stellte das streng regelnde Gesetz auf, daß von den
zwei Silben des weiblichen Reims die erste betont sein müsse (─́ ⏑).
3. Man betonte behufs Herstellung männlicher Reime auch Ableitungssilben
und begründete dadurch Zusammenklänge mehrsilbiger
Wörter.
4. Mit der Abschwächung betonter Endungen war auch der gleitende
Reim erfunden (– ⏑ ⏑).
5. Durch den kräftigen Tonfall des Reims unterschied man für
die Folge die Reimzeilen, so daß man neben den Reimpaaren wie
von selbst zu den künstlichen Reimverbindungen gelangte: zu den sog.
Tönen oder Strophen, die sich zum Teil bis in die Gegenwart erhalten
haben.
6. Die Regellosigkeit des Reims nach der Blüte der Poesie im
Minnesang (vgl. S. 48 d. B.) fand ihren Abschluß erst im 18. Jahrh.
endgültig durch Platen, den Begründer des reinen Reimes, sowie durch
Bürger, Goethe und Rückert, den Reimkünstler.
1. Der mittelhochdeutsche Reim zeigt, daß unsere ursprünglich schon in
der Allitteration wie in der Assonanz betonende Sprache wie keine zweite für
den eigentlichen Reim geeignet und bestimmt war. Durch ihre vor allen andern
verwandten Sprachen am mächtigsten auftretenden Flexionen und eigentümlichen
Verwandlungen des Worts im Grund- und Wurzellaute, in dem
Ausdrucke der meisten Verhältnisse des Worts und in seinen mannigfaltigen
Bildungen durch bloße Lautveränderungen (Ablaut- und Umlaut), zeigt sie
einen angestammten, lebendig bildenden Trieb, der, wenigstens durch Umlautung,
zum innern Ersatze der abgeschwächten oder geschwundenen Flexionen fortwirkt.
Wie durch dieses Schwinden die Sprache immer einsilbiger und zweisilbiger
geworden, so zog sich der Reim immer tiefer in die Wurzel und
zu seiner wahren Bedeutsamkeit zurück, so bereitete sich der weibliche [478]
Reim vor. Diese tiefe, den Stamm erklingen machende ursprüngliche Bedeutsamkeit
des Reims, welche als Stimme der Dichtkunst überall die schöne Antwort
der Echo, den wurzelhaften Klang der Sehnsucht sucht und findet (vgl. Wetzlav
Bd. III, 85), welche ferner die Wissenschaft der Wortforschung begründet und
zwischen welcher das Wortspiel in der Mitte stand, ─ war somit unserer
Sprache seit jeher eigen.
2. Nach Einführung des weiblichen Reims seit Heinr. v. Veldeke und
Fr. v. Hausen wurde es feststehendes Gesetz, nur diejenigen zweisilbigen
oder weiblichen (klingenden) Reime gelten zu lassen, deren erste Silbe lang
war, und zwar entweder durch Verdopplung des Vokals (z. B. ü, i oder ie)
oder durch entsprechende Verdopplung des Konsonanten, wozu auch ch gehörte.
Zweisilbige Wörter mit kurzem Vokal und einfachen Konsonanten hatten nur
den Wert von einsilbigen, mit denen sie auch reimten (z. B. sich auf sihe).
Somit wogen in jener Zeit noch zwei kurze Silben wie eine lange.
3. Zu beachten ist die frühere Betonung (also Länge) von Ableitungssilben
und Endungen, die wir nicht mehr betonen, d. i. der Umstand, daß
der Versschluß accentuierend und quantitierend zugleich war, z. B.
managī Menge, manōn und manōt mahnen und mahnet, geringelōt als
Reim auf nōt, verwandelōt auf rōt, pferīt auf gīt (bei Reimar von
Zweter), grâwè auf alwárè (Endungsreim bei Spervogel), wúnnè auf kundè,
hémedè auf édelè (Kürenberg). Man reimte ganze Worte, z. B. ságenè
auf klágenè (Nibelungen), gúotè auf múotè (Nithart), notèn auf guōtèn,
kúndè ─ gúndè (Nifen), irscouōtī ─ wórōltī (Welté), irsagētī (aussageté),
garotá ─ worahta, manimuntī und miltī. Evangelgé reimt
auf das Adjektivum dui quelgé, lebetá und klebetá, kíndò und líndò,
ríchì und kuminkríchì u. s. w. Es ergab sich dadurch ein tonlicher Zusammenklang,
und Worte wie túgidá, múgendé, augeté etc. mögen geklungen
haben wie die Rückertschen Reime: Klīngeklāng: Schlīngeschlāng,
und Mūnd den Prēis: ūnd den Schweīß, oder Goethes Wērdĕlūst: Ērdĕ=
brūst, obwohl man (den Reim geloubete: augete ausgenommen) ähnliche
Reime noch nicht fand.
4. Es machte sich in der Folge wie von selbst, daß die Endungen und
Flexionssilben im Reime tonlich immer mehr abgeschwächt und an Zeitdauer
gekürzt wurden und die Stammsilben den Nachdruck erhielten, so daß z. B.
Reime wie sagené und klagené (im Nibelungenepos) sāgĕnĕ klāgĕnĕ lauten
mochten. Dadurch war der gleitende Reim von selbst geschaffen.
Die Meistersänger nannten ihn den „überklingenden“.
5. Allmählich unterschied man den Tonfall der Reimzeilen, wodurch sich
naturgemäße und gekünstelte Reimverbindungen ergaben, ein reicher Wechsel
von Reimen und soviel Verschlingungen und Wiederholungen, daß die Reime
in ihrer Beziehung oft unnatürlich erscheinen mußten. Die regelmäßige Wiederholung
der Reime in rhythmischen Abschnitten bildete Strophen oder Töne
(wie die Minnesinger benannten). Zu welcher künstlerischen Ausbildung die
Reimverschlingung übrigens bereits zur Zeit der Minnesinger gediehen war,
möge folgende auch im § 193 und § 207 zu behandelnde, das Gesetz der
Dreiteilung zeigende Strophe Walthers von der Vogelweide beweisen:
Reimschema: a b b a | c d c e | f g g f.
Welt, ich hân dînen lôn ersehen: (a)
swaz dû mir gîst, daz nimest dû mir; (b)
Wir scheiden alle blôz von dir, (b)
scham dich, sol mir alsô geschehen. (a)
Ich hân lîp unde sêle (des was gar ze vil) (c)
gewâget tûsentstunt dur dich, (d)
nû bin ich alt, und hâst mit mir dîn gampelspil; (c)
ist mir daz zorn, sô lachest dû. (e)
Nû lache unz eine wîle noch: (f)
dîn jâmertac wil schiere komen, (g)
und nimet dir, swaz du unz hâst benomen, (g)
und brennet dich dar umbe jedoch. (f)
6. Trotz der hohen Entwicklungsstufe des Reims im Minnesang zeigt
derselbe im Meistersange (und namentlich im 15., 16., 17. Jahrh.) große
Regellosigkeit, bis sich im 18. und 19. Jahrh. durch unsere besten Dichter
─ vor allem durch Platen ─ eine bis in die Gegenwart reichende Pflege
des Reims geltend machte, was aus den späteren Paragraphen zur Genüge
ersichtlich werden wird.
§ 146. Unterschied zwischen unserem und dem Otfriedschen
Reime.
Es ist jedenfalls von Wert, durch nachstehende Sätze wenigstens
andeutungsweise zu erfahren, wie sich aus dem Reime bei Otfried
(bei dem alle Reime noch stumpf waren, bei dem also der Reim nur
betonte Silben wie mein und dein verband, nicht aber unbetonte wie
mēinĕn, dēinĕn) der Reim zu einem der vornehmsten Kunstmittel emporgearbeitet
hat:
1. Der spätere Reim bevorzugte die Stammsilben.
2. Die Reime wurden mit der Zeit schöner und richtiger.
[480]3. Die Stellung der reimfähigen Wörter wurde kunstvoller als
im Althochdeutschen.
4. Zur musikalischen Befriedigung durch den früheren Reim
gesellte sich nach und nach die verstandesmäßige.
5. Der heutige Reim hat eine malende, onomatopoetische Bedeutung.
6. Durch Aufhebung der Betonung in der Schlußsilbe wurden
einzelne Wörter reimfähig, die es früher nicht waren.
7. Durch das Aussetzen des Reimes wirkten die übrigen Reime
nicht selten um so kräftiger.
8. Unser Reim kann auch mit Erfolg zur Erreichung einer
komischen Wirkung benützt werden.
1. Der heutige Reim bevorzugt die Stammsilben. Mit Zurückziehen
der Betonung (§ 145. 3 u. 4. S 478) von den Endsilben (z. B.
thinàn und minàn wurden zu deīnĕn und meīnĕn) verringerten sich die reimfähigen
Silben. Nur diejenige Silbe konnte für die Folge in die Reimstelle
eintreten, welche den eigentlichen Körper des Worts ausmachte, d. i. eben die
Stammsilbe. So wurde der Reim durch die Beschränkung auf die Stammsilbe
geistiger.
Die früher betonten Endsilben wurden in den Schatten gestellt, und die
Accentverschiebung oder die Zurückziehung des Accents auf die Stammsilbe
wurde die Mutter des deutschen Reims. Somit verhalf der Reim
der accentuierenden Metrik zum Sieg. (Vgl. S. 223 d. B.)
2. Unsere Reime sind schöner und richtiger als die althochdeutschen.
Wenn Otfried noch beispielsweise Land und Gewalt reimt, so
verlangte bald die klassische Periode der formgewandten Meister des Mittelalters
Übereinstimmung vom letzten Vokale der Stammsilbe des Reimwortes
an und begann eine so staunenswerte Reinheit des Reims, daß unsere Dichter
sie mehr als seither studieren sollten. (Vgl. § 143.)
3. Die Stellung unserer Reimwörter wurde kunstvoller. Dies
gilt besonders hinsichtlich der kunstvollen Verschlingung der Reimkette. Während
bei Otfried immer nur die zweite Zeile auf die erste reimt, haben wir seit den
Minnesingern eine unendliche Verschiedenheit der Reimstellung. So ist z. B.
in unserer Terzine der Reim der ersten und letzten Zeile durch die Mittelzeile
der je vorhergehenden Strophe bedingt; das Sonett ist ein aus mehreren Stockwerken
aufgebautes Reimkunstwerk; in der Oktave verbindet der Reim die ersten
6 Zeilen auf's engste, so daß die zwei denselben nachfolgenden Zeilen am
Schluß der Strophe als Abgesang empfunden werden und eine befriedigende
Wirkung erzielen. Jn unzähligen Strophen finden sich neue Formen der Reimverbindung,
was das Hauptstück von der Strophik ersehen lassen wird. So
erfüllt der Reim neben seiner auf Befriedigung des ästhetischen Gefühls gerichteten
Aufgabe den Zweck, durch seinen Sitz an den Hauptstellen der Verse
den Gedanken zu gliedern.
4. Zur musikalischen Befriedigung durch den Reim gesellte
sich bei uns nach und nach die verstandesmäßige. Man setzte in die
Reimstelle möglichst diejenigen Wörter, welche den vom Verstande oder der
Empfindung am hellsten beleuchteten Begriff ausdrücken, so daß also Form
und Gedanke an derselben Stelle ihren Höhepunkt fanden und der Reim
ein unlösbarer Bestandteil des poetischen Körpers wurde. Also: Hervorhebung
der Hauptbegriffe an der lichtvollsten Versstelle (der Reimstelle), auf die sich
die Aufmerksamkeit am meisten richtet, wurde Aufgabe und Zweck des Reimes.
Man teilte ihm die Stammsilben der Begriffswörter zu, die durch ihren Wortaccent
von eminenter Bedeutung für den Vers sind, insofern dadurch der Reim
in musikalischer, phonetischer und onomatopoetischer Hinsicht den Rhythmus zu
unterstützen befähigt wird. Der Klang der bedeutendsten Begriffe, die in die
Reimstelle geschoben werden, ist auf diese Weise über das Ganze hellstrahlend
ergossen, da die Erinnerung dieses Klanges immer eine Zeile lang andauert,
und nun erzeugt das Reim-Echo der korrespondierenden Zeile Übereinstimmung,
Ebenmaß, Gliederung, Verbindung des Musikalischen mit dem Verstandesmäßigen.
So ist z. B. von Goethe (der so einzig den Reim zur Gliederung des Gedankens
und zur Hervorkehrung der wichtigsten Satzmomente zu benützen verstand,
und dessen geniale Verwendung des deutschen Reimes im 1. Teil des
Faust von Jedem beachtet werden sollte) in allen wichtigen Fällen das
Begriffswort in die Reimstelle gestellt worden, so daß ihm schon aus diesem
Grunde einzelne äußerliche Ungenauigkeiten oder unreine Reime bei der sonstigen
inneren Bedeutung seiner Reime nachgesehen werden müssen. Man beachte,
wie er z. B. bei der Stelle im Faust: Geschrieben steht: Jm Anfang
war das Wort ─ mit großem Geschick und noch größerer Absichtlichkeit
die vier Begriffe: Wort, Sinn, Kraft, That in die Reimstelle brachte,
um ihnen so Bedeutung zu verleihen. (Vgl. S. 389.) Vielleicht hat er auch
hier in's volle Menschenleben hineingelauscht, das so oft den Hauptbegriff
durch den Reim betont (z. B. Eile mit Weile; Kunst macht Gunst u. s. w.).
Wir bieten noch ein Beispiel, in welchem die Hauptvorstellungen (Herz, Schmerz,
klemmen, hemmen) durch Versetzung in die Höhe der Reimstellung eine packende
Gewalt erreichen:
5. Der heutige Reim wurde mehr als je onomatopoetisch verwertet.
Die verstandesmäßige, absichtsvoll berechnete Behandlung des Reims
in unserer Zeit wußte die Wirkung desselben zu erhöhen, indem sie ─ wie
schon aus dem obigen Goetheschen Beispiel ersichtlich ─ jene die Einbildungskraft
anregenden bildlichen Worte von sinnlich nachahmender Kraft in die Reimstelle
brachte. Dadurch unterstützte sie den Rhythmus und deutete, im Voraus
den Begriff malend, onomatopoetisch an. Vgl. die am Schluß des § 28,
sowie in § 93 gegebenen Beispiele.
Weitere Beispiele:
a.
b.
(Bürger, Lenore.)
Man beachte, wie im vorstehenden Beispiele das musikalische Material
des Reimes ebenso im Konsonanten wie namentlich in dem Vokal gefunden
wurde. (Jch verweise auf S. 121 d. B.)
c.
Wie leicht und frisch, klar, sehnsuchtslos, die Lieblichkeit des Augenblicks
in genießendem Verweilen malend, klingt das i des Reims. Wie wonnig
steigernd wirkt je der folgende Reim, indem er die Fülle, das Ungemessene
zeigt, den Jnhalt charakterisiert. Wie ändert mit jeder leisen Wendung, mit
jedem neuen Gedankenbild der Reim seinen Klang und wie vereinen sich alle
diese milden, kosenden, kühnen, lebenden, schwebenden Klänge in dem Ganzen
zu wunderbarer harmonischer Wirkung.
Noch trefflicher malt der o=Reim in der Goetheschen Strophe:
d.
Mächtig wirkend drückt hier Goethe durch den klagenden vollen Klang
des o die Sehnsucht aus.
Vollends gesteigert wird die Wirkung des Goetheschen Gedichts „Nur
wer die Sehnsucht kennt“ durch Wiederholung derselben Reimklänge (Refrain).
Jn den Reimworten kennt, brennt, leide liegt das scharfe Empfinden des
Schmerzes; in Freude, Seite, Weite das Umfassende, Süße, Bestrickende,
Hinausdehnende, das der Sehnsucht Analoge. Jm höchsten Jktus der Strophe
stehend, mit wunderbarer Jnnigkeit in die Seele des Lesers hineintönend, prägen
sich diese Klänge des Schmerzes und der Sehnsucht in ihrer musikalischen Kraft
und Wahrheit dem Gemüt ein. (Das einzig Störende ist der unreine Reim
„Freude“.) Eine ähnliche Gewalt übt der Refrain des Goetheschen Gedichts
„O! gieb, vom weichen Pfühle“ (vgl. § 138. S. 440). Jn ergreifender Weise
charakterisiert er Stimmung und Gedanken.
Eine solche einzige Vollendung des Reims ahnte zu Otfrieds Zeit wohl
Niemand.
6. Vieles kann jetzt gereimt werden, was früher reimlos
war, z. B. die Reben ─ der Boden ist eben ─ wir leben u. A. Für Reben
sagte man ahd. repons, für eben epan, für wir leben lepêmes.
Repons, epan, lepêmes reimte nicht, wohl aber reimen heute Reben ─
eben ─ leben u. s. w.
7. Auch durch Aussetzen des Reims wirkt unsere Reimkunst.
Jn unseren großen strophischen Gebäuden ist das Aussetzen des Reims ein
vortreffliches Mittel, um zu überraschen, zu ergreifen, zu bewegen, was selbstredend
beim althochdeutschen Reimpaar nicht möglich war.
Beispiel:
(J. Grosse.)
Der in V. 5 erwartete Reim ist ausgesetzt. Es lag nahe zu schreiben:
Bis hoch zu ihrem Erker blüht der Baum. Vgl. noch das Veilchen von
Goethe, sowie Lucile Desmoulins von Gottschall. Weitere gute Proben finden
sich weiter unten bei den fünfzeiligen Strophen.
8. Unser Reim ist für Poesien komischen Jnhalts gefügiger.
Jm Gegensatz zum alten Otfriedschen Reim wurde dem Reim nach und nach
die Aufgabe leicht, hie und da auch eine komische Wirkung im niedrigen Stil
zu erzielen, was er meist durch komische Verdrehung und Nachahmung der
Woriformen erreicht.
Selbstredend haben hier die Gesetze des Reims nur sehr beschränkte Geltung.
Meist ist absichtlich gegen die Anforderungen an Reinheit, Wohlklang
und Würde verstoßen, um schon im Klang komisch zu wirken. Dem naiv
komischen Reime ist es eben gestattet, die Wortformen zu verstümmeln, Fremdwörter
anzuwenden und sonst unerlaubte Licenzen einzuführen &c.
Beispiele:
a.
b.
(Otto Hausmann in Nach der Mosel. 1879.)
c.
(Klopstock, in der Gelehrtenrepublik.)
d.
(Scheffels Teutoburger Schlacht.)
e.
(Eichrodt in Hortus deliciarum.)
Um komisch zu wirken, reimt Kopisch: wunderlich ─ absunderlich;
Goethe: Säule ─ Fräule u. s. w.
Viele erheiternde Reime bietet Blumauer mit absichtlicher, Blumauerscher
Zweideutigkeit, z. B.:
Für diese Art von Dichtungen, die Widersprüche einander gegenüber
stellen, paßt der gleichsam in seiner eigenen Parodie erscheinende Reim, der
die poetische Form mit dem prosaischen Stoff verbindet. Selbstverständlich sind
in dieser Verbindung Rhythmus und Reim oft gezwungen, willkürlich und spröde,
doch würden reine Formen zu dem komischen, losen Jnhalte wenig passen.
Rekapitulation.
Fassen wir Alles zusammen, was für Würdigung des heutigen Reimes
im Gegensatz zum Otfriedschen Reim in Betracht kommt, so erhellt, daß derselbe
nach und nach eine hohe Zierde der deutschen Rede geworden
ist, ebenso daß er durch inhaltliche Verbindung zweier
zusammengehöriger Verse nunmehr zur Gliederung und Einprägung
des Gedichts beiträgt, daß er den ästhetischen Genuß erhöht
und vollen Zauber sprachlicher Schönheit erschließt. (Vgl. S. 389 d. B.)
Rückert sagt über den so zur Schönheit und Vollendung gelangten heutigen
Reim treffend:
(Weisheit des Brahm. I. 58.)
Und seine Bedeutung illustriert er im nachfolgenden Gedicht:
Schopenhauer urteilt von unseren Reimen, daß sie durch ihre unbeschreiblich
emphatische Wirkung die Empfindung erregen, als ob der darin ausgedrückte
Gedanke schon in der Sprache prädestiniert, ja, präformiert gelegen habe und
der Dichter ihn nur herauszufördern gehabt hätte.
Leider finden sich in unserer Litteratur sehr viele schlecht gereimte Verse.
Manche Neueren, welche sich einreden, daß der Reim die Poesie ausmache,
während er doch nur ihren Schmuck bildet, verdecken durch ihn ihre
Armut an Poesie. Wie viele erbärmliche Reimereien würden ohne Reim nie
gedruckt worden sein; sie würden ohne Reim zu der alltäglichsten Prosa gerechnet
werden müssen, die niemals auch nur ein flüchtiger Hauch der Poesie
berührte! Zum guten Gedicht gehört neben dem Reim der poesievolle Jnhalt,
der auch bei unreinem Reime Poesie bleiben wird:
(Goethe.)
§ 147. Vorzüge unseres Reimes gegenüber dem Reime
anderer Sprachen.
Der deutsche Reim unterscheidet sich zu seinen Gunsten vom Reime
anderer Sprachen.
Wir betrachten einige der zunächst liegenden Sprachen.
Jn der lateinischen Sprache fällt der Reim auf die Endungen (z. B.
orum, arum, ibus, ubus, erimus, amus, imus, atis, erunt). Ebenso ist
es im Griechischen. Der Umstand, daß man im Lateinischen und Griechischen
den Reim nicht auf den Wortstamm legen kann, veranlaßte die besseren Dichter,
den lateinischen Reim zu meiden, da es ihrem Ohre widerstrebte, Endsilben,
in welchen nicht der ganze Wert des Wortes liegt, durch den Reim
auszuzeichnen und sie zur unverdienten Bedeutung zu erheben. Der Reim
konnte also hier höchstens Klingklang sein oder einer architektonischen Gliederung
und einem gehaltlosen Spiel der überraschten Wahrnehmung dienen. Wenn
Mönche des Mittelalters trotzdem lateinische Kirchenlieder reimten, so beweist das
nur ihren unreifen Geschmack und die allgemeine Neigung, alles mit gothischen
Schnörkeln zu verzieren; Musik konnte ihr Reim der Poesie nicht verleihen.
Es zeigt eine vollständige Unkenntnis der Gesetze des Reims, wenn selbst
noch in unserer Zeit lateinische reimklingende Verrenkungen mit überklassischen
Wendungen (wie arctum semperque arctiorem! ─ Goeben turget! ─
Werder urget &c.) oder mit Endungen wie im bekannten „Dies irae“:
Deutsch:
für Poesie ausgegeben werden. Diese matten Reime auf isti drücken nichts
aus als Zeit, Zahl, Person, aber weder Gefühl noch Empfindung. Die
Stämme im obigen Beispiel: solv, aud, ded, welche die sinnliche Bedeutung
enthalten, liegen außerhalb des betonenden Reims. Dagegen: wie
sinnlich anschaulich sind die deutschen Reime verzeihen, leihen, gedeihen.
Die Endungen sind hier alle einsilbig. Jm Lateinischen und Griechischen kommen [487]
durch die reiche Flexion zu viel Begrifflichkeit und Abstraktion in die Wörter,
aber kein sinnliches Moment für den Reim.
Ähnlich ist es im Jtalienischen, Spanischen, Französischen, wo
ebenfalls die Endungen überwiegen, weshalb die Reime trotz ihrer Reinheit,
zufolge des musikalischen, gesanglustigen Geschmacks dieser Völker geistlos und
ohne Kraft bleiben, wovon im Französischen höchstens Reime mit allitterierendem
Charakter (z. B. rendu ─ perdu im Gegensatz zum ungültigen connu ─
perdu &c.) ausgenommen sind. Diese Thatsache ist namentlich bei Übersetzungen
schwer in die Wagschale fallend. Der deutsche Übersetzer poetischer
Werke hat dadurch Schwierigkeiten zu überwinden, von denen fremde Schriftsteller
keine Ahnung haben mögen.
Die englische Sprache ist in Hinsicht des Reimes der deutschen am
nächsten verwandt. Da von ihren Wörtern fast nur die Stämme übrig geblieben
sind, so können ihre Wurzelwörter (ähnlich wie in unserer Sprache) in die
Reimstelle rücken und den Gleichklang erhalten. Dies ist der Grund, daß die
Engländer mit uns allen Nationen in der Lyrik überlegen sind.
Wir wählen zur Vergleichung des deutschen mit dem französischen und
dem englischen Reim 1. ein Bruchstück eines in Frankreich allbekannten und
beliebten Chanson, sowie 2. ein Lied aus dem Englischen, wobei wir die
deutsche Übersetzung beiden Gedichten gegenüber stellen.
1. Beispiel:
Aus den matten schlechten Reimen dieses 1. Beispiels, aus der gezwungenen,
quantitätswidrigen Betonung des Reimwortes Galgen im Gegensatz zu den
klingenden, farbenvollen Reimen, die sich bei der nachstehenden Übersetzung des
2. Beispiels wie von selbst ergaben, wird man die Vorzüge unseres Reimes (und
wenn man will auch des englischen) gegenüber dem französischen erkennen.
2. Beispiel:
My heart 's in the highlands, my heart
is not here;
My heart 's in the highlands, a chasing
the deer.
Chasing the wild deer, and following
the roe,
My heart 's in the highlands, wherever
I go.
Farewell to the highlands, farewell to
the north;
The birth-place of valour, the country
of worth;
Wherever I wander, wherever I
rove,
The hills of the highlands for ever
I love.
(Den Schluß dieses Gedichts bildet die Wiederholung der 1. Strophe.)
Wegen der Verwandtschaft des Englischen mit unserer Muttersprache ist
die fast wörtliche Übersetzung des vorstehenden Gedichts von den Reimwörtern
des Originals nicht zu weit entfernt, obwohl rove in bin abgeschwächt
erscheinen muß.
Siebentes Hauptstück.
Die Lehre von den Strophen. ──────
(Platen.)
§ 148. Begriffserklärung von Strophen und Alter derselben.
1. Unter Strophe versteht man die Vereinigung mehrerer Verse
zu einem metrischen Teilganzen, oder mit andern Worten: Strophe
ist eine Periode von mehreren unter einander verbundenen Verszeilen.
Bei einem längeren Gedichte dient meist die erste Strophe allen übrigen
dieses Gedichts als Muster.
2. Die Benennung Strophe ist griechischen Ursprungs.
3. Wie der Reim, so ist auch die Strophe eine Naturnotwendigkeit
der Poesie. Sie ist daher uralt. Die deutsche Strophik gelangte
in der mittelhochdeutschen Lyrik zur Blüte.
1. Erst wenn die Verse zu Versgebäuden, zu metrischen Teilganzen, d. h.
also zu Strophen verbunden sind, kann man ─ im Gegensatz zur Prosa ─
von einer gebundenen Rede sprechen. ─ Jm gewöhnlichen Sprachgebrauch
hört man häufig ─ namentlich bei Kirchenliedern ─ die Strophe als Vers
bezeichnen, obgleich der Vers oder die Verszeile nur einen Teil der Strophe
bildet.
2. Das Wort Strophe stammt von dem griechischen στροφή, d. h.
Wendung und bedeutet die Umwendung zur ursprünglichen Melodie. ─ Jn
den Chorliedern der Tragödie kehrten nämlich die Chormitglieder am Ende der [490]
Strophe in feierlich abgemessenen Schritten zur Hälfte nach rechts, zur Hälfte
nach links um, ähnlich wie es z. B. im Menuet français Tanzfiguren giebt;
daher der Name στροφή == Wendung. ─ Ursprünglich nannte man alle
Chorgesänge auf dem Theater Strophen. Sie zerfielen gleich dem Chore selbst
in 2 Abteilungen. Die eine derselben (die eigentliche Strophe) wurde von
jenen Choreuten abgesungen, welche sich von der Rechten nach der Linken
bewegten, während die andere (die Antistrophe) von den Choreuten gesungen
wurde, welche von der Linken zur Rechten schritten. Die Anti= oder
Gegenstrophe mußte der Strophe im Zeitmaß, im Metrum und im Rhythmus
genau entsprechen. An beide Strophenteile schloß sich häufig ein dritter
meist ungleicher Teil, Epodos (ἐπῳδός), der zumeist das Lied wie ein Refrain
oder Abgesang abschloß. War dies nicht der Fall, so begannen Strophen,
Gegenstrophen und Epoden von neuem.
Die Benennungen Strophe, Antistrophe, Epode erhielten sich und wurden
später auch auf Lieder und Einzelgesänge übertragen.
Opitz sagt in seiner Poeterei S. 49 ff.: Jn den Pindarschen Oden ist
die στροφή frei, und mag ich also soviel Verse und Reime dazu nehmen, als
ich will, sie auch nach Belieben einteilen und umschränken. Die Antistrophe
(ἀντιστροφή) aber muß auf die Strophe sehen und keine andere Ordnung
der Reime machen. Die Epode (ἐπῳδός) ist wieder ungebunden. Wenn wir
dann mehr Strophen dichten wollen, müssen wir den ersten in allem nachfolgen.
Er giebt folgendes Beispiel:
Trauerlied über das Absterben Herrn Adams von Bibran
auf Profen und Damsdorf.
Strophe I.
Antistr. I.
Epod. I.
Strophe II.
Antistr. II.
Epod. II.
Einzelne Verse (Verszeilen) als Glieder der Strophe nannte man Kôla.
Ein einzelner Vers bildete ein Kolon, sofern der folgende ein anderes Metrum
hatte. Gleichmetrige Verse galten zusammen nur als ein Kolon. Nach der
Anzahl dieser Kola benannte man die Strophen ebenso, wie man sie nach der
Zeilenzahl als Distichen, Tristichen, Tetrastichen, Pentastichen &c. bezeichnete.
Eine Strophe von 2 Kola hieß also Dikolon. Beispiel: Die aus vier Versen
bestehende sapphische Strophe, die man ein dikolisches Tetrastichen nennen könnte:
- – ⏑ – ⏑ – | ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑
- – ⏑ – ⏑ – | ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑
- – ⏑ – ⏑ – | ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑
– ⏑ ⏑ – ⏑ | Zweites Kolon.
Hatte eine Strophe 3 Kola, so hieß sie Trikolon. Beispiel: Die
alcäische Strophe, die man ein trikolisches Tetrastichon nennen kann:
- ⏑ – ⏑ – ⏑ | ⏑ ⏑ – ⏑ –
- ⏑ ⏑ – ⏑ | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ | Zweites Kolon.
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ | Drittes Kolon.
Die Franzosen nennen die Strophe Couplet; die deutschen Meistersänger
bezeichneten sie als Gesätz.
3. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Strophe schon sehr früh
in der Poesie aller Völker und bei uns bereits im heidnischen Altertum als
etwas Bekanntes gebraucht wurde. Nachweislich waren schon die cantica
rustica et inepta der vorkarolingischen Zeit strophisch abgeteilt, ähnlich den
Volksliedern bis in's 13. Jahrhundert. Einen Beweis für diese Behauptung
liefert das Galluslied aus dem 9. Jahrhundert, bei welchem in der Handschrift
die Noten über dem Texte zeigen, daß sich die Melodie je nach der
5. Zeile wiederholte: daß also 5zeilige Strophen bestanden. Auch
die lateinischen Hymnen der ersten christlichen Zeit waren strophisch geteilt.
Bei den Eddaliedern, dem Hildebrandslied und andern Heldenliedern (vgl.
S. W. Müller in Haupts Zeitschr. Bd. III. 447. und Lachmann, Abh. d.
Berl. Ak. 1833. 108) bestand ebenfalls Strophenabteilung.
Nach Kelle (a. a. O. S. 96) war die Strophe bei Otfried durchaus
nichts Neues; Otfried hat nur die Strophe wie auch den Reim (§ 144,
S. 476 d. B.) in größerer Ausdehnung angewandt, und insofern ist es nicht
unrichtig, von ihm Strophe und Reim herzuschreiben.
Ursprünglich bildeten wohl ein paar allitterierende Verse eine Strophe in
der elementarsten Form. Die erste Zeile enthielt in ihren Stäben die Stollen
des Aufgesangs, die zweite Zeile im Hauptstabe den Abgesang. Zwei durch
Endreime verbundene Zeilen ermangeln des Abgesangs; sie verlangen daher
noch ein zweites Paar. So entstand die aus 4 Kurzzeilen bestehende
Otfriedsche Strophe.
Die nordische Dichtung bildete diese älteste Grundform später zu künstlichen
Strophen aus. Die Volkspoesie gestaltete ihre Schöpfungen dem Ursprung [493]
gemäß, während die vornehmere Poesie bald in allerlei Künsteleien verfiel, die
den Rückschluß auf die Schönheit der Urform erschweren. Zur Zeit der mittelhochdeutschen
Lyrik mit ihrer kunstvollen Strophik wandte die Volkspoesie
die 4zeilige Nibelungenstrophe (§ 190) und die 13zeilige Bernerstrophe
(§ 193 b) an, die man auch den Berner Ton nannte, weil in diesem Ton
mehrere Sagen von Dietrich von Bern gedichtet sind. Die deutsche Kunstpoesie
baute bald dreigeteilte Strophen; die beiden ersten Teile oder Stollen bildeten
den Aufgesang, der letzte den Abgesang. Zeilenlänge, Zeilenzahl, Reimordnung
&c. bedingten eine große Mannigfaltigkeit in den Strophen. Die dreiteiligen
Strophen der Meistersänger hatten bis 100 Reimzeilen.
Durch Zusammensetzung und Mischung der verschiedenartigsten Verse hat
sich eine reiche Zahl deutscher Strophen gebildet. Diese wurde vermehrt durch
Nachbildung antiker Strophenformen (§ 160 ff.), sowie durch Einführung der
Strophenformen anderer Litteraturen. (§ 164 ff.)
§ 149. Analogien der Strophe.
Ein Analogon für Strophen ergiebt sich in den Teilen eines
Walzers oder Marsches. Je vier und vier Einzeltakte schließen sich
zu einer größeren rhythmischen Periode zusammen und bilden den
ersten, gleichsam fragenden Teil, dem der zweite antwortende Teil
entspricht wie bei den Griechen Strophe und Antistrophe.
Als unser Volkslied noch gesungen wurde (im 15. und 16. Jahrhundert),
stimmten die einzelnen Strophen desselben zu einander wie die Teile einer
Tanzpiece. Man gewann die Weisen lieb und dichtete neue Volkslieder, ja
selbst Kirchenlieder nach diesen feststehenden rhythmischen Normen, um nach den
bekannten Melodien derselben zu singen. Auf diese Weise gingen häufiger, als
man es heutzutage ahnt, geistliche und weltliche Lieder in einander über. Zum
Belege geben wir hier nur ein Beispiel:
In dulci jubilo.
Altes deutsches Studentenlied.
In dulci jubilo.
Altes Kirchenlied.
Betrachten wir die Teile eines Tanzes in Hinsicht ihrer Ähnlichkeit mit
den Strophen eines Liedes, so finden wir, daß dieselben in ihrer ersten Vorführung
den Strophen, in ihrer Wiederholung den Antistrophen der Alten entsprechen.
Wir wählen zur Veranschaulichung den berühmten Marsch von Carl
Faust (op. 101), der nach dem Trio noch eine der Epode entsprechende
Coda giebt:
Für unsere Analogie versuchen wir es, dieses Musikstück so zu wiederholen,
daß die Summe der Takte eines Satzes nur durch Ziffern bezeichnet
wird, wodurch die Vergleichung mit den rhythmischen Reihen und Strophen
um so übersichtlicher wird.
I. Teil. Er entspricht der 1. Strophe eines Liedes.
Summe der Takte.
- 1. Periode (== Aufgesang)
- Vordersatz (== 1. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 2. rhythmische Reihe) 4
- 2. Periode (== Abgesang)
- Vordersatz (== 3. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 4. rhythmische Reihe) 4
Die Wiederholung des 1. Teils bildet die erste Antistrophe.
II. Teil. Er entspricht der 2. Strophe eines Liedes.
- 1. Periode (== Aufgesang)
- Vordersatz (== 1. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 2. rhythmische Reihe) 4
- 2. Periode (== Abgesang)
- Vordersatz (== 3. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 4. rhythmische Reihe) 4
Die Wiederholung des 2. Teiles bildet die zweite Antistrophe.
Trio. Es entspricht der 3. Strophe eines Liedes.
- 1. Periode (== Aufgesang)
- Vordersatz (== 1. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 2. rhythmische Reihe) 4
- 2. Periode (== Abgesang)
- Vordersatz (== 3. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 4. rhythmische Reihe) 4
Die Wiederholung des Trio bildet die dritte Antistrophe.
Coda. Sie entspricht der griechischen Epode, welche Strophe und Antistrophe
abschloß.
- 1. Periode (== Totalabgesang)
- Vordersatz (== 1. rhythmische Reihe) 4
- Nachsatz (== 2. rhythmische Reihe) 4
Für das Lied besteht die noch einfachere Form darin, daß alle Strophen
nach der Melodie des 1. Teiles gehen, während beim Musikstück die Melodie
fortgesetzt wechselt. Jm Lied bedeutet ursprünglich die 2. Strophe lediglich die
Wendung oder Umkehr zur Melodie der 1. Strophe, und dieser Sinn ist bis
in die Gegenwart geblieben. ─ Eine Übereinstimmung des Teiles in der
Musik mit der deutschen Strophe besteht darin, daß beim Abschluß beider auch
ein Satz oder ein Gedanke abzuschließen hat.
Bau der Strophen.
§ 150. Abgrenzung des für eine Strophe nötigen Materials.
1. Eine Abgrenzung und Verteilung des für die einzelnen Strophen
nötigen Materials bedingt die einheitliche Anordnung und den kunstvollen
Aufbau des strophischen Gedichts.
2. Vorzugsweise ist der Erzählungsstoff in bestimmte, je für eine
oder mehrere Strophen berechnete Partien zu zerlegen.
3. Für die Wahl der Strophe selbst ist der Stoff und das Herkommen
mit entscheidend.
1. Wenn auch das lyrische Gedicht in der Regel schon mit seiner poetischen
Disposition im Geiste des Dichters entsteht, da ja beim Ausdruck des subjektiven
Fühlens Stoff und Form so untrennbar sind wie Reden und Bewußtwerden,
so werden doch nur Laien behaupten wollen, daß lyrische Gedichte jeder Disposition
entbehren. Alle Empfindungen treten doch nur in Form klarer, zum
Bewußtsein gelangter Gefühle durch das Medium der in Worten und Sätzen
sich äußernden Sprache zu Tage; jeder sprachliche Gedanke aber ist der Anordnung
und Gliederung fähig; er erzeugt neue Gedanken und Bilder, die
den Genuß des ursprünglichen Gedankens erleichtern, erhöhen und vermitteln.
Selbstverständlich darf es nicht Zweck des Lyrikers sein, den reflektierenden
Gedanken in den Vordergrund zu stellen, aber er muß seinem subjektiven Gefühle
einen allgemein verständlichen, sicht- oder hörbaren Aufbau zu geben vermögen,
der die klare Anordnung des benützten Stoffes erkennen läßt.
2. Vorzugsweise muß der Erzählungsstoff abgegrenzt und eingeteilt werden,
wenn der Einheit des Jnhalts Rechnung getragen und der Strophe das Gepräge
eines auch inhaltlich abgerundeten Ganzen gegeben werden soll. Bei bedeutenden
epischen Dichtungen merkt der Kundige, der die poetische Gedankenassociation
zu taxieren versteht, wie licht- und verständnisvoll das Material gruppiert und
für die einzelnen Strophen zurecht gelegt wurde. (Wir werden die Stoffanordnung
im 3. Band praktisch illustrieren und können uns daher auf diese
Andeutungen beschränken.)
3. Da bei uns der „Tönediebstahl“ nicht mehr verboten ist, so sollten
wenigstens ungeübtere Dichter aus der Unzahl von Strophenformen diejenige
Form wählen, welche für den zu bearbeitenden Stoff im Hinblick auf ähnliche
Bearbeitungen besserer Dichter am meisten zusagen dürfte.
§ 151. Abgrenzung der Strophe nach Jnhalt (Enjambement).
Jede gut gebaute Strophe muß wie in der Form so namentlich
dem Jnhalte nach ein für sich bestehendes, abgerundetes Jdeenganzes
bilden.
Das Hinüberziehen eines in einer Strophe beginnenden Satzes
in die andere Strophe, das man in der Poetik bei Versen Enjambement
nennt, ist durchaus unstatthaft. (Vgl. § 149 am Schluß.)
Jn der antiken Poesie war das Hinüberziehen des Satzes in die folgende
Strophe gestattet, weshalb wir es bei verschiedenen deutschen Nachbildungen
finden. So schleppt z. B. Stolberg im nachfolgenden trikolischen Tetrastichon
(Vierzeiler) den Jnhalt der einen Strophe in die andere hinüber:
Jn unserer Poesie ist nur noch die lockere Verbindung der Strophen
durch ein Komma oder ein Semikolon gestattet, sofern der Sinn den Ruhepunkt
erhält und die Strophe noch als ein selbständiges Teilganzes erscheinen
kann. Man vgl. z. B. nachfolgende Strophen Th. Storms aus dem Gedichte
„Jm Herbst 1850“:
Das dreimalige „Und“ stört uns im vorstehenden Gedicht ebensowenig,
als das „Denn“, weil inhaltlich der Ruhepunkt vorausging. Vielmehr wird
der Rhythmus gehoben, indem durch „und“ und „denn“ immer neu an
die Wendung, an den Beginn der neuen Strophe erinnert wird.
§ 152. Strophisches Charakteristikum.
Um strophisch abgerundete Bildungen für Auge und Ohr zu erreichen,
wendet der Dichter irgend ein charakteristisches, eine Strophe
von der anderen trennendes Strophenmerkmal an. Solche charakteristische
Merkmale, welche die Strophen als Teilganze markieren, sind:
I. Der Refrain,
II. Die regelmäßige Wiederkehr längerer oder kürzerer Zeilen,
III. Die Abwechselung verschiedener Reime,
IV. Die Abwechselung im Tongrade,
V. Die Abwechselung der reimenden Vokale,
VI. Der Wechsel des Rhythmus,
VII. Die Anwendung verschiedenartiger Kola.
[500]I. Der Refrain für Strophenteilung.
Der Schluß-Refrain erfüllt den ästhetischen Zweck, der Strophe
einen wahrnehmbaren kräftigen Abschluß zu geben, so daß auch beim
Vortrage das Ende derselben bemerklich wird.
Beispiele:
(Rückert.)
Für den Nachweis, daß auch die übrigen Arten des Refrains als strophisches
Charakteristikum verwertet werden können, vgl. man die Beispiele unter
Refrain § 138. 14. S. 439 ff.
II. Zeilenverschiedenheit als strophisches Charakteristikum.
Die Verlängerung oder Verkürzung einer oder mehrerer Zeilen
innerhalb der Strophen ergiebt einen erheblichen Reichtum an äußerlich
schönen Strophen, die durch größere oder geringere Verwendung
und Verbreitung größeres oder geringeres Ansehen sich erworben haben.
Jch erwähne beispielsweise die alte Nibelungenstrophe, bei welcher die
vierte, in seltenen Fällen die dritte Verszeile verlängert wurde (§ 190).
Formen der Zeilenverschiedenheit.
1. Verlängerung einer Zeile.
a. Die vierte:
(Geibel, König Sigurds Brautfahrt.)
b. Die dritte:
(Rückert, Ottilie.)
[501]c. Die sechste:
(Rückert.)
d. Je die vierte:
(Rückert.)
Vgl. auch die Spenserstanze § 169. d.
2. Verkürzung einer Zeile.
a. Die vierte:
(Platen.)
b. Die zweite:
(Eichendorff.)
c. Die vierte:
(Otto von Leixner.)
3. Verlängerung von zwei Zeilen.
(Rückert.)
[502](Rückert.)
(Arthur Fitger.)
(Vgl. noch H. Heines An die Engel und Aug. Kopischs Der große Krebs &c.)
4. Verkürzung von zwei Zeilen.
(Goethe, Die Braut von Korinth.)
(Alexis Aar.)
(Vgl. noch Goethes Junggesell und der Mühlbach.)
5. Verlängerung nebst Verkürzung mehrerer Zeilen.
Hierher gehören auch die willkürlichen Verslängen.
(Rückert.)
(Vgl. hierzu Wilh. Jensens Herbstsonne.)
III. Reimverschiedenheit als strophisches Charakteristikum.
Abwechselung der Reimgeschlechter.
a. Männliches Schlußreimpaar.
(Rückert.)
b. Umarmender männlicher Reim.
(Betty Paoli.)
c. Umarmender weiblicher Reim.
(Rückert.)
d. Gekreuzte weibliche Reime.
(Arnold Schlönbach.)
[504]e. Gekreuzte männliche Reime.
(Oskar Riecke.)
f. Weibliches Schlußreimpaar.
(Gustav Pfitzer.)
IV. Wechsel im Tongrad als strophisches Charakteristikum.
(Rückert.)
V. Wechsel des Reimvokals als strophisches Charakteristikum.
1. Strophe hat den Vokal u, die 2. Strophe den Vokal a.
(Rückert.)
Diese charakteristische Lautverschiedenheit, die für den Ausdruck des strophischen
Gliederungsgesetzes bedeutungsvoll genug ist, erleichtert das Auffassen
der Strophen ungemein.
VI. Wechsel des Rhythmus als strophisches Charakteristikum.
Hierher gehört vor Allem das Beispiel § 152. II. 3. S. 501, wo
erst zwei aus je einem Trochäus und einem Bacchius gebildete Verse
kommen, worauf zwei rein jambische Verse die Strophe schließen.
Weitere Beispiele:
(Geibel, Am 3. Septbr. 1870.)
(Rückert, Nachtrag zum Liebesfrühling.)
(Rückert.)
Jn der vorstehenden Strophe wirkt der schöne Wechsel von Anapästen,
Trochäen und Jamben so charakteristisch als nur möglich. Dazu kommt die
kurze Abschlußzeile.
(Volkslied.)
Der Wechsel des Rhythmus, der Übergang aus dem trochäisch=daktylischen
Metrum in's jambische &c. wirkt hier ─ ganz abgesehen von den kurzen
Zeilen ─ charakteristisch genug.
Dasselbe gilt von den obigen Beispielen, denen wir noch Geibels Morgenwanderung
anschließen, wo der jambische Rhythmus durch den trochäischen
unterbrochen wird, um in der letzten, berechnet abschließenden Verszeile dem
jambisch=anapästischen Rhythmus Platz zu gönnen:
(Geibel, Morgenwanderung.)
Jnteressant ist, wie A. W. Schlegel in der „Warnung“ durch den
Rhythmuswechsel gefällige Strophen bildet. Er verdrängt den jambischen
Rhythmus der vier ersten Zeilen durch den trochäisch=daktylischen der fünften
und sechsten, um charakteristisch mit dem jambisch=anapästischen zu schließen:
Hier ist auch der Lutherischen Strophenbildung im bekannten Kirchengesang
„Ein feste Burg ist unser Gott“ zu gedenken, wo Luther den
dochmiusähnlichen Rhythmus (vgl. § 103, S. 302) neben Abwechselung in der
Zeilenlänge für ein strophisches Charakteristikum wirksam verwertet:
Charakteristisch wirkt in nachfolgender Strophe (mit ihrem auffälligen
unreinen Reim „blatt“) die in rhythmischer und melodischer Beziehung wohlthuende
Einschiebung einer daktylisch=trochäischen Verszeile:
Für weitere Beispiele vgl. man Cl. Brentanos Lustige Musikanten, wo
4taktige Jamben mit Anapästen und Trochäen wechseln; desgl. Kopischs
Blücher am Rhein sowie dessen Heinzelmännchen, in welch letzteren durch Abwechselung
des jambischen mit dem anapästischen Rhythmus die Strophe eine
strenge Verbindung erhält.
VII. Abwechselung der Kola.
Das Verfahren, welches den Schluß zum Anfang in gegensätzliche
Beziehung bringt und das Verhältnis der einzelnen Teile zum Ganzen
dem Auge und Ohre als einheitliches Ganzes erscheinen läßt, verlangt
auch in den antiken und antikisierenden Strophen einen Ausdruck.
Beispiele:
a.
b.
(Klopstock.)
§ 153. Bedeutung des künstlichen Reims für den Bau
längerer Strophen.
Längere symmetrische Strophen, bei denen der Satzschluß mit dem
Schluß der rhythmischen Reihen zusammenfällt, werden häufig nur durch
das Reimband zusammengehalten. (Vgl. § 108, sowie § 137 und
besonders § 295.)
Viele Strophen fallen ohne Weiteres auseinander, sobald wir an Stelle
des bindenden Reimworts ein anderes Wort setzen, z. B. in der nachstehenden
Strophe für wandelt == weilet.
(Weitere Beispiele ergeben fast sämmtliche in Stanzen geschriebene, größere
Dichtungen, z. B. Wielands Oberon, Ernst Schulzes bezauberte Rose &c. Vgl.
§ 169.)
Ähnliche Strophen entbehren jeder Verbindung und können ─ da ihnen
das Reimband abgeht ─ ohne Weiteres auseinander geschrieben werden. Es
beweist Unkenntnis der Gesetze der Strophik, wenn eine Strophe wie die
folgende, die noch dazu durch das Charakteristikum des gekreuzten männlichen
Reims in zwei Strophen geteilt ist, als eine achtzeilige geschrieben wird. Wer
dieselbe lediglich lesen hört, wird sie zweifelsohne als zwei Strophen auffassen:
(Vgl. Schiller: Der Jüngling am Bache. Ferner Goethe: Gleich und
gleich I. 20; Sehnsucht I. 72; Meeresstille I. 54; Der Fischer II. 149.
Endlich Uhland: Die versunkene Krone.)
Solche Strophen, die sich in Gruppen auflösen lassen, tragen nicht die
Notwendigkeit der Zusammenfügung auf der Stirne. Dies trifft auch bei fast
allen vierzeiligen Strophen mit gepaarter Reimstellung zu (a a, b b), sofern
nicht das Reimgeschlecht wechselt. Bei gleichem Reimgeschlecht vernimmt das
Ohr lediglich zweizeilige Strophen. (Vgl. § 201.)
Wie sich in obiger Strophe die beiden Hemistichien so gleichen, daß man
sie als zwei selbständige, echte Strophen betrachten muß, so ist es in fast allen
Strophen des Freiligrathschen Löwenritts, ferner seines Gedichts „Gesicht
des Reisenden“ u. s. w., z. B.:
(Freiligraths Gesicht des Reisenden.)
Nur zwei Strophen des Löwenritts (die 2. und die 7.) sind echte
Strophen, da sie durch Abwechselung des Reimgeschlechts binden und ein
strophisches Charakteristikum bieten, was bei den übrigen Strophen übersehen
wurde. Auch kettet sie der fortlaufende Gedanke.
2. Strophe des Löwenritts:
Abgesehen von fremden Formen (wie z. B. Sonett, Terzine, Sestine,
Ghasel &c. § 165 ff.) giebt es genug deutsche Strophen, die nur durch das
künstliche Reimband zusammengehalten sind. Jhre Verse werden also weder durch [509]
die inhaltliche Fortführung des Gedankens noch durch irgend ein strophisches
Charakteristikum verbunden. Ein eingehendes Studium der von uns dargelegten
Gesetze der Strophik wird in Zukunft der Vermehrung solcher Strophen entgegentreten.
§ 154. Gleichmäßige (symmetrische) und ungleichmäßige
(unsymmetrische) Strophen.
1. Gleichmäßige Strophen sind diejenigen, welche aus Versen
gebildet sind, die aus einer gleichen Anzahl von Verstakten bestehen.
2. Eine besondere Art ungleichmäßiger Strophen entsteht, wenn
in einem Gedicht die Zeilenzahl jeder folgenden Strophe sich vermehrt.
3. Unsymmetrische Strophenbildungen führten nicht selten zur
Tändelei.
1. Die gleichmäßigen Strophen nennt man auch gleichmetrig. Jm
Gegensatz zu ihnen stehen die ungleichmäßigen oder ungleichmetrigen Strophen,
welche aus ungleichen Versen zusammengesetzt sind, oder deren einzelne Verspaare
durch längere oder kürzere Zeilen oder Paare unterbrochen sind.
Beispiele gleichmäßiger Strophen:
a.
(Gottfr. Kinkel.)
b.
(Elly Gregor.)
Beispiele ungleichmäßiger Strophen finden sich in reicher Anzahl
§ 152. I und II. S. 500 ff.
2. Jene eigentümliche Art ungleichmetrig erscheinender Strophen, die in
stetiger Stufenfolge in der Weise zuwachsen, daß immer die folgende Strophe
eine Verszeile mehr enthält, als die ihr vorhergehende, könnte man als
flüssige Strophe bezeichnen. Man findet sie angewandt in Rundgesängen,
deren 1. Strophe mit einer Frage schließt, worauf die vom Angeredeten erteilte
einzeilige Antwort auf diese Strophe bei der Wiederholung angefügt wird. Ferner
in Kinderliedern (z. B. Der Bauer schickt den Jochem aus, er soll die Birnen
holen &c.). Auch L. Wiese hat sich dieser Form bedient in seinen Kindermärchen
(vgl. Unglück über Unglück S. 55). Wir schreiben zur Veranschaulichung
Strophe 2─5 dieses Gedichts her:
3. Als Probe spielerischer unsymmetrischer Strophenbildungen können viele
Dichtungen der sog. Pegnitzschäfer im 17. Jahrh. dienen. Die Strophen derselben
suchen z. B. die Form von Kränzen, Schäferflöten, Röhrenbrunnen,
Flaschen, Bäumen, Blumenkörbchen, Kreuzen, Pokalen &c. darzustellen und sind
höchstens für die Geschichte der Strophik als läppische Spielereien litterarhistorisch
erwähnenswert. Sie sind nicht einmal originell, denn schon die Alten kannten
solche Formen. Wir geben einige Proben Harsdörfers, des Begründers des
Blumenordens an der Pegnitz, der sich den „Spielenden“ nannte. (Vgl. S. 51
d. B.)
1. Abbildung einer Flasche.
was
reimet
sich zu dem
Westphälischen
Schinken? Das Trinken.
Was reimet sich zu den
stets nassen Poeten? Die
Nasen beröten. Es machet
das Dürsten die Mägen
zerbürsten. Es leeret die
Taschen das Füllen
der Flaschen.
2. Abbildung des zweispitzigen Parnassus.
Hohe Berge
welcher Weide
nähret unser Hirtenfreude
eure Spitzen Sonnenstrahlen
morgens malen und erhitzen.
Phöbus und die Pierinnen wohnen auf so großen Zinnen,
welcher Lustbereichte Frucht unser Pegnitz Hirt Montan
für die Ceres und den Pan zu besingen hat gesucht.
Schaut die neubegrünten Hügel wünschen pfeilgeschwinde Flügel,
bald wird's auf der Pfeifen klingen, und der Herd zu Tische singen.
3. Abbildung eines Reichsapfels.
O
wie süß
aber süß
sein des Friedes Flüß'!
Jeder sie erküß!
Krieges-Flut
kränket Mut
alls verhört,
alls zerstört.
Deutsche Reich
ist nicht gleich
ihm itzt mehr
Gott erhör!
und bescher
uns den Friedensglanz,
uns nicht gar verheere ganz!
Deiner Gnaden Aug' über uns aufwache,
uns die treue Lieb' und Eintracht belache,
damit auf dem Plan dieses runden Weltgebäu,
Ach, dein Lob erschall, und sich deine Kirch' erfreu!
Mächtig ist dein Wort, kräftig deine Stimm',
leg' des Feindes Haß, steure seinen Grimm!
Großer Zebaoth, unsre Bitt gewähr!
auf daß wachs und sich vermehr
dies dein Eigentum
dir zu Preis und Ruhm!
Jn Enoch Hanmanns „Anmerkungen in die deutsche Prosodie“ (Frankf.
1658. S. 291. 351 ff.) finden sich mit ziemlich guten Reimen 2 Pyramiden,
1 Ei, 1 Turmsäule, 1 Kranz und 1 Pokal &c.
§ 155. Strophenglieder.
1. Die Abgrenzung des Stropheninhalts nach rhythmischen und
syntaktischen Rücksichten ergiebt strophische Abschnitte, die wir als
Strophenglieder bezeichnen.
2. Bei symmetrischen Strophen entsprechen sich die einzelnen
Glieder.
3. Bei Abwägung und Vergleichung der Strophenglieder sind die
rhythmischen Pausen hinzuzurechnen.
1. Bei größerem Umfange gliedert sich die Strophe in zwei oder mehrere
Versgruppen, also in Unterabteilungen der Strophe, die in rhythmischer und
syntaktischer Beziehung einen Ruhepunkt gewähren, so daß sie als Teile oder
Glieder der Strophe den Eindruck wie etwa Vorder- und Nachsatz oder auch
wie Arsis und Thesis hervorrufen. Bei den Alten bildeten gleichmetrige Verse
zusammengenommen nur ein Kolon; bei uns hat für die Zusammengehörigkeit
lediglich der rhythmische oder syntaktische Ruhepunkt zu entscheiden.
Weniger als zwei Verse kann bei uns ein Strophenglied nicht haben.
Wir veranschaulichen dies durch Beispiele:
a.
b.
(Rückert.)
(Die vorstehenden Strophen bestehen aus je zwei Strophengliedern, von
denen die beiden bei a. je zwei Zeilen, die bei b. je drei Zeilen umfassen.
Der syntaktische Abschnitt fällt mit dem metrischen zusammen.)
2. Bei den symmetrisch gegliederten Strophen entsprechen sich Hebungen
und Senkungen der Sätze vollständig; bei den unsymmetrisch gegliederten schwankt
jedoch das rhythmische und formelle Gleichgewicht. Nicht selten ist z. B. die
Thesis nur halb so umfangreich als die Arsis und umgekehrt.
Bei Platen finden wir meist symmetrisch gegliederte Strophen, während
viele andere Dichter, denen es hauptsächlich auf die Darstellung ankam, unsymmetrisch
gegliederte Strophen in großer Zahl aufzuweisen haben.
Bei den symmetrisch gegliederten Strophen finden man häufig nur zwei
bis drei Glieder, die wieder in rhythmische Reihen zerlegt werden
können.
3. Bei Begrenzung und Festsetzung der Strophenglieder sind auch die
Pausen zu beachten und mitzurechnen.
1. Symmetrische Strophenglieder.
Die nachfolgende Stolbergsche Strophe:
teilt sich in zwei zweizeilige Glieder von gleichem Gewicht. Rechnet man bei
Zeile zwei und vier die rhythmischen Pausen hinzu, so nehmen diese Zeilen
die gleiche Zeit in Anspruch wie Zeile 1 und 3. Es sind somit die beiden
rhythmischen Reihen jedes Strophenglieds von gleicher Ausdehnung.
2. Unsymmetrische Strophenglieder.
Rechnet man in folgender unsymmetrisch gegliederten Strophe von Denis:
die Pausen zu den rhythmischen Reihen, so besteht die 1. Zeile aus 6 Takten
und verhält sich daher zur zweiten wie 2 : 1. Das Gleiche ist bei Zeile 3
und 4 der Fall. Nimmt man zu den Zeilen 5 und 6 je eine halbtaktige,
zur Zeile 7 dagegen eine ganztaktige Pause hinzu, so werden dieselben 3 Viertakter.
Die Zahl der 3 Strophenglieder, deren letztes durch seinen brachykatalektischen
Abschluß ein schönes strophisches Charakteristikum ergiebt, umfaßt
somit 9 + 9 + 12 Takte. (Vgl. hier § 91. S. 270.)
§ 156. Doppelstrophen und abwechselnde Strophen.
Setzen sich zwei in ihrem Bau verschiedene Strophen als Hauptstrophe
und Nachstrophe oder als Vorstrophe und Grundstrophe aneinander,
so entstehen Doppelstrophen, die man wegen ihrer abwechselnden
Folge abwechselnde Strophen nennen kann. Jede derselben bildet
ein für sich bestehendes Teilganzes.
Jnteressant ist es, wie viele unserer deutschen Strophen, ähnlich wie dies
bei den aus Auf- und Abgesang bestehenden Strophen der Minnesinger (oder
der griechischen Strophe und Antistrophe) der Fall war, aus zwei leicht wahrnehmbaren
Hauptteilen bestehen, so zwar, daß der erste Teil (Hauptteil) dem
letzten als Gegenteil entgegensteht. Der Eingangsstrophe folgt eine Nachstrophe,
die sich meist durch Zeilenlänge und Rhythmus von ihr unterscheidet. Obgleich
durch Vereinigung der so gebildeten Doppelstrophe eine höhere Stropheneinheit
entsteht, so wird dieselbe doch wie zwei Strophen geschrieben.
Beispiele:
(Rückerts Kritik.)
(Schiller.)
Vgl. von Schiller noch Würde der Frauen, An die Freunde, An die
Freude, Siegesfest.
(M. v. Schenkendorf.)
Von den neueren Dichtern erwähne ich die gelungenen Doppelstrophen
von Franz Hirsch in Die junge Nonne, und von Emil v. Colbe (Gedichte 1873.
S. 36) in Der Missionar.
§ 157. Höhere Stropheneinheit im größten Meisterwerke
deutscher Poesie.
1. Der wunderbarste Ausdruck höherer strophischer Einheit ist
Schillers unerreichtes, strophisches und rhythmisches Meisterwerk: Das
Lied von der Glocke, welches in der Poesie seines Gleichen absolut
nicht hat.
2. Nachahmer des Gesetzes der höheren Stropheneinheit können
aus dieser Dichtung lernen, allzugroße Unregelmäßigkeiten zu meiden
und zwischen unregelmäßige Strophen regelmäßige einzuschalten, welche
den Faden des Ganzen fortspinnen, wobei die unregelmäßigen das
Episodische und das reflexive Moment darzustellen haben.
1. Schillers Lied von der Glocke ist das eminente Resultat individuellen
Kunstgeschmacks und dichterischer Leistungsfähigkeit. Mit Recht behauptet Westphal
(a. a. O. S. 243 ff.), daß derjenige, welcher die griechischen Formen
nicht einseitig für etwas Höheres hält als unsere national deutschen Maße,
selbst bei Pindar und Äschylus, den größten rhythmischen Künstlern der Griechen,
nicht ein völlig adäquates Analogon zum Lied von der Glocke auffinden könne,
da z. B. bei Pindar keine dem Wechsel der Situation und der Stimmung
entsprechende Abwechselung in der metrischen Form bestehe, vielmehr das gleiche
Strophen- und Epodenschema von Anfang bis zu Ende eines Pindarschen
Epinikions sich wiederhole. (Hierbei darf freilich nicht übersehen werden, daß
der griechische Lyriker [Chor-Dichter] neben dem Sinn noch auf Musik und
orchestische Darstellung zugleich Rücksicht zu nehmen hatte.)
2. Schiller, der in der Glocke lyrischen Gehalt in Form des dramatischen
Monologs bietet, verbindet in dieser gewaltigen Dichtung die begrenzt strophische
Kompositionsmanier mit der unbegrenzt strophischen, die man hier als die
strophenlose bezeichnen könnte. Er thut dies nicht etwa so, daß durch dieselbe [516]
zwei einander folgende Gedichtsabschnitte gebildet würden, sondern so, daß sie
sich durchflechten. Zehn im Druck der Glocke durch Einrücken genügend
charakterisierte trochäische Strophen von je 8 Zeilen mit dem strophischen
Charakteristikum, welches der 5. und 6. Verszeile nur 3 Takte einräumte,
bilden das konstante Element der Rhythmopöie. Zwischen je zwei dieser
10 Strophen ist sodann eine Partie in freier metrischer Form eingefügt. Diese
zehn trochäischen Strophen stehen unter sich in engem Zusammenhang, so zwar,
daß sie für sich ein abgeschlossenes Gedicht bilden könnten. Den Jnhalt dieser
Strophen bilden die Einzelheiten alles desjenigen, was sich auf den Glockenguß
bezieht. Der Meister spricht in ihnen an die Gesellen. Die unregelmäßigen
Strophen enthalten jene Momente, welche das Menschenleben in idealer Verbindung
behandeln. Die 4 ersten schön disponierten und ausgeführten Bilder (Taufe,
Trauung, Feuer, Tod) sind dem Familienleben angehörig, während die beiden
letzteren (Abendglocke und Aufruhrglocke) das Leben der Gemeinde wiederspiegeln.
Die Mehrzahl der Strophen wechselt im Rhythmus, ─ ein Verfahren, das der
Dichter z. B. auch in seinem 27strophigen Gedicht Das Eleusische Fest beliebte,
wo die 1., die 14. und die 27. Strophe daktylisch gebaut sind, während die
übrigen Strophen trochäisch sind. Auch in Würde der Frauen läßt Schiller
daktylische und trochäische Strophen so wechseln, daß diese die Männer, jene
die Frauen behandeln. (Ähnlich verleiht Goethe dem Gedichte Auf dem See
abwechselnd jambischen, trochäischen und trochäisch=daktylischen Rhythmus.)
§ 158. Einteilung sämtlicher Strophen.
Alle in der deutschen Poesie bekannten Strophenformen zerfallen
nach Herkunft und Anwendung in vier große Hauptgruppen:
I. Antike und antikisierende Strophen.
II. Fremde moderne Strophen.
III. Althochdeutsche und mittelhochdeutsche Strophen.
IV. Deutsch nationale Strophen der Gegenwart.
1. Die antiken Strophen, welche in unserer poetischen Litteratur durch
Nachahmung der Antike Eingang fanden, sind vor Allem a. die sapphische
Strophe, b. die alkäische, c. die asklepiadeischen Strophen, d. die pherekratische,
e. die glykonische, f. die phaläkische Strophe. Hierzu kommt noch eine große
Zahl antikisierender Strophen, die von deutschen Dichtern aus antiken Versen
und Metren gebildet wurden.
2. Die in unsere Litteratur übergegangenen, von andern Nationen entlehnten,
also fremden modernen Strophen teilen sich nach ihrer Herkunft in:
a. provençalisch=italienische, b. spanische, c. französische, d. orientalische.
3. Die althochdeutschen Strophen sind meist Reimpaare. Die mittelhochdeutschen
Strophen sind der Hauptsache nach a. die Nibelungenstrophe,
b. die Gudrunstrophe, c. die meist dreigeteilten künstlichen Strophen der
Minnesinger und der Meistersänger, d. die Leiche.
4. Die deutsch nationalen Strophen, welche aus dem eigenen schöpferischen
Triebe des deutschen künstlerischen Dichtergeistes sich nach und nach entfalteten,
sind verschieden nach ihrem Charakteristikum sowie nach ihrer Zeilenzahl und
Reimstellung.
I. Antike und antikisierende Strophen.
§ 159. Begriff dieser Strophen und ihre Bestandteile.
Wir verstehen unter antiken Strophen solche, welche unsere
deutsche poetische Litteratur von den Römern und Griechen entlehnt hat.
Antikisierend dagegen nennen wir jene Strophen, welche unsere
deutschen Dichter nach antiken Maßen selbst ausgedacht und für unsere
deutsche poetische Litteratur benützt haben.
Die Elemente der antiken und antikisierenden Strophen haben
wir im § 103 aufgeführt.
Nach der erwähnten Darlegung der Elemente des griechisch=römischen
Versbaus in § 103 führten wir in den §§ 110, 112, 114 die einzelnen
antiken Verse vor, welche zum Aufbau gebräuchlicher antiker Strophenformen
verwendet wurden, oder: aus deren Zusammensetzung antike wie antikisierende
Strophen entstanden.
Der Übersichtlichkeit und Vollständigkeit halber wiederholen
wir dieselben in zusammenhängender Aufeinanderfolge:
1. Der kretische Vers (– ⏑ – – ⏑ – – ⏑ – ⏑ – ⏑) § 110. S. 332.
2. Der kleine asklepiadeische Vers (– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –) § 110.
3. Der große asklepiadeische Vers (– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –)
§ 110. S. 333.
4. Der glykonische Vers (– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ –) § 110. S. 333.
5. Der adonische Vers (– ⏑ ⏑ – ⏑) § 112. S. 339.
6. Der große adonische Vers (– ⏑ ⏑ – ⏑ | – ⏑ ⏑ – ⏑) § 112. S. 333.
7. Der Hendekasyllabus (– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ oder:
– ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑) § 112. S. 340.
8. Der phaläkische Vers (– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑) § 112. S. 340.
9. Der pherekratische Vers (– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑) § 112. S. 340.
10. Der kleine logaödische Vers (– ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑) § 112. S. 341.
11. Der große logaödische Vers (– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑) § 112. S. 341.
12. Der priapische Vers (– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – | – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑) § 112.
13. Der sapphische Vers (– ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑) § 112. S. 341.
14. Der größere sapphische Vers (– ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑) § 112.
15. Der alkäische Vers (⏑ – ⏑ – ⏑ – | ⏑ ⏑ – ⏑ –) § 114. S. 348.
16. Der archilochische Vers (bestehend aus ½ Pentameter: – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –)
S. 361.
17. Der amphibrachische Vers (bestehend aus 4 Amphibrachen:
⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑) S. 301.
[518]18. Der Hexameter und Pentameter (bestehend aus Daktylen und Spondeen
oder Trochäen) § 115. S. 348 ff.
19. Der aristophanische Vers (– ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ –).
20. Der Trimeter (bestehend aus 6 Jamben: ⏑ – ⏑ – ⏑ | – ⏑ – ⏑ – ⏑ –)
S. 315 und 320.
21. Der anakreontische Vers (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑).
A. Antike Strophen.
§ 160. Die kürzeste antike Strophe: das Distichon und die
Systeme verschiedener Takte.
1. Die kürzeste antike Strophe bestand nur aus 2 Zeilen.
2. Jhr folgten die Systeme verschiedener Takte, zu denen die
melischen (lyrischen) Strophen gehörten.
3. Über Vereinigung mehrerer Distichen zu Strophen vgl. § 115. C.
S. 359.
1. Das Distichon kann bestehen:
a. aus Hexameter und Pentameter. Dieses nannte man das elegische,
epigrammatische Distichon. Beispiele siehe § 115. S. 359;
b. aus Hexameter und dem jambischen Trimeter; dies war das
pythiambische Distichon. Beispiele s. § 115. D. b. S. 360;
c. aus Hexameter und dem archilochischen Verse == archilochisches
Distichon. Beispiele s. § 115. D. S. 361, sowie in Geibels
klassischem Liederbuch S. 179;
d. aus einem kleinen asklepiadeischen und einem glykonischen Verse ==
asklepiadeisches Distichon. Klopstock, der Begründer einer
großen Schule, dessen Studium wir unseren Dichtern dringend
empfehlen, hat dieses Distichon in unsere Litteratur eingeführt.
(Geibel giebt im klass. Liederbuch S. 128 zuerst den glykonischen,
dann den asklepiadeischen Vers.)
Beispiel:
e. aus zwei größeren asklepiadeischen Versen == großes asklepiadeisches
Distichon.
Beispiel:
Hüllt einst Tod dich in Nacht, wirst du in Staub liegen und nimmermehr
Wird dein kommende Zeit denken; es blühn Rosen ja nimmer dir.
(Fragment der Sappho.)
Ein weiteres Distichon bildete noch Voß aus einem pherekratischen und
einem glykonischen Verse; ferner Geibel aus einem sechstaktigen und einem
viertaktigen Jambus (klass. Liederb. 119) u. s. w.
2. Bei den auf die Distichen folgenden Systemen schlossen in der Regel
zwei längere Verse mit einem kürzeren. Die nur zu Oden oder Chören verwendeten
Systeme hießen die melischen (lyrischen) Strophen. Sie enthielten
eigentlich 4 Zeilen und waren je nach der Messung zwei- und mehrgliedrig.
§ 161. Vierzeilige antike Strophen.
Von den vierzeiligen Strophen der Griechen haben folgende sechs
nach ihren Erfindern benannte Formen Eingang in unsere Litteratur
gefunden: 1. die sapphische Strophe, 2. die alkäische, 3. die asklepiadeische,
4. die pherekratische, 5. die glykonische, 6. die phaläkische.
1. Die sapphische Strophe.
Diese bei uns so beliebt gewordene trochäisch=daktylische Strophe
dankt ihren Namen der griechischen Dichterin Sappho (geb. 612,
† 550) von Mitylene, der Hauptstadt auf der Jnsel Lesbos. Sappho
dichtete in derselben Liebeslieder und Oden, (z. B. an die Aphrodite,
vgl. die deutsche Nachbildung in Geibels klass. Liederbuch S. 37).
Die Strophe enthält zwei Kola, ist also ein dikolisches Tetrastichon.
Jhr Schema zeigt, daß sie aus drei übereinstimmenden sapphischen und
einem adonischen Verse besteht:
– ⏑ – ⏒ – | ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ – ⏒ – | ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ – ⏒ – | ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ ⏑ – ⏒
Beispiele:
(Geibels Nachbildung eines Liebeslieds der Sappho a. a. O. S. 39.)
Ähnlich wie Horaz haben auch Platen und Voß an den Anfang der
3 ersten Verse der sapphischen Strophe an Stelle eines Ditrochäus den 2. Epitrit
(– ⏑ – –) gesetzt, um dadurch dem Verse mehr Kraft und gehaltenen Ernst
zu verleihen. Man vgl. das folgende Beispiel Platens:
Matthisson und Hölty haben den Daktylus (oder wenn man will: den
Choriambus – ⏑ ⏑ –) schon nach dem ersten Trochäus anstatt nach dem zweiten
gesetzt. Man vgl. folgendes Beispiel Matthissons:
Jn Hallers Ode: Die Tugend, sowie in alten evangelischen Kirchenliedern,
in welchen die Strophen gereimt sind, ist der Daktylus (resp. Choriambus)
an den Anfang der Verse gesetzt. Man vgl.:
(Man beachte die unschöne Accentverschiebung zu Gunsten des Versrhythmus
am Beginn der Verse dieser Strophe.)
Klopstock, Stolberg und Matthisson (in Lauras Quelle) bringen vollends
den Daktylus in jedem Verse an einer tieferen Stelle, wodurch der Verscharakter
etwas unbestimmt wird. Man vgl.:
(Klopstock, der seine Elegie „die tote Clarissa“ ebenso gebildet hat.)
Rud. v. Gottschall ist in der Neuzeit der Erste, welcher die sapphische
Strophe gereimt hat, z. B.:
Gepflegt wurde die sapphische Strophe, welche der große Zeitgenosse der
Sappho Alkäos aus Mitylene und nach ihm Horaz anwandte, bei den Deutschen
von Klopstock, Platen, Salis, Stolberg, Hölty, Voß, Geibel, v. Gottschall,
Eckstein, Schönfeld, Leuthold u. A. Vgl. die vielen Nachbildungen Geibels im
klass. Liederbuch.
2. Die alkäische Strophe.
Sie hat ihren Namen von dem älteren Zeitgenossen und Landsmann
der Sappho, Alkäos aus Mitylene, in welcher Stadt eine von
der Sappho gegründete Dichterschule blühte. Man darf diese Strophe
wohl zu den schönsten Strophen der alten Lyrik rechnen. Die gleichmäßige,
von der Cäsur unterbrochene jambische Bewegung des alkäischen
Verses kommt in jedem der beiden ersten Verse einmal durch den Daktylus
in's Rollen, um sodann im Jambus des 3. Verses ruhig auszutönen.
Das Schema zeigt, daß diese Strophe zwei alkäische Verse,
sodann einen überzähligen viertaktigen jambischen Vers, endlich einen
rhythmusverändernden daktylisch=trochäischen Vers enthält. Sie ist ein
trikolisches Tetrastichon. Schema:
⏑ – ⏑ – ⏑ | – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓
⏑ – ⏑ – ⏑ | – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓
⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑
Man kann die alkäische Strophe mit ihrem überwiegenden jambischen
Element wie ein donnernd stürmisches Auf- und Abwogen empfinden. Zwei
Jamben mit einer Nachschlagesilbe steigen empor, zwei Daktylen senken den
Ton wieder herab. Zum zweitenmal dasselbe Spiel. Sodann Steigerung des
Anstrebens im dritten rein jambischen Vers. Höher und höher schwillt die
Welle der Bewegung, um im vierten einem ebenfalls gesteigerten, erst daktylisch
raschen, dann trochäisch verlangsamenden Abschwung Raum zu geben. „Tosend
schäumend“, sagt M. Carriere (Ästhet. II. 479), „bricht die Welle und verflutet.“
Beispiele:
(Br. Hanschmann.)
(Fragmente des Alkäos. Geibels Umbildung a. a. O. S. 40.)
Als Muster gereimter alkäischer Strophen geben wir die nachstehende von
Gottschall:
Die alkäische Strophe, in welcher auch Sappho und Horaz dichteten,
wurde gepflegt bei den Deutschen von Hölty, Hölderlin, Platen, Klopstock, Matthisson,
Gottschall, Schönfeld u. A. Reich ist Geibels klassisches Liederbuch an
alkäischen Strophen. (Vgl. hier Rückerts Ghasel: Der Frost hat mir bereifet des
Hauses Dach [Ges. Ausg. V. 274], welches aus 20 alkäischen Versen besteht.)
3. Die asklepiadeischen Strophen.
Die asklepiadeischen Strophen leiten ihren Namen von Asklepiades
aus Samos (300 v. Chr.) her. Die ersten 3 asklepiadeischen Verse derselben
haben die größte Ähnlichkeit mit dem Pentameter, ja, sie würden
mit demselben zusammenfallen, wenn der vorletzte Takt ein Daktylus
wäre. Die asklepiadeischen Strophen wetteifern in Anmut und Würde
des Rhythmus mit der alkäischen Strophe. Andernteils erinnert die
erhabene Würde der im Daktylus aufsteigenden, im Trochäus in's
Stocken geratenden Bewegung an die sapphische Strophe, wobei nur
der Unterschied besteht, daß dort der Grundcharakter jambisch ist,
während er sich hier trochäisch entfaltet.
Man unterscheidet die 1. und die 2. asklepiadeische Strophe.
a. Die 1. asklepiadeische Strophe.
Sie besteht aus drei asklepiadeischen und einem glykonischen Verse
und ist also ein dikolisches Tetrastichon.
Schema:
– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ –
Beispiel:
(Platen.)
b. Die 2. asklepiadeische Strophe.
Sie enthält 2 asklepiadeische Verse und einen pherekratischen nebst
einem glykonischen Verse. Sie ist somit ein trikolisches Tetrastichon.
Schema:
– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏑ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ –
Beispiel:
(Klopstock.)
Asklepiadeische Strophen haben außer den in obigen Strophen genannten
Dichtern gebildet: Hölderlin, Herder (Germanien, in Ausg. 1844. S. 118) u. A.
Vgl. auch Geibels klass. Liederbuch, z. B. S. 123, 129 &c.
4. Die pherekratische Strophe.
Jhren Namen verdankt sie dem Dichter der älteren attischen
Komödie Pherekrates (um 430 v. Chr.). Sie besteht aus drei pherekratischen
und einem glykonischen Verse.
Schema:
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏒
Beispiel:
(Hölty.)
5. Die glykonische Strophe.
Sie ist nach dem alten griechischen Lyriker Glykon benannt und
besteht aus der Zusammensetzung von drei glykonischen Versen mit
einem abschließenden pherekratischen Verse.
Jn der griechischen Tragödie ist sie 5=, 6= und mehrzeilig, je nachdem
mehr oder weniger glykonische Verse verwendet sind.
Schema:
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏒
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏒
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏒
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏒
Beispiele:
a.
(Aus Geibels klass. Liederbuch S. 47.)
b.
c. Siebenzeilige glykonische Strophe.
(Jbykos. Aus Geibels klass. Liederbuch S. 44.)
6. Die phaläkische Strophe.
Sie hat ihren Namen von dem griechischen Lyriker Phaläkos.
Sie entsteht durch Verbindung von 2 phaläkischen Versen mit Anapästjambus
und Choriambus, endlich dem logaödischen Teil des großen
sapphischen Verses und einem abschließenden Anapästjambus. Sie ist
ein trikolisches Tetrastichon und wurde am häufigsten von Catull angewandt.
Schema:
– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏒
⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏑ ⏑ –
– ⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
Beispiele:
a.
(Aus Geibels klass. Liederbuch S. 61. Vgl. auch S. 53.)
b.
Dasselbe Beispiel geben wir gereimt:
B. Antikisierende Strophen.
§ 162. Aus antiken Metren und Versen zusammengesetzte
Strophen neuer deutscher Erfindung.
Es kann dem denkenden Dichter nicht schwer fallen, die in den
§§ 103 und 159 aufgeführten antiken Metren und Verse zu neuen
Strophenformen zusammenzusetzen. Jn der That wurde unsere Litteratur
durch Klopstock, Voß, Ramler, Hölty, Hölderlin, Platen, [525]
Minckwitz u. A. mit antikisierenden, willkürlich gebildeten Strophenformen
stark bereichert, die aber nicht ─ wie die im § 161 aufgeführten
─ die Namen ihrer Erfinder angenommen haben, wenn
auch bei einigen einheitliche Gestaltung und schöne Abrundung anzuerkennen
ist. Wir beschränken uns darauf, aus den Reihen der antikisierenden
Strophenbildner, (welche im Ersinnen antikisierender fremder
Strophen erfinderischer waren, als die Minnesinger im Ausklügeln
von deutsch=nationalen Tönen,) die Namen Klopstock, Platen, Schiller,
Geibel, Minckwitz herauszugreifen, da dieselben für die von einer
deutschen Poetik mit Recht zu fordernden Gesichtspunkte ausreichend
sein dürften.
1. Klopstocksche antikisierende Strophen.
Klopstock (vgl. Werke, Stuttg. 1876) hat alle möglichen antikisierenden
Strophenformen geschaffen. Er hat in antiken Strophenformen
gedichtet und antikisierende gebildet. Er hat einzelne Verse
willkürlich aneinandergereiht, z. B. 2 phaläkische, 1 pherekratischen und
1 archilochischen Vers. Er hat ferner alle in § 103 erwähnten Verstakte
nach eigenem Ermessen untereinander gewürfelt und auf diese
Weise einzelne freundliche Schemata gebildet, von denen wir ein einziges
als Probe geben. (Vgl. hierzu auch als Probe S. 507 d. B.)
⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –
– ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ –
⏑ ⏑ –, – ⏑ ⏑ –, ⏑ – ⏑ –,
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –, – ⏑ ⏑
(Klopstocks Werke I. 160.)
2. Platens antikisierende Strophen.
Platen hat ganz nach Klopstocks Vorgang alle möglichen antiken
Metren zu Strophen verbunden und auf diese Weise eine Reihe leicht
aufzufassender Strophen neben anderen, von denen das Gegenteil behauptet
werden muß, gebildet. Z. B.:
a. – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏒
⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –, ⏑ – ⏑ ⏑ – – ⏒ ⏑
– – – ⏑ ⏑ – ⏑
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓
b. ⏑ – – ⏑ – – ⏑ –
– – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ – – – ⏑ –
⏑ – ⏑ – – ⏑ – – ⏑ – –
⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ –
⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑
⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – – ⏑ – – ⏑
⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – – ⏑ – ⏑ –
⏑ – – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
3. Schillers gereimte Griechenstrophe.
Eine wirklich deutsch gewordene, lebensfähige, aus antiken Metren
gebildete Strophe hat uns Schiller in seinem Gedichte „die Größe
der Welt“ hinterlassen.
Der Parallelismus der Bewegung prädestiniert in je zwei gleichen Versen
den Reim von vorneherein als verbindendes Schönheitsmoment. Der ersten
asklepiadeischen Verszeile entspricht eine zweite; der dritten, nur aus zwei Takten
bestehenden Kurzzeile entspricht die vierte, welche ihre beiden Arsen mit mehreren
malenden Thesen umgiebt. Den Schluß bilden zwei glykonische, sich entsprechende
Verse. So schuf Schiller eine charakteristische, ebenso durch den eigenartigen
welligen Rhythmus wie durch den parallelen Reim gut gebundene Strophe von
großer Schönheit.
Beispiele:
4. Geibels antikisierende Strophen.
Jn seinen Nachbildungen der klassischen griechischen und römischen
Dichtungen bietet Geibel ebenso gefällige Strophen als die obige
Schillersche. Z. B.:
a. eine aus einfachen Metren zusammengesetzte jambisch anapästische
Strophe, bei der auf 2 Sechstakter 2 Viertakter folgen;
b. eine aus antiken Versen gebildete Strophe, bei welcher je ein
asklepiadeischer Vers einem glykonischen folgt.
Beispiele:
a.
(Geibels klass. Liederbuch S. 58.)
b.
(Geibels klass. Liederbuch S. 164.)
§ 163. Über Verwendbarkeit und Reim antiker und
antikisierender Strophen.
1. Wenn wir auch keine prinzipiellen Gegner der antiken Strophen
sind, sofern sie den deutschen Accent nicht verletzen, so müssen wir doch
die Willkürlichkeit jener antikisierenden Strophen verurteilen, deren
Ausdehnung weder Auge noch Ohr aufzufassen vermag.
2. Ein Mittel, antiken und antikisierenden Strophen einige Popularität
zu verschaffen, dürfte der Reim sein (vgl. § 140 am Schlusse.)
1. Die Bestrebungen der letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts bis
in das unserige hinein, die deutsch nationalen Strophen durch antike und antikisierende
zu verdrängen, gehören heutzutage zum geschichtlich überwundenen Standpunkte.
Die Strophen der Griechen, die man bei den Alten nicht ohne Musik
(im Drama noch dazu mit Tanzbewegung) hörte, wurden in ihrer rhythmischen
Auffassung durch die Melodie (im Drama noch dazu durch die Bewegungsfiguren
des Chores) wesentlich unterstützt. Daher konnten diese Strophen aus den verschiedenartigsten
Metren zusammengesetzt sein und eine gewaltige Ausdehnung
haben. Unsere Sprache hat nur einen sprachlichen Rhythmus, keinen musikalischen
wie die griechische.
Daher stemmt sich unser deutsches Gefühl gegen antikisierende Strophenmaße,
deren Schema das Ohr nicht mehr festzuhalten vermag, ohne durch das
Auge sich zu unterstützen. Es empfindet in ihnen eine Marterkammer des
Geistes, ein willkürlich ausgedehntes Gemisch, und verlangt, daß unsere Sprache
auch in Bezug auf Strophik ihr eigenes Gewand tragen möge. Antikisierende,
langzeilig ausgebreitete Strophen, wie sie Klopstock, Platen, Minckwitz u. A.
gebildet haben, können nur dem formgeübten, sich gerne abmühenden Auge
Vergnügen bereiten; das Ohr wird sie als Strophen nimmermehr aufzufassen
vermögen. Solche Strophen sollten nach der Absicht ihrer Bildner ein Analogon [528]
jener Gesänge sein, welche in den Dramen der attischen Dichter eingefügt sind,
der Gesänge Pindars, die in die Gattung der höheren Lyrik gehören, deren
Bau durchaus kunstvoll ist, und deren Melodie um so höhere Bildung hinsichtlich
der Auffassung und des Verständnisses verlangt, als anstatt einer Reihe von
Strophen und Gegenstrophen im gleichen Rhythmus immer nur eine Strophe
mit einer ihr entsprechenden Gegenstrophe gegeben ist, an welche sich sodann
neue Strophen und Gegenstrophen anreihten. Wenn wir auch mit ehrfurchtsvollem
Staunen die Formfreude, die Formklarheit, die Tiefe, das Formverständnis
und die Kunstbildung wie die großartige Fähigkeit der Griechen anerkennen,
welche die schwierigen Maße der Oden und Hymnen klar hervortreten ließen,
so daß sich diese wie herrliche Gebäude abhoben, ohne der beweglichen Sprache
in Maß und Takt Gewalt anzuthun, so sind doch ihre Strophenmaße für unser
deutsches Ohr schwer genießbar. Vollends sind die meisten unserer deutschen
Nachahmungen zu verwerfen, einmal, weil unserer Sprache ─ wie oben erwähnt
─ der musikalische Rhythmus abgeht, und dann, weil bei uns ─ im Gegensatz
zu dem nicht so feststehenden Rhythmus der antiken Sprachen ─ jedes Wort
einen ganz bestimmten prosodischen Ton und Wert hat, der im Verse nicht
anders sein darf als in der Prosa, endlich weil wir zu lange Strophen nicht
aufzufassen und festzuhalten vermögen. Der um das Verständnis Platens so
verdiente Prof. J. Minckwitz, der diesen Strophen das Wort zu reden scheint,
meint doch: „Um die Melodie solcher einzelnen Gesangteile dem Ohre einzuprägen,
wird der Lesende Strophe und Gegenstrophe mehrmals (!) wiederholen
müssen, bis er die Musik allmählich heraushört.“ Aber der treffliche
Minckwitz irrt sich, wenn er hinzusetzt: „Geschieht dieses, so fällt sehr bald alle
Schwierigkeit des Verständnisses weg.“ Möge doch der Lernende
eine der besten dieser Strophen, z. B. die vortreffliche, den Rhythmus nicht
einmal stark verändernde Chorstrophe mit Gegenstrophe nach Sophokles von
J. Minckwitz mehrmals wiederholen:
– – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏓ – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– – – ⏑ ⏑ – –
– – – –
– – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏓ – ⏑ ⏑ – ⏓
– – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏒
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑
⏑ – ⏑ – ⏑ – –
Strophe:
Antistrophe:
Wer wird angesichts solcher Strophen, die ─ wie bemerkt ─ zu den
leichter auffaßbaren gerechnet werden können, zugeben können, daß auch die
Schwierigkeiten des Verständnisses wegfallen bei Strophen, welche alle möglichen
Metren vermengen und sich in Accentverschiebungen und sprachlichen Härten und
Wortverrenkungen gefallen!
Dabei fehlt so manchen antikisierenden Strophen der dichterische Wert
vollständig. Man drucke z. B. folgende zwei Odenstrophen ohne Verseinteilung:
„Mag altrömische Kraft ruhen im Aschenkrug, seit Germania sich löwenbeherzt
erhob; dennoch, siehe, verrät manche behende Form Roms ursprüngliche
Seele, Roms Jüngling seh' ich, um den stäubte des Übekampfs Marsfeld
oder geteilt schäumte die Tiber, der voll kriegslustigen Sinns, gegen Cherusker
selbst, wurfabwehrende Schilde trug u. s. w.“(Platen.)
Wo bleibt hier die Poesie? Man könnte eher von schlechter, schwülstiger
Prosa als von Poesie sprechen.
Rückert, der doch nachweislich antike Strophen zu bilden verstand, hat sich
der antiken Strophenbildung wenig zugeneigt, vielmehr lieber eigene, dem deutsch
betonenden Sprachgeist entsprechende Strophen gebildet. Er stand auf Seiten
eines Goethe, Schiller, Uhland, Tieck, die sich ebenfalls gegen die Strophenmaße
der Alten im deutschen Gedichte aussprachen, oder die wenigstens das Bedürfnis
derselben leugneten. Jn der That ist unser deutsches Strophenmaterial mehr
als ausreichend, die bei uns seit dem Mittelalter etwas erschlaffte Schöpfungskraft
in der Strophenbildung aufzufrischen und zu beleben, wie auch den Sinn
für Feinheiten im Strophenbau zu beleben.
2. Die antiken und namentlich die antikisierenden Strophen empfehlen sich
dem Ohre mehr, wo sie den Reim annehmen, wenn sie auch als mixtum [530]
compositum erscheinen. Gereimte antike Strophen finden sich zwar schon im
16. und 17. Jahrhundert. Aber erst Rückert, Platen und Schiller, dessen
Griechenstrophe man im Hinblick auf den Reim bis in die Neuzeit für eine
deutsche ansah, haben das durch Hegel erneuerte Vorurteil durchbrochen, daß
der Reim mit der antiken Strophe unvereinbar sei. Besonders war es
Rud. v. Gottschall vorbehalten, unserer Litteratur eine Fülle guter gereimter
Strophen zu geben. Wir stimmen aus Überzeugung in seine nachstehende
Empfehlung des Reimes für antike und namentlich für antikisierende Strophen ein,
welche durch dieses Schönheitsmittel auch äußerlich zusammengehalten werden:
II. Fremde moderne Strophen und Dichtungsformen.
(Südliche Formen.)
§ 164. Erklärung und Einteilung.
Erklärung. Eine Anzahl jener, der romanischen und orientalischen
Poesie entlehnten Dichtungsformen, denen ein geregeltes Strophenmaß
zu Grunde liegt, zeichnen sich durch genau bestimmte, ihnen eigentümliche
Zeilenzahl, durch Stellung der Reime u. s. w. aus. Dadurch
unterscheiden sie sich namentlich von den ungereimten, nur nach Längen
und Kürzen, in gewisser Ordnung wiederkehrender Silben aufgebauten
antikisierenden wie von den deutschen, so elastischen Strophen.
Man nennt sie im Hinblick auf ihre Abstammung: südliche
Formen und rechnet sie bezüglich ihres Jnhalts zu den lyrischen
Strophen. (Vgl. II. Hauptstück im 2. Band d. B.)
Einteilung. Man unterscheidet bei den fremden Formen:
I. Provençalisch=italienische Formen. Zu diesen gehört:
1. das Sonett, 2. die Terzine, 3. das Ritornell, 4. die Sestine,
5. die Stanze, 6. die Siciliane, 7 die Kanzone, 8. die italienische
Vierzeile.
II. Spanische Formen. Zu denselben gehört: 1. die Dezime,
2. die Glosse, 3. die Tenzone, 4. das Kancion, 5. die Seguidilla.
III. Französische Formen. Zu ihnen rechnet man: 1. das
Madrigal, 2. das Akrostichon, 3. das Triolet, 4. das Rondeau.
IV. Französisch=deutsche Strophen. Als solche sind die
Alexandrinerstrophen anzusehen.
V. Orientalische Formen. Dieses sind: 1. die persische
Vierzeile, 2. das Ghasel, 3. die malaische Form, 4. die Makame,
5. das Sloka-Distichon.
A. Provençalisch=italienische Formen.
§ 165. Das Sonett.
1. Das Sonett (ital. Sonetto, französ. Sonnet == Klinggedicht)
ist eine lyrische Form. Es besteht aus vierzehn gleichlangen Verszeilen
mit meist weiblichen Reimen.
Sein Bau zeigt einen zweistolligen Aufgesang von je vier Verszeilen
sowie einen sechszeiligen Abgesang von je drei Verszeilen.
2. Dem Jnhalte nach zeigt es zwei Hauptteile mit je zwei Unterabteilungen.
3. Das Sonett drückt in präziser Form ein bestimmtes Gefühl
aus, eine der Reflexion verwandte Empfindung oder einen gewisse
Gefühle erzeugenden Gedanken.
4. Bei den Engländern war das Sonett eine vierzehnzeilige Strophe
mit gekreuzten Reimen und einem abschließenden Reimpaare. Schema:
a b a b c d c d e f e f g g.
5. Jn Deutschland ist es seit Weckherlin (1584─1651) heimisch,
bei dem es noch aus Alexandrinern bestand. Jm 17. Jahrhundert
war es gänzlich vergessen. Bürger dichtete Sonette in trochäischen
Quinaren. Seine größte Pflege erfuhr das Sonett durch Fr. Rückert.
6. Theodor Souchay war der erste, welcher plattdeutsche Sonette
schrieb.
7. Ein durch den Jnhalt verbundener oder durch gemeinsame Verszeilen
zusammengehaltener Cyklus von Sonetten heißt Sonettenkranz.
1. Das Sonett der Gegenwart besteht aus 14 jambischen Quinaren
(Fünftaktern). Diese zerfallen in zwei Abteilungen, deren erste (der Aufgesang)
aus 2 × 4 Versen (Quatrains, Quartette, ital. Quadernarii == vierzeilige
Stanzen), die letzte (der Abgesang) aus 2 × 3 Versen (Terzinen, Ternarii
== dreizeilige Stanzen) besteht. Die beiden Quatrains haben umarmende
Reime, die beiden folgenden Terzinen haben Terzinenreime, oder die nachfolgenden
Reim-Verschränkungen:
1. a b c | c b a
2. a b c | a c b
3. a b b | a c c,
4. a b c | a b c
5. a b c | b c a
Seltener: a a a, b b b
a a b, a a b
a a b, b b a.
Bei den Quartetten findet man selten diese Abweichungen:
1. a b b a, b a a b
2. a a b b, a a b b,
3. a b a b, a b a b.
Sonach ist das gebräuchlichste Reimschema für das Sonett der Gegenwart:
1. Quartette a b b a, a b b a; 2. Terzinen a b a, b a b.
2. Das Sonett gliedert sich inhaltlich dergestalt, daß der Ausdruck des
einen Hauptgedankens eine andere Wendung nach dem ersten Teile nehmen muß.
Jn jedem guten Sonett muß zwischen beiden Teilen ein Ruhepunkt sein. Die
beiden größeren Abschnitte (die ersten 8 und die letzten 6 Verszeilen) sollen sich
aufeinander beziehen wie Satz zu Gegensatz, wie Vordersatz zu Nachsatz, wie
der Gegenstand zu seinem Bilde, wie das Bild zur Deutung, wie die Frage
zur Antwort. Hierfür ist zu beachten, daß die beiden Quartette wie die beiden
Terzinen als kleine Teilganze erscheinen. Es wäre im Bau des Sonetts der
größte Fehler, wenn ein Hinüberziehen der Sätze (z. B. aus den Quartetten
in die Terzinen) stattfinden würde.
Einige Beispiele mögen zeigen, wie der Hauptgedanke in zwei Abteilungen
und jede derselben wieder in zwei Unterabteilungen zerfällt.
1. Beispiel:
Goethes Gedächtnis von Fr. Rückert.
- 1. Unterabt.
I. Abteilung.
2. Unterabt.- Um Frühlingsanfang ist ein Baum gefallen,
- Der unsrer Väter Kindheit schon umblühte,
- Mit Goldfrucht unsrer Wieg' entgegen glühte,
- Und uns so lange ließ im Schatten wallen.
- (Goethe ist gestorben.)
- Des immergrünen Laubes Nachtigallen
- Erschlossen klangvoll der Natur Gemüte,
- Und her vom Wipfel schaut' ein Aar und sprühte
- Noch Weltverklärungsblitz' aus morschen Krallen.
- (Bedeutung Goethes.)
- 1. Unterabt.
II. Abteilung.
2. Unterabt.- Schämt euch, die ihr am alten Stamm, ihr Knaben,
- Das Moos gerupft, vor Männern, die in seiner
- Bewundrung sich herangebildet haben.
- (Schämt Euch, den Meister zu meistern.)
- Wo Goethe stand, galt größer nichts noch kleiner,
- Er ging, nun zeigt wetteifernd eure Gaben!
- Doch derer, die ich kenn', ersetzt ihn keiner.
- (Er steht einzig da; Keiner reicht an ihn heran.)
Schema für den Bau des vorstehenden Sonetts.
Durchführung des Hauptgedankens: Würdigung Goethes.
- I. Abteilung.
- Vergleich Goethes
- mit einem gefallenen
- Baume.
1. Unterabt.: Des Baumes Fall.
2. Unterabt.: Des Baumes Bedeutung. - II. Abteilung.
- Goethe der größte
- und einzige.
1. Unterabt.: Heilige Scheu ergreife seine Tadler.
2. Unterabt.: Jhm ist bewundernd nachzueifern,
denn er ist unerreichbar.
2. Beispiel:
Jn folgendem Sonette ist die Gedankenpointe jeder Unterabteilung in der
letzten Verszeile durch gesperrten Druck ausgezeichnet, so zwar, daß die vier
Schlußzeilen zusammengesetzt ein Quartett bilden, welches den Gedanken des
Ganzen zusammengedrängt resumirt.
Auf nach Paris! („Erinnerungsblätter“ des Verf. 1871, S. 3.)
- 1. Unterabt.
I. Abteilung.
2. Unterabt.- Greif ein, mein Plektron, voll in goldne Saiten,
- Und du, mein Herz, entfalte Jubellieder,
- Du, Echo, tön's in allen Landen wieder:
- Mein unbesiegbar Volk zog aus zum Streiten.
- Mein Deutschland ist erwacht in allen Breiten,
- Es will mit Sturmsgewalt der welschen Hyder
- Auf einen Schlag zerschellen Haupt und Glieder,
- Weltfrieden zu begründen allen Zeiten.
- 1. Unterabt.
II. Abteilung.
2. Unterabt.- Der Erbfeind Deutschlands schlug manch schwere Wunde
- Der deutschen Freiheit frech mit listgen Streichen;
- Nun naht dem Frevler blut'ge Rachestunde.
- Schon künden „Sieg!“ der deutschen Einheit Zeichen,
- Schon bluten Deutschlands Feinde auf dem Grunde,
- Und „nach Paris!“ rauscht es von Deutschlands
Eichen!
3. Das Sonett ist seinem Jnhalte nach von Haus aus lyrisch, und seine
schmeichlerischen Reimdoppelpaare erklingen am passendsten der Liebe, dem
Weine, dem Frühling. Rückert hat nach Flemmings Vorgang, der
bereits einige männlich kräftige „patriotische Strafsonette“ ─ in Alexandrinern
─ an die Deutschen richtete, die Sonettenform auf Freiheitslieder
übertragen, auf Gesänge der patriotischen Erhebung und Begeisterung.
Er schrieb „Geharnischte Sonette“, in denen er sich ausnahmsweise
auch einmal einen männlichen Reim gestattete. Ob er Recht daran that,
seine tyrtäische Begeisterung in die Form des Sonetts zu gießen, darüber ist
vielfach gestritten worden. Wir meinen, daß er es mit durchschlagendem Erfolge
und großem Geschick gethan hat, und daß durch ihn erst gezeigt wurde, was
sich aus der Kunstform des Sonetts machen läßt, wenn ein Dichter sie handhabt,
dem die Fülle der Sprache zu Gebote steht. Die Form hemmt nur den
Anfänger, den Künstler trägt sie; sie ist das Gefäß für seine Empfindung
und für seine Gedanken. Er wird durch sie ebenso vor überwuchernder Ausbreitung
geschützt, als sie ihm Gelegenheit zur Gliederung, Abrundung und
selbstbewußten Wirkung giebt.
Nach Flemmings und Rückerts Vorgang hat in neuester Zeit Oskar
von Redwitz die Sonettenform für politische Zwecke adoptiert im „Lied vom
neuen deutschen Reich“ (11. Aufl. 1876).
Der aus Betrachtung und Empfindung, Fluß und Stillstand, Erguß und
Bespiegelung, Ausruf und Syntax gleichmäßig gemischte dialektisch=lyrische Sonettenstil,
wie er uns heutzutage als ein Fertiges entgegenkommt, dankt seine Entfaltung [534]
vor Allem Fr. Rückert, dessen ähnlich gemischtem Talente er besonders entsprach:
─ alle modernen Sonettendichter des heutigen Deutschlands
sind mehr oder weniger bei Rückert in die Schule gegangen.
4. Zum Beleg der Bildungsweise englischer Sonette gebe ich eine Übersetzungsprobe
der Shakespearschen „Southampton-Sonette“ des talentvollen Übersetzers
Fritz Krauß in Zürich (Leipz., Engelmann, 1872, S. 177):
Jn der Übersetzung Bodenstedts (Werke VIII. 174) lautet dieses Sonett:
Krauß hielt sich bei seiner Übersetzung streng an das Original. Er
räumt der Shakespeareschen Sonettenform, die mit der romanischen nur die
14 Zeilen gemein hat, einen Vorzug ein und meint, daß sie „einfach und
anspruchlos“ am besten unserer reim- und klangarmen (?) Sprache entspreche.
„Jm Englischen ─ so schreibt er uns ─ sind die Reime wie die Mehrzahl
der Worte kurz; weibliche bilden die Ausnahme. Demgemäß hat der Übersetzer
die Freiheit, die meist einsilbigen englischen Reime männlich oder weiblich
zu übersetzen, und diese Freiheit haben sich alle Übersetzer der Shakespeare=
Sonette zu Nutzen gemacht. Bei Bodenstedt z. B. finden sich ganz männliche
und ganz weibliche, auch zur Hälfte oder um ein Viertel männlich gereimte
Sonette u. s. w. Jch wählte nur Eine Form, weil ich dachte, die Sonette
würden sich so leichter lesen, nachdem der Rhythmus schnell ins Gefühl übergegangen. [535]
Bei Bodenstedt geniert mich z. B., daß ich oft unvorbereitet plötzlich
an lauter männliche Reime anstoße, nachdem ich vorher durch eine Reihe weiblicher
weicher gestimmt worden war. Ganz männlich oder ganz weiblich mochte
ich nicht reimen, weil ersteres auf die Dauer entsetzlich hölzern, letzteres zu
gefühlvoll und daher für starke Stellen nicht passend, Beides aber durchgeführt
zu monoton ist. Jch wechselte also ab, wählte aber die Schlußzeilen weiblich,
um das Sonett hübsch ausklingen zu lassen. Sind nicht gerade diese Schlußzeilen,
die sich oft zu Sinnsprüchen gipfeln, eine Feinheit des englischen Sonetts,
der nichts im Romanischen gleichkommt? Da schlängelt sich der Schlußgedanke
immer durch mühsame Reimklippen hindurch, und die Prägnanz des Sinnspruches
ist kaum möglich“ u. s. w. Jch bemerke in Bezug auf die gekreuzten Reime
des englischen Sonetts, daß selbst Petrarka für die alternierenden Reime
(a b a b) unsere beliebte, die beiden Glieder jedenfalls viel anschaulicher bezeichnende
Form des umarmenden Reims (a b b a) gewählt hat.
Geschichtliches über das Sonett.
5. Das Sonett entstammte der provençalischen Poesie und wurde im
13. Jahrhundert nach Jtalien verpflanzt, wo es zuerst Fra Guittone aus Arezzo
(† 1295) anwandte, und wo ihm sodann Petrarka († 1304) die höchste Vollendung
verlieh. Dieser schrieb nicht weniger als 2400 Sonette, in denen er
Lauras Schönheit pries. Seine Sonette sind so sehr Gefühl, daß wir aus
sämtlichen Sonetten kaum mehr erfahren, als daß Lauras Haare blond und
ihre Hände weiß und fein waren. Jn Jtalien bildeten sich mehrere Formen
des Sonetts aus, z. B. a. das anakreontische Sonett mit kürzeren, meist achtsilbigen
Versen, b. das geschweifte Sonett (Sonetto caudato), das man wegen seines
Anhanges von einer oder mehrerer Terzinen auch Sonetto colla Coda nannte.
(Der erste Vers der Coda hatte sieben Silben und reimte auf den letzten
des Sonetts, die beiden andern waren elfsilbig und durch einen Reim miteinander
verbunden, der im Sonett selbst nicht vorkam. Folgten dem Sonette
mehrere Anhänge, so reimte der erste Vers des zweiten Anhangs auf den letzten
des ersten Anhangs.) NB. Ein Sonett mit Coda (also mit drei Terzinen)
findet sich bei Goethe unter der Überschrift B. und K., Bd. VI. S. 158,
Ausg. 1840. Jn Frankreich wandte man die Sonettenform im 16. Jahrhundert
an; in England wurde sie durch Wyat und Graf Surrey (der auch
das erste Drama in Blankversen schrieb) eingeführt und vor Shakespeare, dem
die Palme gebührt, durch Spenser zur Vollendung gebracht (Byron haßte das
Sonett!). Der erste Dichter, der es in die deutsche Litteratur einführte, war
Weckherlin (1584─1651). Seine Sonette waren ─ wie folgende Probe
beweist ─ in Alexandrinern geschrieben:
Über den Tod des Königs von Schweden.
Gleichzeitig mit Weckherlin ─ vielleicht schon vor ihm ─ hat Paul
Melissus (Bibliothekar in Heidelberg, 1539─1602), der nebenbei bemerkt die
ersten deutschen Terzinen dichtete, Sonette geschrieben. Die ersten geharnischten
patriotischen Sonette schrieb Paul Flemming (1609─1649) ebenfalls
in Alexandrinern.
Beispiel Flemmings:
An die jetzigen Deutschen.
Die Dichter der ersten schlesischen Dichterschule, Opitz, Gryphius u. A., schrieben
Sonette im Alexandriner. Dann verfiel das Sonett bis zur Zeit Bürgers
(1748─1794) und des berühmten Übersetzers Ariosts, Tassos und Calderons,
Joh. Dietrich Gries (1775─1842), welch' letzterer im Tone Flemmings
geharnischte Sonette schrieb. Besonders pflegte es Bürger, dessen bezaubernd
schöne Sonette als Ausdruck der tiefsten Empfindung auch heute noch
gerühmt werden sollten. Seine Sonette waren meist im fünftaktigen Trochäus
geschrieben, z. B. die Erscheinung, Täuschung, Für Sie mein Eins und Alles,
Trauerstelle, Verlust, Liebe ohne Heimat, Überall Molly und Liebe, An A. W.
Schlegel &c. Doch hat er auch einige Sonette im jambischen Quinar geschrieben,
z. B. die Eine, die Unvergleichliche, Naturrecht &c.
Beispiel Bürgers:
An das Herz.
Nach Bürger wandten die Romantiker den Jambus in ihren Sonetten
an. Von einer Pflege des Sonetts durch diese Schule kann keine Rede sein,
wenn auch ihr Formenmeister A. W. Schlegel einige gute Sonette schuf (z. B.
Allgemeines Loos, Johannes in der Wüste, Zum Andenken, Bild des Lebens,
An Bürger).
Beispiel Schlegelscher Sonette, das Wesen des Sonetts
behandelnd:
Voß schrieb zur Verhöhnung dieser Form ein Sonett, dessen vierzehn Zeilen
nur je eine Silbe enthalten. (Vgl. S. 363 d. B.)
Der Erste, welcher das Sonett im großen Stil anwandte, ist Fr. Rückert.
Durch ihn wurde es in Deutschland heimisch wie in Jtalien durch den großen
Florentiner Petrarka († 1374) und in Portugal durch Camoëns (1524─1580).
An Rückert schlossen sich W. v. Humboldt und Platen, welch letzterer Rückerts [538]
Bedeutung in folgendem Sonett anerkennt (das wahrscheinlich durch das ähnliche,
nunmehr von Reinhold ins Deutsche übertragene Sonett von William Wordsworth
(Nicht schmähet das Sonett, Gedenkt der Ehren &c.) hervorgerufen wurde:
Von unsern beiden Dichterheroen hat sich Schiller nie zu dieser Form
bequemt, Goethe erst spät. Von Uhland ist erwähnenswert das Sonett:
An den Unsichtbaren; von Körner: Abschied vom Leben. Jn der Neuzeit hat
sich fast jeder Dichter in dieser Form versucht. Schöne Leistungen sind u. A.
zu verzeichnen von Geibel, Strachwitz, Herwegh, Dingelstedt, Müller von der
Werra, Sallet, Julius Rodenberg, Hermann Lingg, Oskar v. Redwitz, Julius
Schanz, Wilhelm Wens, Bodenstedt u. s. w. Rückert hat das Sonett in Agnes,
Amaryllis, Geharnischte Sonette, Aprilreiseblätter in allen Tonarten gesungen.
F. Baltzer schrieb 1881 geharnischte Sonette gegen den Pabst &c.
Noch einige Beispiele:
Goethe sagt vom Sonett (Werke II. 229):
Platen antwortet darauf:
Wilhelm Wens spricht zum Sonett:
Die Bedeutung des Sonetts schildert Julius Schanz, der
Nachfolger Platens, in folgendem Sonett:
6. Beispiel aus Th. Souchays Feldblomen (Plattd. Husfründ, 1876):
An Enen, de nix vun't Plattdütsch will.
7. Jm weitesten Sinn nennt man schon einen inhaltlich zusammengehörigen
Cyklus von Sonetten einen Sonettenkranz (z. B. Agnes Totenfeier, ferner
Amaryllis von Rückert, Hohe Liebe von Franz Dingelstedt &c.). Jm engeren
Sinne versteht man unter Sonettenkranz fünfzehn so gebaute Sonette, daß zur
Anfangszeile jedes folgenden Sonetts je die Schlußzeile des ihm vorhergehenden
Sonetts genommen wird. Als Schlußzeile des vierzehnten Sonetts dient sodann
die Anfangszeile des ersten Sonetts. Die sämtlichen Anfangszeilen der ersten
vierzehn Sonette der Reihe nach bilden das fünfzehnte Sonett, das den Namen
Meistersonett trägt und mit den übrigen Sonetten selbstredend gemeinsamen
Jnhalt und gleichen Reim hat. Als Beispiel eines Sonettenkranzes bieten wir
den folgenden von Th. Souchay (Jn der Friedhofskapelle zu München):
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
Schlußsonett.
XV.
Man vereinigt nicht bloß Sonette zu einem Kranz (oder Krone), sondern
auch andere Strophenformen.
A. W. Schlegel hat in der Jdylle „Nikon und Heliodora“ einen Oktavenkranz
gebildet, indem er je die Schlußverszeile einer Strophe benützte, um
mit derselben die nächstfolgende zu beginnen. G. R. Weckherlin bildete in seiner
Dichtung an Herrn Georg Friedrichen (II. 429 ff.) eine Sechzehnzeilenkrone
(Sechzehnzeilenkranz) durch ähnliche Verbindung der zwölf 16zeiligen Strophen
dieses Gedichts, dessen letzte Zeile der letzten Strophe genau der Anfangszeile
des Gedichts entspricht.
§ 166. Die Terzine.
Die Terzine ist eine aus Jtalien stammende, dort unter dem
Namen Terza rime bekannte Strophe von 3 fünftaktigen jambischen
Verszeilen, deren erste und dritte miteinander reimen.
Besteht ein Gedicht aus mehreren Terzinen, so reimt sich auf die zweite
Verszeile der ersten Strophe die erste und dritte der zweiten Strophe u. s. w.
Den Schluß des Gedichts bildet lediglich eine isoliert stehende Zeile, die sich
auf die mittelste Zeile der vorhergehenden Strophe reimt:
Schema: 1. a b a, 2. b c b, 3. c d c, 4. d e d, 5. e f e u. s. w. oder
dieser Schluß: 6. f.
Am Ende jeder einzelnen Terzinenstrophe besteht ein syntaktischer Ruhepunkt,
den so mancher Dichter, z. B. Freiligrath, übersehen hat, was Chamisso rügte.
Die fortlaufenden gekreuzten Reime können männlich und weiblich sein.
Rückert wendet beide Formen an. (Jm Jtalienischen sind die Reime nur
weiblich.) Die Reimstellung bedingt es, daß keine Strophe aus einer Terzinendichtung
wegfallen kann, weil immer eine aus der andern hervorwächst wie die
einzelnen Glieder einer Kette. Die Terzinen eignen sich in Folge ihrer fließenden
Verschmelzung für größere epische, sowie auch für didaktische Gedichte.
Dante Alighieri (1265─1321) ist der Vater der Terzinen. Er hat
seine göttliche Komödie (divina comedia) in Terzinen geschrieben.
Bei uns schrieb die ersten Terzinen Paul Melissus (vgl. S. 536 d. B.).
Seit jener Zeit bis Anfang unseres Jahrhunderts war diese Form so ziemlich in
Vergessenheit geraten. Unsere meisten Litteraturgeschichten führen von deutschen
Terzinendichtern immer nur Chamisso an. Rückert hat aber schon 1812, 1814,
1816 und 1817 Terzinendichtungen geschrieben, während Chamissos Terzinen
erst aus den Jahren 1827─1838 herrühren. Die Rückertschen Terzinen,
die über 1000 Strophen betragen und somit einen stattlichen Band bilden
könnten, stehen in keiner Weise denen Chamissos nach, weder was Pracht
des Baues, noch was Schönheit des Reims betrifft. Mehrere Rückertsche
Terzinendichtungen sind von bedeutender Länge, z. B. „Edelstein und Perle“
und „Flor und Blankflor“.
Terzinen haben übrigens noch gedichtet: Sallet, Platen, Friedr. v. Schlegel
(Klagegesang am Grabe eines Jünglings), A. W. v. Schlegel (Prometheus), [544]
Herwegh (Auch dies gehört dem König, Gedichte eines Lebendigen S. 259),
Freiligrath, Julius Grosse (Je älter du &c.), Wilhelm Jensen (Um meines
Lebenstages Mittag) und Dingelstedt (Zum Gutenbergsfest in Mainz). Geharnischte
Terzinen schrieb E. Rittershaus in seinen 1878 erschienenen Freim.=
Gedichten S. 107 ff. Julius Mosen hat in „Ritter-Wahn“ Terzinen mit
reimloser Mittelzeile gebildet, wodurch seine Terzinen den eigentlichen Reiz verloren.
Goethe war kein Freund der Terzinen, weil man wegen der fortlaufenden
Reime nicht schließen könne! Und Schiller liebte dieses Metrum nicht,
„da es ihm zu einförmig leierte und die feierliche Stimmung mit ihm unzertrennlich
verbunden zu sein scheine“.
Beispiele:
Musik am Abend.
a.
Doch nein: im Einklang tönten Herz und Sterne.
(Fr. v. Sallet.)
b.
Von Flor und Blankflor den idyllschen Traum.
(Fr. Rückert.)
c.
(Aus Dantes göttlicher Komödie. Übersetzt von Bernd von Guseck. 1. Gesang.)
§ 167. Ritornelle.
Eine einzelne für sich verständliche Terzine wird Ritornell genannt.
Es ist eine lyrische, jambische, 3zeilige Strophe mit der Assonanz oder
dem Reim a x a, ein dreizeiliges Sinngedicht oder ein Epigramm.
Die Ritornelle sind italienischen Ursprungs, wo sie von Jacopo Peri schon
um 1600 angewandt wurden. Jn der italienischen Volkspoesie waren es kleine
improvisierte Volksliedchen, eine Art italienischer Schnadahüpfl. Die erste
Verszeile derselben kann kürzer sein als die andern. Häufig allitteriert die
zweite Zeile mit der ersten und dritten.
Die ersten deutschen Ritornelle schrieb Rückert in der Urania 1822,
worauf W. Müller die seinigen ebenfalls in der Urania folgen ließ. Er gab
ihnen die Überschrift: Ständchen in Ritornellen. Vers 1 und 3 assoniert bei
ihm, und 1 und 2 allitteriert; auch sind bei ihm je drei Ritornelle miteinander
vereinigt, wodurch ─ wie Müller meint ─ lyrischer Ton erreicht wird. Der
italienischen Form ist es entsprechend, daß die erste kürzere Zeile meist einen
Pflanzennamen als Anruf bringt. Die Rückertsche Form ist strenger gehalten
als die italienische, welche statt des Reims meist nur Assonanzen und Ausklänge
hat (vgl. § 126. 1. 6, S. 394). Rückert schrieb 332 Ritornelle. Jn seinen
Kindertotenliedern (Frankfurt 1872) S. 220─236 allein finden sich nicht
weniger als 140 Ritornelle.
Zu erwähnen sind die Ritornelle in Paul Heyses italienischen Liedern,
die zuweilen wie die altbayerischen Schnadahüpfl gebraucht werden, ferner die
Ritornelle Ad. Glasers, Theodor Storms und Walpurga Schindels (vgl. für
letztere Österr. Wochenschr. f. Wiss. u. K. 1872, sowie Amthors Alpenfreund 1873).
Beispiel der assonierenden Ritornelle Wilh. Müllers.
Der Garten des Herzens.
(Man beachte die bis zu unreinen Reimen „abgewetzten“ Reimwetzler
Pförtchen, Blumen, lassen.)
(W. Schindel.)
[547]§ 168. Sestine.
Sie ist ihrem Jnhalt nach meist kontemplativ und rührt angeblich
vom Troubadour Arnaud her. Opitz nennt sie Sechstine. Sie besteht
aus sechs und einer halben Strophe, von denen jede 6 jambische Verszeilen
von 10 oder 11 Silben umfaßt.
Die Endworte der sechs Zeilen der 1. Strophe bleiben in allen
übrigen Strophen dieselben, nur ist deren Stellung in jeder Strophe
eine veränderte. Die Sestinen sind nicht gereimt.
Die Ordnung in der Wiederkehr der Endworte ist so, daß die erste Zeile
der folgenden Strophe mit demselben Worte endigen muß, mit welchem die
letzte Zeile der vorhergehenden Strophe geschlossen hat. Dann folgen aus der
vorhergehenden Strophe die Endworte der ersten, sodann der fünften, der zweiten,
der vierten, der dritten Verszeile. Jn der letzten Halbstrophe kehren die sechs
Endworte in der Mitte und am Ende der Verszeilen wieder, so daß also jede
Zeile zwei derselben enthält. Manchmal enthalten dieselben jedoch auch nur
je ein Endwort, also in Summa drei derselben.
Der eigentümliche Reiz dieser Dichtungsart besteht in dem Reichtume von
Gedanken und Gefühlen, die sich immer wieder an dieselben Worte anknüpfen
lassen, und in der dichterischen Gewandtheit des Ausdrucks.
Das einfachste Schema ist:
Oder mit Zahlen:
I. 1. a b c d e f
2. f a e b d c
3. c f d a b e
4. e c b f a d
5. d e a c f b
6. b d f e c a
oder auch:
II. 1. a b c d e f
2. f a b c d e
3. e f a b c d
4. d e f a b c
5. c d e f a b
6. b c d e f a
III. 1 2 3 4 5 6
6 1 5 2 4 3
3 6 4 1 2 5
5 3 2 6 1 4
4 5 1 3 6 2
2 4 6 5 3 1
Beispiele der Sestine:
(Fr. Rückert.)
Ganz dasselbe Schema wendet Petrarca an (nach A. W.
v. Schlegel):
Lauro == Lorbeer.)
Förster verwendet dasselbe Schema; nur die letzte Halbstrophe hat
andere Anordnung der Strophenschlußworte.
§ 169. Die Oktave oder Stanze.
Stanze (estanza == Abschnitt) kann im weitesten Sinne eigentlich
jede Strophe eines Gedichts genannt werden. Besonders aber
führt diesen Namen die sogenannte Oktave (auch Ottave: ottave rime
== acht Reime) der Jtaliener. Jm Gegensatz zu Platen, der ihre
klappernde Monotonie tadeln zu müssen glaubte, ─ hat Hermann Lingg
diese Strophe nicht mit Unrecht die Königin der Strophen genannt.
Sie besteht in der Regel aus 8 fünftaktigen jambischen Vers-Zeilen,
von denen die sechs ersten alternierend, die zwei letzten paarweise reimen.
Durch den Gleichklang der letzten Zeilen entsteht eine schöne harmonische
Reimabwechslung, ein wohlklingender charakteristischer Schluß.
(Es giebt auch Oktavenkränze. Vgl. Schluß von § 165. S. 543.)
Reimschema: a b a b a b c c.
Die acht Zeilen der Strophe gliedern sich durch Reim und Sinnesabschnitt
zu vier Perioden. Jn den drei ersten derselben endigen die drei Vordersätze
je mit gemeinsamem Reim. Jn der vierten Periode reimt Vordersatz und Nachsatz
in einem Reimausgange. Es kann als Eigentümlichkeit unserer nationaldeutschen
Stanze betrachtet werden, daß der Nachsatz der drei ersten Perioden um eine
Silbe kürzer ist als deren Vordersatz, die deutsche Stanze somit drei männliche
Reime hat.
Die Abwechslung von weiblichen und männlichen Reimen trägt nicht wenig
zum Wohllaut unserer deutschen Oktave bei. Am vollkommensten und wohltönendsten [551]
wird die Oktave dann, wenn nach den ersten vier Silben jeder Verszeile
eine Cäsur eintritt. Nur wenige Dichter haben diese Regel, die freilich
nicht eben Gesetz ist, durchgehends eingehalten. Auf der zehnten Silbe fällt
der Wortaccent mit dem rhythmischen zusammen.
Die Oktave empfiehlt besonders Schiller für eine ideale epische Kunstform,
d. h. für Neugestaltung eines volkstümlichen Kunstepos, das weder im Roman,
noch in der poetischen Erzählung einen vollkommenen Ersatz finden kann. „Kein
anderes Metrum,“ ruft er aus, „als ottave rime; alle andern, das jambische
ausgenommen, sind mir in den Tod zuwider; und wie angenehm müßte
der Ernst, das Erhabene in so leichten Fesseln spielen! wie sehr der epische
Gehalt durch die weiche, sanfte Form schöner Reime gewinnen! Singen muß
man es können, wie die griechischen Bauern die Jliade, wie die Gondoliere in
Venedig die Stanzen aus dem befreiten Jerusalem.“
Platen sagt in einem Epigramm:
Rhythmische Metamorphose.
Schiller sagt von der Stanze:
Jtaliener, Portugiesen und Deutsche haben sich der Oktave zu den zartesten,
lieblichsten und zugleich zu den großartigsten Dichtungen (Epopöen) bedient.
Boccaccio († 1375) hat sie zum erstenmal in seinem romantischen Epos
La Téséide angewandt. Camoëns (Lusiaden), besonders aber Ariosto (1474─1533,
Rasender Roland), Torquato Tasso (1543─1595, Befreites Jerusalem) haben
in dieser Strophe Unvergängliches geleistet.
Von den Deutschen finden wir Oktaven bei jedem besseren Dichter. Schulzes
Bezauberte Rose, A. W. Schlegels Tristan, Heyses Braut von Cypern,
Uhlands Fortunat und seine Söhne, Linggs Völkerwanderung u. s. w.
sind in Oktaven geschrieben. Man wählt die Oktaven sonst wegen ihrer schönen
wellenartigen Bewegung und Reimabwechselung gern zu Prologen, Festgedichten,
Widmungen, romantischen Epen u. s. w. Schiller
hat die Monologe der Jungfrau von Orleans (Vorspiel 4, sowie IV. 1) in
Oktaven gedichtet; Tieck (in Kaiser Oktavianus) den langen Monolog Dagoberts,
Geibel „Valer und Anna“ und „Platens Vermächtnis“, Goethe „Epilog zu
Schillers Glocke“, Körner „Eichen“, Plönnies „Abschied vom Meere“, Mörike
„Besuch in Urach“, Herwegh „Anastasius Grün“ u. s. w. Vorbildlich ist „Rückleben“
und „Ein Abend“ von Uhland, sowie „Zueignung“ im Faust von Goethe.
Rückert hat (nach Art der Sicilianen) einzelne Stanzen als kleine Ganze behandelt
und somit diese ursprünglich epische Form als lyrische Form angewendet. Man
findet mehr als 30 Gedichte bei ihm, die nur aus je einer einzigen Oktave bestehen.
Beispiele:
(A. W. Schlegel.)
An diese im Deutschen wenig nachgeahmten Oktaven mit weiblichen Reimen
scheint sich Rückert im Eingangsgedicht zur Hamasa mit trefflich gebauten deutschen
Oktaven angelehnt zu haben:
(Ernst Schulze, Die bezauberte Rose.)
Verschiedenartig gebaute Oktaven.
a. Wielandsche Oktaven.
Wieland hat die Oktavenform in seinem Oberon gewählt, wobei
er sich besondere Freiheiten in der Anzahl der Verstakte, in der Reimwiederholung
und Reimstellung und im Reimgeschlecht gestattet. Sogar
den gepaarten Reim am Schluß vernachlässigt er. Zuweilen fügt er
Anapäste ein.
Beispiel der Wielandschen Oktaven:
b. Schillersche Oktaven.
Jn derselben freien Weise wie Wieland bildete Schiller die
Oktaven in seiner Übersetzung des Virgil (2. und 4. Buch der Äneide).
Nur in Einfügung der Anapäste macht er es seinem Vorbilde Wieland
nicht nach, was doch erlaubt gewesen wäre, da ja auch die italienische
Oktave nicht durchweg aus reinen Jamben besteht.
Beispiele aus der Zerstörung von Troja.
Viehoff tadelt die Schillersche und Wielandsche Umformung. Er sagt:
„Die Schönheit der italienischen Stanze beruht auf dem schönen Gleichgewicht,
dem rhythmischen Ebenmaß ihrer Hauptteile wie ihrer Unterglieder und auf dem
harmoniereichen Reimgesetz, der innigen Verschränkung der sechs ersten Reimzeilen,
deren Gleichklänge durch ihr dreimaliges Fliehen und Wiederkehren, ihr Hin=
und Herwogen einen höchst anmutigen Wellenschlag bilden, an den sich dann
der harmonische Zweiklang beruhigend anschließt. Diese eigentümlichen Reize
sind durch die Wieland-Schillersche Umformung gänzlich zerstört. Will
man die Stanze umbilden ─ und behufs ihrer Verwendung zu umfassenden
Dichtungen ist dies allerdings nötig, ─ so hat man darauf zu achten, daß,
wenn in der Verteilung rhythmischer Maße eine Änderung vorgenommen wird,
ein neues Gleichgewicht an die Stelle des alten tritt, und ferner, daß nur
Verse mit einander verbunden werden, die rücksichtlich der Zahl ihrer Füße in
ganz einfachem Verhältnisse stehen, also nicht Quinare und Dimeter, die sich
wie 5 zu 4 verhalten, aber wohl etwa Alexandriner und Dimeter, da jene
als Oktonare (die Pausen eingerechnet) zu diesen im Verhältnis von 2 zu 1
stehen. Die Reimfolge lasse man unangetastet; dagegen kann der jambische
Rhythmus zur Milderung der Monorhythmie hier und da durch einen Anapäst
unterbrochen werden, aber nur hie und da, damit das Gefühl des jambischen
Rhythmus nicht verloren geht, und nur wo die lebendigere Bewegung
dem darzustellenden Gegenstande entspricht.“
Den Wielandschen und Schillerschen Oktaven sind in vielen Stücken einzelne
Oktaven in Schulzes Cäcilie ähnlich. (Jn ihnen wechseln häufig vier=
und fünftaktige Jamben mit sechstaktigen.) Jn Bezug auf veränderte Reimstellung
sind ihnen die Zedlitzschen Oktaven verwandt, z. B.
c. Avé-Lallemantsche Oktaven.
R. Avé=Lallemant hat in seiner Übersetzung des Camoëns (Leipzig
1879) die Oktaven wie Schlegel dem Original entsprechend mit weiblichen
Reimen gebildet.
Beispiel:
Auch im Jtalienischen sind alle Reime weiblich, was nachstehendes klassisches
Muster aus Ariosts Orlando furioso zeigen wird:
La verginella à simile alla rosa,
Ch' in bel giardin su la nativa spina
Mentre sola e sicura si riposa;
Nè gregge, nè pastor se le avvicina;
L'aura soave e l'alba rugiadosa,
L'acqua e la terra al suo favor inchina;
Giovani vaghi e donne innamorate
Amano averne e seni e tempie ornate.
Die treffliche Nachbildung von J. D. Gries gibt echt deutsche Oktaven
mit abwechselndem Reimgeschlecht:
d. Die Spenser-Stanze.
Eine besondere Oktavenform ist die vom englischen Dichter Edmund
Spenser († 1599) erfundene und in der allegorischen Rittergeschichte
„Fairy Queen“ (die Feenkönigin) zuerst benützte sog. Spenserstanze,
welche von Thomson, Beattie und 1812 auch von Lord Byron (in
Harolds Pilgerfahrt) verwendet wurde. Sie zählt ─ wie unsere
Stanze ─ acht jambische Fünftakter, denen aber noch ein jambischer
Sechstakter (Alexandriner) angefügt ist.
Bodenstedts große Dichtung: „Andreas und Marfa“ (Werke Bd. X.
83─150) ist in Spenserstanzen gedichtet.
Beattie macht in seinen Briefen folgende Bemerkung über die Spenserstanze:
„Vor nicht langer Zeit begann ich ein Gedicht im Stil und in der
Stanze Spensers, worin ich mir vornahm, meiner Neigung vollen Lauf zu
lassen und bald drollig, bald pathetisch, bald beschreibend, bald sentimental,
bald zart, bald satirisch zu sein, wie mir eben die Laune ankäme; denn wenn
ich mich nicht irre, erlaubt dieses Versmaß alle diese verschiedenartigen Zusammenstellungen.“
Byron citiert diese Stelle im Vorwort zu „Harolds Pilgerfahrt“
und setzt hinzu: „Bestärkt in meiner Ansicht durch solche Autorität
und durch das Beispiel einiger italienischer Dichter erster Größe, werde ich mir
wegen ähnlicher Abwechselungen in diesem Gedichte keine Schutzrede halten,
überzeugt, daß, wenn sie erfolglos sind, ihr Mißlingen mehr in der Ausführung
als in dem Unternehmen gesucht werden müsse, welches letztere durch die Leistungen
Ariosts, Thomsons und Beatties gerechtfertigt ist.“
Das Reimschema der Spenserstanze ist folgendes:
a b a b b c b c c, also dreifacher Reim.
Die Reime im Original Byrons sind männlich wie die in der Büchner=
schen Übersetzung. A. Böttger hat in seiner Übersetzung abwechselnd männliche
und weibliche Reime gebraucht. Ebenso die Stuttgarter Byron-Ausgabe
in 10 Bänden vom Jahre 1845.
Beispiele:
Der vorstehenden 1. Strophe aus der Übersetzung von Ad. Böttger
lassen wir der Vergleichung halber die gleiche Strophe aus der Übersetzung
Alexander Büchners folgen, der im Gegensatz zu Böttger, wie erwähnt,
durchweg die männlichen Endreime des Originals beibehalten hat:
Beispiel der Bodenstedtschen Spenserstanzen.
(Prolog zu Andreas und Marfa.)
§ 170. Die Siciliane.
Die Siciliane ist eine aus Sicilien stammende, dort schon im
13. Jahrhundert gepflegte jambische Strophenform, eine Stanze oder
Oktave, die nicht mit dem Reimpaare abschließt, sondern den a b=Reim
bis zum Schluß fortsetzt. Reimschema: a b a b a b a b.
Die Siciliane unterscheidet sich von der Ottave rime somit lediglich durch
Beibehaltung der gekreuzten Reime bis zum Schluß. Sie hat also nur 2 Reime,
die sich dreimal abwechselnd wiederholen. Ein anderer Unterschied besteht darin,
daß man sie nicht zu größeren Dichtungen ─ wie Epopöen ─ verwendet,
sondern daß jede Siciliane (ähnlich wie einzelne Rückertsche Oktaven) ein für
sich bestehendes Ganzes bildet. Aus diesem Grunde bedurfte sie keines strophenschließenden
Charakteristikums. Auch Rückerts bekannte „Rosa Siciliana“ im
Frauentaschenbuch 1823 (72 Strophen) sind eben einzelne Gedichte, die durch
nichts als den Titel zusammenhängen, wie sie denn auch in der Ges.=Ausg.
mit untermischten neuen Sicilianen willkürlich anders geordnet wurden. (Vgl.
meine „Neuen Mitteilungen über Fr. Rückert“ II. S. 155 ff. und I. 201.)
Fr. Rückert war es, welcher die Siciliane aus Sicilien zuerst auf
deutschen Boden verpflanzt hat. Seine ersten deutschen Sicilianen (16 Nrn.)
erschienen in Wendts Taschenbuch zum geselligen Vergnügen (S. 359─365,
Jahrg. 1820). Sie zeichnen sich aus durch arabeskenartige Anklänge, Assonanzen,
Allitterationen, spielende Verwechslung der Wörter, ghaselenartige Reime &c.,
so daß sie einzig in ihrer Art dastehen. Man vgl. nur die 48., 79., 81.,
82., 88. Siciliane der Rückertschen Ges.=Ausg. Bd. V. 76 ff.
Dem Reimschema der Siciliane begegnen wir in der deutschen Litteratur
übrigens schon bei Konrad von Würzburg. (Vgl. v. d. Hagens Minnesinger I.
310. Nr. 1, sowie bei Markgraf von Hohenburg, ebenda Bd. I. 33. Nr. 2.
Vgl. noch III. 334.)
Beispiele:
a. Mit bloß weiblichem Reime.
(Rückert.)
b. Mit männlichem und weiblichem Reime.
(Rückert.)
[558]c. Mit weiblichem und männlichem Reime.
(Rückert.)
d. Mit bloß männlichem Reime.
(Rückert.)
§ 171. Die Kanzone.
Mit dem Namen Kanzone (franz. chanson, prov. cansos) bezeichnet
man jenes von den Troubadours entlehnte lyrische, provençalische Strophenmaß,
das durch Petrarca weitergebildet jetzt noch für bestimmte Weisen
italienischen Geschmacks angewendet wird. Die meist 4 bis 12 gleichartigen
Strophen bestehen in der Regel aus 11, 13 oder 16 elfsilbigen
jambischen Verszeilen, mit siebensilbigen abwechselnd. Die
Strophen sind dreiteilig und erinnern in der Bauart an die deutschen
Minnelieder. Jeder der in Zahl und Maß der Verszeilen genau
übereinstimmenden beiden ersten Teile des Aufgesangs dieser Strophen
(Stollen oder Füße) schließt nämlich wenn möglich mit einer logischen
Pause, worauf der sieben Zeilen umfassende Schlußteil (Coda, Schweif,
Geleite) mit ungetrenntem Reim sich anschließt. Am Schlusse des
Gedichts folgt eine kürzere Strophe. Als Geleite bildet sie einen
kleinen Epilog am Schlusse des Gedichts, den man Chiusa (spr. kiusa)
oder auch Congedo == Abschied nennt.
Wenn dieser Abschied auch keinen wesentlichen Bestandteil der Kanzone
bildet, so ist er doch eine charakteristische Zierde derselben; sein Zweck ist, eine
verabschiedende Anrede oder einen Auftrag an das Lied zu richten und den Abgesang
in Maß und Reim vollständig oder teilweise zu wiederholen.
Der Reim ist: 1. Fuß: a b c. 2. Fuß: b a c. Abgesang: c d e e | d f f.
Jm Schlußteile sind dem Reime Freiheiten gestattet. Die siebente verbindende
Zeile der Strophe muß dem Reime nach zum ersten Teile, dem Gedanken nach
jedoch zum 2. Teile gehören. Sie heißt deshalb Zwischenzeile. Die 7.
und 10. Zeile sind siebensilbig. Die sich besonders für elegische Dichtungen [559]
eignende Kanzone wurde nicht mit Unrecht einem auf großer Wasserfläche feierlich
hingleitenden, weite Kreise ziehenden Schwane verglichen, während man sich
die beschwingte Ode gleich dem Adler dahin rauschend dachte. Sie war als
lyrische Dichtart bereits im 13. Jahrhundert in Jtalien gebräuchlich.
Petrarca gab ihr eine bestimmte Form, die man Canzone Petrarchesca
nannte. Die spätere von den Toscanern ausgebildete Form nannte man die
Canzone Toscana. Sie entspricht unserer Kanzone. Jhr erster Teil zerfällt
in 2 gleiche Hälften (Piedi) mit korrespondierenden Reimen, der zweite (Sirima
oder Volte) ist freier gebildet. Nach 5─10 solcher Strophen schließt eine kleinere
Strophe (Congedo oder Ripresa, auch Commiato, oder auch Chiusa genannt)
die Kanzone ab. Jn dieser Ripresa oder Chiusa nimmt der Dichter vom
Liede Abschied und weist ihm den Ort seiner Bestimmung an.
Neben dieser herrschend gewordenen Form giebt es noch einige andere
Formen. Nämlich a: Canzone distĕra, bei welcher die Verse der einen
Strophe mit den korrespondierenden Versen der folgenden Strophe reimen, und
bei welcher einzelne Strophen durch Anhänge (Catenen) verbunden waren.
b. Canzone Anakreontica, welche aus kürzeren Verszeilen und kürzeren
Strophen besteht. c. Canzone Pindarica oder Canzone alla Greca,
welche freieres Metrum hatte und (ähnlich der griech. Strophe, Antistrophe und
Epode) in Ballata, Contraballata und Stanza zerfiel. Chiabrera, der
die Kanzone willkürlich gliederte, nannte seine Formen Canzonetten. d. Canzone
a ballo, welche ─ bis ins 16. Jahrhundert hinein ─ zum Tanz
gesungen wurde.
Bekannt gebliebene Kanzonen schrieb neben Dante besonders Bembo,
Garcilaso und Petrarca. Des Letzteren berühmte Kanzonen „le tre sorelle“
(die 3 Schwestern) werden nach Kekulé und Biegeleben (in „Die Reime des
Francesco Petrarca“. Stuttgart 1844. S. 164) von den Jtalienern zum
Schönsten gerechnet, was jemals in der italienischen Lyrik geleistet wurde.
Tessoni nennt sie die Königinnen aller Kanzonen. Jn nicht weniger als 264
Versen feiern dieselben Lauras Augen, lassen aber den seit einem halben Jahrhundert
über ihre Farbe geführten Streit unentschieden. Petrarca ist in ihnen
ganz Gefühl und Schwärmerei um die schöne Tochter des Rhonethals. ─
Die Kanzonen des großen Portugiesen Camoëns sind durch die 1874
zu Paderborn erschienene gute Übersetzung von Wilh. Storck dem deutschen
Lesepublikum zugänglich gemacht. Jn den 18 Kanzonen des Camoëns treten
uns 14 durch Ausdehnung der Stollen und des Abgesangs verschiedene
Strophengefüge entgegen. Diese Kanzonen zeigen, wie sich der wahre Dichter
weder durch Stoff, noch durch die Form beengen läßt. Die ganze Gemütswelt
mit all ihren Stimmungen bietet dem Camoëns den Stoff, und er hat
es verstanden, die Gestaltung der Gedankenglieder dem Gewande der Kanzonenstrophe
anzupassen. Die beiden Stollen stimmen bei ihm metrisch zwar überein,
aber sie werden in der Zeilenbindung weit freier als im deutschen behandelt,
also z. B. in der Ordnung a b : b a (statt a b : a b) oder a b c : b a c
(statt a b c : a b c) verkettet. Der abweichend gebaute Abgesang überragt ─ [560]
wie im deutschen ─ mindestens das Maß eines einzelnen Stollen, meistens
aber beide zusammengenommen. Die kleinste 3teilige Strophe in der 18. Kanzone
des Camoëns bildet die Siebenzahl, nämlich einen aus 2 zweizeiligen Stollen
gebildeten Aufgesang mit 3zeiligem Abgesang. Jn der 11. Kanzone sind ─
wie nur einmal bei Petrarca ─ als äußerstes Maß 20 Verszeilen mit der
Gliederung 3 : 3 : 14 angewandt; der Abgesang ist nur einigemale abweichend
gebildet. Bezüglich des Reimes ist zu erwähnen, daß sich neben weiblichen
Reimen auch männliche ohne bestimmtes Gesetz finden.
Von den deutschen Dichtern schrieben berühmt gewordene Kanzonen:
1. Zedlitz (Jn seinem Kanzonen-Cyklus „Totenkränze“ ─ Wien 1828 ─
tritt der Dichter an die Gräber verschiedener Toter: eines Petrarca, Tasso,
Wallenstein, Napoleon, Byron, Joseph II. u. s. w., und entwirft Charakterbilder
der Gestorbenen). 2. Schlegel (An Novalis; Lob der Frauen &c.).
3. Bürger (Auf die Morgenröte). 4. Oehlenschläger (Abschied an
Giebichenstein, worin nur der 3., 6., 8., 11. und 13. Vers jeder Strophe das
längere Maß haben. Das Strophenschema ist: a b c, a b c, c d e e d f f).
5. Max Waldau („O diese Zeit“, eine formvollendete, die unglückselige
Zerrüttung des Vaterlands und die Glaubens- und Parteispaltungen beklagende
Kanzone). 6. Hamerling. 7. Franz Dingelstedt (Kanzonenkranz I.
169 ff.), Karl Streckfuß u. A.
Beispiele:
An Novalis. Von A. W. Schlegel. (Strenge Form.)
1. Stollen.
2. Stollen.
Abgesang.
1. Stollen.
2. Stollen.
Abgesang.
1. Stollen.
2. Stollen.
Abgesang.
b. Beispiel von Petrarca.
1. Stollen.
2. Stollen.
Abgesang.
Auf sechs solcher Strophen folgt der nur dreizeilige Abschied:
c. Auf Banda. (6. Kanzone von Camoëns nach der Übersetzung
von Wilh. Storck.)
1. Stollen.
2. Stollen.
Abgesang.
§ 172. Die Vierzeile.
Die gewöhnliche italienische Vierzeile ist ein kleines vierzeiliges
Gedichtchen witziger oder galanter Natur.
Durch die Verschiedenartigkeit der Zeilenlänge und des an keine besondere
Regel gebundenen Reimes ist das Auseinanderfallen in zwei Zweizeilen verhindert.
Goethe hat die Vierzeilen hundertweise als deutsche Xenien eingeführt,
unter welchem neuen Titel auch die Rückertschen Vierzeilen in der Ges.
Ausg. Rückerts (Bd. VII) sich finden. Man kann Vierzeile wie Ritornell
als eine Art Epigramm oder Sinngedicht auffassen.
Beispiele:
(Rückert.)
[565](Rückert.)
B. Spanische Formen.
§ 173. Die Decime.
Diese vom spanischen Dichter Vicente Espinel (1551─1634)
erfundene Strophenform wurde durch dessen lyrische Gedichte (Madrid
1591) unter dem Namen Espinelestrophe rasch beliebt. Sie besteht
─ wie schon ihr Name besagt ─ aus zehn Versen, sog. spanischen,
d. i. viertaktigen Trochäen, die durch vier verschlungene, meist weibliche
Reime verbunden sind.
Das Reimschema ist folgendes: a b b a a c c d d c,
oder: a b a a b c d d c d,
oder: a b a b a c c d d c.
Doch kommen auch andere Reimstellungen vor. Aus Decimen ist die
Glosse, (§ 174) wie die Tenzone (§ 175) gebildet. Verwendung fand sie
bei uns besonders durch A. W. Schlegel, Tieck, Uhland, Fr. Schlegel,
Platen, Bürger, Fouqué, Rückert. Letzterer bediente sich folgenden
Schemas: a b a b, b c c b d d, wodurch bei ihm die Reimverkettung derartig
wurde, daß ein Auseinanderfallen der Strophe in 2 fünfzeilige Strophen
unmöglich ist. Dazu kommt bei ihm ─ was indes auch bei andern beachtet
ist ─ der syntaktische Ruhepunkt nach der 4. Zeile, so daß die 5. Zeile
sich eng an die übrigen bindet. Bei einigen ist der Ruhepunkt nach der
5. Zeile. Vgl. Beisp. c. Die Decime wurde von den Spaniern auch im
Drama verwendet (vgl. A. W. Schlegels Spanisches Theater).
Beispiele:
Schema: a b b a, a c c d d c.
a.
(Fouqué.)
[566]Dieses Reimschemas hat sich auch A. W. Schlegel in seiner Übersetzung
des Calderonschen Stückes „Schärpe und Blume“ bedient. Z. B.:
b.
Schema: a b a a b c d d c d.
c.
(Bürger.)
Schema: a b a b a c c d c d.
d.
(Friedr. Schlegel.)
Rückertsches Schema: a b a b, b c c b d d.
e.
(Rückert.)
[567]§ 174. Die Glosse.
Glosse (vom griechischen γλῶσσα == Erklärung) ist eine aus dem
Spanischen eingeführte aus Decimen aufgebaute künstliche Form. Es
liegt derselben eine 1─4zeilige Strophe als Thema zu Grunde,
welch letzteres in ebensoviel Strophen ausgeführt wird, so zwar, daß
die letzte Verszeile jeder Strophe immer eine Verszeile des Themas
der Reihe nach darstellt. Man könnte daher die Glosse als Variationen
über ein bestimmtes Thema bezeichnen, weil jede Decime derselben mit
einer Zeile dieses Themas geschlossen werden muß.
Es erhellet, daß die letzten Zeilen der einzelnen Strophen in ihrer Zusammenstellung
das Thema wieder ergeben müssen. Selbstredend haben diese
Zeilen am Schlusse der Decimen mit deren Jnhalt in solchem Zusammenhang
zu stehen, daß es scheint, als wäre gar keine Rücksicht auf das vorher gegebene
Thema genommen.
Die Glosse wurde durch Philipp von Zesen († 1689) in unsere
Litteratur eingeführt, worauf sie vergessen war, bis ihr die Gebrüder Schlegel,
─ die ihr den Namen Variationen beilegten ─ bleibende Aufnahme sicherten.
Bekannt sind die Glossen über das Thema von Tieck:
Wie ein Specimen wurde dieses Thema dreimal von A. W. Schlegel
bearbeitet, zweimal von einer Dichterfreundin Schlegels (vgl. A. W. Schlegels
Werke I. 146 ff.), einmal von Fr. Schlegel, sodann von E. Schulze, von
Gottwalt, von Tieck, von Platen und von Uhland. Rückert hat neben decimenartigen
Glossen auch nicht=decimenmäßige geschrieben, z. B. Ges. Ausg. I.
521. II. 449. VII. 326. 433. 463. Ebenso schrieb Platen eine Glosse in
6zeiligen und eine in 8zeiligen Strophen. (Vgl. Werke I. 85 und 220.)
Beispiele der Glosse:
Die Sprache der Liebe.
(Tieck.)
(A. W. Schlegel, Werke I. S. 141.)
Wir lassen hierzu die mehr humoristisch gehaltene Bearbeitung desselben
Themas durch Uhland folgen.
(Tieck.)
Von den beiden folgenden Rückertschen Glossen glossiert die erstere (a) den
Jnhalt des Themas, ohne sich an die herkömmliche Glossenform zu halten.
Die zweite (b) beachtet die Glossenform insoweit, als sie lediglich die Textzeilen
an den Strophenschlüssen wiederkehren läßt.
a. Glosse.
Goethe, Faust II.
b. Text-Erweiterung.
Text. (Neugriechisch von Goethe.)
Erweiterung.
Jn der Glosse mit dem Thema:
bietet der Dichter am Schlusse der beiden ersten 7zeiligen Strophen je eine
Zeile des Themas, welches am Ende der 3. Strophe ganz wiederholt wird.
(Vgl. Rückerts Ges. Ausg. I.. 521.)
Eine neue Form einer freien Glosse, in welcher sich der Dichter den Text
selbst gegeben und als erste Strophe dem Gedichte einverleibt, besitzt unsere
Litteratur durch Müller von der Werra. Seine Glosse erhält durch ihr
jambisch anapästisches Motiv etwas Liebliches und durch Zerreißung der Zeilen
etwas Freies und Bewegliches.
Dichtergruß.
(Müller von der Werra.)
§ 175. Die Tenzone.
Tenzone (franz. tenson == Wettgesang) ist ihrer Abstammung nach
ein altprovençalisches Streitgedicht. Man versteht darunter eine Art
Doppelglosse, bei welcher zwei oder mehrere Personen über irgend ein
freies, poetisches Thema unter Beibehaltung der (nur vom Gegner [572]
in umgekehrter Folge zu bringenden) Reime des Themas und der
Versform desselben stritten, wobei sie ebensoviel Decimenstrophen anzuwenden
hatten, als das Thema Verszeilen besaß.
Während das Glossenthema einem vorhandenen dichterischen Ausspruche
entstammt, muß das Thema der Tenzone als Ausgangspunkt der strittigen
Frage sofort frei gebildet werden. Während die Glosse die ganzen Zeilen
des Themas wiederholt, bringt die Tenzone ─ wie erwähnt ─ nur die
Reimwörter, die also zweimal vorkommen, da sie der Gegner in umgekehrter
Folge ebenfalls an den Schluß seiner Decimen zu setzen hat.
Tenzonen, in welchen der eine Part dem andern zwei Sätze zur Auswahl
vorlegt und die vom Gegenpart verteidigte Ansicht bekämpft, gab es
nur im Französischen. Man nannte sie jeu-parti oder partimens. Tenzonen,
in welchen mehr als zwei Streitende auftraten, hießen torneiamens.
Neben den Tenzonen, in welchen 2 oder 3 Dichter auftraten, gab es bei den
Franzosen auch solche, in welchen nur ein einziger Dichter einem leblosen Gegenstande
oder einem Tiere die Verteidigung in den Mund legte. Zuweilen
wurden die strittigen Fragen Damen oder Rittern (sog. Liebeshöfen) zur Entscheidung
vorgelegt. Der Gegenstand der Tenzone war fast immer die Liebe;
seltener war er ein persönlicher Streitpunkt. Jhr wenig löblicher Zweck war
meist, die dialektische Spitzfindigkeit des einen Teils in grelle Beleuchtung zu
setzen und dem andern Teil eine Niederlage zu bereiten.
Die älteste deutsche Tenzone ist von Heinrich von Meißen (1260
bis 1318), welcher mit Barthel Regenbogen darüber stritt, ob man Weib
oder Frau sagen solle. Er entschied sich für Frau und erhielt davon den
Namen Frauenlob (v. d. Hagens Minnesinger II. 344 ff.).
Die Gegenansicht schritt in den älteren Tenzonen in der Regel strophenweise
vor. Später trat sie gedichtweise ein, so zwar, daß sich erst die
eine Ansicht ganz aussprach und dann die zweite mit Widerlegung aller
Gründe des Gegners. So ist es im Sängerstreit zwischen Uhland und
Fr. Rückert, (vgl. Rückerts Ges. Ausg. VII. 53), weshalb die beiden Streitgedichte
nicht neben, sondern nacheinander zu drucken sind.
Zu diesem poetischen Wettstreite wurden Uhland und Rückert 1816 durch
einen gemeinsamen Freund, den Prinzenerzieher Fink, in einer heiteren Gesellschaft
zu Stuttgart herausgefordert. Es war die Frage aufgeworfen, ob
Untreue oder Tod der Geliebten das kleinere Unglück sei. Das Thema wurde
sofort in folgenden 4 Zeilen niedergeschrieben:
Uhland erhielt die Aufgabe, den Tod als das geringere Unglück darzustellen,
während Rückert die entgegengesetzte Ansicht zu vertreten hatte. Somit
hatte Uhland als der zuerst Sprechende die vier Reimworte Spruch, Not,
Bruch, Tod in absteigender, Rückert dagegen in aufsteigender Ordnung [573]
an den Schluß der einzelnen Lösungsdecimen zu stellen. Beide sollten der
Anforderung an die Tenzone genügen und also auch die syntaktische Pause
nach der 4. Zeile legen.
Es entstand folgende Tenzone, die wir als Beispiel der Tenzonen=
Form geben:
Uhland:
Rückert:
Spruch.
§ 176. Kancion.
Die zwei oder drei Strophen dieser aus Spanien stammenden
lyrischen Form haben zusammengenommen 12 bis 24 (oder auch zuweilen
mehr) trochäische Verszeilen, von welchen die 4 ersten mit den 4 letzten
─ geringe Abweichungen abgerechnet ─ meist übereinstimmen.
Die erste Strophe, welche das 3= bis 5zeilige Thema oder den Hauptgedanken
enthält, ist in der Regel die kleinere; die folgenden Strophen, welche
mit den Reimwörtern dieser ersten Strophe endigen, sind bedeutend länger.
Die einfache Vergleichung schon läßt das Kancion als eine vereinfachte Glosse
erscheinen.
Jn Spanien wie in Portugal sammelte man die Kancione in Liederbüchern,
die man Cancionero (portugiesisch: Cancioneiro) ─ im Gegensatz
von Romancero ─ nannte.
Beispiel:
(Rückerts Kindertotenl. S. 378.)
§ 177. Seguidilla.
Diese aus Spanien entlehnte Form besteht aus 4 fünf= bis siebensilbigen
Verszeilen, welche alternierend assonieren. Häufig verbindet
man mit diesen vier Zeilen noch einen Anhang von drei Versen, welcher
Estribilla genannt wird, und von dem der erste und dritte Vers durch
den Schlußreim gebunden sind.
Ursprünglich war die Seguidilla für Gedichte bestimmt, welche zur Begleitung
des spanischen Tanzes Bolero gesungen wurden. Man identificiert in
Spanien heute noch Seguidilla und Bolero. Eine Sängerin, welche die Seguidilla
singt, indem sie den Bolero tanzt, nennt man in Spanien Seguidillera.
Beispiel:
(Geibels Nachbildung aus dem Spanischen.)
[576]C. Französische Formen.
§ 178. Das Madrigal.
Das Wort Madrigal läßt sich vom italienischen mandra == Herde
(oder auch von mardre == Schäfer und gal == Lied) ableiten. Man
versteht darunter ein dem französischen entlehntes Schäferlied, Schäfergedicht,
─ ein kleines tändelndes Liedchen ohne regelmäßige Einteilung
in Strophen, die oft gar nicht einmal gereimt sind. Es spricht einen
einfachen, anmutigen oder witzigen Gedanken aus, ein zärtliches Gefühl,
eine feine Artigkeit in ländlich einfacher oder tändelnd sinnreicher
Weise. Es hat 5─15 Verse, doch finden sich auch einige Überschreitungen.
Die meisten Madrigale haben drei=, vier- oder fünftaktige
Jamben oder Trochäen.
Das Madrigal wurde bald bei uns heimisch. Man ging in seiner Anwendung
so weit, jedes kleinere, durch Reimverschlingung festgeschlossene lyrische
Gedicht Madrigal zu nennen.
Mehr als von den Franzosen (z. B. Montreuil, Lainez, Moncrif)
wurde das Madrigal von den Jtalienern gepflegt. Petrarca gab ihm erhöhte
Bedeutung, indem er es zur Darstellung übersinnlicher Liebe verwandte. Tasso
bediente sich seiner zum Ausdruck von Sentenzen über Liebe in leichter Form,
so daß es bei ihm dem Epigramm der Griechen verwandt ist.
Deutsche Madrigale dichteten: Hagedorn (Aufmunterung), Lessing (An
die Schwalbe), Jakobi (An Elisen), Goethe (Nähe), Manso (Auf Natalien &c.),
Götz, Voß, Gotter, A. W. Schlegel, Uhland, Rückert, Julie von Großmann
u. A.
Beispiele des Madrigals:
a. Aufmunterung zum Vergnügen.
(Fr. v. Hagedorn.)
b. Das Lämmlein.
(Rückert.)
c. Lob des Frühlings.
d.
(Julie von Großmann.)
e.
(Vgl. noch Lessing: Der alte und der junge Wein.)
§ 179. Akrostichon und Akrostrophe.
Das Akrostichon (von ἄκρον Spitze und στίχος Vers) ist eine
Art Madrigal, ein kleines Gedicht, in welchem die Anfangsbuchstaben
der Verszeilen einen Namen, ein Wort, einen sentenziösen Satz oder
einen Vers bilden, dem der Jnhalt des Gedichtes verwandt ist.
Jn seltenen Fällen verteilt man die verschiedenen Worte eines
Spruches (z. B. Befiehl dem Herrn deine Wege von Paul Gerhardt)
auf die Anfangsworte der Strophen, wodurch sich eine erweiterte Form
des Akrostichons ergiebt, für deren Benennung ich das Wort Akrostrophe
vorschlagen möchte.
Das Akrostichon haben wir den Franzosen abgelernt. Doch soll diese
Spielerei schon bei gewissen sibyllinischen Orakeln und bei Ennius stattgefunden
haben. (Cic. de divin. II. 54. 111. 112.) Bei uns hat namentlich die
schlesische Schule in Gelegenheitsgedichten diese Form angewandt.
Beispiele: Lob. (Emil.)
Wunsch. (Emil.)
Wiedersehn. (Emil.)
(Wernick.)
Die Spielerei dehnte sich so weit aus, daß sogar fremde Sätze an
deutsche Buchstaben gereiht wurden, z. B.:
(Rose.)
§ 180. Das Triolet (Dreiklangsgedicht).
Das Triolet ist französischen Ursprungs und besteht in der Regel
aus 8 (selten aus 9 oder 10) jambischen oder auch trochäischen Versen.
Nach dem 3. Vers wiederholt es den ersten, und nach dem 6. (selten
nach dem 8.) die beiden ersten Verse in sinnreicher, überraschender
Weise. Die 1. Verszeile tritt somit dreimal auf, woher es seinen
Namen hat.
Die zwei ersten, einen abgeschlossenen Hauptgedanken (gleichsam das Thema
des ganzen Gedichtes) enthaltenden Verse, bilden am Schlusse eine Art Refrain,
müssen aber freilich im inhaltlichen Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen
stehen.
Es kommen im Triolet nur 2 Reimlaute vor. Lieblichkeit des Ausdrucks,
süße Tändelei, melodischer Rhythmus, Anmut und gefällige Wiederholung des
einen Gedankens in der Mitte und am Ende des Gedichts charakterisieren es.
Nach Hagedorns Vorgang gebrauchten es bei uns: Schlegel, Tiedge,
Gleim, Haug, Goethe, Platen, Klamer Schmidt, Kugler, Raßmann, Chamisso,
Rückert, Smets, Ernst Schulze, Geibel, Br. Hanschmann, Albert Möser (im
deutschen Dichterheim Nr. 7. 1881) u. A.
Manche Dichter haben 2 und 3 Triolete zu einem einzigen Gedicht vereinigt.
Jn diesem Falle bildet jedes Triolet eine Strophe des Gedichts. Ein
dreistrophiges Triolet nennt man Rondel.
I. Einstrophige Triolete.
Beispiele:
a.
(Kugler.)
b.
(A. W. Schlegel II. 200.)
c.
(Smets.)
(Man beachte die Umdrehung der Zeilen am Schluß.)
II. Zweistrophige Triolete.
Beispiel: Hier und Jenseits.
(von Bouterweck.)
[580]III. Dreistrophige Triolete (Rondel).
Beispiele: Hagedorns schönes Rondel „Du Schmelz der bunten Wiesen!“
sowie Geibels Rondel, bei welchem jedoch die 1. Zeile nach der 3. Zeile nicht
wiederholt ist.
(Geibel.)
IV. Abarten einstrophiger Triolete.
Einzelne Dichter haben sich ─ wie wir es soeben auch bei Geibel sahen
─ Abweichungen in der Trioletform gestattet. So hat z. B. Rückert die 1. Zeile
nach der 3. Zeile nicht wiederholt. Goethe hat die 2. Zeile zur 4. gemacht.
Klamer Schmidt wiederholt die 1. Zeile schon nach der 2. Zeile u. s. w.
Beispiele der Abweichungen:
a.
Ebenso gebaut ist Platens Triolet: „Und müßtest du verschwinden“
(s. Werke I. 38).
b.
c.
(Klamer Schmidt † 1826.)
§ 181. Das Rondeau (Ringelgedicht, Rundgedicht).
Das im Bau mit dem Triolet verwandte Rondeau ist wie jenes
französischen Ursprungs und besteht aus 13 jambischen oder trochäischen
Versen. Es zerfällt in zwei ungleiche Strophen-Teile, von denen
der erste 8, der zweite 5 Verse enthält. Der erste und der zweite
Teil endigt, wie die erste Zeile beginnt.
Eine scheinbare Abweichung findet sich, wenn das Thema, das in der
Regel nur die erste Halbzeile füllen soll, auf 2 Zeilen verteilt wird
(vgl. das Beispiel b), oder wenn die zu wiederholenden Worte in der Wiederholung
als isolierte Zeilen geschrieben werden. (Vgl. Beispiele c. und d.) Die
Folge der Reime ist dem Belieben des Dichters anheimgestellt, sofern er nur
8 männliche und 5 weibliche, oder umgekehrt 5 männliche und 8 weibliche.
anwendet. Jn der Regel hat das Rondeau nur 3 Reime.
Beispiele:
Nähe Gottes.
a.
(Köster.)
[582]Abweichung durch Ausdehnung des Themas.
b.
(Fr. v. Schlegel.)
Abweichung durch Einfügung von Wiederholungszeilen.
c.
d.
(Viehoff.)
Man vgl. als Beispiel auch Schmitthenners „Es ist vollbracht“. N. Götz
bildete ein Rondeau mit 21 Zeilen, dessen erster Strophenteil 13 Zeilen enthält.
D. Französisch=deutsche Strophen.
§ 182. Die Alexandrinerstrophen.
Sie entstehen durch Zusammensetzung von 2 oder mehr Alexandrinerversen,
oder durch Verbindung mehrerer Alexandrinerverse mit
andern Versen.
a. Rückerts Alexandriner-Distichon.
Rückert bildet in der Weisheit des Brahmanen Alexandrinerstrophen,
welche aus je zwei Alexandrinerversen bestehen: also Alexandriner=Distichen.
Beispiele s. § 107. 6. S. 315 d. B.
b. Geibels neunzeilige Alexandrinerstrophe.
Sie besteht aus je 8 Alexandrinerversen und einem abschließenden
jambischen Viertakter.
Beispiel:
(Emanuel Geibel.)
c. Freiligraths sechszeilige Alexandrinerstrophen.
Freiligrath verbindet 4 Alexandrinerverse mit 2 hyperkatalektischen
jambischen Viertaktern, so daß der 1., 2., 4. und 5. Vers Alexandrinerverse,
der 3. und 6. Vers jedoch jambische Viertakter sind.
(Es ist wahrscheinlich nur Versehen, daß Freiligrath diese von ihm selbst
aufgestellte Regel am Schluß der 4. Strophe des nachfolgenden Gedichtes
verletzt, da er sie doch auch im Gedichte „An das Meer“ aufrecht
erhält.) Eine andere Alexandrinerstrophe bildet Freiligrath durch
Verbindung von 5 Alexandrinerversen mit einem abschließenden jambischen
Viertakter. (Vgl. Beispiel b, wo wir die 1. Strophe seines
9strophigen „Scheik am Sinai“ bieten.)
Beispiele:
a. Freiligraths erste Alexandrinerstrophe.
(Freiligraths „Alexandriner“.)
b. Freiligraths zweite Alexandrinerstrophe.
(Freiligrath, Scheik am Sinai.)
E. Orientalische Formen.
§ 183. Persische Vierzeile (Rubaj, Rubajat).
Während das Reimschema der gewöhnlichen Vierzeile a b b a
oder a b a b oder a a b b ist, so ist es bei der persischen Vierzeile
stets a a b a. Diese unterscheidet sich somit von unserer Vierzeile
dadurch, daß immer die erste, zweite und vierte Zeile den gleichen Reim
haben, während die dritte reimlos ist. Der Anfang eines jeden Ghasels
(vgl. § 184) ─ (also das Ghasel in seinen 4 ersten Zeilen) ─ entspricht
einer persischen Vierzeile. Diese liebt ─ wie das Ghasel ─
den reichen Reim.
Die ersten persischen Vierzeilen wurden in unsere Litteratur durch Fr.
Rückert eingeführt. (Vgl. des Verf. Neue Mitteilungen über Fr. Rückert I.
256.) Rückertsche persische Vierzeilen enthält die Aglaja 1825, sowie das
Frauentaschenbuch 1825 unter der Überschrift „Frühlingsgedanken“.
Beispiele persischer Vierzeilen von Rückert:
a. Männlicher Reim.
b. Weiblicher Reim.
§ 184. Das Ghasel und die Kasside.
1. Das Ghasel (== Lobgedicht) stammt aus dem Persischen und wurde
durch Fr. Rückert, dessen erste Ghasele im Taschenbuch für Damen
1821 abgedruckt sind, auf deutschen Boden verpflanzt. (Die in alle
Litteraturgeschichten übergegangene irrige Angabe Karl Gödekes in
Platens Werken I. 19, daß Platen das Ghasel in Deutschland zuerst
eingeführt habe, konnte ich in Rückerts Ges. Ausg. XII. 414 und in
meinen Neuen Mitteilungen über Fr. Rückert Bd. I. S. 113 aktenmäßig
klar stellen.)
Jn seiner äußeren Form ist das Ghasel eine Verlängerung oder Erweiterung
des Rubaj oder der persischen Vierzeile (§ 183). Es besteht aus
beliebig vielen Verspaaren oder zweizeiligen Strophen (sog. Bëits), von
denen je die zweite Hälfte den gleichen Reim haben muß, während
die erste Hälfte ─ mit Ausnahme der Anfangszeile des ganzen Gedichts
─ reimlos ist. Reimschema: a a, b a, c a, d a. &c.
2. Ernste Ghasele, deren elegischer oder didaktischer Jnhalt Totenklagen,
Kriegsgesänge und Ähnliches bildet, sowie auch umfangreiche
Ghasele heißen Kassiden.
1. Oft wird beim Ghasel dasselbe Wort oder eine halbe oder sogar die
ganze Verszeile wiederholt, indem ein Vollreim vorhergeht. Oft wird der Vollreim
zwischen zwei durchgehende identische Reime gesetzt. Die Ghasele lieben es,
den Kretikus (– ⏑ –) zu reimen. (Vgl. § 138. 5 und 7.) Verslänge und
Versart ist bei den verschiedenen Ghaselen verschieden.
Das Ghasel mit seinem bald schmeichlerischen, bald schelmisch tändelnden
Grundzuge eignet sich für Empfindungen, die wie eine krystallisierende Masse
immer nach einem Punkte anschießen, immer um ein lichtvolles Centrum sich [586]
gruppieren: also für Liebe und Wein, Frühling und Jugend, Sorge
und Not, Glück und Trauer. Bei den pantheistischen Reflexionen
Rückerts, in denen der Dichter gleich dem Liebenden, Glücklichen oder
Sorgenden im ganzen All nur ein Ewig-Eines sieht, nur ein einziges
Gefühl in verschiedenen Ausdrucksweisen diesem Einen weiht, war ihm die
Ghaselenform ein erwünschtes passendes Gefäß.
Ghasele haben nach Rückerts Vorgang gedichtet: 1. Platen, der von
Rückert die Anregung und Unterweisung erhielt (vgl. Fr. Rückert, ein biogr.
Denkmal vom Vers. S. 110), 2. Strachwitz, 3. Em. Geibel, 4. Alb.
Möser, 5. Heinr. Leuthold, 6. Hoffmann von Fallersleben,
7. Ed. Baumbach, 8. Bodenstedt u. A. Letzterem wird von einigen Litterarhistorikern
eine neue Ghaselenform zugeschrieben. Aber Bodenstedt hat lediglich die
Strophen gebrochen geschrieben, so daß der durchgehende Reim der 1. und 2.
Zeile nur noch in jeder vierten Zeile erscheint. Bodenstedt folgte in dieser sog.
neuen Form dem Vorgange Rückerts, der in den „Östlichen Rosen“ (Ausgabe
1822) recht oft in gebrochenen Zeilen drucken ließ. (Vgl. § 138. S. 449.)
2. Kassiden finden wir bei dem Mystiker Mewlana Dschelaleddin Rumi, bei
Urfi, bei V. Ewhadeddim Enweri, wie bei dem großen Didaktiker des Orients, Moslicheddin
Saadi &c. ─ (Die Kasside stammt von den Arabern. Jn der Periode
der Vermischung mit dem Arabischen 1106─1203 fand sie bei den Persern
Eingang. Man vgl. Freytag, Darstellung der arab. Verskunst. Bonn 1830.
Als Probe mag dienen: die den 7 Moallakas gleichstehende große Kasside
Schanfaras in Rückerts Hamasa I. 157.)
Hier soll nicht unerwähnt bleiben, daß die persischen Kassiden und
Ghasele den Reim schon in der 1., die arabischen erst in der 2. Verszeile
eintreten lassen. „Von der völligen Gleichheit der beiden Zeilen geht im Persischen
gar nichts ab, im Arabischen nur soviel, daß der letzte Fuß der letzten
Zeile, nach Verhältnis der verschiedenen Versmaße, eine Abkürzung oder eine
Verlängerung zuläßt; wie wenn bei uns männliche und weibliche Ausgänge
abwechseln.“ (Vgl. Rückerts Makamen, Ausg. 1826. 5. Anm. zur 10. Mak.
S. 264 ff., sowie das in gebrochenen Zeilen geschriebene, mit Mittelreim versehene
Beispiel S. 264; ferner Beispiele in Rückerts Amrilkais und Hamasa.)
I. Beispiele des Ghasels:
1. Der Schlußreim ist wiederholt.
(Rückert.)
2. Ein Wort mit vorhergehendem Reim ist wiederholt.
(Geibel.)
(Vgl. auch § 138. 7.)
3. Einige Worte mit vorhergehendem Reim sind wiederholt.
(Friedr. Rückert.)
Ähnlich sind die echt deutschen, ungezwungenen, leider nicht in die Auswahl
seiner Gedichte übergegangenen Ghasele Hoffmanns v. Fallersleben gebildet:
„Mir ist als müßt ich immer sagen: Jch liebe dich.“ Ferner: „Es war
ein Traum nur, war ein schöner Traum, und Alles hin!“
4. Schreibweise in gebrochenen Zeilen.
(Bodenstedt, Mirza Schaffy.)
II. Beispiel einer Kasside.
(K. Heinr. Graf in Jolowiczs Polyglotte 1856. S. 532.)
§ 185. Malaisches Kettengedicht.
Eine von Chamisso eingeführte malaische Form besteht aus beliebig
vielen Vierzeilen, bei welchen immer die 2. und 4. Verszeile der einen
Strophe als 1. und 3. Verszeile der folgenden Strophe wieder erscheinen,
sich also ganz wiederholen.
Das Versschema ist in Buchstaben:
a b a b, b c b c, c d c d, d e d e, e f e f u. s. w.
oder in Zahlen: 1 2 1 2, 2 3 2 3, 3 4 3 4, 4 5 4 5, 5 6 5 6 u. s. w.
Noch anschaulicher wird das Schema durch diesen Zweizeilendruck:
a a b b c c d d e e
b b c c d d e e f f.
Beispiel:
Korbflechterin.
(Chamisso.)
§ 186. Die Makame.
Das Wort Makame bedeutete bei den alten Arabern ursprünglich
eine Art litterarischer Sitzung, in welcher improvisierte Erzählungen
zum Vortrag gelangten. Es entspricht dem persischen Worte Divan,
welches auch nur das zu litterarischen Darstellungen bestimmte Zimmer [590]
bezeichnete. Verstand man aber ursprünglich unter Makame nur den
Ort (concessus), wo man sich unterhielt, so bildete sich für die an
demselben vorgenommenen litterarischen Darstellungen bald eine besondere
Kunstgattung heraus, welcher die Araber ebenfalls den Namen
Makame beilegten.
Man versteht nunmehr unter Makame eine bestimmte Unterhaltung,
eine größere Erzählung, eine Mär, eine Art Novelle, eine abenteuererzählende
Epopöe von regellosestem Rhythmus und Reim: gereimte
Prosa mit eingeflochtenen lyrischen Gedichten (Ghaselen).
Zur Geschichte der Makamen. Die Makamen wurden in unsere
deutsche Litteratur durch Fr. Rückert eingeführt, indem er die durch
Silvestre de Sacy im Jahre 1822 in arabischer Sprache edierten „Makamen
des Hariri“ (eines Gelehrten aus Basra um 1068─1138 n. Chr.) für
das deutsche Volk dichterisch bearbeitete.
Die älteste hergebrachte Form der Landstreicher-Makame dieses Hariri
hat dessen Vorgänger Hamedani erfunden. Hariri verlieh dieser Form
inneres Leben, Kunstausbildung, Bedeutung, und er übertraf somit seinen Vorgänger.
Jn der viertletzten Makame sagt er selbstbewußt von sich, daß er sich
zu Hamedani verhalte, wie der Platzregen zu dem ihm vorhergehenden Tröpfeln.
Er verfaßte seine 50 Makamen auf Befehl eines Wesirs des abassidischen Chalifen
Mostarsched Billah.
Jnhalt der Rückertschen Nachbildungen. Bei Rückerts 43 Nachbildungen
ist der Held Abu Seid ein idealisierter Herumstreicher, der König
eines großen Bettler- und Landstreicherordens, durch dessen fesselnden Humor
oft ein tief empfundenes Weh hindurchschimmert.
Die Abenteuer und die Verwandlungen desselben läßt der Dichter durch
den Mund der Erzählers Hareth Ben Hemmam berichten. (Natürlich ist
es der Dichter selbst, der unter dem Mantel des allegorischen Namens in sein
eigenes Werk eintritt.) Dieser Ben Hemmam hat auf seinen Reisen diesen
und jenen Vorgang gesehen, in welchem immer Abu Seid eingreift, anfangs
nicht erkannt, in der Mitte oder am Schlusse der Handlung aber hinter der
Maske hervortretend.
Abu Seid, voll Geist, Witz, Anmut und Gefälligkeit, blickt wehmütig
aus seiner lumpichten Majestät auf einen früheren besseren Zustand zurück,
dem er gewaltsam entrissen wurde. Des Landstreicherlebens überdrüssig, überliefert
er die Grundsätze desselben seinem Sohne, den er zum Nachfolger auf
dem Thron der Bettler weiht. Plötzlich kommt das „Heilige“ über ihn, ergreift
ihn und führt ihn zurück in das Land seiner Jugend, das er jetzt als
ein allen Genüssen entsagender frommer Büßer betritt. Die Abbüßung seines
vorigen Lebens ist so gewaltsam, als dieses selbst war, und es ist zu vergleichen
mit der Bekehrung des Reinhold von Montalban im Volksbuche von
den Haimonskindern, nur mit Erwägung des Unterschieds zwischen Christentum
und Jslam. &c.
Zur Kritik der Rückertschen Makamen. Die Makamen erinnern
der Anlage des Helden und dem Humor der Erzählung nach häufig an Don
Quixote de la Mancha. Der Dichter der Makamen steht frei über dem
von ihm behandelten Stoff, und es sind ihm daher auch die häufigen „Schnörkel“
seiner Makamen ebenso für beabsichtigte und zweckmäßige Charakteristik anzurechnen
wie die des Don Quixote dem Humoristen Cervantes. Die Handlung
schreitet in den Makamen nicht fort, sondern jede einzelne Makame ist eine
besondere Epopöe und enthält je eines von den vielen Abenteuern des Helden
ganz. Das nächstfolgende Abenteuer jeder nächsten Makame entspringt nicht
aus dem vorhergehenden, sondern mit diesem zugleich aus dem gemeinschaftlichen
Mittelpunkte: dem Charakter des Helden, der sodann im vollen Kreis der
Makamen seine volle Entwickelung gefunden hat.
Rückerts Arbeit ist keine bloße Übersetzung, sondern eine Um=
und Nachdichtung, die besondere Rücksicht auf deutsche Leser nimmt
und einer Originalarbeit an Wert gleichkommen dürfte. Sein Werk
verdient für uns den hohen Vorzug, welchen der Orient dem Werke Hariris
gab: durch die äußere Form, durch den prächtigen Redeschmuck, der dem
arabischen nicht nachsteht, durch den Reiz feiner Anspielungen und unerwarteter
Reimperlen, die unser Ohr entzücken und durch Wortspiele überraschen, ferner
durch den schönen Wechsel von Poesie und gereimter Prosa, indem zwar die
Prosa schon künstlich bilderreich, voll von Wortspielen und Reimen ist, die
metrische Poesie aber sich außer dem Metrum noch durch die höchste Steigerung
des übrigen Redeschmuckes über die poetische Prosa erhebt. Nichts Kühneres
in Reim und Rhythmus kann es geben, als was Rückert hier nach arabischem
Muster geliefert hat. Gereimte Unterhaltung oder rhythmisch ungebundene
Rede, gereimte Prosa, gereimtes Gespräch ohne allen Zwang mit eingeflochtenen
Gedichten, ─ namentlich Ghaselen von beliebiger Zeilenlänge! Diese Zeilen
sind jambisch, trochäisch, daktylisch, ─ wie es dem Dichter eben paßt. Der
Text der Makamen gaukelt im seltensten, zierlichsten, buntesten Reimgeklingel
mit den überraschendsten Wort- und Klangspielen aller Art, mit den gewähltesten
und übertriebensten Bildern und Gleichnissen, mit spitzfindigem, überkünstlichem
Ausdruck an unserm Ohr vorüber. Nirgends drängt sich wohl der geistreiche
Reim mit seinen scherzhaften, witzigen, naiven, wunderlichen, schalkhaften
Spielereien oder seiner berechneten Wirkung so in den Vordergrund als hier;
die buntesten Gauklerkunststückchen und Taschenspielereien, die geschulteste Technik
stehen neben der ergreifendsten Poesie!
Was der Rückertschen Nachbildung an Treue fehlt, das ersetzte des Dichters
Talent; und die des Arabischen unkundigen Leser werden immerhin ein ziemlich
getreues Bild des Originals auffassen können. Den Dichter Hariri konnte nur
ein Dichter trefflich nachbilden, der sich erlauben durfte, Ausdrücke, Bilder und
sogar einige Makamen wegzulassen, weil sie wegen des sittlich Anstößigen oder
der Form halber eine Nachbildung nicht gut vertrugen. Rückert hat oft 2 arabische
Reimsätze durch 4 oder mehrere im Deutschen umschrieben. Die Nachbildung
der Gedichte ist bei ihm mitunter so frei, daß vom Originale kaum einige [592]
Züge bleiben. Beispielsweise gebe ich das letzte Gedicht der 2. Makame im
wörtlichen Metrum:
Bei Rückert lautet diese Stelle (Vgl. S. 39 der 1. und S. 13 der
4. Aufl.):
(NB. Die den Makamen angefügten Anmerkungen, meist aus den arabischen
Scholien bei Sacy entlehnt, sind mehr für das Bedürfnis der gebildeten Leser
als der Sprachgelehrten.)
Zur Geschichte der nicht arabischen Makamen. Von den Arabern
gelangte die Makame ursprünglich zuerst zu den Juden, bei denen sie von
Joseph Jbn Aknin aus Ceuta (Mitte des 12. Jahrh.), ferner von Charisi
und Jmmanuel Rumi (Anfang des 14. Jahrh.) gepflegt wurde. Bei den
Syrern wandte Ebed Jesu (zwischen 1291 bis 1316) die Makamenform
in seinem Buche des Paradieses an. Bei den Deutschen finde ich eine durch
Verbindung des Reimes mit der Prosa an die Makame erinnernde Form bei
Johann Fischart, mit dem ich Rückert schon in Rücksicht auf Bildung neuer
Wortformen (vgl. Fr. Rückert, ein biogr. Denkmal vom Verf. d. B. S. 311) verglichen
habe. Zum Beleg mögen einige wenige Proben aus Fischarts „Affentheuerlich
Naupengeheurliche Geschichtklitterung“ (Ausg. von Scheible) dienen, wobei
wir an einigen Stellen die Orthographie ändern: „Jhr all .. sollt samt und sonders
hie sein, meine lieben Schulkinder lein; euch will ich zuschreiben dies mein Fünd=
lein, Pfündlein von Pfründlein! Euer sei dies mein Büchlein gar mit Haut und
Haar, weil ich doch euer bin so bar; euch ist der Schild ausgehenkt, kehrt
hie ein, hie wird gut Wein geschenkt.“ (S. 17.) „Sie haben dachtröpfige
Nasen, helle Stimmen, vergoldete Löcher und glitzende Ärmel und vor der Kinder
Nötlichkeit vergeß man eines Gastes allezeit.“ (S. 73.) „Von des Gurgellantualustiger
Kleidung und deren Bescheidung. Jm faulen veste Niemand [593]
tractatur honeste, Kleidung ist der Mann, wer sie hat zu legen an.
Wiewohl in vestimentis nicht ist sapientia mentis &c.“ (S. 201) u. s. w.
Jm Makamen-Ton ist Schillers Handschuh gehalten. Eigentlich
deutsche Makamen besitzen wir jedoch bis jetzt nicht. Eine solche
Makame mit deutschem Jnhalt hat der Verfasser für den 3. Band dieses
Werks gedichtet. Den Versuch der Makamenform hat Karl Beck († 1879)
in „Janko, der ungarische Roßhirt“ (einem Roman in Versen, Leipz. 1841)
in einzelnen Partien desselben gemacht. Desgleichen Gust. Kastropp in seinem
neuesten Epos Heinrich von Ofterdingen.
Als Nachfolger Rückerts in Übertragung und Umdichtung vorhandener
Makamen sind zu nennen: Karl Krafft (Übersetzung der hebräischen Makamen
des Charisi, Ansbach 1838) und S. J. Kämpf mit dergleichen (Berlin 1845).
(Der berühmte Komponist Rob. Schumann hat ─ durch Rückerts Makamen
angeregt ─ unter dem Titel „Bilder aus dem Osten“ 6 Jmpromptüs für
das Piano geschrieben, die er einen Versuch nennt, orientalische Dicht= und
Denkweise auch in der musikalischen Kunst zur Aussprache zu bringen. Besonders
das letzte will er als Wiederhall der letzten Makame aufgefaßt wissen,
in welcher wir den Helden in Reue und Buße sein lustiges Leben beschließen
sehen.)
Beispiele aus Rückerts Makamen.
Jndem wir zum Lesen vor Allem die von uns in „Rückerts Leben und
Dichtungen“ auszugsweise mitgeteilte 39. Makame „Der Schulmeister von
Hims“ empfehlen, welche Makame u. A. die schwäbische und sächsische Provinzialaussprache
der Konsonanten und Vokale in heiterer Weise rügt, drucken
wir zum Nachweis des Begriffs und der Rückertschen Ausführung eine der kürzesten
Makamen (die sog. Rätselmakame) mit einziger Hinweglassung der für
Erkenntnis des Wesens der Makame nicht unbedingt nötigen Rätsel hier ab:
35. Makame: Die Rätsel.
(Aus „Die Verwandlungen des Abu Seid von Serug oder die Makamen
des Hariri von Fr. Rückert“. 4. Aufl. S. 247 ff.) Hareth Ben Hemmam
erzählt: Mich zog einer Neigung Hang ─ und eines Verlangens Drang ─
zu werden der Sohn jedes fernen Weges, ─ und der Bewohner jedes fremden
Geheges; ─ wobei ich doch nie durchritt ein Thal, ─ oder trat in einen
Gesellschaftssaal, ─ ohne daß mein Wunsch war befeuert ─ nach Bildung,
die der Unlust steuert, ─ und den Wert des Mannes teuert; ─ bis an mir
davon die Farbe geblieben, ─ und die Eigenschaft davon mir ward zugeschrieben,
─ und ihre Art fester an mir haftete, als die Liebe am Stamme
der Benu Odhra, (ein arabischer Volksstamm, der, wenn man den
Sagen glaubt, aus lauter auf den Tod Verliebter bestanden haben muß.
Seine Jünglinge starben ganz gewöhnlich an Liebesverzehrung, und darum
ist er wohl ausgestorben) ─ oder die Tapferkeit an dem Hause des Abu
Sofra. ─ Als nun mein Reisekameel sich gelagert in Negran ─ und [594]
ich dort Freunde und Bekannte gewann, ─ wählt' ich ihre Gesellschaften
zu meinen Weideplätzen, ─ und zu meinem Tag- und Nachtergetzen; ─ wo
ich früh und spät verweilte, ─ und frohes und trauriges teilte. ─ Während
ich mich nun befand in einem besuchten Kreis ─ von ausgesuchtem Preis, ─
ließ sich bei uns nieder ein Greis, ─ dessen Gewand war verwittert, ─
und seine Kraft zersplittert; ─ der grüßte mit dem Gruß eines süßmundigen,
─ und der Zunge eines Wortkundigen, ─ sprechend: O ihr Monde der
Geselligkeit, ─ ihr Meere der Gefälligkeit! ─ der Morgen ist für den, der
zwei Augen hat, klar, ─ und der Augenschein ersetzt ein Zeugenpaar; ─
für meine Sache spricht mein Kleid und mein graues Haar. ─ Wie ist euch
nun um's Gemüte? ─ erweist ihr einem Bedürftigen Güte? ─ oder weist
ihr ihn ab, daß Gott verhüte! ─ Sie riefen: Du hast hier Störung gebracht,
─ und den Brunnen, wo du schöpfen wolltest, versiegen gemacht. ─ Da
beschwor er sie um Gott, was sie denn bewege, ─ ihm so schnöde zu weisen
die Wege? ─ Sie sprachen: Wir haben hier auf einander mit Rätseln gezielt,
─ wie man am Tage der Schlacht mit Geschossen spielt. ─ Da enthielt er
sich nicht, von dergleichen Fehden ─ gering zu reden, ─ und diese Kunst
─ für nichts bessers zu erklären als Dunst. ─ Doch die Sprecher des
Volks begannen auf sein Erfrechen ─ mit den scharfen Lanzen des Tadels
einzustechen, ─ so daß er bereute zur Gnüge ─ seinen Vorwitz und seine
Rüge. ─ Sie aber, wie gegeben war das Zeichen zum Streite, ─ drangen
auf ihn ein von jeder Seite, ─ bis er sprach: Mein Volk! die Milde behauptet
den Thron; ─ stehet ab von eurem wilden Drohn! ─ Kommt
heran, daß wir Rätsel spielen, ─ und bestimmen, wer zuerst soll zielen. ─
Da verstummte das Schlachtgeheul, ─ und löste sich der verworrene Knäul;
─ sie nahmen an den Antrag, ─ und willigten ein in den Anschlag, ─
mit der Bedingnis Anhang, ─ daß er selber mache den Anfang. ─ Da
hielt er inne nicht länger, als bis man ein Schuhband ─ aufband oder
zuband, ─ dann rief er: So hört, und Gott baue fest eures Wohlstandes
Steinwand, ─ und euer Preis vor der Welt sei ohne Einwand! ─ worauf
er anhub zu rätseln über die Luftfache von Leinwand (hier erklärt Rückert
in einer Note die benetzte Leinwand, welche ─ um Kühlung zu verbreiten ─
hin und her bewegt wurde):
Dann rief er: Vernehmet, und grün sei euer Heil, ─ Überfluß euer
bestimmtes Teil! ─ worauf er rätselte vom Palmenseil:
(Nun läßt Rückert mit ähnlicher Einleitung wie beim vorigen Rätsel
weitere Rätsel folgen vom Schreibekiel, vom Augensalbestift, von der Zung'
an der Wage. Diese Rätsel haben ungefähr die gleiche Ausdehnung, wie die
beiden soeben gegebenen. Sodann fährt er fort): Wie die fünfe waren entflogen,
─ legt' er nieder den Bogen, ─ und sprach: Mein Volk! nun
nehmet diese fünfe zur Hand, ─ wie die fünf Finger Einer Hand, ─ überleget
wohl, ─ und erwäget euer Wohl! ─ Seid ihr mit dem Beschiednen
zufrieden, ─ so sind wir in Frieden geschieden; ─ doch verlangt ihr die
zweite Hand, ─ so bin ich bei der Hand. ─ Sprachs, und die Leute, hingerissen
vom Verlangen, ─ wie ihnen der Rätsel Sinn war verhangen, ─
riefen: Unsere Schwinge ist zu schwach, ─ uns zu tragen deinem Adler nach;
─ doch willst du dir Zehn voll machen, so mach! ─ Da trat er auf
im Triumph, ─ wie ein Sieger auf der Feinde Rumpf, ─ dann mit nachlässigem
Ermatten ─ sprach er das Rätsel vom Schatten. (Nun folgen die
Rätsel vom Schatten, von den Zähnen, vom Wein und Essig, vom
Schöpfrad und von der Spindel. Hierauf fährt der Dichter fort): Sprachs,
da trieb sich das Nachdenken durch die Jrrgänge des Wahns, ─ und die
Vermutung stumpfte sich die Spitze des Zahns, ─ bis der Zeitverlauf war
erheblich ─ und der Kraftverbrauch vergeblich. ─ Als er nun sah, daß sie
schlugen (Note: „nämlich Feuer“.) und es nicht fing, ─ daß sie Lust trugen
und es nicht ging, ─ sprach er: Mein Volk, wie lange wollet ihr passen, ─
oder auf euch passen lassen? ─ Jst es nicht Zeit, die Fahnen aufzustecken,
─ oder aber das Gewehr zu strecken? ─ Da sprachen sie: Bei Gott! du
hast es scharf gewürzt, ─ und hart geschürzt, ─ alles Wild ist in deine
Netze gestürzt. ─ Verfüg über uns als dein Eigentum, ─ hinnehmend die
Beute samt dem Ruhm. ─ Da setzt' er auf jedes Rätsel einen Satz, ─ den
er sie zahlen ließ auf dem Platz, ─ dann brach er die Siegel, ─ und löste
die Riegel, ─ und enthüllte ihnen der Einsicht Spiegel. ─ Und wie er befriediget
ihr Gelüste, ─ den Pfad ihnen bezeichnet in der spurlosen Wüste; ─
wandte er sich zum Fliehn, ─ doch der Obmann des Volkes hing sich an
ihn, ─ rufend: Nach Sonnenaufgang ist kein Hehlen, ─ du sollst dich von
uns hinweg nicht stehlen, ─ du entschädigest uns denn für die Trennung ─
durch deines Namens Nennung ─ und deines Stammes Bekennung. ─ Da
blickt' er starr als sei ihm was zugestoßen, ─ dann sang er, und seine
Thränen floßen:
Dann nahm er unter den Arm sein Geld, ─ und suchte das Feld. ─
Wir beschworen ihn mit Lobpreisung, ─ zu bleiben, und machten ihm hohe
Verheißung, ─ doch bei Gott, er floh, und vergebens war unsre Befleißung.
Beispiel aus „Janko der ungarische Roßhirt“ von Karl Beck:
Und drüben klangen die Becher, ─ vom Gelage springen die Zecher, ─
die Simse zittern, ─ die Sporen dröhnen, ─ die Gläser splittern ─ und
Sänge tönen: ─ so stürzen die wüsten Gesellen, ─ auf schwankenden Fußgestellen,
─ der Janko voraus, ─ herüber ins leuchtende Hochzeitshaus. ─
Und er lächelt und lallt: ─ zwölf die Glocke schallt! ─ Küsse mich,
Bräutchen mein, ─ wirst ganz nun mein eigen sein! ─ Was schauderst vor
mir, haha, vor mir? ─ hab gespielt, haha, gewann im Spiel, ─ hab
gezecht, haha, gezecht gar viel, ─ doch thu ich's nimmer zu Leide dir! ─
Will sanft auf Erden ─ und heilig werden! ─ u. s. w.
(Eine Gedichtstrophe dieses Romans geben wir in § 210. Als Beispiel
aus Kastropps Heinrich von Ofterdingen vgl. S. 380 d. B.)
§ 187. Der Sloka.
Der Sloka (sanskr. Çloka) ist der epische Vers des Sanskrit,
ein Silbenzählungsvers, wie solche heutzutage noch in Frankreich Verwendung
finden. Das Mahabharata, das Ramajana, die Gesetze des
Manu, die Veden &c. sind in diesem Vers geschrieben. Wir müssen
ihm Beachtung schenken, da ihn unsere gelehrten Orientalisten und
Dichter (ein Schlegel, Bopp, Kosegarten, Lorinser, Fr. Rückert u. A.)
bei ihren Übersetzungen treu nachgebildet haben.
Er ist ein Distichon und besteht aus zwei Hälften (Waktra)
zu je 16 Silben. Zur vierzeiligen Strophe wird er, wenn die Zeile
nur 8 Silben enthält, also nur aus ½ Waktra besteht.
Das Schema des Waktra ist folgendes:
⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ⏑ ─́ ─́ ⏒ ‖ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ⏑ ─́ ⏑ ─́.
Zwei solcher Waktra's, deren Versglieder in der Silbenzahl
unter sich vollständig gleich, nur durch den Charakter der schließenden
Takte entgegengesetzt sind, bilden also einen Sloka.
⏒ ⏒ ⏒ ⏒ | ⏑ ─́ ─́ ⏒ | ⏓ ⏓ ⏓ ⏓ | ⏑ ─́ ⏑ ⏓
⏒ ⏒ ⏒ ⏒ | ⏑ ─́ ─́ ⏒ | ⏓ ⏓ – – | ⏑ ─́ ⏑ ⏓
Je vier Silben bilden einen dipodischen Takt. Wie eine Jncision am
Schlusse des Waktra eintritt, so ist das Waktra selbst in der Mitte durch eine
feste Cäsur oder Diärese geteilt. Jm ersten und dritten Takt sind die Silben
je nach dem Zufall beliebig lang oder kurz, während der zweite Takt meist
ein Antispast (⏑ ─̋ ─́ ⏑) und der vierte in der Regel ein Dijambus ist (⏑ ─́ ⏑ ─́),
jedoch mit der Einschränkung, daß die letzte Silbe das allgemeine Vorrecht der
Schlußsilben für sich in Anspruch nimmt. Die Anordnung ist insofern eine
zweckmäßige, als der Antispast (⏑ – – ⏑) am Schluß des 1. Versgliedes einen
unruhigen, aufregenden Rhythmus hat, während der Dijambus (oder auch der
2. Päon: ⏑ – ⏑ ⏑) dem Verse einen gegliederten Schlußfall verleiht. Da die
gepaarten Verse meistens durch den Reim zu einem Ganzen abgerundet sind,
so bleibt der Eindruck der Symmetrie der vorwaltende. Die Takte, Versglieder,
Verse und Distichen gehen alle in gleichen Silbenzahlen und in einer stätigen
Verdoppelung fort. Jn Stücken belehrender Art hat jedes Distichon zugleich
einen periodischen Abschluß. Jn epischen Stücken geht dagegen der Sinn häufig
aus einem Distichon in das andere über. (Vgl. unten die Beispiele.)
Fr. Schlegel, der den Hexameter für ein weit größeres Meisterstück
rhythmischer Kunst hält als den von ihm in seinem Buch: „Über Sprache und
Weisheit der Jnder“ gut nachgebildeten Sloka, vergleicht in der „Jndischen
Bibliothek“ beide miteinander und meint: „Die mythischen Erzählungen von
der Erfindung dieser uralten Silbenmaße haben Ähnlichkeit mit einander und
bilden dennoch einen Gegensatz. Die Nymphen, welche dem Apollo, als er
seinen Bogen auf den Drachen Python spannte, aufmunternd den ersten Hexameter
zuriefen, hatten eine höhere Eingebung als der Weise Valmikis, da derselbe
einen Reiher durch einen Pfeilschuß plötzlich fallen sah, das Weibchen
um ihren blutenden Gatten jammern hörte und von Mitleid ergriffen seine
Verwünschungen gegen den Jäger in 4 gleichmäßigen Gliedern aussprach.“
Trefflich hat den Sloka Lorinser gebildet in seiner Übersetzung einer
Episode des Mahabharata: „Bhagavad-Gîtâ“ (Breslau 1869). Er hat
sog. freie Slokas angewandt, indem er die Cäsur in der Mitte sowie die beiden
Jamben am Ende der meisten Verse festhielt. Besondere längere Verse
(Trischtuth), mit denen der Sloka ausnahmsweise zur Erreichung höheren
Schwunges einmal abwechselt, hat Lorinser unter Beachtung der Cäsur und
der Silbenzahl in der Mitte als lange Zeilen in ihrer ursprünglichen
Jntegrität belassen, weil durch Halbierung derselben der eigentlich beabsichtigte
Eindruck einer in größerer Atemfülle hinströmenden und deshalb auch wohl
beschleunigten, mit erhöhter Stimme vorgetragenen Rede verloren geht, z. B.:
Selbstredend können die deutschen prosodischen und metrischen Gesetze im
Silbenzählungsverse des Sloka nicht beachtet sein. Wollte man dies anstreben,
so würde doch ein Teil der Mannigfaltigkeit im Deutschen verloren gehen, weil
bekanntlich die indische Sprache mit der griechischen die Eigenschaft gemeinsam
hat, Längen und Kürzen nacheinander in's Unbestimmte anhäufen zu können,
die deutsche dagegen hierin sehr beschränkt ist. Die altindische Sprache befolgt
überhaupt in der Zeitmessung fast dieselben Gesetze, wie die griechische. Die
langen Vokale sind durch Schriftzeichen von den kurzen gleichen Namens unterschieden,
und die Diphthonge machen eine Silbe zur langen. Silben mit
kurzem Vokale, auf welche nur ein Konsonant folgt, sind kurz; durch die
Position bekommen sie ebenfalls die Länge u. s. w.
Wir Deutsche können in unserer Sprache nicht leicht einen Satz mit mehr
als zwei Kürzen anheben; mit drei nur, wenn der schon erwartete Rhythmus
die Silben beflügelt; nie aber, wie im Sloka mit vier. Das Silbenmaß
des Sloka wird daher in unserer Sprache nie Wurzel fassen können.
Am ersten dürfte es sich noch für Denksprüche empfehlen. Es müßte dann der
deutsche Sloka freilich immerhin nur die Länge und die Cäsur beachten, um
auf die Gesetze unseres deutschen Accents basiert werden zu können. Ein Versuch
ließe sich vielleicht mit der Übersetzung der Hitopadesa im Slokaversmaß
wagen.
Beispiele des Slokadistichons.
a.
(Aus der Kosegartenschen Übersetzung von Nal und Damajanti.)
b.
(Aus F. Bopps Übersetzung von Nalas und Damajanti.)
c.
(Aus Fr. Schlegels Übersetzung des Ramajana. Werke 9. Bd. S. 254.)
[599]d.
(Aus Fr. Schlegels Übers. d. Baghavad=Gîtâ. Werke Bd. 9. S. 283.)
III. Althochdeutsche und mittelhochdeutsche Strophen.
§ 188. Die althochdeutschen Reimpaare.
1. Die uns erhaltene älteste deutsche Strophenform (vgl. § 148. 3.
S. 492) war ein allitterierendes oder gereimtes Langzeilendistichon.
2. Bereits vor „König Artus Tafelrunde“ (s. S. 45 d. B.) übertrugen
fahrende Sänger die althochdeutschen Langzeilen-Reimpaare
durch Teilung in kurze Reimpaare, wodurch die vierzeilige Strophe
entstand.
1. Jn den §§ 128 und 148. 3 haben wir nachgewiesen, daß sich
in unserer ältesten deutschen Litteratur nur Strophen von je 2 durch Allitteration
─ und seit Otfried durch den Reim ─ verbundenen Langzeilen finden. Sie
reihen sich (wie schon die Proben auf S. 222 d. B. zeigen) als Distichen
ebenmäßig an einander. Diese Langzeilen, deren metrisches Gesetz wir S. 222
und in § 144 darlegen konnten, bildeten in ihrer Verbindung wohl eine fortlaufende
Reihe, aber keine Strophen in unserem Sinne.
2. Zur vierzeiligen Strophe wird das Langzeilen-Distichon, wenn man
seine Verse gebrochen schreibt. Dies will u. A. Wackernagel, der aus der
Stelle Otfrieds an Liutbert: „Sensus enim hic interdum ultra duo,
vel tres versus, vel etiam quattuor in lectione debet esse
suspensus, ut legentibus, quod lectio signat, apertior fiat“ folgert,
Otfrieds Gedicht sei in Kurzzeilen geschrieben gewesen, was indes Kelle (a. a. O.
S. 94) bestreitet.
Wir bilden einige solcher Vierzeilen durch Brechung Otfriedscher Langzeilen
(Evangelienbuch V. 23. V. 17 ff.):
Thes wólt ih hiar bigínnan,
Ni mág iz thoh bibríngan,
Thoh wílle ih zellen thánana
Étheslicha rédina. ─ Nist mán nihein in wórolti,
Ther ál íó thaz irságeti,
Állo thio scóni,
Wio wúnnisam thar wári;
(Man beachte die Synalöphen [συναλοιφή == Zusammenschmelzung
zweier Silben]. Sie sind von der leichtesten Art odo óuh, ōra iz, óuga
irscówoti. Das Verhältnis der Betonung der Wörter gegen einander hat
nirgends etwas Widriges. Denn das Schwanken zwischen odo óuh &c. ist
eine Freiheit, die der althochdeutsche Vers nie gescheut hat, und die schwebende
Betonung, welche dadurch entsteht, daß man etwas mehr dem richtigen Accente
als dem Versrhythmus folgt, giebt ihm Mannigfaltigkeit.)
Für weitere Beispiele der geschichtlichen Entwickelung der althochdeutschen
Reimpaare und der Anwendung derselben in der Neuzeit verweise ich auf § 139.
Man beachte, daß die ältesten Reimpaare nur männlichen Reim hatten.
§ 189. Übergang zur Strophik der mittelhochdeutschen Zeit.
Der Otfriedschen Strophe (Langzeilendistichon) folgte geschichtlich
die Kürenbergersche Strophe, um der Nibelungenstrophe Platz zu
machen, welche ebenfalls dem Kürenberg zugeschrieben wird.
Die Kürenbergersche Strophe bestand aus 4 Langzeilen, von denen die 3
ersten 7 Hebungen hatten, während die vierte deren 8 zählte. Sie war die
Übergangsstrophe zu den Strophen der mittelhochdeutschen Zeit und Metrik,
deren Haupteigentümlichkeit (im Gegensatz zu unserer neuhochdeutschen Metrik)
noch darin besteht, daß der Schluß der Verszeilen gleichzeitig accentuierend
und quantitierend sein konnte. Sie findet sich namentlich in
den epischen Liedern aus der 2. Hälfte des 12. Jahrh.
Beispiel:
a.
(Lachmann und Haupt haben die Kürenbergerschen Strophen in „Des
Minnesangs Frühling“ gebrochen geschrieben. Wir geben die Original-Schreibung,
die v. d. Hagen, Bartsch u. A. beibehalten haben.)
b.
(Aus den Liedern des Kürenberg, Ausg. Wilh. Wackernagels.)
Strophen der mittelhochdeutschen Zeit.
§ 190. Die mittelhochdeutsche Nibelungenstrophe.
Sie leitet ihren Namen vom Nibelungenlied her, das in dieser
Strophe gedichtet ist. Sie besteht aus vier, paarweise gereimten Langzeilen,
deren drei erste je 6 Hebungen haben, während die letzte Hälfte
der vierten (in seltenen Fällen der dritten) um 1 Hebung vermehrt ist,
so daß diese Zeile sodann 7 Hebungen hat.
Die Senkungen können willkürlich sein, weshalb man in den einzelnen
Verszeilen Jamben, Trochäen, Daktylen, Anapäste und Spondeen
nachweisen kann. Sofern man die Pausen (im 4. und nach dem letzten
Takte einer jeden Verszeile) in Anrechnung bringt (§ 91), gewinnt
der Vers die Ausdehnung eines Octonars, wie er sich in der That
aus der alten Langzeile von 8 Hebungen entwickelt haben mag.
Das Gesetz des alten Nibelungenmaßes ist mit Platens Worten folgendes:
Ein Vers von sechs Betonungen wird durch die Cäsur dergestalt geschieden,
daß drei Betonungen vor, und drei hinter dieselbe fallen. Die unbetonten
Silben sind gleichgültig; der Dichter mag deren so viele oder so wenige
einmischen, als die Sprache und der Wohlklang erlauben. Jst der
Halbvers jambisch, so kann er mit einem Spondeus anfangen, von welchem
bloß die letzte Silbe betont wird, wie gleich der erste Halbvers der Nibelungen:
so daß die erste Silbe allerdings lang ist, aber vermöge der Natur des Verses
nicht betont werden kann. Keineswegs kann aber der Ton auf an sich selbst
kurze Silben fallen und folgender Vers:
wäre gar keiner, wohl aber wenn es hieße:
Zu den Licenzen des Nibelungenverses gehört, daß er häufig (wenn es
nicht spätere Bearbeiter thaten) den letzten Halbvers einer Strophe zu
vier Betonungen ausdehnt, wiewohl die erste derselben gewöhnlich sehr
schwach ist. Durch diesen ganzen Bau des Verses entsteht nun eine reiche
Mannigfaltigkeit und für den, der ihn zu lesen versteht, die größte
Harmonie.
Oft gewinnt er daher, wenn es der Gegenstand mit sich bringt, einen
sanften, hüpfenden Gang, wie folgender:
Zuweilen wird, anders geordnet, dieser daktylische Sprung auch ernsten
Gegenständen angepaßt wie z. B. der letzte Vers des 33. Gesanges:
Eine prachtvolle, oder auch schauerliche Wirkung entsteht, wenn im Gegenteile
die unbetonten Silben fast ganz herausfallen, wie z. B. im letzten Halbvers
folgender Zeilen, die zugleich als Muster dienen können, wie schön die
bacchischen Reime sich ausnehmen:
Die Versart wird auch zuweilen gebraucht, um eine malerische Wirkung
hervorzubringen, z. B.
Reine Jamben und Trochäen sind nicht selten, doch hat der Dichter
Sorge getragen, daß sie nie eine ganze Strophe ausfüllen. So sind z. B.
in folgender Strophe die ersten Halbverse der ersten und zweiten Zeile jambisch,
die sich ihnen anschließenden trochäisch, bis der Jambus, der sich nicht abweisen
läßt, das Übergewicht gewinnt, und die beiden letzten Verse ganz jambisch
gebildet sind:
Platen führt noch eine besonders kunstvoll gebildete Stanze mit ihrer
metrischen Einteilung an, die fast alle Tonarten des Nibelungenliedes in sich
vereinigt:
Um den Nibelungenvers immer richtig zu lesen, (d. h. um lediglich
die Hebungen zu accentuieren) verlangt auch Platen eine nähere Kenntnis
der alten Sprache, die wie die homerische sich noch in manchen schwankenden
Formen bewegt. Hierher sind besonders die Eigennamen zu zählen, deren
Prosodie meist schwankend ist. So wird z. B. accentuiert: Gūnthĕr und [603]
Gūnthēr, Rǖdĭgĕr und Rǖdĭgēr. Das Partizipium Präsentis, das bei uns
schon immer daktylisch ist, findet sich bei den Alten noch häufig bacchisch. Z. B.
Beispiele der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe. Ausg.
von Vollmer (S. 2).
a.
b.
c.
§ 191. Verwendung der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe
in der Neuzeit.
Die besten Dichter unsers Jahrhunderts, welche das althochdeutsche
Betonungsprinzip zu dem ihrigen erhoben, haben die mittelhochdeutsche
Nibelungenstrophe in einzelnen Dichtungen gut verwertet.
Es sind vor Allen Arndt, Rückert, Geibel, Hamerling, Heine, Scheffel
und in allerjüngster Zeit Paul Schönfeld.
Arndt war der erste Dichter, welcher den Versuch wagte, die alte
Nibelungenstrophe im „Liede vom Feldmarschall“ nachzubilden. Er schien darauf
zu rechnen, daß das nach dem Prinzip einer mittelhochdeutschen schwankenden
Betonung skandierende Lesen den Versrhythmus wahren
und sechs Hebungen in den Vers legen werde.
Sonach muß man sein Gedicht folgendermaßen lesen:
Wollte man nach unserer heutigen Betonung accentuieren, so kämen in
jede Zeile nur 4 Hebungen. Vgl. die Skansion auf S. 375 d. B.
Die musikalische Komposition dieses Liedes, ─ eine Volksweise, ─ hat
mit Recht die schwankende Betonung der alten Nibelungenstrophe verschmäht
und die gegenwärtige accentuierende Metrik acceptiert, indem sie nur 4 Hebungen
in jeder Verszeile durch längere Noten oder durch Verteilung von 2 gleichwertigen
Noten auf nur 1 Silbe auszeichnete:
Einen Schritt weiter als Arndt ist Rückert gegangen, indem er in seinen
Nibelungenstrophen (vgl. Kind Horn) sechs wirkliche Hebungen mit willkürlichen
Thesen in jeder Verszeile gab, womit er ein strophisches Charakteristikum in
der 4. (zuweilen auch in der 3.) Verszeile verband.
Beispiele aus Kind Horn (ged. 1817. Vgl. des Verf. biogr.
Denkm. Fr. Rückerts. S. 92):
„Herzerobernder Hauf!“ wird Mancher kopfschüttelnd ausrufen, der das
Gesetz nicht kennt: „Wie kann ein Rückert solche Leichtfertigkeiten begehen und
Trochäen und Daktylen in den jambischen Rhythmus bringen?“ Wir kennen
den Grund! Mehrere Dichter der Neuzeit sind in Rückerts vorbildliche
Fußstapfen getreten! Vor Allem Anastasius Grün, der sich in einem von
uns zum erstenmal (nachg. Gedichte Rückerts S. 308) veröffentlichten Briefe als
„verehrungsvollsten Bewunderer des Rückertschen hehren Genius“
bekennt.
Beispiel:
Geibel hat sein erzählendes Gedicht „Sigurds Brautfahrt“ in
mittelhochdeutschen Nibelungenstrophen mit allen Freiheiten des Nibelungenliedes
gedichtet. Vgl. das Beispiel in § 119, S. 376 d. B., dem ich noch die
Schlußstrophe des Gedichts hier zugebe:
Hamerling hat in seinem „Vaterlandsliede“ Takte, in welchen die
Thesis ganz fehlt, ─ eine Freiheit, die er dem mittelhochdeutschen Nibelungenliede
abgelauscht hat.
Beispiel aus dem Vaterlandsliede:
Vgl. hiezu S. 375. g. d. B.
Scheffel (in seinem Waltharius) hat zwar den alten Nibelungenvers,
nicht aber die Nibelungenstrophe adoptiert. Nur die erste Strophe dieser
in freien Strophen geschriebenen Dichtung kann zu den mittelhochdeutschen
Nibelungenstrophen gerechnet werden.
Heine hat in mehreren Dichtungen alte Nibelungenstrophen ohne Verlängerung
der 4. Zeile geschaffen, dieselben aber in kurzen, teilweise gereimten
Zeilen geschrieben, z. B.:
Vgl. hierfür § 107. 6. B. 2. S. 318. Die neueren Dichter mit seltenen Ausnahmen
bildeten einen Nibelungenvers wie den andern. Eine Nibelungenstrophe
entsprach daher bei ihnen genau der anderen. Sie wählten jambischen Rhythmus
und brachten in jeden Vers 6 Hebungen mit 7 Senkungen (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑|
⏑ – ⏑ – ⏑ –), wodurch unser aus dem bildungsfähigen alten Nibelungenvers
hervorgegangener neuer Nibelungenvers als ein zum jambischen Sechstakter eingetrockneter
Vers erwuchs.
Jordan zählt die mittelhochdeutsche Nibelungenstrophe merkwürdigerweise
zu den „übeltönigsten und langweiligsten Strophen“, ja, er rechnet es Uhland
zum Verdienst an, daß er die „nachzottelnde Schleppe wegschnitt“.
Zur Würdigung dieser Anschauung verweisen wir auf die Proben dieses
Paragraphen, die wir noch durch einige Strophen aus der ergreifenden
Dithyrambe „Deutsches Lied“ von Paul Schönfeld (Dichtungen 1880. S. 100)
vermehren zu sollen glauben. Der Dichter hat in dieser Perle deutscher Lyrik
alle Feinheiten der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe zum vollendeten Ausdruck
gebracht und gerade durch die „nachzottelnde Schleppe“ die schmuckvolle
Bedeutung eines strophischen Charakteristikums dargethan (Wir bezeichnen im nachstehenden
Drucke die Cäsur sowie einzelne nur aus je einer Arsis bestehende
Takte.):
1. Strophe.
3. Strophe.
5. Strophe.
7. Strophe.
8. Strophe.
14. (letzte)
Strophe.
§ 192. Die Gudrunstrophe.
Sie ist die Tochter der Nibelungenstrophe und ganz nach Art
derselben gebildet. Sie unterscheidet sich von ihr durch weibliche
Reime in der dritten und vierten Verszeile sowie dadurch,
daß der letzte Halbvers der vierten Langzeile nicht bloß bis zu vier,
sondern zuweilen sogar zu fünf Hebungen sich erweitert.
Jhren Namen hat die Gudrunstrophe vom Gudrunepos (mittelhochdeutsch
Kutrun), das ein steirischer oder österreichischer Dichter zu Ende des 12. Jahrhunderts
nach dem Vorbild des Nibelungenliedes gestaltete. Man kann sie
als eine weichere, mehr lyrisch=ausgebildete Form der Nibelungenstrophe bezeichnen.
[608]
Beispiele:
a.
b.
(Wir beschränken uns darauf, aus der Übersetzung Karl Barthels lediglich
die Übertragung des Beispiels b herzuschreiben, um ersehen zu lassen,
wie der Übersetzer das schöne strophische Charakteristikum der verlängerten
4. Verszeile gänzlich beseitigt hat u. A. m.)
§ 193. Übervierzeilige Strophen der Minnesinger.
Begründung der Strophik durch die Kunstpoesie.
1. Durch Einführung der überschlagenden Reime im 13. Jahrhundert
begann die Bildung der kunstvollen Strophik, welche durch Anwendung
aller möglichen Reimformen, durch mannigfachen Reimwechsel, durch
Reimverschlingungen und =wiederholungen zur höchsten Blüte gelangte.
2. Die Minnesinger nannten die Strophen der einzelnen Dichter
Töne, welche die Meistersänger weiter ausführten und ihnen allerlei
wunderliche, zum Teil abgeschmackte, handwerksmäßige Namen gaben.
Nithart (1217─1230) nannte seine Strophen Reihen.
1. Seit Kürenberg und dem Meister deutscher Form, Heinrich von Veldeke,
(§ 144. S. 475) begann die Kunstpoesie sich von der Volkspoesie zu trennen.
Die Kunstpoesie verband bald genug auch die ungleichartigen Verse und Reime
miteinander und ineinander. Sie gab dadurch die Einfachheit der Naturpoesie
mit ihren kunstlosen Reimpaaren auf und begründete durch Verkettung und
Verschlingung der Verse in überschlagenden Reimen die geregelte, komplizierte
und gleichmäßige Strophik.
Nachdem durch Einführung der überschlagenden Reime im 13. Jahrhundert
die künstliche Strophik einmal angebahnt war, wurden die Strophen durch weitere
Anwendung verschränkter, unterbrochener, umarmender Reime &c., sowie
durch Einschiebung reimloser Zeilen (der sog. Waisen), endlich durch den Gebrauch
von Refrains, kurzer und langer Zeilen &c. immer künstlicher und gekünstelter.
2. Jeder Dichter hatte seinen besonderen Ton (== Strophenform). Wehe
dem Dichter, der nicht in irgend einem Punkte von dem Tone des anderen
Dichters abwich: er kam als Tönedieb oder Tonräuber in Verruf. Nur die
in den Gemeinbesitz der Nation übergegangenen beliebten Töne konnte ein jeder
ungestraft benützen. Die Zahl der Töne, die zuweilen recht volkstümliche Singweisen
hatten (vgl. die Notenbeilagen in „Minnesinger“ von Fr. H. v. d. Hagen.
4. Bd. S. 765─852), war eine sehr bedeutende. Man stößt beim Studium
der Minnesinger beispielsweise auf den Guldenton Kanzlers, auf den Guldenton
Marners, den Hofton Kanzlers, den langen Ton Marners, den schwarzen
Ton Klingsors, den Frauenehrenton, den kurzen, grünen, grauen, abgespitzten &c.
Ton, den Briefton, die Morgenweise, die Gesangweise u. s. w. u. s. w. Bei
dem Minnesinger Frauenlob (1270─1317) allein finden wir einen grünen,
zarten, langen, kurzen, neuen Ton, eine Zugweis', einen Würgendrüsselton,
einen Spiegelton u. s. w. Liechtenstein bietet viele Singweisen und Tanzweisen
&c. Allgemein beliebte Töne waren der Bernerton, Hildebrandston u. A.
Wir können in dieser Poetik selbstredend nur Proben von den hervorragendsten
Tönen geben.
Beispiele mittelhochdeutscher Töne.
a. Titurelton (Reimschema: a a b x b).
Jn dieser Strophe hat Wolfram von Eschenbach den alten Titurel
geschrieben. Durch gebrochene Schreibung der beiden ersten Zeilen und
Beibehaltung des Cäsurreims seitens des späteren Bearbeiters erhielt
man die Strophe a b a b c x c, welche man den neuen Titurelton nannte.
Jn diesem Ton ist der jüngere Titurel gedichtet.
Jn diesem Ton hat auch Rückert seinen in meinem Buch: Nachgelassene
Gedichte Rückerts (Wien, Braumüller) veröffentlichten „Jung Tristan“ gedichtet.
Jm 17. Jahrhundert war dieser Ton in erzählenden Gedichten in Aufnahme
gekommen, die je nach Anfang oder Jnhalt als besondere Töne benannt wurden,
so daß z. B. eine Singweise zu dieser Strophe „Wyßbeckenton“ hieß; andere
hießen „König Laslaston“, „Der neue Ton von Mailand“, „Ton der Pavierschlacht“
oder „Pavierton“ u. s. w. Vgl. S. 613 d. B.
Beispiel der alten Titurelstrophe: (Aus Parcival und Titurel.
Übersetzt von Simrock. S. 309. Stuttg. 1876.)
(Jm älteren Titurel waren die letzten beiden Zeilen in einer Zeile geschrieben.)
[610]Beispiel der neuen Titurelstrophe: (Aus Titurel, herausgeg. von
K. A. Hahn.)
Rückerts neue Titurelstrophe.
b. Marners langer Ton.
Die maler malent an ein want
ein bilt, als ich tu sage,
daz ist Sinagoga genant,
nach sinem reht, in Gotes pflage,
ist im ein tuoch von siden blank gezogen vür diu ougen sin.
Als ich daz bild' entworfen vant,
ein joch ez truok vil trage,
ein sper verkart in siner haut,
zerbrochen gar; daz was sin klage;
ein kron von im gevallen was, diu gap von golde liehten schin.
Diz vremde bild' bezeichent uns vil wol die Jüdischeit,
diu da gesihtiklichen valschen gelouben treit;
ir herzen sin ist blint;
si geloubent niht, daz Maria, diu reine magt gebär' ein kint,
unt wizzen wol, wie her Moises vor Gote muoste stan,
ein busch enbran,
dem ich gelichen kan:
Got under ir meitlich brust entran,
sich zunt' des heiligen geistes blut, daz ir genaden nie zeran:
sie ist sigenunft des Kristen geloubens, Gotes herze balsem schrin.
(Aus Minnesinger von v. d. Hagen II, 246.)
(Die folgenden 43 Strophen dieses langen Gedichtes entsprechen dieser
ersten Strophe genau.)
c. Frauenehrenton. (Vroun Eren don von Reinmar von Zweter.)
Diu wariu minne Got enbot,
daz er uns sante sinen Sun her nider in den tot
und uns von helle erloste, darzuo hat' in diu wariu minne erkorn.
Nu seht also gewaltig ist diu minne, ─
verswige ich daz, war taete ich mine sinne? ─
in twank sin gotelichiu wirde,
daz er uns menschen wart genoz,
der künig ob allen künigen groz
ervulte gar der waren minne ir girde.
(Minnesinger v. d. Hagen II, 177.)
d. Abgespitzter Ton. (Chuonrat von Würzeburk.)
Aspis ein wurm geheizen ist,
der zuo der erden strecket
ein ore, und in daz ander stecket
sines zagels ort,
durch daz er kein wispel wort
verneme, so man in vahen wil.
O we, daz nu der selbe list
niht mangen herren decket,
der boeser rede sin ore enblecket
hie, beide, unde dort,
da von er den schaden bekort,
daz er verliuret eren vil.
Schalk in sinem munde
wunde bernde sprüche treit,
da mit er in schande leit
nu ritter unde knehte,
die durch sin lasterlich gebrehte
werdent vil gemeit:
swaz ein zühtik man geleit,
daz hant si vür ein goukelspil.
(v. d. Hagens Minnesinger II, 325.)
e. Gesangweise Boppes.
Ob all der werlte gar gewaltik wäre ein man,
und ob sin sin durch sunne, daz nie sin durch san,
und ob er wunder wäre über elliu wunder;
Ob in gelücke trüge unz an der himel steln,
und ob er künde prüven, wizzen unde zeln
des meres griez, die sternen gar besunder;
Ob sin kraft eine tusent risen
manliche möhte ervellen unde twingen,
ob hohe berge unt velse risen
dur sin gebot, und ob er möhte bringen,
swaz wazzer, luft, viur, erde weben,
swaz wont von grunde unz an den tron der sunnen,
ob im ze rehter e gegeben
nach wunsche wäre ein wib in eren wunnen,
kiusche unde reine, wol gezogen, der schoen' ein über gulde,
und ob er mit ir solde gar
leben tusent jar:
waz wäre ez danne, und ob er niht erwurbe Gotes hulde?
(v. d. Hagens Minnesinger II, 377.)
[612]f. Der Guldenton Kanzlers. (Chanzlers.)
Got, schepfer aller dingen,
din werdez lop kein zunge mak
vol sprechen, noch vol singen,
swie aller kreatiure kraft
in diner hende stat.
Din sint die himel trone,
din ist diu naht, din ist der tak,
din ist der sunne, schone
nach diner hohen meisterschaft
der himel ümbe gat.
Die sternen sind dir gar bekant
mit ir bezeichenungen;
vier element' in diner hant
sint eigentlich verwungen,
luft, wazzer, viur, ert[e] riche,
swaz in den vieren wonend' ist,
daz schuof vil meisterliche
dins edeln wortes hoher list
in siben tagen vrist.
(v. d. Hagens Minnesinger II, 388.)
g. Frauenlobs grüner Ton. (Vrouwenlop.)
Naturen kraft erschinet
an dem vogel vellica,
kein swaere, noch kein pine, noch kein leit entkümet da,
also daz er iht libe not,
wan er die krone ob allen vogelen treit;
Der tot in niht enpinet,
alsus diu schrift seit offenbar,
sin lip vor tode ist vremde, sin vederen werdent bluotik var:
also diu gotheit nie wart tot,
diu menscheit starb an Krist, durch uns er leit.
Diu gotheit menscheit vuorte,
diu menscheit starp, so daz der tot die gotheit nie beruorte.
daz was ein michel wunder,
daz Vater, Sun, Geist was ein strik,
unt doch [niht] wan ein leit jamers bik:
diu tougen entschloz diu valscheit nie darunder.
(v. d. Hagens Minnesinger II, 350.)
h. Eine Tanzweise von Liechtenstein. (Liehtenstein.)
Ere gernde[r] ritter, lat iuch schouwen
Under helmen dienen werden vrouwen:
Welt ir die zit vertriben
ritterlich,
eren rich
wert ir von guoten wiben.
(v. d. Hagens Minnesinger II, 51.)
i. Eine Reihe Nitharts.
Der walt aber maniger kleiner suezer stimme erhillet,
Diu vogelin sint ir langes ungestillet,
Diu habent ir truren uf gegeben
umb vroelich leben
dem meien:
ir megede ir sult iuch zweien!
(v. d. Hagens Minnesinger II, 111.)
k. Der Hildebrandston.
Er ist ein ziemlich später Ton des 15. Jahrhunderts. Man
versteht darunter die meist gebrochen geschriebene Nibelungenstrophe mit
Einfügung eines klingenden Cäsurreimes und Verkürzung des letzten
Halbverses um eine Hebung, so daß nun die in meist 8 Zeilen geschriebenen
Verszeilen gleichviel Hebungen haben. Es wurde dieser
Ton besonders bei Bearbeitung der ursprünglich in allitterierenden
Zeilen gedichteten Hildebrandsage benützt, woher der Name sich erkärt.
Jn diesem Tone ist das alte Heldenbuch aus dem 15. Jahrh. geschrieben,
welches die Heldensagen von Ortnit, Wolfdietrich, dem Rosengarten zu Worms &c.
enthält, und dessen neue Ausgabe wir Ad. v. Keller (Stuttg. 1867) verdanken.
Ebenso ist das von Ad. v. Keller (1879) herausgegebene „Nibelungenlied
nach der Piaristenhandschrift“ im Hildebrand-Ton geschrieben. Nachdem
das Maß gefunden war, haben spätere Dichter in rein lyrischen Gedichten
Zeilenlänge, stumpfe und klingende Reime beliebig geändert. Es entstanden so
die verschiedenartigsten Töne (z. B. Rolands-Ton, Herzog Ernst-Ton, Berner=
Ton, Benzenauer-Ton, der echte 8zeilige Pavier-Ton im Gegensatz zu dem
S. 609 d. B. erwähnten &c.).
Probe aus dem deutschen Heldenbuch (S. 652):
Da zürnet ser der grosse
und gab im einen schlag
das heime also plosse
vor im in dem garten lag
hiltebrant der alte
rûffet da heime an
wie bistu mit gewalte
gefallen auf den plan.
(Jn dieser gebrochenen Form ist u. A. Der Schenk von Limburg von
Uhland gedichtet. Beispiele bietet auch Rückert in Ges. Ausg. VII. 35, sowie
in Kindertotenlieder S. 9 u. s. w.)
Probe aus dem Nibelungenlied nach der Piaristenhandschrift
(S. 3):
Was man von wunder saget, | von sturmen und von streit,
Und die da sein geschehen | bei kunig Etzels zeit,
Der nam ein schone frawen, | als man noch hort sagn;
Sich hub durch iren willen | gross jamer unde clagn.
(Dieser nicht gebrochenen Form entspricht unsere neue Nibelungenstrophe,
vgl. § 107. 6. S. 317 und § 201. 3. S. 640 d. B.)
Der Minnesinger Kanzler liebte es, je zwei gebrochen geschriebene Hildebrandstrophen
zu einer Strophe zu vereinigen, z. B.:
Verschamten schanden türsten
verschamt ist iuwer muot,
ir stritet unde vehtet
niht wan in iuwern sak.
Wie pfleget ir der vürsten,
war kumt der herren guot?
unschuldik wilt ir ehtet,
gitig ist iuwer hak.
Buoze unde bezzerunge
vil maniger vor iu tuot;
swer helwen gar uz swunge,
der same wurde guot;
doch wäre hufe kleine,
der helwen ist ze vil:
uz ruhem swarzem beine
wart nie guot würfelspil.
(v. d. Hagens Minnesinger II, 388.)
l. Bernerton.
So herter tag erluhte in nie:
s'waz sie da vor gestriten ie,
des wart do gar vergessen.
Ir maht was in entwichen gar,
sie leitens mit den swerten dar:
uf Ecken wart gemessen
Ein also ungefüger slag,
daz er kam von den sinnen
und vor im auf der erden lag.
Doch moht ern niht gewinnen,
unz er ein neue maht gewan;
do sprang Eck von der Erde
und lief in wider an.
(Aus dem Eckenlied.)
§ 194. Das Gesetz der Dreiteiligkeit im mittelhochdeutschen
Strophenbau als Vorrecht deutscher Gründlichkeit.
Wie schon die Beispiele b─l im § 193 S. 610 ff. ersehen lassen,
waren die Strophen der Minnesinger dreiteilig. Die beiden ersten, im
Bau sich entsprechenden Teile nannten die Meistersänger die Stollen
(von stollo == Stütze, Gestell, Gerüst, Gezimmer); diese beiden Teile
bildeten den Aufgesang. Der letzte alleinstehende, ungleiche Teil, der
oft mehr Zeilen hatte als die beiden Aufgesangsstollen zusammengenommen,
hieß Abgesang. (Das Bild des Gezimmers oder Gerüsts
gebraucht zuerst Wolfr. von Eschenbach, indem er im Wartburgkrieg
von der meisterlichen Decke des fremden Zimmers spricht. Vgl. Hagens
Minnes. II. S. 10. Strophe 35 und 36.)
Jn allen Regeln der Metrik liegt zuletzt ein Geheimnis, dessen Kunde
uns entgangen sein kann, während die aus ihm hervorgewachsenen Bildungen
es fortdauernd in und an sich tragen. Das Gesetz der Dreiteiligkeit (d. i.
Entzweiung, Zweigung in Satz und Gegensatz und Vereinigung im Schlußsatz),
das in der mittelhochdeutschen Kunstpoesie wie in der Natur, in der Kunst und
im Sprachbau waltet, ist ein solches Fundament. Es beweist für unsere Nation
den Vorzug einer Gründlichkeit, wie wir ihn bei andern Nationen in dieser
Weise nicht nachweisen können.
Eine Art Analogon finden wir nur bei Pindar und in den Chorgesängen
der griechischen Tragiker (in der chorischen Lyrik der attischen Tragödie),
wo die zwei gleichartigen Bestandteile von Strophe und Antistrophe mit dem
ungleichartigen der Epode zu einem größeren Gebäude verbunden wurden. Bei
den neueren Völkern waren nur einzelne Formen dreiteilig. So hatte das
provençalisch=italienische Sonett Dreiteilung: die beiden Stollen des Aufgesangs
bestanden aus je 4 Zeilen, worauf die 6 Schlußzeilen des Abgesangs folgten.
Auch die Kanzonen Petrarcas waren dreiteilig. Bei den Deutschen war die
Beachtung des Gesetzes der Dreiteilung eine wesentliche Forderung, und man
findet daher in der ganzen uns von den Franzosen im 30jährigen Krieg
geraubten sogenannten Manesseschen Sammlung (deren Zurückforderung ich
1871 in Nr. 4 der gelesenen Gartenlaube anregte) keine fünfzig Beispiele,
wo es nicht nachzuweisen wäre. Wie dieses Gesetz beiläufig bemerkt schon im
Pflanzenreich die Bildung eines Ganzen meist durch einen ungleichen Teil abschließt
(vgl. S. 84 d. B.), so läßt es in der Poesie nach einer inneren Notwendigkeit
zu zwei gleichen Sätzen oder Teilen einen dritten ungleichen hinzutreten.
Sonach bestand jede einzelne Strophe ─ wie oben bemerkt ─ aus drei Gliedern,
von denen die als Stollen bezeichneten beiden ersten den Aufgesang bildeten
und sich gleich waren, während das den Abgesang bildende ungleiche dritte
Glied besondere Messung oder besondere Reimstellung oder verschiedene Zeilenzahl
hatte. Die Zeilenzahl des Aufgesangs wie des Abgesangs stand im Belieben
des Dichters. Forderung war es nur, daß die folgenden Strophen genau
den Bau der ersten in Bezug auf Gleichheit der Stollen und des Abgesangs
wiederholten. Jn seltenen Fällen beschränkte sich jeder der 3 Teile auf je eine
Zeile; häufiger fand man schon einzeilige Stollen und mehrzeiligen
Abgesang (vgl. Beispiel h und i des vorigen Paragraphen). Doch tritt die
beabsichtigte Dreiteiligkeit hauptsächlich in mehr als vierzeiligen Strophen zu
Tage. (Vgl. Bartsch in Pfeiffers Germania II. 12. 257. 283. 286, ferner
Grimm über den alten Meistergesang; letzterer nimmt Dreiteilung bei allen
Dichtungen der Minnesinger an. Selbst der Titurelton sei dreiteilig, S. 59 ff.,
ebenfalls der Leich S. 64 ff.) Jn der Manesseschen Handschriftensammlung,
wie in den Heidelberger, Leipziger, Möserschen, Weimarschen, Jenaischen Sammlungen
sind die 3 Teile der Strophe in ihrem Beginn durch große Anfangsbuchstaben
markiert, die ich in meinen Proben b bis l des vorigen Paragraphen
gesperrt drucken ließ.
Die neueren Bearbeiter der Minnesinger ─ Gleim, Rückert und [616]
Tieck ─ haben durch vorspringende Zeilen die Dreiteiligkeit noch schärfer
markiert. Nur tritt dadurch für den Unkundigen der Nachteil ein, daß er
Stollen und Abgesang für 3 Strophen hält.
Ein Beispiel der Schreibung bei den Minnesingern:
Gewan ich je deheinen muot,
der hohe stuont, den han ich noch;
Min leben dunket mich vil guot
und ist es niht, so waen' ich's doch.
Ez tuot mir wol, waz wil ich's mere?
unt vürhte unrehten spot niht (al) ze sere,
unt kan wol liden boesen haz:
solt' ich's also die lenge pflegen, ich gert' es niemer baz.
(Reinmar der Alte. Vgl. v. d. Hagens Minnesinger I. 175.)
Dasselbe Beispiel in der Rückertschen Bearbeitung und
Schreibung:
(Rückerts „Herr Reinmar der Alte“. Ges. Ausg. V. 126.)
(Vgl. hierzu auch Tiecks sämtliche Werke Bd. 20: „Minnelieder aus
dem schwäbischen Zeitalter.“)
§ 195. Die Dreiteiligkeit der Strophen bei den neueren
Dichtern.
Bei den neueren Dichtern finden wir die Dreiteiligkeit der Strophen
nur sehr vereinzelt. Zuweilen tritt sie äußerlich nicht zu Tage, oder
der Dichter hat sie unabsichtlich nur in einzelnen Strophen einzelner
Dichtungen angewandt.
Schiller schreibt in seinem Lied an die Freude die beiden Stollen
des Aufgesangs als besondere Strophe und fügt den Abgesang als Chorstrophe
an:
Jn der 5zeiligen Strophe von Des Mädchens Klage folgt auf den
4zeiligen Aufgesang ein 1zeiliger Abgesang. Jn den ersten Strophen der
Klage der Ceres findet sich ein (wahrscheinlich nicht beabsichtigter) 4zeiliger
Aufgesang mit einem 8zeiligen Abgesang.
Goethe hat im Rattenfänger Auf- und Abgesang charakteristisch durch
den Sinn getrennt. Jm Hochzeitlied läßt er dem 4zeiligen Aufgesang einen
5zeiligen Abgesang folgen &c.
Bürger hat im bekannten Wilden Jäger einem 4zeiligen Aufgesang
einen 2zeiligen Abgesang angefügt.
Rückert giebt in folgender künstlichen Minneweise jedem Stollen zwei,
dem Abgesang aber 3 Zeilen:
Jm Einleitungsgedicht zu den Östlichen Rosen Rückerts entsprechen sich die
3 Teile in der Zeilenzahl:
Der tönereiche fürstliche Dichter Oskar II. von Schweden hat das Gesetz
der Dreiteiligkeit mit hohem Verständnis in vielen seiner Dichtungen zum Ausdruck
gebracht ─ und zwar im Hinblick auf dreigeteilte schwedische Volkslieder.
Daß es ihm hierin wenig Dichter der Neuzeit nachgethan haben, werden wenige
Proben (vgl. die Übersetzung von Emil J. Jonas. Berlin 1877) darthun:
Das Bild.
Man beachte das durch das ganze Gedicht durchgeführte schöne strophische
Charakteristikum des um 1 Jambus verlängerten Abgesangs. Einen einzeiligen
Abgesang haben die Strophen noch in Erinnerungs-Runen mit dem Reimschema:
a b a b a.
Aurora.
Ähnlich ist Die erste Lerche gebaut. Reimschema: a b a b c c b.
Provence.
Man beachte den wirksamen Rhythmuswechsel im Abgesang. Ähnlich
gebildet ist „Tasso“: Vorwort zur Übersetzung von Goethes Tasso durch den
königlichen Dichter. Reimschema: a b a b c c.
Ersatz für die Dreiteilung.
Nur wenige Dichter der Neuzeit kennen in ihrer Lyrik das Gesetz der
dreiteiligen Strophen. Einen Ersatz bietet die zweiteilige Gliederung
in Haupt- und Gegenstrophe, die dem Dichter leichter wird als die Dreiteilung,
da er den zweiten Stollen nicht zu bilden braucht.
Beispiel der zweigeteilten Strophe:
(Rückert.)
(Die erste Hälfte bildet hier den Aufgesang, die zweite den Abgesang.
Vgl. noch „Ganz verdumpft“ von Rückert.)
Ein gründliches Studium der Minnesinger dürfte unseren jüngeren Lyrikern
dringend zu raten sein, wenn ihre meist armselige, aus nur wenigen abgenützten
Tönen bestehende Strophik mannigfaltiger, reicher, schöner und kunstvoller
werden soll.
§ 196. Die Leiche.
1. Leich (v. althochdeutschen laikan == spielen) war ein freier Gesang
aus ungleichartigen Strophen zum Saitenspiel und Tanz. Die
Leichform war eine durchaus freie lyrische Form, welche sich nicht im
Geringsten um die Dreiteiligkeit des strophisch angeordneten Minnelieds
kümmerte. Man findet bei den Leichen keine regelmäßig wiederkehrenden
Strophen, vielmehr bestehen sie aus beliebigen, kürzeren und längeren
zweiteiligen, den beiden Stollen der Minnesangsstrophen ähnlichen
Reimsätzen. Bei ihrer losen, durch öfteres Überlaufen der Sätze freier
gewordenen Gestaltung und Unbeschränktheit des Jnhalts bis zur Stegreifdichtung
treten die Leiche in entschiedenen Gegensatz zur streng geschlossenen
Strophe und ihrem gemessenen Jnhalt und nähern sich der
Prosa.
2. Sie entsprechen im äußeren Bau unseren freien Accentversen,
(§ 120 S. 376) denen wir deshalb den Namen neuhochdeutsche
Leiche beilegten. Trotz ihrer kunstlosen Form erblickt indes das
geübte Auge in ihnen Kunst, Absicht, Regel, Gesetz.
3. Jhre scheinbar unregelmäßige Bauart machte ein Durchkomponieren
nötig. Alte Quellen und die Etymologie des Wortes Leich
beweisen, daß die Leiche ─ ähnlich den Chorliedern der alten Dorier
─ bestimmt waren, von Jnstrumentalmusik und Tanz begleitet zu
werden.
4. Sie sind aus den Sequenzen hervorgegangen.
5. Jhr Jnhalt ist ein verschiedenartiger; doch giebt es mehr Leiche
weltlichen als religiösen Jnhalts.
6. Die spätere Dichtung hat den Leich wenig gepflegt. Fr. Rückert
hat uns im Gedicht „Das Licht“ (Ges. Ausg. VII. 288) einen allerdings
in der Zahl der Verszeilen der einzelnen Strophen strenger geregelten
Leich hinterlassen. Außerdem sind die im § 120 aufgezählten Beispiele
mit Reimen (z. B. Schillers Handschuh) richtige Leiche, die freilich nur
der Jnstrumentalbegleitung ermangeln. Die reimlosen freien Accentverse
─ sofern sie Jnstrumentalbegleitung erhalten ─ sind freie Leiche.
1. Die bekannten 33 Leichmuster aus der mittelhochdeutschen Zeit zeigen
ihre Natur in Beweglichkeit und in fortgesetztem Wechsel mehrerer Töne. Kein
Ton wird ausgehalten. Zuweilen finden sich drei und mehr Teile in einer
Strophe. Dann erfolgt plötzliches Umbrechen, der Gesang fällt in die gleiche
Melodie zurück oder doch in einen Teil derselben. Jm Ganzen herrscht also
gar keine Regel, nur das Einzelne ist künstlich gehalten. Figuren, welche
in sich geschlossen sind, setzen sich an andere eigenartig geschlossene oder lose
Figuren an; im Verlauf folgen zuweilen auch die alten wieder. Der Schluß
ist willkürlich, oft überraschend abgerissen. „Das erinnert ─ sagt J. Grimm ─
an das begleitende Jnstrument: sprang die Saite, so war der Leich aus, [620]
woraus sich die abweichende Länge der Leiche erklären läßt.“ Nur höchst ausnahmsweise
hat ein Dichter durch Wiederholung der Form etwas Festes aufgedrückt,
z. B. der Rotenburger, der einen Minneleich und einen Marialeich
ganz gleichmäßig gebaut hat.
2. Der Strophenbau der Leiche, welche meist die ältesten unmittelbar
gebundenen Reime (rimes plates) hatten, war insofern nicht kunstlos, als
ihre ungleichmäßigen Strophen aus verschiedenen Systemen (Reimreihen)
bestanden, in welchen ebenso wie in ihren Unterabteilungen (Reimsätzen)
die Zweiteiligkeit durch Wiederholung der melodischen Sätze vorherrschte, wobei
jedoch gewöhnlich ein dreiteiliger Schluß folgte. Die Kunstgewandtheit des
Dichters tritt auch dadurch hervor, daß öfters die früher schon gebrauchten
Systeme wieder aufgenommen wurden und ganze Systemgruppen sich wiederholten,
ja, daß zuweilen das ganze Gedicht in zwei analog konstruierte größere
Absätze zerfiel.
3. Über Wesen und Namen der Leiche ist von Gelehrten verschieden
geurteilt worden. Vgl. z. B. Lachmann im Rhein. Mus. III. 426; Ravaliére;
Westphal; J. Grimm; Bartsch in Deutsche Liederdichter des 12. bis 14. Jahrh.
1879. S. 29 &c.
Grimm verwirft die Ableitung des Leich von Lied, Liod, leudus wegen
des in dieser Wurzel charakteristischen d oder t, dann aber weil die Dichter
des 13. Jahrh. unter Leich etwas Anderes verstanden als unter Lied. Jhm
ist das k in der Wurzel charakteristisch; daher ist ihm die einzig richtige
Etymologie im goth. láikan (schwed. leka, isländ. leika) == spielen gegeben.
Mit dem althochd. Verbum laichen == leichen ist das leccare der
romanischen Sprachen verwandt. Leccator und lecheour ist Spielmann.
Daraus folgt, daß Leich ─ wie erwähnt ─ eben nicht aus dem Französischen
stammt, sondern ein längst übliches deutsches Wort ist,
das einen durch ein Jnstrument begleiteten frei gebauten Gesang
bedeutet. Die Nibelungen unterschieden das Lietsingen (v. 6835) vom
Leichspielen (v. 8085. 8115). Mehrere Minnesinger haben sich beim Vortrag
ihrer Leiche der Jnstrumente bedient, z. B. Walther (I. 112) der Harfe;
der Unverzagte und Reinmar der Fiedler der Geige &c.
4. Nachweislich sind die in ihren rasch wechselnden Bewegungen und
hoch auf- und absteigenden Tonläufen des begleitenden Saitenspiels einherschreitenden
Leiche die ältesten Verbindungen des volksmäßigen Sanges mit
dem Kirchengesange. Sie stammen nämlich aus der Kirchenmusik, und zwar
aus den Sequenzen. Dieses waren ursprünglich textlose Melodien (Jubelmodulationen),
die in der Messe dem Hallelujah unmittelbar folgten und dasselbe
durch verschiedene Modulationen hindehnten oder fortsetzten. Seit Mitte
des 9. Jahrh. legte man ihnen nach dem Vorgange des Abtes Notker von
St. Gallen (830─912) Texte unter. (Vgl. Wolf über Lais, Sequenzen
und Leiche. Heidelbg. 1841.) Jn Übereinstimmung damit sagt W. Wackernagel
(vgl. Die Verdienste der Schweizer um die deutsche Litter. Basel 1833.
p. 11): „Gleich zu Anfange, noch geraume Zeit vor 1190, sehen wir eine [621]
der beliebtesten Formen der mittelhochdeutschen Poesie, die sog. Leiche, in dem
Lande westlich der Reuß (zu Engelberg oder zu Muri) ihren Ursprung nehmen.
Man ahmte damit eine Art des lat. Kirchengesanges nach: die Sequenzen,
die einige Jahrhunderte früher waren zu St. Gallen von Notker Balbulus
erfunden worden.“
Der älteste bekannte deutsche Leich war in der seit Notker schon ausgebildeteren
strophischen Form der späteren Sequenzen gedichtet, während die
noch älteren halblateinischen Leiche von den beiden Heinrichen und vom h. Georg
noch in der Form der älteren Prosen geschrieben sind. (Vgl. Lachmann über
Singen und Sagen S. 4.)
Einer der ältesten Leiche, ein Marienleich, fand sich (nach W. Wackernagels
Altd. Lesebuch S. 273) noch mit der Überschrift „Sequentia de
Sa. Maria“ in den Schweizer Kirchenbüchern zu Muri und Engelberg.
Solche (lateinische) Sequenzenleiche singt Tristan, und Jsot fidelt Leiche
von san Zê und san Dînîse. (Vgl. Gottfried von Straßburgs Tristan V.
3626. 8066.)
Jn der Lambacher Hs. der Wiener Hofbibliothek, welche Johanns des
Mönchs von Salzburg Übersetzungen von Sequenzen &c. enthält, heißt es in
der Überschrift: „Dy sequenzen hat ein gelerter Herr Johannes, ein Munich,
gemacht .. unser lieben frawen der mueter Marie zu geleichet“ u. s. w.,
und noch Frauenlobs berühmte Paraphrase des Canticum canticorum ist
ein Leich (Marienleich); und sowohl dieser, als seine beiden andern Leiche
(der Kreuzesleich und der Minnenleich) haben noch den kirchlichen Refrain der
Antiphonen Evovae. Ja, nach Lachmann (a. a. O. S. 421) setzten die
Handschriften den Namen Leich meist nur zu den geistlichen Gedichten dieser Art.
Wenn nach Wolf (über die Lais S. 124) im Gegensatz zu den reinen
Kunstliedern (Chansons) die von den Troubadours Lais genannten Volkslieder
und die ebenso genannten kunstmäßigen Nachahmungen der Liederformen der
altfranzösischen Lyrik die charakteristischen Merkmale der lyrischen Sequenzenformen
an sich tragen, so erhellt ─ auch wenn Grimm die etymologische Verwandtschaft
verwirft ─, daß unsere Leiche nicht nur den Lais formell ähnlich,
sondern auch durch das gemeinsame Vorbild und Prinzip innerlich verwandt
waren: die nur unter verschiedenen Nationen erzogenen Kinder
derselben Mutter, der volksmäßigen Kirchenpoesie. Sonach
wäre vielleicht Gottfried von Straßburg durch die Gleichförmigkeit der lyrischen
Lais und der Leiche bestimmt worden, Lai durch Leich zu übersetzen. Hätten
unsere höfischen Dichter, wie die nordfranzösischen, mehr Volksballaden bearbeitet,
so würden sie vielleicht auch solche auf freigebildete, ungeregelte Volkslieder
gegründete Erzählungen, welche in Frankreich Lais hießen, bei uns als Leiche
bezeichnet haben.
5. Der Jnhalt der Leiche beschränkt sich durchaus nicht auf einen bestimmten
Gegenstand. Die ältesten Leiche sind religiöser Natur, die späteren
sind vorwiegend weltlichen Jnhalts. Es giebt episch=lyrische und rein lyrische
Leiche, klagende und lustige, Lob- und Klaggesänge (laudes, planctus) und [622]
Tänze und Reihen (Jubili carols). Viele Leiche handeln von Maienlust und
Minnesang &c. Minneleiche finden wir bei Wintersteten, Botenlauben,
Liechtenstein; religiöse bei Konrad von Würzburg, Rotenburg, Frauenlob,
Reinmar von Zweter. Walthers einziger, für ein Marienfest gedichteter Leich
hat neben religiösem Hintergrund politische Tendenz. ─ Der Leich vom
h. Grab des Heinrich von Rücke hat die Absicht, zur Beteiligung am Kreuzzug
aufzufordern. ─ Ein Leich dient als Reigentanz dem Herzoge Friedrich dem
Streitbaren, der ihn selber sang und tanzte, ein anderer dem Spielmann
der Nibelungen: Volker. ─ Als Beispiel sagenhafter Behandlung eben
erlebter Wirklichkeit kann der Ludwigsleich vom Jahre 881 erwähnt werden,
der sogleich nach der Normannenschlacht von Saucourt abgefaßt wurde. Er
spricht von Ludwig III. als Lebenden († 882), und erwähnt eines Wunders
und eines Zwiegesprächs mit dem Könige &c. ─ Die Tanzleiche, welche zur
Begleitung des Tanzes gesungen wurden, zeigen neben der größten Einfachheit
die zierlichsten musikalischen Sätze und Reimverschlingungen in fesselloser und
daher um so lebhafterer Bewegung.
Die bekanntesten Leiche sind: einer von Walther von der Vogelweide
(I. 101), von Gliers (1. 43), von Otto von Turne (1. 192), von Winli
(2. 23), von Rinniu (2. 117), von Reinmar von Zweter (2. 122), von
Alexander, von Damen, zwei von Frauenlob, zwei von Konrad von Würzburg,
mehrere von Tanhuser, sechs von Rotenburg, sieben von Wintersteten, einer
von Botenlauben, einer von Liechtenstein &c.
6. Die Meisterschulen haben die Leichform fallen lassen, oder sie haben
sie von ihrer Lebensbedingung ─ der Musik ─ losgelöst. Der späteste Leichdichter,
Heinrich v. Laufenberg (1. Hälfte des 15. Jahrh.), hat seine Gedichte
der Art (meist Paraphrasen oder Nachbildungen lateinischer Kirchengesänge)
ganz noch in der alten freien, d. h. nur durch die Melodie bestimmten Form
abgefaßt. (Wolf a. a. O. S. 151.)
Von den neueren Dichtern hat nur Rückert einen Leich in 8zeiligen
Strophen gedichtet, die in Bezug auf Reimstellung, Reimgeschlecht und Rhythmus
die schrankenloseste Freiheit beweisen.
I. Beispiele des mittelhochdeutschen Leichs:
a. Religiöser Jnhalt.
Salve Regina von Heinr. von Laufenberg.
(Straßb. Bibl. Cod. Joh. B. 121. fol. 96. b.)
Bis grüsst, maget reine,
küngin bist alleine,
aller welt gemeine;
erbermd hat sie nicht kleine,
die ich nu meine,
Leben kann sie bringen,
süsskeit us ir dringen,
der ich hie wil singen,
und hoffnung unsern dingen.
bis grüsst, hilf uns gelingen.
Zu dir schrient wir
mit begir,
eilend nu hilf uns schir;
sun Ewen uns nicht verlir. Zu dir sufzent wir,
nicht enbir,
weinend und ouch greinend;
in disz trehental
schouw überal,
und an zal
wend gebresten alle mal. Eya! Darumb
unser fürsprechen kumb,
versprich uns umb und umb;
die din diener wellent sin,
erbermd teil mit in,
zartes schönes megedin;
und die augen vin
dahin zu uns har
ker und nim war
dieser kristenlichen schar. Und Jesum,
alzit benedictum,
frucht gnucht
dins libes zucht,
gib auh je zuflucht
uns allen armen.
naeh disem elend auh dich erbarmen,
zeig uns bei dir barmen. O megdliche kron
gib uns doch ze lon,
O Salomons tron,
wol gebuwen schon. O o selden wunn,
dich bekleit der sunn,
o süsser brunn
Maria!
b. Weltlicher Jnhalt. (Minneleich.)
Ein Leich von Ulrich von Liechtenstein. (v. d. Hagens Minnesinger II. 44.)
Got vuege mir's ze guote,
ich bin noch in dem muote,
daz ich wil guoten wiben
mit dienest ane valschen muot ie mer bi beliben;
davon rat' ich einen rat,
der allen wol gemuoten mannen tügentlichen stat. Ich rate iu, ere gernde man,
mit triuwen, als ich beste kan,
ob ir welt wernde vröude han,
so sit den wiben undertan,
Mit triuwen ane valschen muot.
ir guete ist also rehte guot,
swer in mit triuwen dienest tuot,
den künnen si wol machen vro;
der werlde heil gar an in lit,
ir guete ist vröuden hochgezit,
ir schöne so viel vröuden git,
davon diu herze stigent ho. Werdekeit,
sunder leit,
künnen si wol vriunden geben;
swem so si
wizze bi,
der sol nach ir hulden streben,
unt zinsen in sin leben. Daz rate ich uf die triuwe min,
swer erensaelik welle sin
unt riche an hohem muote,
der sol mit triuwen guotiu wip
reht minnen, als sin selbes lip;
vil guot vor allem guote. Ist der wibe güte und ir schöne schöne ob aller schöne.
ir schöne, ir güte, ir werdekeit ich ie mer gerne kröne.
an ir schöne und an ir güte stat min heil und ouch min wunne:
wär' guoter wibe schöne niht, wie selten ich gewunne. Deheinen ere gernden muot!
wol mich, daz si sint also guot
daz man hat von ir güte
so hohen trost vür senediu leit:
ir schöne, ir güte, ir werdekeit (Würdigkeit)
git mir vil hoch gemüte. Min muot von wiben hohe stat:
waz danne, ob mir ir einiu hat
erzeiget hohe missetat?
deis war, des mak wol werden rat. Swaz si gegen mir hat getan,
daz wil ich gerne wizzen lan
mit zühten, als ich beste kan,
uf genade, guotiu wip:
ich han ir driu unt zehn jar
gedienet, sunder wenken gar,
bi minen triuwen, daz ist war,
daz in der zit mein senender lip Nie gewan
selhen wan,
daz min stäte würde krank;
al min gir
was gegen ir
sleht, mit triuwen, ane wank:
nu vert en twer ir habe dank,
Reht als ein rat, daz ümbe gat,
und als ein marder, den man hat
in eine lin gebunden.
künde ich, als si, unstäte sin,
so het' ich nach dem willen min
an' si ein vrouwen vunden. E daz ich min ritterliche stäte bräch' an guoten wiben,
ich wolde e te mer valscher wibe hulde vri beliben;
ich muoz in der stäten wibe dienest sunder lon verderben,
oder ich muoz ir stäten herzen lieb alsus erwerben, Daz ich gewenke nie mer wank
von in; ir hohen habe dank
unt mag ich den erringen,
so han ich allez, daz ich wil,
sueze ougen wunne, herzen spil,
vil wunne an allen dingen. Nu, waz bedarf ein senender lip
genaden mehr? ob ich ein wip
ze vrouwen vinde also gemuot,
diu sich vor wandel hat behuot,
nnt niht wan daz beste tuot?
der sol min dienest sin bereit, Je mer me,
swie'z erge,
sunder valsch, mit stätikeit;
da von gewinne ich werdekeit Und also vröude richen sin,
des ich getiuret ie mer bin
an aller hande dingen.
vind ich si, ich sol so ritterlichen nach ir hulden ringen,
daz mir von ir stätikeit muoz hoh' an ir gelingen.
si muoz aber, uf di triuwe min,
gar vri vor allem wandel sin,
diu ich mich mere laze twingen,
und ouch in kumber bringen:
ja gehöret man mich nie mer me deheines valschen wibes lop
gesprechen, noch gesingen.
II. Der Leich Fr. Rückerts. (Feste Strophen, ohne Überlaufen der Sätze.)
Das Licht.
(b)
[627](b)
[628](e)
(Die Verse der letzten Strophe waren wegen der Mittelreime ursprünglich
─ vgl. Aglaja 1826 ─ in gebrochenen Zeilen gedruckt.)
§ 197. Strophik der Meistersänger.
1. Die Strophik des durch ehrbare Bürger und Handwerker vom
14. bis 17. Jahrhundert geübten Meistersangs war der Hauptsache
nach eine Nachahmung der Strophik (Töne) des Minnesangs.
2. Der Meistersang bezeichnete das Lied (== liet) mit dem Namen
Bar (== Par). Die Strophen nannte man Gesätze, zuweilen auch
Reihen und Weisen. Die letzten Verse einer Strophe hießen Körner.
Sie reimten auf keinen vorhergehenden Vers, wohl aber zuweilen auf
die letzten Zeilen der nächstfolgenden Strophe.
3. Da auch die Lieder des Meistergesangs wirklich gesungen
wurden (vgl. z. B. die Melodien am Schlusse des 4. Bandes der
Minnesinger v. d. Hagens), so traten die Leiche der Minnesinger
mehr und mehr in den Hintergrund, bis endlich der ganze Meistersang
selbst in Verfall geriet.
1. Die Meistersänger, welche bald als förmliche Zunft oder Meistergenossenschaft
auftraten und bereits 1378 vom Kaiser Karl IV. einen Freibrief
und ein eigenes Wappen erhalten hatten, hielten ihre Singübungen auf dem
Rathause, in der Herberge und ─ an Feiertagen ─ in den Kirchen ab.
Sie ahmten die feststehenden Strophenformen oder Töne der Minnesinger nach,
wenn auch Einzelne neue Töne erfanden. Hans Sachs schuf z. B. nur 13
neue Töne, während er in 262 Tönen gedichtet hat. (Vgl. Notizen &c. aus [629]
den Dresdn. Handschr. des Hans Sachs &c. von Schnorr v. Carolsfeld. Berl.
1872. S. 32.)
Fast in allen Tönen der Minnesinger versuchten sich die Meistersänger.
So finden sich z. B. in den vom Stuttg. litter. Verein durch Karl Bartsch
1862 herausgegebenen „Meisterliedern der Kolmarer Handschrift“
Meister-Lieder in der goldenen, gespaltenen und Hofweise Walthers, im
goldenen Tone und in der Mühlweise Woframs, in der Grußweise des
tugendhaften Schreibers, im Fürstentone Heinrichs von Ofterdingen,
im Ehrenton Reinmars von Zweter wie im Ehrenton des
Ehrenboten vom Rhein, im goldenen und kurzen Tone Marners,
im goldenen Ton Tanhusers, im Aspiston, in der Morgenweise und im
Hofton Konrads von Würzburg, im Hofton Boppes, in der Pflugweise
des Ungelarten, im goldnen und süßen Ton, wie im Hofton des
Kanzlers, im überzarten, goldenen, neuen, grünen und langen Ton Frauenlobs,
in seiner gekrönten Reihe, in seiner Ritterweise, Grundweise und Froschweise,
in seinem Würgendrüssel, in seinem Tannton, Kaufton, Leidton, Ritterton
u. s. w. u. s. w. Das Studium der erwähnten Kolmarer Handschrift ist für
die Kenntnis der meistergesanglichen Gesetze anzuraten, denn die Kolmarer Hs.
ist in Bezug auf Zahl der Lieder und Töne die reichhaltigste; sie ist ─ abgesehen
von der Donaueschinger ─ die einzige, welche die Töne der Dichter
systematisch gruppiert und die Lieder des gleichen Tones fast durchweg nacheinander
folgen läßt, während in anderen Handschriften Töne und Dichter
bunt durcheinander geworfen sind.
Die Meistersänger erstrebten pedantisch die Einhaltung von Metrum, Reim
und Melodie, vor allem aber die Nachahmung der von den Minnesingern
überkommenen dreiteiligen Formen. Wie peinlich genau, aber auch wie künstlich
sie verfuhren, beweist u. A. „Der meisterliche Hort in vier gekrönten
Tönen“ (v. d. Hagens Minnesinger IV. 932), dessen erstes Gesätz im langen
Tone Müglins, das 2. im langen Tone Frauenlobs, das 3. im langen
Ton Marners, das 4. im langen Ton Regenbogens gebildet ist; ein 5. Gesätz
wurde in allen 4 Tönen gesungen, nämlich der 1. Stollen im langen Tone
Müglins, der andere im langen Tone Frauenlobs, der halbe Abgesang im
langen Marner, die andere Hälfte im langen Regenbogen &c.
2. Jedes Gesätz des Meistergesangs war dreiteilig. Ein Bar bestand
aus mehreren solchen Gesätzen. Jedes Gesätz hatte 2 entsprechende,
gleichgebildete Stollen und einen ungleichartigen Abgesang. Die
Zeilenzahl der Gesätze war unbeschränkt. Ein Gesätz konnte 7 bis 100 Zeilen
haben.
3. Es war kein Wunder, daß ein so verkünstelter, kaum mehr mit dem
Auge zu überblickender Strophenbau der Willkür Thür und Thor öffnete,
daß man in Schematismus und Formalismus verfiel, und daß daher die
Strophik des Meistersangs bei allen ernsten Leuten in Verruf und der Meistersang
selbst in Verfall kam.
Beispiele:
a. Ein ganzer, aus 3 Gesätzen bestehender Bar.
In Regenbogen kurzem dôn.
Der würfel und die irren frouwen,
die habent beide einen muot:
Swer einem irren wip wil trouwen,
die swendet im lîp unde guot.
Der würfel hât die selben art:
swaz er ein ganzez jâr tout bouwen,
verswendet er ûf einer vart. Swer sich laet an des würfels triuwe,
der füeret veile sêle und lîp.
Er bringet mangem afterriuwe:
alsô tuot ouch ein irrez wîp.
Sie habent beide einen muot:
sie machent alten jâmer niuwe
und bringent mangen umb sîn guot. Du wîser man, du solt dichs mâzen,
wan man es dich bewîset hât:
Du solt die irren frouwen lâzen,
dar zuo den würfel, deist mîn rât.
Man hoeret si vil selden klagen,
wan got der wil si selber hazzen,
der von dem würfel wirt erslagen.
(Aus Bartsch, Meisterlieder S. 616.)
b. Eine Strophe eines aus 3 Gesätzen bestehenden „Pars
von kunst“.
Kunst ist ein edel erbe guot und diu vernunft(1. Stollen.)
mit ir zuokunft:
diu hazzet karge sinne.
diu milte ist in ir minne.
ie mê man ûz der clâwen gît, ie mêr es ist dar inne.
ie mê man schepfet ûz ir bach, ie mê sich dar in breitet.
Die tumben jehent sanges list daz si niht kunst(2. Stollen.)
man seit, von gunst
sî ez ein behende.
aller künste wende
mac bûwen in gesange beide ir zil und ouch ir ende,
ir ûzganc und ir anbegin und swie ir zirkel leitet.
Sit rede wort gesanges munt (Abgesang.)
uns meldet aller künste grunt,
ir frâge unkunt,
ir slôz ir bunt,
gesanges meister sint gesunt
niht wan mit drîer künste funt.
ir singermeister, allerbest die dri mit künsten reitet.
(Aus Bartsch, Meisterlieder S. 279.)
Man vgl. noch c. eine Strophe eines aus 3 Gesätzen bestehenden
Bars in „Frauenlobs spiegelwise“ (Bartsch, Meisterl. 305),
sowie d. ein Gesätz aus der 1516 in 3 Gesätzen gedichteten Schulkunst
von Hans Sachs in der überhohen perckweis (Jn: Notizen von
Schnorr v. Carolsfeld. Berl. 1872. S. 43).
e. Ein meisterlicher Marienleich. (Aus der Kolm. Sammlung.
Bartsch a. a. O. S. 608.):
Rêgînâ, edel künigin her,
des himels êr
sich zuo dir barc:
du gotes sarc,
karfunkelstein,
lûter und rein,
durhsihticlich.
Du Rafahêles spiegel fîn,
liehttragerin
der cristenheit,
daz lange leit
hâst du verdruct,
ze dir geruct
den fürsten rich. Uz dem rât der drivaltikeit
hâst du den sun genumen:
dar zur hetst du dich schône bereit,
do er zuo uns wolt kumen
menschlichen in diz jâmertal.
im tet wê der profêten val,
ir grôze qual
durch himel hal;
daz brâht in her ûf dise wal
in Marjâ sal:
daz bringt uns allen frumen.
f. Eine Strophe eines Bars in „Her Walthers von der
Vogelweide gespaltenen wise“ (Jn derselben steht der Abgesang
zwischen den beiden Stollen.):
(Bartsch a. a. O. S. 536.)
(Bartsch bemerkt S. 156: Auffallend ist, daß diese Strophenform in
die meistersängerische Poesie übergegangen ist, da sie von dem gewöhnlichen
Bau, wonach die beiden unter sich ganz gleichen Stollen vorangehen und der
Abgesang folgt, abweicht, denn in ihr steht der Abgesang zwischen den beiden
Stollen, die außerdem durch das Geschlecht der Reime sich unterscheiden. Jene
Trennung der Stollen durch den dazwischengeschobenen Abgesang scheint der
Name „gespaltene Weise“ bezeichnen zu sollen, der jedenfalls nicht aus Walthers
Zeit stammt.)
Wir geben noch eine Strophe aus den Meisterliedern in Walthers gespaltener
Weise (Bartsch a. a. O. S. 538):
Ez sint niht allez friunt die man dâ friunde heizet.
er ist ein friunt der gein dem andern friuntlich beizet
in ganzer staeter liebe und in sin friuntschaft dar zuo reizet.
Er ist ein friunt der gein dem man mit worten
lebt in dem herzen sin ân allez kunterfeit.
ichn ahte sin ze friunde niht im sî dann leit
swaz sînem lieben friunde schât und wirret zallen orten.
Er ist ein friunt und ein getriuwer man
der sînem friunt in friuntschaft alles guoten gan
in ganzer staeter liebe und er dar an niht wenken kan.
IV. Die deutsch=nationalen Strophen der Gegenwart.
§ 198. Erklärung und Einteilung.
1. Neben den bisher aufgeführten Strophen, die in unserer poetischen
Litteratur größere oder geringere Verwendung fanden, giebt es noch jene
stattliche Anzahl deutsch=nationaler Strophenformen, die zum Teil
aus früheren Perioden unserer Litteratur sich herschreiben, zum Teil
aber der dichterischen Schöpfungskraft unseres Volkes in den letzten
Jahrhunderten entsprossen sind. Neben ihrer Verschiedenartigkeit in
Bezug auf Rhythmus und Zeilenlänge unterscheiden sie sich besonders
durch ihre außerordentlich mannigfaltige Reimstellung und durch ihre
Zeilenzahl.
2. Zeilenzahl und Reimstellung bedingen ihre Gruppierung.
3. Die historische Entwickelung der einzelnen Strophenformen
darzustellen wäre eines Versuchs würdig.
1. Welcher weitumfassenden Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit unsere
Strophen fähig sind, dürfte sich schon aus dem Hinblick auf die Anzahl der
zu ihrem Aufbau verwendbaren Metren ergeben. Jedes Metrum läßt aber
wieder je nach der Taktanzahl der einzelnen Verse eine beliebige Anzahl von
Strophenverschiedenheiten zu. Hierzu kommt die durch Reimstellung &c. sich
ergebende Mannigfaltigkeit und die Verschiedenheit im Verhältnis der Zeilenlängen
u. s. w.
2. Wir teilen die deutsch=nationalen Strophen am besten in zwei=,
drei=, vier= bis zwanzigzeilige und vielzeilige Strophen ein.
Die einzelnen Formen und Modifikationen dieser zwei= bis vielzeiligen
Strophen behandeln wir bei deren Vorführung in den nachfolgenden Paragraphen.
Die entlehnten Bezeichnungen Distichon, Tristichon, Tetrastichon &c.
finden wir bei deutschen Strophen nicht angemessen.
3. Jnteressant wäre der Nachweis, wie sich die einzelnen Strophenformen
bis in die Neuzeit auseinander entfaltet haben: wie also z. B. die dreizeilige
Strophe durch Hinzufügung eines einzeiligen Abgesangs aus dem
Reimpaare sich bildete, wie die vierzeilige Strophe durch Brechung des
Langzeilen-Reimpaars entstand, wie die fünfzeilige Strophe durch Anfügen
eines einzeiligen Abgesangs aus der vierzeiligen Strophe sich entwickelte, wie
ferner die fünfzeilige Strophe a a | b b | c ─ oder a b | a b | a ─ durch
Hinzufügung des c oder b Reimes zur sechszeiligen Strophe hindrängte, wie
die 4zeilige mit 3zeiligem Abgesang eine siebenzeilige, in ihrer Verdoppelung
aber eine achtzeilige Strophe bildete u. s. w.
Wir deuten das Nötige bei den nachstehend aufzuführenden Strophenformen
an.
§ 199. Zweizeilige Strophen.
1. Sie finden sich in allen Metren. Der Reim kann selbstredend
nur gepaart sein, sofern nicht ─ bei Langzeilen ─ ein mit dem
Schlusse korrespondierender Cäsurreim in der Mitte der Zeile sich
befindet.
2. Bei längeren, aus zweizeiligen Strophen gebildeten Gedichten
schließt der Gedanke (oder Satz) immer mit der zweiten Zeile ab.
1. Die meisten zweizeiligen Strophen hat Rückert geliefert. Er bediente
sich hierzu des jambischen Sechstakters (Alexandriners). Vgl. sein Lehrgedicht
Weisheit des Brahmanen.
2. Rückerts vielzeilige Parabel Es ging ein Mann im Syrerland
oder Ada Christens Christbaum oder Scherenbergs Der Feind &c. dürfen
nicht ─ wie es geschah ─ in zweizeilige Strophen zerlegt werden, da der
Gedanke nicht am Schluß jeder zweitfolgenden Verszeile abschließt. ─ Uhlands
der Wirtin Töchterlein, Geibels Rheinsage, Schwabs Der Reiter und der
Bodensee, Platens Das Grab im Busento, Kerners Das treue Roß,
Simon Dachs Ännchen von Tharau, Robert Davidsohns Meereskönigin,
Max Kalbecks Am Wege, Lenaus Die Drei, Littrows Christbaum,
Fr. Marx Letztes Sakrament, Dingelstedts Jntermezzo: Ein
Roman I., Alb. Mösers Die Tamariske, Jul. Sturms Verborgene Wege,
Oskar Weltens Hagens Pürschgang, Ernst Ziels Am Abend u. s. w.
haben sämtlich den Gedanken am Schluß der jeweilig folgenden zweiten Zeile
abgeschlossen, weshalb sie von selbst in zweizeilige Strophen zerfallen.
Wo die zweizeilige Strophe komponiert wurde, konnte es nur durch Wiederholung
der zweiten Zeile geschehen, oder es wurden je zwei Strophen zu einer
4zeiligen zusammengezogen. Jch erinnere an die bekannte Komposition Ännchen
von Tharau, und Der Wirtin Töchterlein.
Beispiele zweizeiliger Strophen.
Schema: x x.
(Aus dem Latein. des 4. Jahrh., übersetzt in Fortlages
Gesängen christl. Vorzeit S. 312.)
Schema: a a.
(Simon Dach † 1659.)
(Fr. Rückert.)
[635](Alexis Aar, der Pilger.)
§ 200. Dreizeilige Strophen.
Jn der mittelhochdeutschen Litteratur fanden die dreizeiligen
Strophen ausgedehntere Verwendung als in der neueren. Neben der
Terzine und dem Ritornell werden bei uns besonders nachstehende
sechs Schemata gepflegt:
Formen der dreizeiligen Strophen.
1. a a a, b b b, c c c. &c.
Beispiel:
(Malebranca's berühmtes lat. Kirchenlied „dies irae“ ged. 1278,
übers. von Follen.)
Durch den Reim a a a hat Rückert ebenso den Eindruck des Weihevollen
wie den des Komischen erreicht. Jch verweise auf Gedichte wie: Dort, wo
der Morgenstern; O Freund, mein Schirm; Kindertotenl. 265 und das im
§ 139. 2 C. gegebene Beispiel &c. Schöne Beispiele dieses Schemas sind
noch: Ein Held, von Wernine Zimmermann, und: Das verlassene Mädchen
von Otto von Leixner.
2. a a b, c c b, d d b. &c.
Beispiele:
a.
(Das berühmte lat. Kirchenlied stabat mater dolorosa nach der
Übersetzung des Münchn. Gesangb. 1811.)
b.
(Uhlands Morgenlied.)
[636](Ludwig Foglar.)
Vgl. Maria von Ebner-Eschenbach: Regniers Grabschrift. ─ Volksdichter
wenden bei dieser Form das Gesetz der Dreiteiligkeit an (2 einzeilige Stollen
und 1 einzeiliger Abgesang).
Beispiel:
(Volkslied.)
Andere Dichter bringen in der 3. Zeile ein strophisches Charakteristikum
an, z. B. Rückert, der ─ auch hier seine Technik beweisend ─ durch Einfügung
eines Anapästs der Strophe einen fest abgeschlossenen Bau verleiht, z. B.
Der Anwendung des Kehrreims begegnen wir in den spärlichen Beispielen
dieser Form seit den ältesten Zeiten bis zu Rückert und Chamisso.
a.
(Niederdeutsches Volkslied, dem das lat. Kirchenlied ave maris stella zu Grunde
liegt. Aus den geistl. Volksliedern, Paderborn 1850. Nr. 114.)
b.
(Aus dem Wunderhorn I. 53.)
c.
(Chamisso der alte Müller. Vgl. noch sein ebenso gedichtetes Zopflied: Tragische
Geschichte mit dem Refrain: Der Zopf, der hängt ihm hinten.)
d.
(Wilh. Müller.)
3. a b a, c b c, d b d. &c.
Hier ist b für jede einzelne Strophe Nichtreim; für die folgende Strophe Reim.
Beispiele:
(Rückert, Kindertotenlieder 181.)
4. a b a, d e d, g f g. &c. (Falsche Terzine.)
Diese falschen Terzinen sind weit bequemer als die echten Terzinen (§ 166),
weil sie den Mittelreim nicht fortzuführen brauchen. Dafür entbehren sie des
verbindenden Charakters der Terzine. Julius Mosen hat diese Form im
Ritter Wahn gewählt.
Beispiel:
(Künzel, Weihnachtsreigen.)
5. a b c, a b c, a b c. &c.
Als Beispiel vgl. die in § 139. 5, S. 457 gegebene Probe aus Rückerts
Kindertotenl. 266.
6. a b c, d e f.
Dieses Schema bezeichnet die nicht gereimte dreizeilige Strophe, die im
früheren lateinischen Hymnengesang aus trochäischen Trimetern bestand. Später
kürzte man zuweilen die 3. Zeile behufs Erlangung eines strophischen Charakteristikums,
wodurch sich die Strophe der freieren Odendichtung näherte.
Beispiele:
a.
b.
(Litthauisches Volkslied. Aus Rhesas Dainos S. 150.)
7. a b b, c d d, e f f &c.
Beispiel:
(Lenore. Wunderhorn II. S. 19.)
8. b a a, b c c, b d d. &c.
Diese Strophen haben einen Anfangsrefrain, dem das Reimpaar folgt.
(Uhlands Volkslieder II.)
9. Assonierende dreizeilige Strophen.
Diese finden sich bei Chamisso, der durch dieselben die alte nordische
Assonanz der italienischen Terzine zu vermählen verstand.
Beispiel:
(Chamisso.)
§ 201. Vierzeilige Strophen.
Diese unter allen Strophen am häufigsten gebrauchte Form,
welche man als die Repräsentantin der symmetrischen Gliederung bezeichnen
kann, entstand ebenso durch Verdoppelung der Otfriedschen
Langzeilenpaare wie durch Brechung derselben (§ 188 S. 599).
Schon die Kürenberger (§ 189) wie die mittelhochdeutschen epischen
Nibelungen- und Gudrunstrophen (§ 190 und 192) waren vierzeilig.
Jn der Lyrik wurde die vierzeilige Strophe zuerst von Kürenberg,
Oswald von Wolkenstein, H. v. Veldeke &c. angewandt.
Die spätere kirchliche wie die weltliche Poesie fand diese Strophe ebenso
bequem als unsere gesamte moderne Lyrik. Alle Dichter der Gegenwart,
denen die Technik wie das strophische Geheimnis eines Kürenberg, eines Walther
von der Vogelweide, eines Schlegel, Platen, Schiller, Goethe, Rückert, Geibel &c.
unenträtselt blieben, bedienen sich einiger ihrer Formen (a a b b; ferner
a b a b; endlich x a x a) in so ausgedehntem Maße, daß man dieses letztere
Schema ─ sofern das strophische Charakteristikum fehlt ─ als Dilettantenschema
bezeichnen möchte. Hierbei ist freilich nicht in Abrede zu stellen, daß
unsere Litteratur gerade in diesen Formen wahre Perlen aufzuweisen hat, die
in ihrem Bau die kundigste Hand erkennen lassen.
Goethe hat bei vierzeiligen Strophen Eines Reimgeschlechts in der
Regel die Länge der Verszeilen gewechselt, z. B.: (Dilettantenschema: a b c b.)
Ähnlich Platen: (Dilettantenschema: a b a b.)
Oder:
Die dilettierenden Dichter vierzeiliger Strophen namentlich mit gepaarten
Reimen vergaßen, daß ihre Strophen bei gleichlangen Zeilen, gleichem Rhythmus
und gleichem Reimgeschlecht ohne Weiteres in zweizeilige Strophen auseinanderfallen.
Um dies zu vermeiden hat der Dichter der Nibelungenstrophen
den Strophenabschluß durch Verlängerung einer Zeile um einen Takt markiert.
(§ 190 und 191.) Jeder Dichter vierzeiliger Strophen sollte bei gepaarten
Reimen mindestens mit dem Reimgeschlechte wechseln, wie es Rückert in folgendem
Beispiel zeigt (männlich a a, weiblich b · b):
Vierzeilige Strophen, wie diese von Freiligrath:
zerfallen ohne Weiteres in zwei zweizeilige. (Vgl. § 153 S. 508.) Platen
hat solche Gedichte nur in zweizeiligen Strophen geschrieben, z. B.:
Die Umstellung der Reime wie die Einfügung nicht reimender Zeilen
ermöglichen 15 Reimschemata, von denen unsere Dichter die nachstehenden verwertet
haben:
Formen der vierzeiligen Strophe.
1. a a a a.
Beispiele:
(Heinrich von Veldeke. Aus Tieck XX. 51. Vgl. v. d. Hagens
Minnesinger I. 40.)
(Goethe, Westöstl. Divan in „Elemente“ Str. 2.)
2. a a a b.
Jn dieser Strophe hat sich Rückert bewährt, indem er die reimlose
Zeile b durch ihre Wiederkehr am Ende jeder Strophe zu einem refrainartigen
Reimbande gestaltete.
Beispiel:
(Rückert.)
Ähnliches Schema hat das schottische Volkslied Schön Mary in Arentsschildts
Völkerstimmen S. 167.
3. a a b b. (Neue Nibelungenstrophe.)
Dieses Schema hat die mittelhochdeutsche Nibelungenstrophe, die Kürenbergerstrophe,
die Gudrunstrophe, die Hildebrandstrophe und die neue Nibelungenstrophe.
Beispiele s. §§ 190, 191, 192, 193, sowie 107, 6.
S. 317.
Die neue Nibelungenstrophe besteht aus 4 neuen Nibelungenversen (vgl. § 107
S. 317 d. B.). Die gesetzliche Aufstellung dieses Verses, von dem wir am Schluß
des § 191. S. 606 behaupteten, daß er zum jambischen Sechstakter eingetrocknet
sei, nannte man fälschlich „Herstellung der Reinheit des Versmaßes“. Fast
das ganze Dichterheer hat sich sklavisch an dieses jambische, monotone Schema
(⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ | ⏑ – ⏑ – ⏑ –) gehalten. Jch erwähne außer den in § 107,
6, B genannten Dichtern nur noch Spee (Trutznachtigall), Simon Dach (Lied
der Freundschaft), Schenkendorf (Die deutschen Städte), Arnim (Trost im
Gebet), Fouqué (Gottes Zucht), Novalis (Treue), Albert Knapp (Morgenstern)
u. s. w. Einige Dichter haben durch Abwechselung des Reimgeschlechts der [641]
Monotonie vorzubeugen gesucht, z. B. Dusch (Fall der ersten Menschen), Arndt
(Klage um drei junge Helden), Goethe (Der König in Thule) u. A. Wieder
Andere haben verständnisvoll Anapäste eingefügt. (Beispiele s. in § 107.
S. 319 d. B.)
Die neue Nibelungenstrophe kam bei allen Dilettanten in Aufnahme,
da der gleichmäßige Rhythmus und die Weglassung der 4. Hebung in der
letzten Hälfte der 4. Zeile ihre Anwendung bequem machte.
Von dem Schema a a b b giebt es noch viele Formen, die weder im
Rhythmus noch in der Zeilenlänge mit der neuen Nibelungenstrophe verwandt
sind. Eine solche Form ist die charakterlose, aus jambischen Viertaktern gebildete
Strophe des Beispiels a, sowie die schwungvolle, daktylisch bewegte des Beispiels b.
a.
(Karl Hartmann Mayer.)
b.
(Rückert.)
4. a b c b. (Dilettantenstrophe 1.)
Diese bequeme Strophe, welche nur den b Reim hat, entstand ursprünglich
durch Brechung der Nibelungenstrophe. (Vgl. S. 318 d. B.) Sie hat
unzählige Modifikationen erlebt und wurde auch von den namhaftesten Dichternnicht
verschmäht.
Beispiele:
(Albertus Magnus. Kretzschmers Volkslieder. II. S. 145.)
Vgl. das italienische Volkslied in Agrumi von Kopisch S. 231, sowie
Der Blumen Rache von Freiligrath.
5. a b a b. (Dilettantenstrophe 2.)
Diese Strophe ist wie die vorige durch Brechung der Nibelungenstrophe
entstanden, indem man ihr den Cäsurreim verlieh. Wegen ihrer leichten Handhabung
wurde sie die Domäne aller dilettierenden Dichter. Doch ist sie auch [642]
von unseren bedeutendsten Dichtern gepflegt worden. Sie erlebte bald soviele
Modifikationen als die vorige.
Beispiele:
a. Gebrochene Nibelungenverse mit Cäsurreim.
(Salis, Grablied. Ebenso: Goethe, Der König in Thule.)
b. Klingende Reime.
(Betti Paoli.)
c. Das 2. Hemistichium der gebrochenen Zeile beginnt die
Strophe.
(I ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ II ⏑ ⏑ – ⏑ –)
(Wunderhorn III. 71.)
d. Verkürzte Zeilen mit stumpfem Reim.
(Rückert.)
e. Kurze und lange Zeilen wechselnd.
α. Trochäisch=daktylisch.
(Rückert.)
β. Jambisch.
(Vgl. Goethes Goldschmiedsgesell, wo der gekreuzte b b=Reim in allen Strophen
beibehalten ist.)
6. a b b a. (Umarmende Reime.)
Dieses Schema des ersten Teils der Sonettenform hat häufiger klingende
als stumpfe Reime. Jst der a Reim stumpf, so spricht man von steigender
Reimung; ist jedoch der b Reim stumpf, so nennt man es fallende Reimung.
Beispiele:
a. Klingender Reim.
(Rückert.)
b. Stumpfer Reim.
(Uhland. Vgl. auch Rückerts Trostspruch.)
c. Steigende Reimung.
(Körner.)
(Vgl. hierzu Haller Die Klugheit sieht den Sturm in fernen Wolken drohen &c.
Ebenso Goethes Rettung.)
d. Fallende Reimung.
(Heine. Vgl. hierzu Goethes Vorklage.)
7. a a b a. (Persische Vierzeilenstrophe.)
Dieses Schema, dem wir in der fremden Form der persischen Vierzeile
(§ 183 und 184) begegneten, ist besonders von Rückert gepflegt worden.
Beispiele s. § 183 sowie Rückerts Ges. Ausg. I. 583.
8. a b a c. (Rückerts Kynaststrophe.)
Diese Form finden wir einzig und allein bei Fr. Rückert. Das unten
folgende Beispiel zeigt des Dichters eminent gebildeten Sinn für die Feinheiten
der Strophik. a a sind zwei Nibelungenverse, b enthält 5 Jamben; die
strophenabschließende Zeile bringt für Markierung des Schlusses einen um weitere
2 Jamben verkürzten Refrain.
Beispiel:
(Rückert.)
[644]9. a a b c.
Beispiel:
(Aus Hofmanns schlesischen Volksliedern S. 259.)
10. a b c d.
Die weiteren Kombinationen a b a a, a b c a, a b c c, a b b c
kommen bei besseren Dichtern nicht vor. Dagegen finden wir reimlose vierzeilige
Strophen (a b c d) bei Kleist, Klopstock, Herder, Heine, Goethe, Platen
sowie besonders in serbischen, österreichischen, polnischen und deutschen Volksliedern;
auch die indische Liebesklage (übersetzt in Höfers indischen Gedichten II.
142) ist in dieser Strophe gedichtet. Die Strophe ist der Anfang zur unstrophisch
regellosen Hymne, zur Dithyrambe wie zur Ode.
Beispiele:
a.
b.
(Aus Volkslieder der Polen, 1833. S. 18.)
Weitere Beispiele s. Wila, serb. Volksl. v. Gerhard I. 174; Tschischka,
österr. Volksl. S. 92; Erk, deutsche Volksl. 72 u. s. w., sowie die Publikation
„Laudon im Gedicht und Liede seiner Zeitgenossen“ S. 120.
§ 202. Fünfzeilige Strophen.
Wie die beiden Otfriedschen Langzeilen gebrochen die vierzeilige
Strophe bildeten, so entwickelte sich durch Hinzufügung einer Halbzeile
die fünfzeilige Strophe. Die beiden in 4 Halbzeilen geteilten
Langzeilen bildeten gewissermaßen die Stollen des Aufgesangs, während
die fünfte Zeile als Abgesang angesehen werden konnte, z. B.:
1. Stollen.
Diu nahtegal diu sanc so wol,
daz man ir's imer danken sol,
2. Stollen.
Abgesang.
(Gotfr. v. Nifen. Vgl. Hagens Minnes. I. 62.)
[645]Nachdem so die unsymmetrische fünfzeilige Strophe entstanden war, dehnte
das Bedürfnis den Abgesang (wie den Aufgesang) zu 2 oder mehreren Zeilen
aus, und es entstanden so 6=, 7= und mehrzeilige Strophen. Namentlich im
geistlichen Liede der Reformation führte dieses Bedürfnis zu einer kühn sich gestaltenden
Strophik.
Je nach dem Bau der fünfzeiligen Strophe ist die unsymmetrische Gliederung
eine verschiedene. Jm Liede Das Flüchtigste von Herder hat die Steigung
nur 2 Zeilen, während die Senkung deren 3 umfaßt, z. B.:
- Tadle nicht der Nachtigallen
- Bald verhallend süßes Lied;
a
b- Sieh, wie unter allen, allen
- Lebensfreuden, die entfallen,
- Stets zuerst die schönste flieht.
a
a
b
Zuweilen ist die Steigung dreizeilig, die Senkung zweizeilig, z. B.:
- Jch wollte mit dir schmollen,
- Daß du nicht kommen wollen,
- Geladen auf Weihnachten;
a
a
b- Doch es hat gehen sollen
- Viel anders als wir dachten.
a
b
(Rückerts Ges. Ausg. II. 54.)
Jn Strophen, bei denen die 5. Zeile durch den Refrain gebildet wird,
ist die Gliederung 2 + 2 + 1, z. B.:
- Jch denke dein,
- Wenn durch den Hain
a
a- Der Nachtigallen
- Accorde schallen!
- Wann denkst du mein?
b
b
a
(Matthissons „Andenken“. Vgl. hierzu des Knaben Berglied von Uhland.)
Formen der fünfzeiligen Strophe.
Giebt man sich die Mühe, alle möglichen Reimkombinationen bei der
fünfzeiligen Strophe auszurechnen und zusammenzustellen, so findet man 7
Formen, bei welchen der a=Reim 3mal und der b=Reim 2mal vorkommt,
(nämlich a a b a b; a b a b a u. s. w.). Ferner begegnet man 4 Formen,
bei welchen der a=Reim 2mal und der b=Reim 3mal umgestellt werden kann.
Endlich finden sich 39 Formen, wo 1 nicht reimende Zeile mit 2 a und 2 b,
desgleichen 2 oder 3 nicht reimende Zeilen mit 2 oder 3 a oder mit 2 a
und 2 b möglich sind. Jm Ganzen lassen sich 51 Möglichkeiten für verschiedene
Stellung des Reimes herausrechnen, Kombinationen, für welche die
jungen Dichter die Beispiele zum Teil noch schaffen können. Wir führen die
gebräuchlichen an:
1. a a a a a.
Diese monotone Strophe finden wir bei den Minnesingern, wie bei
Rückert (Ges. Ausg. II. 37).
Beispiel:
(Heinrich von Veldeke. Aus Tieck XX. 50.)
2. a b b a b.
Diese Strophe ist eine Vierzeile (§ 172. 6) mit angefügtem Abgesange.
Beispiel:
(Amaru's Jndische Liebesliedchen, übers. in Fremde Blumen
von Vagamundo. Nr. 6.)
(Rückerts Ges. Ausg. III. 93.)
3. a a b a b.
Diese Strophe ist eigentlich die bequeme vierzeilige Strophe a b a b mit
vorausgehender a=Zeile. Sie ist seit dem 15. Jahrhundert in Gebrauch und
namentlich von Fr. Rückert häufig verwendet worden. (Vgl. dessen Ges. Ausg.
II. 54. 385. 450. 479. 565. 581. V. 337. VII. 438. 447. Ferner:
Sanders „Aus d. besten Lebensst.“ S. 281.)
Beispiel:
(Rückert. Vgl. dessen Liebesgedanken 1, wo die 3 a weiblich und die beiden b
männlich sind.)
4. a b a b a.
Diese Strophe bildet die Antithesis zur vorigen Strophe, nämlich a b a b
mit a=Abgesang. Mit Macht drängt sie zur sechszeiligen Strophe hin, für
welche nur noch die sechste b Zeile fehlt.
Beispiel:
a.
(Martin Greif.)
[647]b.
(Rückert. Vgl. noch Ges. Ausg. II. 5. III. 81, 84.)
5. a b a a b.
Diese Strophe, welche anstatt des erwarteten a b a b=Reimes durch Einschiebung
der a=Zeile vor dem Schluß den Eintritt der letzten Zeile verzögert,
steigert durch ihren befriedigenden Schluß die Wirkung. Der Minnesinger
Otto von Botenlauben hat diese Strophe zuerst angewandt. Nach ihm Arndt
in seinem bekannten Trinklied (Bringt mir Blut &c.). Von den neueren Dichtern
finden wir sie bei Rückert in Ges. Ausg. I. 232, sowie II. 374 und 551;
bei Goethe in März I. S. 27; bei Hermann Lingg im Gedicht Der schwarze
Tod; bei Platen in Euch liebe Berge, grüß' ich wieder, und im Frühlingslied;
bei Schiller in Resignation, und Graf Eberhard; bei Strodtmann in Rast
auf dem Marsche; bei K. Woermann Jm Louvre 1869; bei H. Zeise in
Waldfrieden &c.
Beispiel:
(Herm. Schmid.)
6. a a b b b. (Nithartstrophe.)
Zwei Reimpaare mit angefügtem b=Reime oder ein dreizeiliger Abgesang
zu zwei einzeiligen Stollen, wie wir einen ähnlichen Abgesang nur noch in der
Strophe a b c c c finden, bilden diese Strophe. Der Minnesinger Nithart
hat sie mit Vorliebe verwendet; in der Neuzeit Rückert. (Vgl. Rückerts Ges.
Ausg. II. 347 und 363, sowie VII. 355.)
Beispiel:
1. Stollen.
2. Stollen.
Abgesang.
(Nithart. Aus v. d. Hagens Minnesinger II. 117.)
7. a b a b b. (Rückerts Vollendungsstrophe.)
Kein Dichter hat das Geheimnis der Strophik in einer fünfzeiligen Strophe
so schön zum Ausdruck gebracht als Rückert durch Ausführung des vorstehenden
Strophenschemas, das ähnlich der Strophe 1 und 4 zwei zweizeilige
Stollen einem schönwirkenden einzeiligen Abgesang vereint. Um die Strophe
charakteristisch als Teilganzes erscheinen zu lassen und ihren Schluß zu markieren, [648]
hat Rückert nicht nur häufig die beiden zweizeiligen Stollen trochäisch und den
einzeiligen Abgesang jambisch gebildet ─ und umgekehrt: sondern er hat auch
die Schlußzeile mehrfach um 2 oder 3 Takte verlängert, so daß selbst der
Unwissendste bei Wiederkehr der letzten Zeile sich sagen muß: Hier ist die
Strophe zu Ende, ihr Schluß ist so gut als möglich markiert. Wir zeichnen
diese architektonisch so schön aufgebaute Strophe durch die Benennung „Rückerts
Vollendungsstrophe“ aus, um dem Heros der Form auch in der Poetik das
verdiente Denkmal zu errichten. ─ Jn diesem Schema ist das bekannte Nachtlied
„Leise rauscht es in den Bäumen“ in Fröbels Taschenliederbuch S. 63
sowie Uhlands Das Glück von Edenhall gedichtet.
Beispiele:
a.
Jch bin mit dem zufrieden, was ich lebt' und sang.
(Rückert. Ges. Ausg. I. 638.)
b.
Denn die schwächsten sind, vereint, nicht schwach.
(Rückert. Ges. Ausg. II. 594. Vgl. noch I. 327. 637. II. 86. V. 176.)
8. a a b c b. (Alte Titurelstrophe.)
Diese Strophe wurde bereits im § 193. S. 609 ausführlich behandelt.
Weitere Formen dieses Schemas finden sich bei Uhland (Volkslieder Nr. 101),
Rückert (Schi-King S. 45), ferner bei Wilh. Müller (Lebenslieder), Chamisso
(Frühlingslied, Liebesprobe).
9. a a b b c.
Viele Beispiele dieses so beliebten Schemas sind durch Anfügung eines
abschließenden Kehrreims an die vierzeilige Strophe a a b b entstanden. Die
schönste Strophe nach diesem mit einem strophischen Charakteristikum versehenen
Schema hat Rückert im Gedicht Die Riesen und die Zwerge durch Weglassung
eines halben Nibelungenverses geschaffen.
Beispiele:
a.
(Rückert.)
b.
(Aus dem Englischen des Elliot von Freiligrath.)
[649]c.
(Volksliedchen aus dem Kuhländchen. Mitgeteilt von Meinert.)
d.
(Friedr. Kampmann, das Brunnengespenst zu Elsei.)
e.
(Rückert.)
Vgl. noch Rückerts Ges. Ausg. III. 59 und I. 379; ferner Waab=
Ofjays Gesang in Talvjs Volksliedern S. 122; Morgenlied in
Kretzschmers Volksliedern S. 346 und Melusine ebenda S. 24; Provençalisches
Wächterlied des Troubadours Guirant von Borneil aus
dem 12. Jahrh. übers. von Diez S. 141; der treue Bruder, neugriech.
Volkslied in Elissens Thee- und Asphodelosblüten S. 101; Uhlands Des
Knaben Berglied; Chamissos Die Sonne bringt es an den Tag &c.
10. a b c c b oder x a b b a. (Schubarts Kapliedstrophe.)
Diese Strophe entstand aus a b b a mit vorausgehender reimloser Zeile.
Volkslied und Kunstpoesie wenden sie mit Erfolg an. Sie erhielt durch das
weltverbreitete Kaplied Schubarts historische Berühmtheit. Eine prachtvolle
Form dieses Schemas trägt das von Michaelis in dessen scherzhaften Liedern
übersetzte Litthauische Brautlied. Arndt dichtete in dieser Strophe sein bekanntes
Lied: „O du Deutschland, ich muß marschieren.“ Außerdem sind zu nennen:
Wilh. Müller (Wanderschaft), Uhland (Traum und Der gute Kamerad),
Rückert (Ges. Ausg. I. 94 und 95. III. 40. und 93. VII. 78. &c.) sowie
Franz Dingelstedt (Winterahnung), Ernst Eckstein (Märchen vom Glück),
Ad. Glaser (Bild des Todes), Martin Greif (Stätte der Erinnerung), Angelika
v. Hörmann (Zu spät), Ernst Scherenberg (Die Waldkapelle) u. A.
Beispiele:
a.
b.
(Volkslieder von Erk. I. No. 56.)
[650]c. α.
(Wunderhorn II. S. 376.)
β.
(Rückert in Kranz der Zeit S. 211.)
d.Der Winter kam: ich saß
Und mußte weben.
Jetzt, da es früher tagt,
Jetzt hab' ich abgesagt,
O Mutter, diesem arbeitsvollen Leben.
(Litthauisches Brautlied.)
11. a b a b c.
Eine prächtige Strophe, die durch Alfred Meißners weitgesungenes Lied
„Die Jüdin“ mit dem flüssigen Kehrreim zur Bedeutung gelangte. Moritz
Hartmann hat wie Goethe in Die Spröde bei ihr des festen Kehrreims sich
bedient.
Beispiele:
a.
Das Grab, das wartet. (Alfred Meißner, Die Jüdin.)
b.
c.
(Rückert.)
(Vgl. hier § 207 Nr. 30 d. B.)
12. a b b a a. (Körners Gebetstrophe.)
Diese Strophe erscheint wie zwei Reimpaare mit vorgesetzter a=Zeile oder
wie die persische Vierzeile mit a=Abgesang. (Vgl. Nr. 2 dieser Schemata
S. 646.) Sie ist durch Körners weltbekanntes „Gebet während der Schlacht“
populär geworden.
Weitere Formen derselben:
a.
(Aus Büschings Volksliedern S. 297.)
[651]b.
(Franz von Kobells Königslied.)
Vgl. auch Rückerts Gedicht Die Heilwege.
13. a a b b a.
Hier gesellt sich der Abgesang a zu zwei Reimpaaren.
a.
(Wiegenlied, Volksweise. Aus des Knaben Wunderhorn.)
b.
(Longfellows Regentag, übers. v. Freiligrath.)
Vgl. noch Rückerts Ges. Ausg. II. 367 und 466, sowie VII. 10.
14. a b b b a. (Rückerts Duftstrophe.)
Eine nur von Rückert angewandte 5zeilige Strophenform.
Beispiel:
15. a a b c a.
Beispiel:
(Rückerts Ges. Ausg. I. 519.)
16. a b a a c.
Beispiel:
(Chamisso, Kleidermachermut.)
[652]17. a b c c d.
Beispiele:
a.
(Handwerksburschenlied. Kretzschmers Volkslieder I. 428.)
b.
(Volkslied: das Vorbild des in Nr. 10 S. 649 erwähnten Arndtschen Schemas.)
18. a b c d b.
Beispiel:
(Berühmtes altd. Volkslied; aus Wolffs altholländ. Volksliedern S. 25.)
(Schmidt in Menzel, Ges. d. Völker S. 664. Vgl. auch Chamissos Lebenslieder.)
19. a a b c d.
Beispiel:
(Uhlands Volkslieder Nr. 154.)
20. a b c d e. (König Oskars Bildstrophe.)
Diese reimlose 5zeilige Strophe kann man in die Kategorie der reimlosen
Odenstrophen rechnen. Beispiele finden sich bei Rückert wie besonders in den
Gedichten des Königs Oskar II. von Schweden &c. (vgl. § 195).
Als Beispiel vgl. § 195. S. 617 Das Bild, ferner Rückerts Ges. Ausg.
I. 239, sowie nachstehende Strophe aus Görres' Voksliedern S. 190:
(Aus Görres' Volksliedern S. 190.)
§ 203. Sechszeilige Strophen.
Die sechszeilige Strophe kommt noch weit häufiger vor als die
fünfzeilige. Sie ist entweder dreigliedrig oder zweigliedrig symmetrisch
oder zweigliedrig unsymmetrisch; z. B.:
a. Dreigliedrig symmetrisch. (2 + 2 + 2.)
(Rückert.)
b. Zweigliedrig symmetrisch. (3 + 3.)
(Rückert.)
c. Zweigliedrig unsymmetrisch.
a.
(Rückert.)
b.
(Wunderhorn II. 199.)
Schiller hat bei seinen sechszeiligen Strophen am liebsten die dreigliedrige
Gruppierung angewandt. z. B. im Alpenjäger, in den vier Weltaltern, im
Reiterliede, dessen Rhythmus mehrfach nachgeahmt wurde (z. B. von Rückert [654]
in den Schleswigholsteinliedern). Andere Dichter haben zweiteilig gegliedert,
z. B. Uhland (Schmied), Kopisch (Stiefel), Eichendorff (Spruch), Matthisson
(Zauberlied), Goethe (Schadenfreude) u. s. w.
Bei der sechszeiligen Strophe ist eine imponierende Anzahl von Reimstellungen
möglich, was aus nachstehenden Kombinationen erhellen möge.
1. 2 a + 4 b Reime ermöglichen folgende Stellungen:
a a b b b b; a b a b b b; a b b a b b; a b b b a b;
a b b b b a; in Summa also 5 Schemata;
2. 3 a + 3 b geben in Sa. 10 Stellungen;
3. 4 a + 2 b ebenfalls 10 Kombinationen;
4. 2 a + 4 x 15 Stellungen;
5. 3 a + 3 x 20 Schemata;
6. 4 a + 2 x 15 Stellungen;
7. 5 a + 1 x 6 Kombinationen.
8. Durchsetzt man jede einzelne der vier bei 2 a + 3 b möglichen
Kombinationen stufenweise mit 1 x, so erhält man jedesmal 6, in
Sa. also 24 Kombinationen.
9. 1 x 3 a + 2 b haben jedesmal 7 Kombinationen, welche bei
stufenweiser Durchsetzung einer jeden derselben mit x 6 × 7 == 42
Kombinationen zulassen.
10. 2 x + 2 a + 2 b bilden 15 Stellungen, welche mit x durchsetzt
jedesmal 5 neue Formen, somit 5 × 15 == 75 Kombinationen
ergeben.
11. 2 a + 2 b + 2 c ergeben 15 Stellungen.
12. 6 a (a a a a a a) und 6 x (x x x x x x) ergeben 2 Kombinationen.
Es ermöglicht somit die sechszeilige Strophe in Summa 239 Schemata.
Welch gewaltiger Spielraum eröffnet sich dem reimenden und dichtenden
Deutschland in neuen Formen der sechszeiligen Strophe!
Bis jetzt haben unsere Dichter kaum drei Dutzend dieser möglichen
Strophenschemata angewandt. Für die meisten derselben fehlt uns freilich der
Geschmack. So erscheint die Strophe 6 a (also mit sechsmal sich wiederholendem
gleichen Reime) wie eine gesuchte Spielerei, während die Form 6 x, (also
sechs ungereimte Zeilen) sich wie eine Oden- oder Dithyrambenform ankündigt.
Besonders schön und wohlklingend sind die sechszeiligen Strophen mit
3 Reimpaaren. Sie gewähren ein gewisses Gefühl der Befriedigung dadurch,
daß sie dem Abgesang zwei Zeilen einräumen.
Formen der sechszeiligen Strophe.
1. a a a a a a. (Rückerts Reimspielstrophe.)
Rückert ist der einzige Dichter, welcher diese Strophe angewandt hat.
Er hat durch dieselbe dem spielerischen Reimgetändel, dem Reimspiele einen
Ausdruck verliehen, weshalb wir sie als Reimspielstrophe bezeichnen.
Beispiele:
(Rückert, Ges. Ausg. II, 478. Vgl. auch II. 349. No. 68.)
2. a b a b a b.
Sie ist eine monotone, wenig gebräuchliche Strophe, wahrscheinlich weil
sie ─ wie die Siciliane ─ keinen charakteristischen Strophenabschluß bietet.
Um dem fortdrängenden a b einen Damm entgegen zu setzen und das
strophische Moment zu charakterisieren, hat Rückert die vorletzte Zeile verkürzt
und die letzte verlängert. ─ Von den Dichtern der Gegenwart wandte diese
Strophe außer Rückert an: Julius Bercht (Der goldne Mai), Eichendorff (Ach,
was frommt das Wehen), dessen Strophenschluß wegen des identischen Reims
unbefriedigt läßt.
Beispiele:
(Julius Bercht, Der goldne Mai.)
3. a b a b c c. (Schillers Lehr- und Anapästenstrophe.)
Diese wirkungsvolle Strophe, welche nach Art der Oktave mit einem
kräftigen Reimpaare abschließt, ist mehr als andere sechszeilige Strophen befähigt,
einer Lehre kräftig wirkenden Nachdruck zu verleihen. Jhr schönes
Ebenmaß räumt der logischen Ausbreitung des Gedankens vollen Spielraum
ein. Dies ist wohl der Grund ihrer überaus häufigen Verwendung. Schiller
der in dieser Strophe (vgl. Die vier Weltalter, und Worte des Glaubens) eine
jambisch anapästische Form von großer Nachfolge schuf, bediente sich ihrer [656]
zumeist zu didaktisch=philosophischen Gedichten, weshalb sie wohl die Bezeichnung:
Schillers Lehr- und Anapästenstrophe verdienen dürfte.
Wir finden diese Strophe a im Volkslied (z. B. Die Spinnerin,
in Volksliedern von Erk II. Nr. 72; ferner das Lied von Schleswig-Holstein;
ferner Der alte Dessauer in Kretzschmers Volksliedern N. 131. &c.). b. in
geistlichen Liedern (vgl. Novalis „Wenn ich ihn nur habe“ und „Sehnsucht
nach dem Tode“; Knapps Liederschatz Nr. 3175 und 3198: „christl.
Gewitterlied“ und „christl. Erntelied“; J. G. Seidl „Herr, du bist groß“;
Mahlmann „Hoffnung auf Gott“). c. bei den Dichtern im Minnesang
bis in die Neuzeit. Jch nenne von den bekannten: Ulrich von Liechtenstein
(Liebesglück), Gryphius (Wie eitel ist &c.), Flemming (Das getreue Herz),
Bürger (Die Weiber von Weinsberg), Arndt (Feuerlied), Goethe (Der Junggesell
und der Mühlbach), J. Hammer (Durch die Felder mußt du schweifen),
Ad. Stöber (Wachtelschlag), J. G. Fischer (Schillers Auferstehung), Herm.
Lingg (Pausanias), Otto Roquette (Siehst du die Spitzen der Alpen erglänzen),
Julius Mosen (Jm Sommer, und Die letzten Zehn vom 4. Regiment), Alfred
Meißner (Jn der Gebirgswüste, und Trümmer), Fritz Hofmann (Mütterleins
Feldpostpaket), Max Moltke (Frühlingseinkehr), Ölbermann (Weihe der Poesie),
Luise Otto-Peters (Jm Wald), Heinrich Pröhle (Der Gattin), Jul. Sturm
(Über Nacht), Jegór v. Sivers (Gewissen), Platen, W. Müller, Chamisso &c.
Schiller und Rückert wetteifern mit einander in der Häufigkeit der Anwendung
dieser Strophe. Ersterer schrieb in ihr den Taucher, den Alpenjäger,
Die Worte des Glaubens, Die Worte des Wahns, Die 4 Weltalter, Das Mädchen
von Orleans, Berglied, An Emma, Reiterlied &c.; Rückert: Gott und
die Fürsten, Weltglanz, Gestillte Sehnsucht, Zu meinem Hochzeitfeste, September,
Grablied, Mai &c.
Beispiele:
a.
b.
c.
(Julius Sturm.)
[657]4. a b a a a b.
Diese seltene, aus der Vierzeile a b a b durch Einschiebung von 2 a
entstandene Strophe, findet sich bei Freiligrath. Außerdem noch bei Platen
im Gedicht Reue.
Beispiel:
(Freiligrath.)
5. a b a b b a.
Sie ist die Vierzeile a b a b mit dem Abgesang b a. Durch Umstellung
des Reims erhält der Fluß einen plötzlichen Ruck, welcher den Strophenschluß
einleitet, der um so schärfer markiert wird, wenn ─ wie bei Rückert ─ nach
kurzen Zeilen lange folgen.
Beispiel:
(Rückert.)
6. a a b c c b. (Schillers Polykratesstrophe.)
Diese Strophe ist unter allen 6zeiligen Formen am häufigsten gebildet
worden. Sie gliedert sich gewöhnlich a a b | c c b, oder a a | b c c b,
wo sodann die letzte b=Zeile nicht selten zum Refrain wird. Dadurch daß c c
die letzte Hälfte des Reimpaars b b hinausschiebt, wird eine erwartungsvolle
Stimmung erzeugt, dann aber durch endlichen Eintritt von b ein befriedigender
Abschluß gewährt. Diese Strophe eignet sich auch für den Ausdruck lyrischer
Stimmungen, wodurch sich ihre Häufigkeit erklärt. Wir finden sie bei Flemming,
S. Dach, P. Gerhardt, sowie bei den Vertretern der schlesischen Dichterschulen,
wie im geistlichen und weltlichen Volksliede (z. B. Jnsbruck, ich muß dich
lassen; Jn allen meinen Thaten; Prinz Eugen der edle Ritter; Gustav Adolfs
Kriegslied „Verzage nicht“; Neugriechisches Ständchen in Ellissens Thee= und
Asphodelosblüten; das serbische Volkslied Die Spinnerin in W. Gerhards
Wila; Die 3 Budris von Mickiewicz, aus dem Poln. übers. von Carl von
Blankensee; Nachtigall und Kuckuck in Herders Stimmen der Völker; endlich vgl.
Liliencrons Samml. histor. Volksl. z. B. 3. 142 &c.). Von den bekannten Dichtern
erwähne ich: Salis (Herbstlied), Claudius (Abendlied), Maßmann (Der Kölner
Dom), Ad. Böttger (Der Herbst), Th. Apel (Guten Traum), Fr. v. Schlegel (Gesang),
A. W. Schlegel (Totenopfer für Aug. Böhmer), Schmidt v. Lübeck (Deutsches [658]
Lied), Rob. Reinick (Weihnachtsfest), J. Hammer (Siehst du den Schlaf),
Freiligrath (Prinz Eugen), Ad. Stöber (Morgenpsalm und Abschied von der
Schweiz), Herwegh (Reiterlied), Lingg (An meine Mutter), Droste-Hülshoff
(Jm Moose), A. Meißner (Eine Mutter), Geibel (Der Alte von Athen),
Carl Beck (Getrost), Ada Christen (Maryna), Franz Hirsch (Vagantenlieder),
Max Kalbeck (Herbstabend), Leuthold (Liederfrühling), Mosenthal (An die untergehende
Sonne), Alb. Möser (Frühlingsfahrt), Betty Paoli (Woher? Wohin &c.),
Otto Roquette (Abschied &c.), J. G. Seidl (Brunnengeplätscher), Jul. Sturm
(Aus der Kindheit, Daheim, Sorge nicht), Albert Träger (Jn zarte Frauenhand
&c.), Hagenbach (Luthers Bibel), Haushofer (Beim Wandeln), Edm.
Höfer (Nur ein wenig Liebe), Fritz Hofmann (Töchterleins erstes Lächeln),
Cäsar von Lengerke (Waldvögelein), Max Moltke (Spruchlied), Emil Neuburger
(Trost), Wilh. Osterwald (Da die Stunde kam), Victor Scheffel (Ausfahrt),
Scherer (Geh nicht vorüber), Feodor Wehl (Es rauscht eine Welle),
Jos. Weilen (Von der Donau), Wernine Zimmermann (Ein Sonnenstrahl),
Rückert (Frühlingstraum, Sonntagsfeier, Waldstille, An die Musen, An die
Sprache, Die Schreibfeder &c.), Goethe (An Mignon, An die Günstigen, Blinde
Kuh, Der Musensohn, Wechsel). Außerdem Platen, Uhland, W. Müller.
Schiller war es, der diese Strophe mit Vorliebe anwandte und ihr im Ring
des Polykrates, in Hektors Abschied, in Würde der Frauen, Laura am Klavier,
Triumph der Liebe &c. historische Bedeutung verlieh.
Beispiele:
(Schiller, Der Ring des Polykrates.)
(Jul. Grosse.)
7. a a b b c c. (Geibels Sehnsuchtstrophe.)
Diese aus Reimpaaren gebildete Strophe ist sehr häufig angewendet
worden. Um wirksam zu sein, muß sie ein strophisches Charakteristikum annehmen,
wie ihr ein solches Geibel und Kopisch verliehen. Wir geben der
Geibelschen leichtbeschwingten und kurz abschließenden Form den Vorzug und
die Strophe mag daher den Namen dieses Lyrikers tragen. Die längsten
Verszeilen hat ihr Rittershaus gegeben.
Angewendet haben diese Strophe: Schiller (Die Größe der Welt), Goethe
(Mignon, und Liebhaber), Heinr. Heine (An die Engel), Uhland (Antwort), [659]
Platen (Endymion), Ad. Glaser (Grabschrift), Wilh. Müller (Ungeduld und
Est Est), Fr. Oser (Dein Grab), Rob. Prutz (Die Oceaniden), Albin Rheinisch
(Die Blume von Trebisond), Emil Rittershaus (Zu Hilfe 1866), Kopisch
(Der große Krebs &c.), Gust. Schwab (Das Gewitter), Ferd. Stolle (Muttergebet),
Arndt (Was ist des Deutschen Vaterland), Mahlmann (Der Vater
Martin), Aug. Stöber (Der Wasgau), Geibel (Sehnsucht), Wolfgang Müller
(Mein Herz ist am Rheine), Dieffenbach (O Zauber), J. P. Hebel (Der Winter),
Gottfr. Keller (Pietistenwalzer), Bornemann (Kartüffeln). Vgl. auch Görres'
Volkslieder S. 115 (Altdeutsches Wächterlied) &c.
Beispiele:
(Kopisch.)
(Emil Rittershaus.)
8. a b a a b b.
Eine äußerst seltene Strophenform, die nur 2 Reime in schöner Verschränkung
hat. Voß wendet dieselbe verständnisvoll in „Freude vor Gott“
wie im nachstehenden Beispiel an.
Beispiel:
(Voß.)
9. a a b c b c.
Dieses Schema unterscheidet sich von Schillers Polykratesstrophe (Nr. 6
S. 657 d. B.) nur durch Umkehrung der beiden letzten Zeilen. Rückert
hat es in seiner Schi-King=Übersetzung gebraucht. (Vgl. Schi-King S. 109,
Lied vom schönen Jäger.) Sonst finden sich gute Gedichte in dieser Strophe [660]
bei Karl Schultes (Quelle und Gemüt) und Hoffmann von Fallersleben (Lebt
ich wie du).
Beispiel:
(Hoffmann von Fallersleben.)
10. a b c a b c.
Ein unschönes Schema, welches bei gleicher Zeilenbildung das Zerfallen
der Strophe in zwei dreizeilige Strophen begünstigt. Hoffmann von Fallersleben
und Elly Gregor (Ein Wiedersehen) haben es angewandt.
Beispiel:
(Hoffmann von Fallersleben.)
11. a b c b d d. (Wilh. Müllers Noahstrophe.)
Diese Strophe ist durch Wilh. Müllers Lied „Die Arche Noäh“ bekannt
geworden.
Beispiel:
(Wilh. Müller, Die Arche Noäh.)
12. x x x x x x. (Theobald Kerners Christnachtstrophe.)
Diese odenartige Strophe hat außer Platen nur Kopisch im Volksliedchen
von der Jnsel Procida (vgl. Agrumi S. 125) und Theobald Kerner in seinem
tief empfundenen Gedicht Christnacht angewendet.
Beispiele:
(A. Graf v. Platen.)
Vgl. noch Platens Auf den Tod des Kaisers.
Seltene Formen der sechszeiligen Strophe.
Die nachfolgenden Schemata haben wenig Bearbeiter gefunden. Nur versuchsweise
wurde das eine oder das andere derselben ein=, höchstens zweimal
für ein lyrisches Gedicht gewählt. ─ Von einzelnen in der Form charakteristischen
Mustern schreiben wir je ein Beispiel her, ohne damit die übrigen
meist gelungenen Strophen als minderbedeutend bezeichnen zu wollen.
13. a b c c b a. (Alexis Aars Herbstlied-Strophe.)
Beispiel:
(Al. Aar, Herbstlied.)
Vgl. noch Süßes Geheimnis von Fr. v. Schack.
14. a b a b c b.
Das bekannte Volkslied „Du, du liegst mir im Herzen“ (Reinhold,
Liederbuch S. 260), sowie Waldandacht von Lebrecht Dreves sind in dieser
Strophe geschrieben.
15. a b b c c b.
Beispiel: „Einmal im Jahre“ von Karl Egon von Ebert.
16. a a a b b b. (Niggelers Traumstrophe.)
Eine symmetrisch gegliederte und charakteristisch abgeschlossene Strophe.
Beispiel:
(Rudolf Niggeler.)
17. a b c c d b. (Max Remys Vorwärtsstrophe.)
Die Strophe Max Remys zeichnet sich durch ein schönes strophisches
Charakteristikum vor dem ebenfalls gelungenen Beispiel Rhingulphs Wegeners
(Das Mädchen und der Schmetterling) aus.
Beispiel:
(Max Remy, Vorwärts.)
18. a b a c c b.
Eine durch den daktylischen c c=Reim interessante Strophe, die wir
außer bei Strachwitz noch bei Goethe in Liebe wider Willen finden.
Beispiel:
(M. Graf von Strachwitz, Meerfahrt.)
19. a b c b d b.
Beispiel: Das Kirchenlied des Pater Damianus „Jucundantur et
lactantur“, in Zabuesnigs kath. Kirchengesängen S. 241 („Wie die Bösen
alle jubeln“ &c.).
20. a b b a c c.
Eine durch das von Luise von Plönnies meisterlich übersetzte berühmte
Nationallied der Engländer bekannt gewordene Strophe, deren Schema nur
noch J. Mosen (Mit den Blumen spielt der Wind) und Kopisch im römischen
Liedchen „Aller Welt Liebhaber“ gebrauchten.
Beispiele:
(Rule Britannia übers. von L. v. Plönnies.)
(Kopisch, Agrumi S. 59.)
21. a b c d c d.
Beispiel: Vive Henri quatre. S. Menzel, Gesänge der Völker, S. 92.
[663]22. a b c b c d.
Einziges Beispiel: Nach Sevilla von Clemens Brentano.
(Cl. Brentano.)
23. a a b c d d.
Beispiel: Die schöne Braut. Wunderhorn II. 12.
24. a b c c d e.
Beispiel: Sehnsucht. Kopisch in Agrumi S. 219.
25. a a b c c d.
Beispiele: Goethe: Der getreue Eckart. Wilh. Müller: Gebet in der
Christnacht. Des Finken Abschied. Die größte Freude. Uhlands Volkslieder
Nr. 60.
26. a a b c d c.
Einziges Beispiel: Der Fischerknabe (Es lächelt der See) in Schillers Tell.
27. a a a b c b.
Einziges Beispiel: Die Katze. S. Menzel, Gesänge der Völker, S. 595.
28. a b c c c b.
Diese originelle Strophe, in welcher sich der c c c=Reim zwischen das
b b=Reimpaar schiebt, danken wir dem Friesischen Dichter Hermann Allmers.
Beispiel:
(H. Allmers.)
29. a b b c b c.
Eine von dem Dichter Bernhard Endrulat schön gestaltete, originelle
Strophe, welcher sich auch Wilh. Müller (Der Mai) und Platen bedienten.
Beispiel:
(B. Endrulat.)
[664]30. a b a c c a.
Einziges Beispiel:
(Max Moltke, Sommerabendlied.)
31. a b b c c a.
Beispiel:
(Oskar von Redwitz, Der erste Kuß. Vgl. noch Uhland: Gesang der Nonnen.)
32. a b c d a a.
Beispiel:
(Leop. Schefer.)
33. a b a c b c.
Beispiel: Lebensworte von A. E. Fröhlich, und das einstrophige
Gedicht Nähe von Goethe.
34. a b c b c a.
Beispiel: Goethes Schadenfreude.
35. a a b c b d.
Beispiel: Blauer Himmel von Chamisso.
36. a b c c d d.
Beispiel: Gottfr. Keller, Nr. 12 der Liebeslieder.
Einige Formen der sechszeiligen Strophen von untergeordneter Bedeutung
lassen wir unerwähnt.
§ 204. Die siebenzeilige Strophe.
Sie entsteht durch Hinzufügung eines 3zeiligen Abgesanges an
einen aus zwei gleichen Stollen bestehenden vierzeiligen Aufgesang. [665]
Das Gesetz der Dreiteiligkeit kann somit in dieser Strophe zum schönen
Ausdruck gelangen, sofern zwei gleiche Teile durch einen ungleichen
abgeschlossen werden. Dieser Abschluß wirkt deshalb so ungemein
befriedigend, weil dem abschließenden Abgesang ein materielles Übergewicht
über die beiden Stollen eingeräumt ist. Man kann diese Strophe
als den Grundtypus aller lyrischen Strophen hinstellen.
Bei Betrachtung ihrer Kombinationen ergiebt sich die Zusammensetzung
einer der vier Grundformen der vierzeiligen Strophe (1. a a b b; 2. a b b a;
3. a b a b; 4. a b c b) mit einem dreizeiligen Abgesange (1. a a a;
2. a a b; 3. a b a; 4. b a a; 5. b b a; 6. b a b; 7. a b b; 8. b b b;
9. c c c; 10. c d c; 11. c c d; 12. d c c; 13. c d e; 14. c c a;
15. c a c; 16. a c c; 17. c c b; 18. c b c; 19. b c c).
Rechnet man die 19 Kombinationen des Abgesangs zu den vier Grundformen
des vierzeiligen Aufgesangs, so ergiebt dies 19 × 4 == 76 Variationen
der siebenzeiligen Strophe. Zu diesen Kombinationen kommt noch die große
Zahl der Zusammensetzungen mit unregelmäßig gegliedertem Aufgesang. Nur
die wenigsten dieser Schemata gelangten in unserer Poesie zur Verwendung,
wie die nachstehende Darlegung zeigen wird.
Formen der siebenzeiligen Strophe.
A. Aufgesang a a b b.
Zusammensetzungen mit dem Aufgesang a a b b und einer der obigen
19 Abgesangsmöglichkeiten kommen nur ausnahmsweise vor. Wir begegnen
ihr zweimal im deutschen Volkslied (1. Schnitterlied: „Es ist ein
Schnitter, heißt der Tod“ in des Knaben Wunderhorn, sowie in Simrocks
deutschen Volksliedern. Frankf. 1851. S. 579. Schema: a a b b | c c d;
2. Grenadierlied: „Steh ich im Feld“ in Schenkels Dichterhalle II. S. 654.
Schema: a a b b | c c a). Ferner hat Karl Herloßsohn sein zum Volkslied
gewordenes Gedicht: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh'n“ in dieser Strophe
geschrieben. Schema: a a b b c d d. Weiter O. Roquette einige Strophen in
Prinz Waldmeisters Brautfahrt. Schema: a a b b a a c. Ferner Rud. v. Gottschall
sein strophisch vollendetes Gedicht: „Lucile Desmoulins.“ Schema:
a a b b c c d. Endlich Rückert Die Klanggeister, und Lenzschauer. Die fünf
zuletzt genannten Strophen mit verschiedenem Abgesang verdienen, die Namen
ihrer Begründer zu tragen.
Beispiele:
1. Schema: a a b b c d d. (Herloßsohns Schwalbenstrophe.)
2. Schema: a a b b a a c. (Roquettes Rosenstrophe.)
3. Schema: a a b b | c c d. (Rudolph v. Gottschalls Desmoulins=Strophe.)
4. Schema: a a b b c c c. (Rückerts Klanggeisterstrophe.)
5. Schema: a a b b c d d. (Rückerts Lenzschauerstrophe.)
B. Aufgesang a b b a.
Zusammensetzungen mit diesem Aufgesang sind ebenso selten als mit dem
vorigen. Wir finden solche in Desdemonas Lied (Herders Stimmen der
Völker, 16. Band S. 197), sowie in dem von Diez übersetzten Liede
Die Provence vom Troubadour Peire Vidal (Menzels Gesänge der Völker.
S. 66, Schema: a b b a c c d). Von unsern Dichtern haben sich ihrer bedient:
Schiller (in der Bürgschaft, Schema: a b b a a c c), Eichendorff (in Begegnung
a b b a b c c), Geibel (in Wie rauscht ihr Waldesschatten, und
An den Genius), Rückert (in An die Dichter, im Trauerlied, in Die Blume
am Anger, mit dem Schema: a b b a a b a, sowie in „O wie ich nun so
einsam bin“, mit dem Schema: a b b a c c c; vgl. Kindertotenlieder, S. 172),
Herwegh (mit dem Schema: a b b a a a b in Die deutsche Flotte, vgl. Ged. [667]
S. 175 &c.). Der Nachahmung würdig erscheinen von diesen sämtlichen
Strophen 1. die bekannte Strophe Schillers in seiner Bürgschaft, die wir
als Schillers Bürgschaftsstrophe benennen wollen, und 2. die nachstehenden
beiden Schemata.
Beispiele:
a b b a a a b. (Herweghs Flottenstrophe.)
(Herwegh, Die deutsche Flotte.)
a b b a c c a. (Geibels Geniusstrophe.)
(Geibel, An den Genius.)
C. Aufgesang a b a b.
Der Aufgesang a b a b kommt in den siebenzeiligen Strophen am häufigsten
vor. Die mit demselben gebildete siebenzeilige Strophe erscheint als die Vereinigung
der Blüte unserer ernsteren lyrischen Poesie. Ein besonderer Grund
der Beliebtheit dieser Strophe kann nicht nachgewiesen werden. Vielleicht ist er
darin zu suchen, daß die beiden Aufgesangsstollen a b a b symmetrisch gebaut
sind und den Reim gleichmäßig wechseln, so daß der Abgesang einen gefälligen
Gegensatz bildet.
1. a b a b | c c b. (Schmidt-Cabanis=Strophe.)
Diese so freundliche Strophenform findet sich schon bei folgenden Minnesingern:
1. Markgraf Otto von Brandenburg (v. d. Hagens Minnesinger I.
12. Nr. 7). 2. Graf Konrad von Kirchberg (ebenda I. 25. Nr. 4). 3. Markgraf
von Hohenburg (ebd. I. 33. 1). 4. Gottfr. von Nifen (ebd. I. 60.
Nr. 44). 5. Walther von Klingen (ebd. I. 72. 3). 6. Reinmar von Brennenberk
(ebd. I. 335. 3). 7. Brunwart von Augheim (ebd. II. 76. Nr. 5). Jn
der neueren Litteratur sind die schönsten klassischen Lyriken und Balladen in
dieser Form geschrieben. Wir finden sie angewandt von: Rückert (Künstlich
scherzhafte Trinkreime, Zimmerfrühling, und Hochzeitlied aus Rom), Gust.
Schwab (Rückblick), Bechstein (Ruhe), Mörike (Mein Fluß), Goethe (Die Braut
von Korinth), Voß (Vorwärts mein Geist; Der Wechsel), W. Wackernagel [668]
(Frühlingslied), Jul. Hammer (Jm Abgrund), A. W. Schlegel (Arion),
Fr. v. Schlegel (Gelübde und Freiheitslied), L. Dreves (Nachtlied), Lampadius
(Schwarzauges Gut' Nacht), Geibel (Betrogen), Ritter (Frühlingslied: „Regst
du, o Lenz! die jungen Glieder“ &c.). Brinkmeier hat das Zornlied des
Troubadours Peire Cardinal, und Rückert 2 Lieder im Schi-King (S. 133
und 143) in dieser Strophe übersetzt. Schmidt-Cabanis weitgesungenes humoristisches
„Neues Märlein vom Champagnerwein“ hat diese Form weiten Kreisen
vermittelt, weshalb wir sie durch den Namen dieses Humoristen auszeichnen.
Beispiel:
(Rückert, Zimmerfrühling.)
2. a b a b c b c.
Es ist dies eine seltene Form, welcher wir nur in einem alten dreiteiligen
Kirchenlied (vgl. Wackernagels deutsches Kirchenlied S. 839), sowie bei Geibel
(Zwei Psalmen, und Der Troubadour Nr. 7), endlich bei Rückert (Neuer Mut,
Großes aus Kleinem, und im Schi-King S. 133) begegnen.
Beispiel:
(Rückert.)
3. a b a b c c d. (Kirchenliedstrophe.)
Diese in mehr als 500 lutherischen Kirchenliedern angewandte Strophenform
verleiht dem durch Luther angeregten, auch im Kirchenlied zum Ausdruck
gelangten Vorwärtsdrängenden, nach=Licht-Ringenden einen überwältigenden
Ausdruck, weshalb sie den Namen Kirchenliedstrophe verdienen dürfte. Der
Name Goethes Sängerstrophe würde ebenso bezeichnend sein, da Goethe in
ihr seinen weitgekannten Sänger dichtete; doch scheint mir der Name Kirchenliedstrophe
im Hinblick auf ihr außerordentlich häufiges Vorkommen im Kirchenlied
größere materielle Berechtigung zu haben.
Wir finden diese Form schon bei folgenden Minnesingern: Gottfried
v. Nifen (vgl. v. d. Hagen, Minnesinger I. 60. Nr. 43), Kristan v. Hamle
(ebd. I. 112. 3), Ulr. v. Liechtenstein (ebd. II. S. 75. 2), Walther von der
Vogelweide in seinem durch Görres' Bearbeitung neu eingeführten Vaterlandslied
„Deutschlands Ehre“. (Andere patriotische Lieder, die in dieser Strophe
gedichtet wurden, s. in Liliencrons Samml. hist. Volksl. Nr. 149, 387, 388,
405, 538; gesellige Lieder aus dem 16. u. 17. Jahrh. s. in Hoffmann v. Fallerslebens
Gesellschaftsl. Nr. 59, 102, 184.) Von neueren Dichtern wandten
diese Strophenform an: Arndt, Schlegel, Hebbel, Voß (Das Röselein), Goethe
(Sänger, Totentanz, Das Blümlein Wunderschön, Der untreue Knabe, Der
Müllerin Reue), Uhland (Rolands Schildträger, Vom treuen Walther, Metzelsuppenlied,
Jungfrau Sieglinde), Blumauer (Travestierte Äneis), Rückert (Lied
des lustigen Teufels), A. Mosen (Frühlingslied), Mörike (Tag und Nacht),
Kinkel (Dietrich von Berne), Wolfg. Müller (Nächtliche Erscheinung zu Speier,
Deutschlands Wächter), Körner (Wir treten hier im Gotteshaus), A. Knapp
(Der Glaube bleibt), Chamisso (Der rechte Barbier, Böser Markt, Das Urteil
des Schemjaka), Th. Apel (Maiklänge), Julius vom Hag (Dort an den drei
Eichen), Heinr. Pröhle (Das Posthorn), Ernst Ziel (An meine Mutter), Ernst
Rauscher (So willst du noch einmal), Geibel (Mene Tekel, Herbstklage).
Beispiele:
a.
(Altdeutsches Kirchenlied. Vgl. Luthers geistl. Lieder von G. König. S. 8.)
b.
(Goethe, Der Sänger.)
4. a b a b c d c. (Neue Titurelstrophe.)
Diese bereits in § 193. a S. 609 charakterisierte Strophe ist nur durch ihren
Schluß von der vorigen verschieden. Durch Verlegung des c=Reimes wird
der Schluß befriedigender, gefälliger. Es ist zu beklagen, daß so wenige Dichter
die Feinheiten der Strophik studieren, um die Schönheit dieser Strophe zu erkennen
und einzusehen, wie z. B. das Einförmige des Reimes in Formen wie
a b a b c b c, oder a b a b c a c, oder a b a b c c c durch die reimlose
d=Zeile verhindert wird. Man kann diese Strophe zweifellos eine der freundlichsten
Blüten unserer deutschen Strophik nennen. Trotzdem hat sie von den [670]
neueren hervorragenden Dichtern nur Uhland (Drei Fräulein) und Geibel
(Der Landsknecht) angewandt.
Bei den Minnesingern finden wir sie bei Markgraf Otto von Brandenburg
(v. d. Hagens Minnesinger I. 11. Nr. 1), Markgraf Heinrich v. Mizen
(ebd. I. 13. 2), Gottfr. v. Nifen (ebd. I. 45. 8), Jakob v. Warte (ebd. I.
67. 4), Otto zum Turne (ebd. I. 343. 1), Wolfram von Eschenbach | &c.
Wenige Beispiele finden sich noch in Liliencrons Sammlung historischer Volkslieder,
in Hoffmanns von Fallersleben Gesellschaftsliedern, sowie in Goedeke=
Tittmanns Liederbuch. Die meisten Beispiele sind durch Zeilenlänge und Rhythmus
von einander verschieden.
Beispiele:
a.
Mit reymen schon zwigenge
seint diese lieder worden
gemessen recht die lenge,
gar in ir don, nach meistersangesorden;
zu vil, zu klein, das tuot ein lid verswachet,
ich Wolfram bin unschuldig,
ob schreiben dicke recht unrichtig machet.
(Wolfram von Eschenbach.)
b.
(Uhland.)
5. a b a b c c c. (Goethes Vanitasstrophe.)
Jn dieser mit Vorliebe von Walther von der Vogelweide gebrauchten
Strophe dichtete Fischart sein Trinklied: „Der liebste Buhle, den ich han“,
sowie Goethe sein durch Spohrs Komposition in alle Kommersbücher übergegangenes
Lied Vanitas (Jch hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt). Da
die Erinnerung an dieses bekannte Lied auch sofort die Strophenform in's
Gedächtnis ruft, so geben wir diesem Schema den Namen Goethes Vanitasstrophe.
Jn den Minnesingern v. d. Hagens finden sich Beispiele: I. 3. (Kaiser
Heinrich), I. 13. 1. (Heinr. v. Mizen), I. 59 und 41. (Gottfr. v. Nifen),
I. 109. 4. (Wernher von Teufen), I. 184. 23 und 188. 32. (Reinmar
der Alte), I. 210. 1 und 2. (Hesse von Rinach), I. 234. 22 und 247.
49 &c. (Walther von der Vogelweide), II. 33. 2. (Ulrich v. Liechtenstein),
II. 67. 1. (Hug von Werbenwag), II. 110. 12 und 114. 17. (Nithart),
II. 276. 3. (Gottfr. v. Straßburg).
Rückert hat diese Strophe in Die abgestreifte Ähre, in Winterzwiespalt,
sowie im Schi-King S. 70 angewandt, Voß in Das Gastmahl und Die Vierzehnjährige, [671]
Hoffmann von Fallersleben in seinem bekannten Abendlied, und
Spitta in Psalter und Harfe (Einigkeit im Geist).
Beispiele:
a.
b.
(Spitta.)
6. a b a b b a b. (Rückerts Triniusstrophe.)
Diese Strophenform finden wir bei den Minnesingern Graf Rud. von
Neuenburg (v. d. Hagens Minnesinger I. 18. 3), Gottfr. v. Nifen (ebd.
I. 58. 36), Walther v. Klingen (ebd. I. 73. 5), Heinrich v. Morungen
(ebd. I. 125. 14 und 127. 21), Walther von Metz (ebd. I. 310. 8).
Von den neueren Dichtern hat sie Rückert in 2 Strophen seines Ehestandsidylls
Bienengesumme, sowie im dreistrophigen Gedicht An Trinius in origineller
Weise angewandt.
Beispiel:
(Rückert, An Trinius.)
7. a b a b a a b.
Diese von Gottfried von Nifen (v. d. Hagens Minnesinger I. 55.
Nr. 29) angewandte Strophe hat Paul Heyse in seinem mit Geibel herausgegebenen
spanischen Liederbuch wieder zur Geltung gebracht. Rückert hat in
dieser Strophe sein „Welt- und Lehrgebäude“ gedichtet.
Beispiel aus Heyses spanischem Liederbuch:
8. a b a b c c a. (Rückerts Kinderstrophe.)
Diese von Mörike (in Die traurige Krönung) sowie von H. Lingg (in
Mondaufgang) gut gebaute Strophe kam durch Rückerts „Kinderlied von den
grünen Sommervögeln“ in alle Schullesebücher. Wir bezeichnen sie als Rückerts
Kinderstrophe.
Beispiel:
(Rückert.)
9. a b a b a c d.
Eine herrliche Strophe dieses Schemas hat Rückert in Frühlingsruf
geschaffen. Er markiert den Abgesang durch trochäischen Rhythmus (Rhythmuswechsel)
und gefälligen Binnenreim in der ersten Zeile desselben. Vgl. auch
Voß, Die frühe Melkerin.
Beispiel:
(3 gleichgebaute Strophen.)
(Rückert, Frühlingsruf.)
(Die 5. Zeile dieser Strophe könnte wegen des Binnenreims gebrochen
werden, wodurch jedoch die Strophe zur Achtzeile werden müßte.)
10. a b a b c d d. (Pinzgauer Strophe.)
Diese zuerst von Ulrich von Liechtenstein angewandte Strophe (vgl.
v. d. Hagens Minnesinger II. 59. Nr. 54) hat große Popularität durch das
Pinzgauerlied erhalten (s. Kretzschmers Volkslieder I. Nr. 135).
Beispiel:
(Pinzgauerlied.)
11. a b a b c a b.
Beispiele s. v. d. Hagens Minnesinger I. 37. Nr. 7 (Heinr. v. Veldeke).
[673]12. a b a b b b b.
Beispiele s. v. d. Hagens Minnesinger I. 28. Nr. 5 (Otto v. Botenlauben);
ferner I. 31. Nr. 12 (derselbe); I. 184. Nr. 21 (Reinmar der Alte);
endlich II. 37. Nr. 11 (Ulrich von Liechtenstein).
13. a b a b b a a.
Beispiele s. v. d. Hagens Minnesinger I. 38. Nr. 15 (Heinr. v. Veldeke)
und I. 72. Nr. 4 (Walther v. Klingen).
14. a b a b c a c.
Beispiele s. v. d. Hagens Minnesinger I. 50. Nr. 19 (Gottfr. v. Nifen);
I. 197. 54 (Reinmar der Alte); I. 300. 2 (Der von Sachsendorf); II. 132. 5.
(Rost, Kirchherr zu Sarne); II. 390. 3 (Der Kanzler).
15. a b a b b c b.
Beispiel s. v. d. Hagens Minnesinger I. 112. 2 (Christian v. Hamle).
16. a b a b b c c.
Beispiel s. v. d. Hagens Minnesinger II. 58. 53 (Ulrich v. Liechtenstein).
17. a b a b a b b.
Beispiel s. v. d. Hagens Minnesinger II. 151. 7 (Der tugendhafte
Schreiber).
D. Aufgesang a b c b.
1. a b c b d d b. (E. Albrechts Blumenstrophe.)
Beispiel:
(Engelbert Albrecht.)
2. a b c b d d e. (Mosens Hoferstrophe.)
Diese durch Mosens Volkslied berühmt gewordene Strophe hat Schiller in
„Des Mädchens Klage“ und Otto Roquette in „Weißt du auch“ verwendet.
Beispiel:
(Julius Mosen, Hofers Tod.)
[674]3. a b c b d e f.
Jn dieser Strophe ist das bekannte Volkslied Ermunterung zum Spinnen
gedichtet.
Beispiel:
(Volkslied. Vgl. Simrocks Volksb. VIII. 408.)
4. a b c b b d b.
Beispiel:
Ich han selchen trost besunnen,
Wunnen, sunnen glich' ich si gestalt,
Diu mir tuot min leit verswinden,
Binden, swinden muot kan ir gewalt!
Ja ist ir guete mer van tusendvalt,
si kan friunde trost bewisen,
grisen, wisen machen vröuden balt.
(Der Thüring, v. d. Hagens Minnes. II. 26. IV.)
5. a b c b d e d. (Mailiedstrophe.)
Beispiel:
(Mailied, s. Uhlands Volkslieder Nr. 58.)
6. a b c b d d d. (Bettelliedstrophe.)
Beispiel:
(Bettellied, s. Büschings Volkslieder S. 61.)
E. Andere Schemata und unregelmäßig gegliederte siebenzeilige
Strophen.
1. a a a a a a a.
Diese eintönige Form finden wir bei Rudolf dem Schreiber (v. d. Hagens
Minnesinger II. 264. Nr. 1) sowie bei Walther von der Vogelweide (ebend.
I. 253. Nr. 64).
Beispiel:
Diu welt was gel, rot unde bla,
grüne in dem walde und anderswa,
Die kleinen vogele sungen da:
nu schriet aber diu nebelkra;
Hat sie iht ander farbe? ja:
sie ist bleich worden und übergra:
des rimpfet sich viel manik fra.
(Walther v. d. Vogelweide.)
2. a a a a a a x.
Beispiele finden sich in v. d. Hagens Minnesingern I. 54. Nr. 27
(Gottfr. v. Nifen), sowie in Liliencrons Sammlung Nr. 21, endlich bei A. W.
v. Schlegel.
Beispiel:
(A. W. v. Schlegel.)
3. a a a a b b b. (Oswald Marbachs Frühlingsstrophe.)
Diese Strophe wandte nach Heinr. v. Veldeke (v. d. Hagens Minnesinger
I. 37. Nr. 8. 2) Christian von Luppin (ebd. II. 20. 1) und Nithart
(ebd. II. 123. 37), von Neuern wieder Oswald Marbach an, weshalb sie seinen
Namen tragen möge.
Beispiel:
(Osw. Marbachs Frühlingslied.)
4. a a a b c c b. (Herweghs Rheinweinliedstrophe.)
Beispiele finden sich bei Goethe (Lebendiges Angedenken) und bei Herwegh.
Beispiel:
(Herwegh, Rheinweinlied.)
[676]5. a b a a b c c. (Körners Lützowstrophe.)
Beispiel:
(Körner, Lützows wilde Jagd.)
6. a a b c c b b.
Beispiel:
(Rückerts Kindertotenlieder S. 313.)
7. a a b c c a b.
Beispiel:
(Rückert, Der Schmetterling.)
8. a b c b c a c.
Beispiel:
(Hans Grasberger.)
9. a a b c c c b.
Beispiel:
(R. Hamerling, Rollende Räder.)
Vgl. hierzu Das Spiegelbild von Annette v. Droste-Hülshoff.
[677]10. a b b c d d c.
Jn dieser Strophe hat Mörike das schöne Gedicht Die Tochter der Heide
geschrieben, ferner Arndt sein berühmtes „Gebet bei der Wehrhaftmachung eines
deutschen Jünglings“.
Beispiel:
(Arndt, Gebet.)
11. a b a a b c b. (Goethes Heidenrösleinstrophe.)
Beispiel:
(Goethe, ganz ähnlich dem alten Volksliede.)
12. a a b c c d e. (Goethes Veilchenstrophe.)
Beispiel:
(Goethes Veilchen.)
13. a b b c c d d.
Beispiel:
(A. E. Fröhlich, der Wald.)
14. a b c b c a a.
Beispiel:
(Hoffmann v. F. „Jda.“)
15. a b c c b d d. (Scherenbergs Fischerstrophe.)
Beispiel:
(Scherenberg, Fischerlied.)
16. a a b a a c b.
Jn dieser Strophe ist das preußische Nationallied Heil dir im Siegerkranz
gedichtet.
Beispiel:
(Vgl. Menzel, Ges. d. Völker S. 94.)
17. a a b a b a a.
Jn diesem Schema ist das altdeutsche Studentenlied „In dulci jubilo“
gedichtet, welches wir § 149 mitgeteilt haben. (Vgl. auch Menzel, Gesänge
der Völker S. 654.)
18. a b b b c c d.
Jn dieser Strophe ist das in der Pfalz vielgesungene Lied „Ein Schneider
seine Himmelfahrt“ gedichtet.
Beispiel:
(Nadler.)
19. a b a c d d e. (Luthers Psalmenstrophe.)
Diese schöne, dreiteilige Strophe finden wir in Luthers geistlichen Liedern
von G. König S. 8. Sie ist die Form eines altdeutschen, nach dem 130.
Psalm gedichteten Liedes, welches Luther übersetzte.
Beispiel:
20. a b c b d d b.
Beispiel: Generalbeichte von Goethe.
21. a a b c c b b.
Beispiel: Marschall Ney von Rückert.
22. a b b a a c c.
Beispiele: Rückerts Wiegenlied und 3 Strophen von Erste und letzte
Liebe.
23. a a a b b b a.
Beispiel: Platen: Löst mir in Eile.
24. x x x x x x x.
Ein Beispiel dieser reimlosen Strophe findet sich in v. d. Hagens Minnesingern
Bd. I. S. 44. Nr. 7. (Gottfried von Nifen.)
§ 205. Die achtzeilige Strophe.
Die achtzeilige Strophe ist durch Brechung der Langzeilen aus
der vierzeiligen entstanden. Jhr Grundtypus ist die Hildebrandstrophe
(x b x b x c x c oder a b a b c d c d). Sie hat ihre volle Berechtigung,
wo die Zeilen durch Jnhalt, Reim, Rhythmus oder durch
irgend ein strophisches Charakteristikum eng verbunden sind. Leider
bieten namentlich unsere reimenden Dilettanten unzählige solcher sog.
achtzeiliger Strophen, bei welchen sich die beiden Hälften durchaus
entsprechen, indem der Sinn in der Mitte völlig abschließt, somit Reim
und Reimgeschlecht korrespondierend sich wiederholen, und das Zerfallen
in zwei vierzeilige Strophen durch Nichts verhindert wird. Jn diesen
Fällen wäre lediglich die Schreibung in vierzeilige Strophen am
Platze. (Vgl. 153.) Beispielshalber bemerkt auch der Uneingeweihte
beim Fischerlied von Goethe auf den ersten Blick zwei vierzeilige
Strophen:
Jn gleicher Weise wie beim vorstehenden Beispiele zerfällt dem Ohre
die nachfolgende Strophe von Rückert in 2 ebenbürtige 4zeilige Strophen, da
sich Vordersätze und Nachsätze, Reim und Reimgeschlecht &c. vollständig decken und
noch dazu eine syntaktische Pause den Schluß der 4. Zeile markiert:
Mustergültig sind dagegen Strophen wie die folgende von Rückert, bei welcher
Reimverschlingung, Schlußzeilenverkürzung und Rhythmusänderung &c. das Strophenende
markieren und die Strophe als gelungenes Teilganze erscheinen lassen:
Die Formen der 8zeiligen Strophe sind sehr mannigfaltig. Es sind zunächst
die 15 Formen der vierzeiligen Strophe in ihrer Verdoppelung möglich.
Sodann können die 15 Formen der 2. Hälfte an jede der 15 Formen der
ersten Hälfte der vierzeiligen Strophe angesetzt werden, wodurch sich 15 × 15
== 225 Kombinationen ergeben. Dazu kommt die große Zahl von Formen,
welche sich ergiebt, wenn man die Kombinationen stufenweise mit 1 x, sodann
mit 2, 3, 4, 5, 6 x durchsetzt. Nur der geringste Teil dieser möglichen
Schemata der 8zeiligen Strophe wurde von unseren Dichtern verwertet.
Formen der achtzeiligen Strophe.
1. a b a b c d c d. (Hildebrandstrophe.)
Wir haben diese Strophe bereits in § 193 k S. 613 d. B. abgehandelt
und wollen hier nur noch deren Häufigkeit und Anwendung auch in
der Gegenwart darthun sowie durch Beispiele deren freie Gestaltung und Behandlung
in Hinsicht auf Zeilenlänge und willkürliche Aufeinanderfolge von
stumpfen oder klingenden Reimen beweisen, wobei wir auch einige charakteristische [681]
oder bekannte Formen erwähnen, für welche dieses Schema die nachweisbare
Grundlage bildet. Vgl. das auf S. 613 d. B. Gesagte.
Dieses Strophen-Schema wurde in der Neuzeit sehr häufig verwendet.
Unser mühsam hergestelltes Verzeichnis sämtlicher achtzeiliger Gedichte aller bekannten
Dichter mag beweisen, daß über \frac{9}{10} aller vorhandenen achtzeiligen
Gedichte (90 ̆in demselben gedichtet sind.
Mit Vorliebe haben es gebraucht: Markgraf Heinr. v. Wizen (Minnesinger
v. d. Hagens I. 13. 4), Heinr. v. Veldeke (ebenda I. 35. 2 und
39. 24), Dietmar von Ast (ebd. I. 99. 6), Reinmar der Alte (ebd. I.
174. 1 und I. 194. 44), Burkhard von Hohenfels (ebd. I. 208. 15),
Wachsmuth von Künzingen (ebd. I. 303. 3), Reinmar von Brennenberk
(ebd. I. 335. 1), Christian von Luppin (ebd. II. 20. 3), von Trostberg
(ebd. II. 71. 1) Brunnwart von Augheim (ebd. II. 76. 4), Nithart (ebd. II.
106. 9), Ulrich von Liechtenstein (ebd. II. 33. 4).
Von bekannt gebliebenen Gedichten und Volksliedern dieses Strophenschemas
nennen wir außerdem:
Spees Trutznachtigall vom Jahre 1634, Paul Gerhards berühmte Lieder:
Befiehl du deine Wege, O Haupt voll Blut und Wunden, ferner das Volkslied:
Guter Mond, du gehst so stille (siehe Walter, Volkslieder Nr. 18),
Schreiber (in Uhlands Volksl. 263), sowie: Herzlich thut mich erfreuen (ebd.
Nr. 57); Die heilige Dorothea (Wunderhorn II. 325); Follens Birnbaum
auf dem Walserfeld, Salis: Der Wunsch, und dessen Frühlingslied; Arndts
Vaterlandslied (Der Gott, der Eisen wachsen ließ) &c.; das belgische Nationallied
von Jenneval (Mit Sklavenketten uns zu binden), das berühmte von
Freiligrath übersetzte schottische Schlachtlied (Donuil Dhu's Kriegsgesang); Höltys
Mailied; Körners Reiterlied (Frisch auf, frisch auf), sowie dessen Treuer Tod,
Hankes Jagdlied, die von Rubens übersetzten Lieder Berangers (Die Neger,
Die rote Lene, Mein Rock &c.), Eichendorffs Wanderlied Frische Fahrt, und dessen
Sehnsucht; Uhlands (neben dem in S. 613 d. B. erwähnten Schenk von Limburg)
Am 18. Oktober, Die verlorene Kirche, Maientau, Die sanften Tage,
Der Mohn, Jm ständischen Kampfe &c.; Freiligraths Jrland, Ruhe in der Geliebten
&c.; Reinicks Sommernacht; A. W. Schlegels Abendlied; Hölderlins Gott
der Jugend; Novalis Geistl. Lieder; Fouqués Trost; Chamissos Die alte Waschfrau;
Schenkendorf, Frühlingsgruß an das Vaterland; Prutz Kurze Rast, Atlantis,
Vergessen, Herr Frühling, Trost der Nacht, Die tote Braut &c.; Kinkels Abendstille,
An die Auswanderer, An seinen Schwiegervater; Ölbermanns Gesunken;
Linggs Mondaufgang, Dodona; Roquettes Die alte Linde, Nachts, Unruhe,
Wandergruß, Abendglocken; Heinr. Frauenlob; Schwabs An die Geliebte;
Dingelstedts Wiedersehen, Meiner Mutter; Strodtmanns Tote Liebe, Credo;
Herweghs Der Gang um Mitternacht; Hebbels An eine Unbekannte, Jm
tiefsten Schmerz, Leben; Jul. v. Rodenbergs Der betrübte Jurist, Die Arbeiterin,
Marie vom Oberlande, Wenn eine Rose fällt; Wolfg. Müllers Johann von
Schwaben, Meister Tancho, Auf Markt und Gassen; Annette von Droste-Hülshoffs
Der Geierpfiff, Die junge Mutter, Die beschränkte Frau; Leop. Schefers [682]
Abschied von Griechenland; Simrocks Der versenkte Hort; Plönnies Das Grab
des Evangelisten, Der sterbende Schiffer; Gruppes Der Papagei; J. G. Seidls
Verheimlichung; Ad. Stöbers An Dichter und Leser, Preis der deutschen
Sprache; J. G. Fischers Lied der Zukunft; Bodenstedts Maigruß, Ein
Blick vom Kreml, Tscherkessische Totenklage; Alex. Kaufmanns Der Freund;
Strachwitz' An Platens Schatten; Goethes Willkommen und Abschied, Wenn
sich lau die Lüfte füllen, Der Fischer &c.; Gärtners Nun gebt mir meinen
Wanderstab; Geroks Palmen und Eichen, Der öde Garten; R. Hamerlings
Erinnerung &c.; Julius Hammers Vertraue dich dem Licht der Sterne; Wilh.
Hertz' Liedesgruß; Hans Hopfens Wenn du verraten; Ed. Kauffers Rettung
der Erde; Heinr. Leutholds An der Riviera; Osw. Marbachs Waldeinsamkeit;
Gust. Mauritius Geburtstag &c.; Herm. Oelschlägers So sei denn glücklich ohne
mich; Luise Otto-Peters' Ach stolzer Zweifler; Emil Rittershaus' Am Strom
in der Sommernacht, und Frauengröße; Georg Scherers Antwort; Alb. Trägers
Mutterlos; Max Waldaus Verratene Liebe; Theod. Winklers Vergeben und
Vergessen; Geibels Bildhauer des Hadrian und 35 andere mehr oder weniger
bekannt gewordene Dichtungen; Alexis Aars Sirenenlied; Ad. Bubes Wilde
Jagd; Ernst Ecksteins Die Verlassene; Helene v. Engelhardts Noch jung;
Rud. Fastenraths Wenn kalt ein Herz sich von dir wendet; K. E. Franzos'
Anna; Paul Heyses Lied von Sorrent; Fritz Hofmanns Karl Barth, und
Pius VII:, Emil Kuhs Der Lenz geht um; Cäsar von Lengerkes Der frühe
Mond; Friedr. Rückerts Die sterbende Blume; Anton Schlossars Mein Himmel;
Aug. Silbersteins Jch nehm es leicht; D. F. Strauß An Rapp &c.
Einige Beispiele origineller Strophenformen des obigen
Schemas:
a.
(Körner, Treuer Tod.)
b.
(Freiligrath, Jrland. Ges. Dichtungen III. 147.)
c.
d.
(Bodenstedts Hildegard. Ges. Schriften X. 194.)
2. a b a b a b a b. (Sicilianenform.)
Vgl. § 170 S. 556 d. B. sowie die österr. Nationalhymne (Gott
erhalte Franz, den Kaiser).
3. a b a b c c a b. (Geibels Abschiedsstrophe.)
Diese Strophe finden wir bei Rud. der Schreiber (von der Hagens
Minnersinger II. 265), sowie bei Fr. Rückert (Warum sich zwei erwählen,
Gesang der h. drei Könige, Kosaken-Winterlied, Lied, und Noch eine Einladung);
ferner bei Otto Roquette (Unruhe); Annette von Droste-Hülshoff (Der Knabe
im Moor), deren Lied die Veranlassung zum Gedicht Arthur Fitgers „Singend
über die Heide“ wurde; vor Allem aber bei Geibel, dessen zartes Gedicht Wenn
sich zwei Herzen scheiden eine ganze Litteratur hervorrief. Jch glaube
den Nachweis liefern zu können, daß dasselbe die Anregung gab zu Prutz'
Abends, zu M. Solitaires Reflexe der Schwermut, zu Michel Berends O wenn
dir Gott ein Lieb geschenkt &c., die sämtlich den ähnlichen Charakter, das gleiche
Schema, das nämliche strophische Charakteristikum und die von Geibel angewandte
Refrainform tragen. Die im Mittelalter verbotene Tönenachahmung
ist in unserer Litteratur mit Recht gestattet.
Beispiele:
1. Schule Geibels.
a.
(Geibel.)
b.
(M. Solitaire, Reflexe der Schwermut. Abgedr. in Hausbuch aus deutschen
Dichtern seit Claudius, 1872, von Th. Storm.)
c.
(Michel Berend.)
d.
(Robert Prutz.)
e.
(Annette von Droste-Hülshoff, Heidebilder.)
2. Seitenstück zum Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff.
(Arthur Fitger.)
4. a b a b b c c c.
Beispiel: Rückerts Vogelschießen.
5. a b a b c c c b.
Wir finden diese Strophe schon bei Gottfr. von Nifen (v. d. Hagens
Minnes. I. 55. Nr. 28) und bei Graf Rud. von Neuenburg (ebd. I. 18.
Nr. 2). Ein Beispiel (Züricher Krieg) findet sich auch in Liliencrons Sammlung
Nr. 80. Jn neuester Zeit hat sie Rückert in Prophezeiung, des Kauffahrers
Heimkehr sowie im Schi-King S. 218, Goethe im Trinklied, und Geibel
im nachfolgenden Lied angewandt;
6. a b a b c c c d.
Beispiele finden sich bei Gottfr. von Nifen (Hagens Minnes. I. 43.
Nr. 5) und Heinrich von Morungen (ebd. I. 129. Nr. 30). Silchers Volksmelodien
S. 6 enthalten das Beispiel: Jm Mondschein, ─ mit jambisch=anapästischem
Rhythmus.
7. a b a b c c c c.
Beispiel: Rückerts Lenzgebrauch. Auch in Liliencrons Sammlung findet
sich dieses Schema Nr. 499.
8. a b a b c c d d. (Geroks Heimstrophe.)
Diese gefällige Form, welcher wir schon bei Reinmar dem Alten begegnen,
und welche auch in der Neuzeit von bedeutenden Dichtern gepflegt wurde,
finden wir sonst noch bei Otto v. Botenlauben (Hagens Minnes. I. 28. 4),
Markgraf v. Hohenburg (ebd. I. 33. 4), Heinr. v. Veldeke (ebd. I. 40. 26),
Gottfr. v. Nifen (ebd. I. 62. 49), Dietmar v. Ast (ebd. I. 100. 7), Heinr.
v. Stretlingen (ebd. I. 111. 3), Christian v. Hamle (ebd. 113. 5), Heinr.
v. Morungen (ebd. I. 127. 22), Ulr. v. Wintersteten (ebd. I. 157. 20),
Reinmar der Alte (ebd. 174. 1, 179. 11, 181. 14, 187. 28, 191, 37, 193,
11), Burkhard v. Hohenfels (ebd. I. 203. 5), Burggraf v. Rietenburg (I. 218.
1), Walther v. d. Vogelweide (ebd. I. 245. 45, 251. 61), v. Singenberg (I. 297.
25), Rubin (ebd. I. 311. 1), Hartmann v. Aue (ebd. I. 331. 9) und Rud. der
Schreiber (ebd. II. 265). Jn Liliencrons Sammlung steht ein freundliches Beispiel
Nr. 278, ebenso in den Gesellschaftsl. Hoffmanns v. Fallersleben (351).
Von Volksliedern sind zu erwähnen: Schön Dännerl, O wie geht's im Himmel
zu, Jch bin ein Preuße von Thiersch, und Was Gott thut, das ist wohlgethan
von Rodegast. Weitere gute Beispiele sind: Arndts Jn Frankreich hinein,
Schillers Gang nach dem Eisenhammer, Uhlands Harfnerlied, Platens Katzennatur,
Goethes Neue Liebe neues Leben, und Wirkung in die Ferne, Matthissons
Elegie, Arnims Ermunterung, Schenkendorfs Lied vom Rhein, Joh.
Falks Altes Schifferlied, Helene v. Engelhardts Sturm-Hymnus, Karl Geroks
Jch möchte heim, Aug. Schnezlers Verlassene Mühle, Körners Harras der
kühne Springer, Bürgers Ritter Karl von Eichenhorst, sowie seine Lenore,
Rückerts Amor der Besenbinder, Bethlehem und Golgatha, Die Zwei und der
Dritte, Karl Gärtners Frühling, Alb. Mösers Frühling, Morin Des Dichters
Weib, Willatzens Der Wandersmann, Moritz Zilles Die Dichtung, König Ludwig
von Bayerns Nachtklage, A. Knapps Die Mutter am Sarge, Spittas
Ruhe in Gott, Rud. Mengers Der Königin Kürassiere, Geibels Volkers Nachtgesang.
Jm Hinblick auf Geroks weitbekanntes, zum Kirchenlied gewordenes
(nach Hebr. 13. 14 gedichtetes) Lied „Jch möchte heim“ nennen wir diese
Strophe Geroks Heim-Strophe.
Beispiele:
(George Morin.)
(Geibel.)
9. a b a b c c b b.
Beispiel:
(Rückert.)
Vgl. hiezu Chamisso: Ein französisches Lied mit b=Refrain.
10. a b a b b a b a.
Beispiel:
(Rückert.)
[687]11. a b a b a b c c.
Schema der Oktave. Vgl. § 169. S. 550 d. B.
12. a b a b b a a b.
Beispiele: Heinrich von Morungen (Hagens Minnes. I. 124. Nr. 13;
ferner 126. Nr. 18; endlich 130. Nr. 32).
13. a b a b c d e d.
Diese vom Nürnberger Volksdichter Konrad Grübel im bekannten Gedicht
Bauer und Doktor (Jnhalt: Jn Ermanglung von Tinte und Bleistift
schreibt der Arzt das Recept mit Kreide auf eine Thüre) angewandte Strophe
hat Geibel in Scheiden, Leiden, sowie in seinen volksmäßigen Liedern eines
fahrenden Schülers (Nr. 2) und in Herbstnacht gebraucht.
Beispiel:
(Geibel.)
14. a b a b c c d c.
Es ist die Strophe, in welcher Das dumme Brüderlein gedichtet ist, und
in welcher auch Geibel Nr. 1 seiner Lieder eines fahrenden Schülers schrieb.
Beispiele: Geibels vorgenanntes Gedicht, ferner Schenkel, Volkslieder
II. 675.
15. a b a b c d d c. (Gottschalls Liebesklängestrophe.)
Diese von vielen Minnesingern und namentlich von Walther von der
Vogelweide gebrauchte Form (vgl. Hagens Minnes. I. 11. 36. 46. 65. 124.
127. 212. 245. 249. 251. II. 33. 72. 143. 151. 365, sowie das von
Simrock ins Neuhochd. übertragene Minnelied Walthers, ferner Tiuschiu zuht
von demselben ─ Simrock, 2. Aufl. Leipz. 1853, S. 31), ferner Langbeins
„Jch und mein Fläschchen“ &c. finden wir in der Neuzeit bei Annette von
Droste-Hülfshoff (Das öde Haus, sowie Meister Gerhard von Cöln), ferner
bei Uhland (An den Tod), bei Goethe (Paria, und Wanderers Nachtlied),
bei Gottfr. Keller (Denker als Dichter), endlich in strophisch schöner Weise bei
Gottschall, weshalb wir ihr den Namen Gottschalls Liebesklängestrophe geben.
(Rud. von Gottschall.)
16. a b a b b a b b.
Beispiel: Herzog von Anhalt (Hagens Minnes. I. 14. 1).
17. a b a b b b c c.
Beispiele: Der Winsbecke (Hagens Minnes. I. 364. 1) und diu Winsbeckin
(ebd. I. 373. 1).
18. a b a b a b b b.
Beispiel: Heinrich von Morungen (Hagens Minnes. I. 125. 16).
19. a b a b a c a c. (Simon Dachs Treuestrophe.)
Beispiel:
(S. Dach, Mannestreue.)
(Die 2., 3., 4. und 5. Strophe dieses Gedichts sind nach dem Schema
der Hildebrandstrophe S. 680 d. B. gebildet.)
Vgl. hierzu noch Voß IV. S. 167: Lang' unter Friedrichs Adlerschwingen &c.
20. a b a b c d c e. (Yankee-Doodle=Strophe.)
Beispiel:
(Amerik. Nationallied. Vgl. Menzel, Gesänge der Völker S. 73.)
21. a b a b c d e f.
Beispiel; Husarenlied in Des Knaben Wunderhorn I. 43.
22. a b a b c d d e.
Beispiel: Die von Gries übersetzte Barcarole (Menzel, Ges. d. Völker
334). Bei Rückert (Ges. Ausg. V. 40 Jn der Gondel &c.) findet sich eine [689]
Nachbildung mit dem Schema a b b c d e d c. Jn diesem Schema dichtete
Walther von der Vogelweide mit Vorliebe. Einige Beispiele desselben finden
sich in Liliencrons Sammlung (Nr. 554 u. 448).
25. a b b a a b a b. (Rückerts Ernteliedstrophe.)
Beispiel:
(Rückerts Erntelied.)
Vgl. noch Rückerts Kindertotenl. S. 8.
26. a b b a a b b a.
Wie im Schema 10 der achtzeiligen Strophen, so hat Rückert auch im
vorstehenden Schema die spielende Wiederholung der vier ersten Zeilen jeder
Strophe in umgekehrter Folge ausgeführt. (Wir finden eine ähnliche Spielerei
schon bei Walther von der Vogelweide. Vgl. Hagens Minnes. I. 227.)
Beispiel:
(Rückert.)
27. a b b a c d d c.
Diese von Walther von Metz gebrauchte Form (Hagens Minnes. I. 310.
Nr. 9) ist in dem bekannten Lied „Warum sollt ich mich denn grämen“ von
Paul Gerhard angewandt. Ebenso gebaut sind die drei Strophen des Goetheschen
Gedichts: An Luna.
28. a b b a c c a a.
Beispiel:
(H. Simons „Ost, oder West“.)
[690]29. a b b a c d c d.
Eichendorff hat in diesem Schema seinen Weckruf (Ged. S. 353) gedichtet.
Wir finden diese Strophe sonst nur noch bei Weckherlin im deutschen Soldatenlied
und in Uhlands Mailied.
30. a b b c c a d a. (Rückerts Trommelstrophe.)
Beispiel: „Das ruft so laut“ von Fr. Rückert.
31. a b b c d e e c.
Jn dieser Strophe finden wir „Neurömisches Ständchen“ (in Agrumi
von Kopisch S. 13), ferner Barcarole (in Agrumi von Kopisch S. 261),
Goethes Zum neuen Jahr, endlich Platens Der alte Gondolier. (I. 151.)
32. a b b c d d e c.
Beispiel: Die junge Römerin (s. Agrumi v. Kopisch, S. 91).
33. a a b b c d e d. (Viktor Blüthgens Kinderliederstrophe.)
Beispiel:
(Viktor Blüthgen, Kinderlieder.)
34. a a b c c b d d.
Wir finden diese Strophe bei Dietmar von Ast (Hagens Minnes. I. 101),
bei Walther von der Vogelweide (ebd. I. 225), ferner bei Simon Dach (Jch
bin ja, Herr, in deiner Macht), bei Jos. Rist (O Ewigkeit, o Donnerwort)
und bei Georg Scheurlin (Frühlingsahnung).
35. a a b c d d b c.
Beispiel: Rückerts „Frühling Liebster“ („So schön und unbeständig“
Ges. A. II. 280. 5).
36. a a b b c c d d. (Wickenburg-Almásy=Strophe.)
Beispiele finden sich bei Nithart (Hagens Minnes. II. 115. Nr. 18),
in Hoffmann v. Fallersl. Gesellschaftsliedern (164), bei Rückert (So wahr die
Sonne scheinet; ferner: Mein Lieben blicket an das Lied &c. und Schi-King 323),
bei Wilh. Müller (Die Buße des Weintrinkers, Der Nachtwächter, Geselligkeit,
Die Forelle), bei Reinick (Kuriose Geschichte und Des alten Wanderers Rat),
bei Holtei (Der Schäferknecht), bei Mörike (Um Mitternacht), bei Goethe (Jm [691]
Sommer I. 64 und Der Rattenfänger I. 160), bei Karl Emil Franzos
(Wir liebten uns), bei Oskar Welten (Dithyrambe), sowie bei der Gräfin
Wickenburg-Almásy, deren Namen diese Strophenform tragen möge.
Beispiel:
(Wilhelmine Gräfin Wickenburg-Almásy.)
Ähnlich ist das Strophenschema im bekannten Gedichte Goethes: Wer
kauft Liebesgötter? (a a b b c c d e.)
37. a a b b c d c d.
Diese Strophe findet sich bei Dräxler-Manfred (Sibyllinische Blätter),
Gottfr. Keller (Ein Tagwerk) und bei Fr. Rückert in dem strophisch schönen
Gedicht: An die Sterne.
Beispiel:
(Fr. Rückert.)
38. a a b a b a c c.
Beispiel: Wieland Das Wunderhorn.
39. a a b c d d b d.
Beispiel: Die erste Strophe des bekannten Volksliedes „Ach, wie ist's
möglich dann“ &c.
(Strophe 2 und 3 ist nach dem Schema Nr. 36 S. 690 gedichtet.)
40. a a a b c c d d.
Beispiel: Blau ist ein Blümelein &c. (Schenkel, Volkslieder II. 631).
41. a a a b c b c b.
Beispiel: Herzog Johann von Brabant (Hagens Minnes. I. 16. 4).
42. a a b b b b c c.
Beispiel: Graf Rudolf von Neuenburg (Hagens Minnes. I. 20. 8).
[692]43. a b a a b a b b.
Beispiel: Heinrich von Veldeke (Hagens Minnes. I. 36. 5).
44. a b c a b c d d.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 193. 41).
45. a a b b c d d c.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 254. 68)
und Nithart (ebd. II. 124. 38).
46. a b c b d b a b.
Beispiel:
(Hoffmann von Fallersleben.)
47. a b c c d e e f.
Beispiel:
(Mörike.)
48. a b c b d c e c.
Beispiel: Die Schwalben. (Allemannische Lieder v. Hoffm. v. Fall.
Mannheim 1843. S. 96.)
49. a b a a b b a b.
Beispiel: Goethe, Der Misanthrop.
50. a b c d e f e f.
Beispiel: Wilhelm von Nassau, Holländisches Volkslied von 1568
(vgl. Soltaus histor. Volkslieder Nr. 68).
51. a b c b d d e b.
<Beispiel:> Das Passauer Schifferlied (Kretzschmers Volksl. S. 586),
[...]hes Wiegenlied (ebend. S. 647).
52. a b c b d d e e.
Beispiel: Friedrich der Große im Elysium (Walters Volksl. S. 228),
sowie Jägerlied (Uhlands Volksl. Nr. 105), ferner Wilh. Müller, Der Zechbruder
und sein Pferd.
53. a b c b d b e b.
Beispiele: Goethes Tischlied, Uhlands Bertran de Born, und sein
Waller, George Hesekiels Korb und Wiege, Jungbrunnen (Uhlands Volksl.
Nr. 30), endlich Bürgers Zechlied: Jch will einst, bei Ja und Nein.
54. a a a b c c c b.
Beispiel: Tiedges Schöne Minka. (1813─15 viel gesungen. Menzel,
Ges. der Völker S. 377.)
55. a b c d a b c d.
Beispiel: Ulrich von Liechtenstein (Hagens Minnes. II. 36. 9).
56. a b c d d e f e.
Beispiel: Herzweh, schottisches Volkslied (Talvj, Volksl. S. 597).
57. a b c b d e f g.
Beispiel: Das Lied vom alten Hildebrand (Wunderhorn I. 128).
58. a b a c a d a c.
Beispiel:
(Aus Herders Stimmen der Völker.)
59. a b c b c d e d.
Beispiel: Das Meermädchen (Fiedlers Geschichte der schottischen Liederdichtung
II. 129).
60. a a b b c c c b.
Beispiel: Rückert, Auf die Schlacht an der Katzbach.
61. a b a c c d b d. (Wachtelwachtstrophe.)
Beispiel:
(Wachtelwacht. Schenkel II. 618.)
62. a b a c b d d c.
Dieser originell gebauten Strophe Chamissos mit zwei umklammernden
männlichen Reimen begegnen wir auch bei Geibel in „Neapolitanisch“.
Beispiel:
(Chamisso, Der alte Sänger.)
63. a b c b c d e d.
Beispiele: Die 1. und 3. Strophe von Geibels Zu Volksweisen Nr. 5
„Deutsch“, und Karl Siebels „Mama bleibt immer schön“.
64. a b c b d e f e.
Diese durch Kerners Wanderlied „Wohlauf noch getrunken“ allerwärts
gesungene Strophe finden wir im deutschen Volkslied (Müllers Abschied, vgl.
Wunderhorn I. 102), bei Schiller („An der Quelle saß der Knabe“),
bei Goethe (Sehnsucht: Was zieht mir das Herz so), bei Chamisso (Frauenliebe
und Leben: Traum der eignen Tage &c.), in Fiedlers schottischer Liederdichtung
(Der Kuß, II. S. 190), in Walters Volksliedern (Der Weber, S. 71), in
Wolffs Halle der Völker (Lords Marie I. 90, und Es dunkelt I. 121), bei
Thomas Moore (Die letzte Rose, übersetzt von Pfizer. Menzel, Ges. d. V.
S. 631), bei Wilhelm Grothe (Wie lange, lange Zeiten), bei Graf v. Strachwitz
(Wie gerne dir zu Füßen), bei Fr. Halm (Vertrau dich, Herz, der Liebe),
sowie in der Dialektdichtung (Konrad Grübel, Der Rauchtabak).
65. a b c b d e d e.
Wir finden in dieser Form gedichtet: Das Siegeslied von Oudenaarde
(Wolffs Halle der Völker I. 167), Das Mädchen am Ufer (Herders Stimmen
d. Völker), Poesie von Annette v. Droste-Hülshoff, Menschliches von Ad. Glaßbrenner.
Beispiel:
(Ad. Glaßbrenner, Menschliches.)
[695]66. a b c d e f g d.
Beispiel:
(Lebrecht Dreves, Vor Jena.)
(Der Cäsurreim der 2., 3., 5., 6. und 7. Zeile würde eine gebrochene
Schreibung ermöglicht haben: a a b b c c d e e f f g g d.)
67. a b a b c c a b. (Ganzhorns Volksstrophe.)
Eine schöne, originelle Strophenform hat der unlängst verstorbene Dichter
Oberamtsrichter Wilhelm Ganzhorn in Cannstatt gebildet, indem er nach den
ersten vier jambischen Versen jeder Strophe den Rhythmus wechselte und ein
trochäisches Reimpaar als stehenden Refrain einschaltete, worauf er sodann die
3. und 4. jambische Zeile als volksliedartige Wiederholung folgen ließ. Das
Lied ist Volkslied geworden und wird im Neckarthal in fast allen Dörfern
gesungen. Die Anregung zu demselben gab dem Dichter wohl Rückerts Deutschland
in Europas Mitte &c.
Beispiel:
(Wilh. Ganzhorn. Vgl. Jägers Schwäbische Lieder-Chronik Nr. 12. 1876.)
68. x x x x x x x x.
Man findet diese Strophe in den Volksgesängen: Normannenlied (vgl.
Herders Stimmen der Völker), Asbiorn Prudes Lied (ebd.), Das Ringlein
(Volksl. der Polen, 1833. S. 51), Das Liebeslied Heinrichs IV. (übersetzt
von L. v. Plönnies in Menzel, Ges. d. V. 274). Von den neuern Dichtern
hat sie Mörike charakteristisch gebildet:
Beispiel:
(Ed. Mörike, Denk es, o Seele.)
[696]§ 206. Die neunzeilige Strophe.
Obwohl diese Strophe in ihren Reimkombinationen ein weit
größeres Feld eröffnet, als die vorige, so finden wir sie doch nur in
etwa 50 Formen zur Verwendung gelangt. Kaum zwei Dutzend unserer
neueren Dichter haben sich in ihr versucht. Zur Zeit der Minnesinger
war diese, eine symmetrische Dreiteilung leicht ermöglichende Strophe
beliebt. Wir finden sie bei 27 Minnesingern, darunter fünfmal bei
Gottfried von Nifen, viermal bei Reinmar dem Alten, zweimal bei
Ulrich von Liechtenberg &c. Jn der Neuzeit hat sie mehrfach Rückert,
wie Geibel und Herwegh (An den König von Preußen) verwendet.
Die Teilung der 9zeiligen Minnesingerstrophen ist meist 2 + 2 + 5
(Kaiser Heinrich, Hagens Minnes. I. 3. 2) oder 3 + 3 + 3 (Hagen I.
23. 6). Bei den neueren Dichtern finden wir auch die Zweiteilung
6 + 3.
Wir lassen nachstehend die gebräuchlichen Kombinationen folgen, indem
wir nur Beispiele von charakteristischen, nachahmungswürdigen Formen geben.
Formen der neunzeiligen Strophe.
1. a a b c c b d d b. (Rückerts Erwartungsstrophe.)
Beispiel:
(Rückert, Erwartung.)
Ein charakteristisch schönes Beispiel dieses Schemas ist noch Kinkels
Dorothea. Vgl. besonders das Einleitungsgedicht Rückerts zu den Östlichen
Rosen S. 617 d. B.
2. a a a b b b c c c.
Beispiel: Gottfr. von Nifen (Hagens Minnes. I. 57. Nr. 33). Ein
Beispiel findet sich auch in Liliencrons Samml. (Nr. 89).
3. a a b a a b c c c.
Beispiel: v. Ehenhein (Hagens Minnes. I. 346. 1).
4. a a b b b b c c c.
Beispiel: Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 230. 13).
[697]5. a a b b a b b a a.
Beispiel: Rückerts Morgenlicht (Kindertotenl. S. 189).
6. a a b a b c d c d.
Beispiel: Goethes Ballade: Herein, o du Guter! (Werke I. 139.)
7. a b a b c c d e d.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 192. Nr. 39),
sowie Fr. Rückerts Schwere Wahl.
8. a b a b c d c c d.
Beispiel:
(Geibel.)
Vgl. noch Rückerts Frühlingsfeier, sowie Hamerlings „Rauscht nirgend“,
Freiligraths Allerlei Funken, und Geibels Ein Lied am Rhein.
9. a b c b d e e a d.
Beispiel:
(Rückert, O süße Mutter.)
10. a b a b b c d d b.
Beispiel: Ostern von Rückert (Ges.=A. VII. 189).
11. a b a b c c d d e. (Luthers Reformationsstrophe.)
Beispiele: „Ein veste Burg ist unser Gott“ von Luther, sowie: „Jetzt
wird die Welt recht neu geborn“ von Scheffler (Angelus Silesius).
12. a b a b c d c d e.
Beispiel:
(Luthers Lied von zween Martyrern, Werke 2. Aufl. 1827, V. 103.)
Vgl. noch: „Es woll' uns Gott genädig sein“ von Luther und „Ach,
Herre Gott“ von Agricola. Jn derselben Form ist Freiligraths Ein Denkmal
und Geibels schöne Dichtung Am 3. Sept. 1870 gedichtet.
13. a b c a b c a b c.
Beispiel: Das Alter ist der Jugend vorzuziehn, von Rückert.
14. a b a b c c c c b.
Beispiel: Rückerts Jsts nicht besser (Kindertotenl. 115).
15. a b a b c c c b a.
Von dieser Form finden sich mehrere Beispiele in Liliencrons Sammlung
(288, 294, 295, 297, 302, 309, 316, 340, 350, 363, 375, 382,
384, 468, 594), ferner in Uhlands Volksl. (141). Ein ähnliches Beispiel
hat auch Rückert geliefert (Kindertotenl. 312), wobei er nur die beiden Anfangszeilen
a b am Schluß in umgekehrter Folge brachte (b a).
16. a b a a b c d c d.
Beispiel: Th. Körners Aufruf (Frisch auf, mein Volk! die Flammenzeichen
rauchen), sowie Mißmut.
17. a b a b c c d d d.
Beispiele: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 190. 36, sowie
198. 56) und Tanhuser (ebd. II. 95. 14), ferner Kirchenlieder (z. B. Schneesings
„Allein zu dir, Herr Jesu Christ“. Vgl. auch Wackernagel 239 u. 309).
18. a b a b c d c d d.
Beispiel:
(Geibel.)
Ähnlich ist Geibels Winter gedichtet. Beispiele dieser Form finden sich
noch in Soltaus Sammlung (217), sowie bei Liliencron (341).
19. a b a b c d d c d.
Beispiel in Liliencrons Sammlung 120.
20. a b a b c d e e d.
Beispiel in Liliencrons Sammlung 419.
21. a b a b c d c e d.
Beispiel: Scheurlin, Gruß an Deutschland.
22. a b c a b c b b c.
Beispiel: Ulrich v. Wintersteten (Hagens Minnes. I. 169. 40).
23. a b a b b b c d c.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 176. 5).
24. a b c a b c d e d.
Beispiel: Otto zum Turne (Hagens Minnes. I. 344. 3), sowie Geibel.
(Geibels Minneweise.)
25. a b c b d d e f e.
Beispiel: Wernher von Teufen (Hagens Minnes. I. 108. 1).
26. a b a c d d e e f.
Beispiel: Die Parisienne (Menzel, Ges. d. Völker S. 98).
27. a b c a b c c a c.
Beispiel: Heinr. v. Morungen (Hagens Minnes. I. 128. 25).
28. a b a b c c d c d.
Beispiel: Norwegischer Nationalgesang (Menzel, Ges. d. Völker 67),
sowie besonders Herwegh Bei Hamburgs Brand.
29. a b c b c d d a e.
Beispiel: Rückert, Marschall Vorwärts.
[700]30. a b c a b c d d e.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 46. 10), Christian
v. Luppin (ebd. II. 21. 5) sowie Konrad Schenk von Landegge (ebd. I.
355. 9).
31. a b b c c d e d.
Beispiel: Ritterhaus, Die Treulose.
32. a b a b c c b b c.
Beispiel: Rückerts chines. Schifferlied (Schi-King S. 48).
33. a a b b c c d d e.
Beispiel: Kinkel, Die Stunden verrauschen.
34. a b b c c d d a a.
Beispiel:
(Alexis Adolphi, Die Liebe wacht.)
35. a b a b b c c c c.
Beispiel: Hartmann von Aue (Hagens Minnes. I. 328. 1).
36. a b c a b c d d c.
Beispiel: Gottfried von Nifen (Hagens Minnes. I. 42. 4), Winli
(ebd. II. 30. 5) und von Singenberg (ebd. I. 293. 16).
37. a b c a b c d e a.
Beispiel: Der Püller (Hagens Minnes. II. 69. 1).
38. a b a b c d c d d.
Beispiel: Hawart (Hagens Minnes. II. 163. 2).
39. a b a b c c d d c.
Beispiel: Der Thüring (Hagens Minnes. II. 27. 6).
40. a b c d c e f g f.
Beispiel:
(Paul Julius Jmmergrün, „Ach, wenn ich &c.“)
41. a b c b d e f f e.
Beispiel:
Waldeinsamkeit! (Heinr. Leuthold, Waldeinsamkeit.)
42. a b c b c d e d e.
Beispiel: Schendendorf, Eleonora.
43. a b a b c c d d e.
Beispiel: Konrad Schenk von Landegge (Hagens Minnes. I. 351. 2),
sowie Scheffels Wiedersehen.
44. a b a c c b d d b.
Beispiel:
(Carl Sondershausen, Das Eine.)
45. a b a b c e e c e. (Knapps Prüfungsstrophe.)
Beispiel:
(A. Knapp, Prüfung am Abend.)
46. a b a b c c c d d. (Goethes Hochzeitliedsstrophe.)
Beispiel:
(Goethes Hochzeitslied.)
Jn dieser schönen Strophe dichtete Rückert sein vortreffliches, strophisch
vollendetes Gedicht Chidher. Vgl. auch Freiligrath: Die Freiheit! Das Recht!
47. a b a b b a a b a.
Beispiel: Bernger von Horheim (Hagens Minnes. I. 320. 3). Ferner
Rückert: Könnt ich denken, daß du meiner &c.
48. a b b c d d e e.
Beispiel: Roquette, Unkenlied.
49. a b a b c d e c d.
Beispiel: Kaiser Heinrich (Hagens Minnes. I. 3. 2).
50. a b a b b c d d c.
Beispiel: Platen, An die Diana des Nisen.
51. a b a b b c c d d.
Beispiel: Wilh. v. Heinzenburg (Hagens Minnes. I. 304. 1).
52. a b a a b c c d d.
Beispiel: Schiller, Die Weltweisen.
53. a b b a c d d c e.
Beispiel: Rud. v. Neuenburg (Hagens Minnes. I. 20. 7).
54. a b a a b c c c b.
Beispiel: Herweghs An den König von Preußen (Gedichte eines
Lebendigen).
55. a b b a b a b a b.
Beispiel: Zueignung von Fr. Schlegel (Werke 1825. Bd. 9. S. 5).
§ 207. Die zehnzeilige Strophe.
Die bekannteste zehnzeilige Strophe ist die aus viertaktigen
Trochäen bestehende, im § 173 abgehandelte spanische Decime.
Die deutsche zehnzeilige Strophe findet man vorwiegend bei den
Minnesingern. Fast jeder derselben hat bei seinen zehnzeiligen Strophen= [703]
gebilden ein anderes Schema. Nur einzelne wenige Formen mit dem
Aufgesange a b c a b c und a a b c c b wiederholen sich. Von den
neueren Dichtern wurde die zehnzeilige Strophe nur ausnahmsweise
verwendet. Jeder wählte hierbei eine besondere Form. Nur die
Schemata a b a b c d c d e e und a b a b c c d e e d wurden von
hervorragenden Dichtern wiederholt.
Die Gliederung ist meist unsymmetrisch. Bei der Teilung 5 + 5
ist es nötig, die letzte Strophenhälfte in Etwas von der ersteren zu
unterscheiden, um dem Auseinanderfallen in 2 fünfzeilige Strophen
vorzubeugen.
Die Minnesinger, welche nur dreigeteilte Zehnzeilen bauten, hatten
folgende Gliederung: 2 + 2 + 6 oder 3 + 3 + 4, zuweilen auch
4 + 4 + 2. (Vgl. Hadlaub in Hagens Minnes. II. 290. 21.)
Die übergroße Zahl der zehnzeiligen Strophenkombinationen kann
sich jeder Dichter nach Maßgabe der Kombinationen bei fünf=, acht=
und neunzeiligen Strophen leicht herstellen. Wir beschränken uns
darauf, die in der deutschen Poesie gebräuchlichen Formen vorzuführen,
wobei wir nur solche Beispiele abdrucken, welche der Nachahmung
würdig erscheinen oder originell, neu sind.
Formen der zehnzeiligen Strophe.
1. a a a a c c d e e d.
Beispiel: Heinrich von Sax (Hagens Minnes. I. 93. 4).
2. a a a b c c b d d d.
Beispiel: Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 267. 17).
3. a a b a a b c d d c.
Beispiel: Gottfried v. Nifen (Hagens Minnes. I. 51. 21).
4. a a b c c b d d e e.
Diese von Walther von der Vogelweide wie von Steimar (Hagens
Minnes. II. 154. 1) gebrauchte Strophe, von der sich auch ein Beispiel in
Gödeke-Tittmanns Sammlung (I. Nr. 78) findet, wurde unter den Neueren
nur von Goethe verwendet.
Beispiel:
(Goethe, Die Frösche.)
[704]5. a a b a a b c d c d.
Beispiel: Meister Sigeher (Hagens Minnes. II. 360. 1).
6. a a b a a b c c c b.
Beispiel: Der Kanzler (Hagens Minnes. II. 393. 9).
7. a a b b c c d d e e. (Kopischs Trompeterstrophe.)
Wir finden diese Form zum erstenmal bei Friedrich von Husen (Hagens
Minnes. I. 214. 8) und bei Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes.
I. 260. 1). Goethe wandte sie an in Gleichnis (Jüngst pflückt ich einen
Wiesenstrauß), Hans Hopfen in Vagabunden, Kopisch machte sie durch seinen
zum Volkslied gewordenen Trompeter populär.
Beispiel:
(Kopischs Trompeter. 3 Strophen.)
8. a a b c c b d d d b.
Jhre Bedeutung erhielt diese Strophe durch Geibel. Rückert schrieb in
ihr Die preußische Viktoria.
Beispiel:
(Geibels Lied vom Wein.)
9. a a b b c d d e e c.
Diese von Paul Gerhard in Die goldene Sonne gebrauchte Strophe
erhielt eine freundliche Ausbildung durch Moritz Graf Strachwitz im
Gedicht: Die Jagd des Moguls.
Beispiel:
(Strachwitz, Die Jagd des Moguls.)
10. a a b c c b d e d e. (König Ludwigs Künstlerstrophe.)
Diese bereits von Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 52. 22), ferner
von Jakob v. Warte (ebd. I. 66. 2 und 3) angewandte Strophe hat Schiller
in Das Jdeal und das Leben sowie An die Freunde, Körner in Aspern, und
der als Dichter weit zu wenig gewürdigte große Wittelsbacher König Ludwig
von Bayern in seiner so schönen, dreigeteilten Dichtung An die Künstler neu
zur Bedeutung gebracht. Wir ehren das Gedächtnis des fürstlichen Dichters,
indem wir der Strophe seinen Namen verleihen.
Beispiel:
(König Ludwig von Bayern, An die Künstler.)
11. a a b c c b d e e d.
Wir finden diese Strophe bei dem Thüring (Hagens Minnes. II. 27. 7),
bei Nithart (ebd. II. 100. 2), bei Kost zu Sarne (ebd. II. 133. 7), bei
Friedrich dem Knecht (ebd. II. 169. 2), bei Johannes Hadloub (ebd. II.
279. 2), bei Rumsland (ebd. II. 367. 1), endlich bei Gottfried v. Nifen
(ebd. I. 49. 17).
12. a b a b c d e c d e.
Beispiel: Die Unbefangenen von Annette Droste-Hülshoff.
13. a b a b c d d c e e. (Marseillaise-Strophe.)
Jn dieser von Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 172. 45)
gebrauchten Form dichtete Paul Gerhard sein allbekanntes Kirchenlied: Sollt'
ich meinem Gott nicht singen? Sie ist auch das Schema der weltbekannten
Marseillaise.
Beispiel:
(Die berühmte Marseillaise von Rouget de Lisle. Menzel,
Ges. d. Völker S. 97.)
14. a b a b c d d c d d.
Beispiel: Fehdelied, übers. von Diez (Menzel, Ges. d. Völker. 209).
15. a b c d e f f g h i.
Beispiel: Litthauisches Soldatenlied. (Aus Rhesas Dainos. S. 143.)
16. a b a a b b c d c d. (Beranger-Strophe.)
Beispiel:
(Von Beranger, übers. von Rubens. Menzel, Ges. d. V. 675.)
17. a b b a a b b c c c.
Beispiel: Winli (Hagens Minnes. II. 31. 7).
18. a b a b c d c e e e.
Beispiel: Konrad von Altstetten (Hagens Minnes. II. 65. 3).
19. a b c d d c e f f c.
Beispiel: Der Püller (Hagens Minnes. II. 70. 4).
20. a b a b c c b d d d.
Beispiel: Nithart (Hagens Minnes. II. 102. 3).
21. a b a a b a c d d c.
Beispiel: Nithart (Hagens Minnes. II. 108. 10).
22. a b c b d e d e f f.
Beispiel: Nithart (Hagens Minnes. II. 115. 20).
[707]23. a b c a b c d a c d.
Beispiel: Rost zu Sarnen (Hagens Minnes. II. 131. 3).
24. a b a c | d b d c | e e.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 290. 21).
25. a b c d b c e f e f.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 300. 43).
26. a b b c d d e e f f.
Beispiel: Unumschränkte Liebe von Rambach.
27. a b a b b a a c c c.
Beispiel: Friedr. v. Husen (Hagens Minnes. I. 216. 16).
28. a b c a b c c b c c.
Beispiel: Friedr. v. Husen (Hagens Minnes. I. 217. 18).
29. a b a b c c d d e e.
Wir finden diese Form bereits bei dem Burggrafen von Rietenburg
(Hagens Minnes. I. 218. 3), bei Hartmann v. Aue (ebd. I. 334. 17) und
bei v. Sunegge (ebd. I. 348. 1). Von den Neueren hat sie Hoffmann von
Fallersleben in seinem 2strophigen Gedicht: Sommergang in die Heimat angewandt.
30. a b a b c d e d e c.
Die 3 charakteristischen 10zeiligen Strophen dieses Schema bei Rückert
(Ges. Ausg. II. 70) sind leider im Druck in 6 fünfzeilige auseinander gerissen.
Beispiele:
a.
(Rückert, Ges. Ausg. II. 70. 3 Strophen.)
b.
(Fouqué, Turmwächterlied.)
31. a b a b c c d e d e.
Beispiele: Fouqués Eroberung von Norwegen: (1. Des Königs Begehr.
5 Strophen.) Ferner Goethe, Der neue Amadis. (Die Strophen dieses
Gedichts hängen so lose zusammen, daß sie in Jacobis Jris (II. 78) wie in
den Ged. Ausg. als 5zeilige Strophen gedruckt wurden. Die Zusammengehörigkeit
beweist jedoch der verbindende c=Reim, sowie der Umstand, daß je die
2. Strophenhälfte ein anderes Reimschema hat, als je die erste.)
32. a b c a a b c d d d d.
Beispiel: Wenzel von Behaim (Hagens Minnes. I. 8. 1).
33. a b c a b c c d e d.
Beispiel: Rudolf von Neuenburg (Hagens Minnes. I. 19. 4).
34. a b c d b c d e e d.
Beispiel: Kraft von Toggenburg (Hagens Minnes. I. 21. 2).
35. a b c a b c d e e d.
Dieser beliebten Strophe mit 6zeiligem Aufgesang begegnen wir bei
Konrad von Kirchberg (Hagens Minnes. I. 24. 2), Heinr. v. Frauenberg
(ebd. I. 95. 1), Friedr. dem Knecht (ebd. II. 168. 1), Nithart (ebd. II.
120. 31), Konrad Schenk v. Landegge (ebd. I. 366. 11; 358. 14; 360.
18; 363. 22), von Wildonie (ebd. I. 347. 2), Otto zum Turne (ebd.
I. 344. 4), Gottfried v. Nifen (ebd. I. 50. 18), Schenk von Limburg (ebd.
I. 132. 3) und Burkard v. Hohenfels (ebd. I. 208. 16; 209. 17).
Chamisso schrieb in ihr Der neue Ahasverus, wobei die Verkürzung der letzten
Zeile ein freundliches strophisches Charakteristikum verleiht.
36. a b c a b c d d e e.
Ebenso häufig, als die vorige, finden wir diese Form bei Gottfr. von
Nifen (Hagens Minnes. I. 57. 34), Ulrich v. Wintersteten (ebd. I. 150. 9),
Reinmar d. Alten (ebd. I. 193. 42), Burkard v. Hohenfels (ebd. I. 207.
13), Walther von der Vogelweide (ebd. I. 252. 62), Walther von Metz
(ebd. I. 307. 2), Rubin (ebd. I. 314. 9), Otto von Botenlauben (ebd.
I. 32. 13), Stamhein (ebd. II. 77), Nithart (ebd. 118. 24).
37. a b c a b c d d d c.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 45. 9) und Winli
(ebd. II. 28. 1).
38. a b c a b c d e d e.
Außer Gottfried v. Nifen (Hagens Minnes. I. 54. 26) hat in dieser
Strophe gedichtet: Jakob von Warte (ebd. I. 67. 6), Walther v. d. Vogelweide
(ebd. I. 230. 12), Nithart (ebd. I. 116. 22).
39. a b c a b c d d d d.
Beispiele: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 61. 28) und Heinr.
v. Sax (ebd. I. 94. 5).
40. a b a b c d c c d d.
Beispiel: Herwegh, Champagnerlied.
41. a b b a c c d d e e.
Diese Strophe ist eigentlich Verbindung einer Vierzeile a b b a mit 3
Reimpaaren.
Beispiel: Heinr. v. Stretlingen (Hagens Minnes. I. 111. 2). Ferner
W. Müller, Am Feierabend.
42. a b a a b a a b b a.
Beispiel: Heinrich v. Morungen (Hagens Minnes. I. 129. 27).
43. a b a a b a c c d d.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 166. 35).
44. a a b b b c c d d e.
Beispiel: Lingg, Vehme.
45. a b a b c c b d b d.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 177. 8).
46. a b c a b d e e f f.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 185. 25).
47. a b a b a b c c c b.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 196. 49).
48. a b a b c d d d d c.
Beispiel: Burkard v. Hohenfels (Hagens Minnes. I. 205. 8).
49. a b b a c c d e e d.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 240. 35).
50. a b a b c d e d e f.
Beispiel: Der Vorige a. a. O. I. 248. 53.
51. a b a b c d c c d d.
Beispiel: v. Sachsendorf (Hagens Minnes. I. 301. 4).
52. a b a b c d d e e c.
Beispiel: Wilh. v. Heinzenburg (Hagens Minnes. I. 304. 4).
53. a b c a b c d d b c.
Beispiel: Winli (Hagens Minnes. II. 30. 4).
[710]54. a b a b c d c d e e. (Feodor Löwes Schwesternstrophe.)
Diese Strophe mit dem charakteristisch abschließenden Reimpaare findet
sich bei Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 244. 44), Burkh.
v. Hohenfels (ebd. I. 204. 7) und Walther von Metz (ebd. I. 309. 7).
Haller hat seine didaktische Dichtung Die Alpen in dieser Strophe gedichtet,
Schiller Die Macht des Gesanges (Ein Regenstrom aus Felsenrissen), Geibel
den Frühling (I. 232), Lingg Die Kinder Kreuzfahrt, Freiligrath Hurrah
Germania, Kinkel seinen Grobschmied. Feodor Löwe hat sie in seinem
3strophigen Gedicht: Den Schwestern (Dichtungen, Leipzig. 1871. S. 83)
verbreitet, weshalb sie seinen Namen tragen möge.
Beispiel:
55. a b a b c c d e e d. (Schillers Habsburgstrophe.)
Wir finden diese beliebte Strophe bei Reinmar dem Alten (Hagens
Minnes. I. 175. 3) und bei Walther von Prisach (ebd. II. 141. 2). Jn
Gödeke-Tittmanns Sammlung finden sich 2 Beispiele (Nr. 64 und 65). Jos.
Christian Günther dichtete in ihr sein bekanntes Gedicht: Auf den Frieden von
Passarowitz 1718 (Gedichte 1764. S. 95). Zu geistlichen Liedern verwandten
sie: Spengler (Durch Adams Fall ist ganz verderbt), Opitz (O Licht geboren
aus dem Lichte), Paul Gerhard (Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld),
Julius Sturm (Nimm Christus in dein Lebensschiff), Gerok (Kidron). Außerdem
schrieben treffliche Dichtungen in dieser Form: Schiller (Graf von Habsburg,
und Die Blumen), Hagedorn (Der Wein), Voß (Das Begräbnis, und
Knecht Robert), Chamisso (Chios), Schmidt von Lübeck (Paul Gerhard, mit
verlängerter Schlußzeile), Herm. Lingg (Lepanto und Normanenzug), Geibel
(Fragment und Minnelied), Herwegh (Frühlingslied und Morgenzuruf),
Freiligrath (Ungarn) u. A.
Beispiele:
a.
(Schiller, Graf von Habsburg.)
[711]b.
(Julius Sturm, Lied.)
56. a b c c d b a e f c.
Beispiel: Rückert, das Lachen.
57. a b a a b a a a c c.
Beispiel:
(Goethe.)
58. a b a b c c b d d d.
Beispiel: Rückert, Fliegentod.
59. a a b a b c d c d d. (Körners Kynaststrophe.)
Beispiel:
(Körner.)
60. a b c d e c f g h g.
Beispiel:
(Rückert.)
61. a a b b a c c d d c.
Beispiel: Wahnsinn von Fr. Schlegel (Werke 8. 212. 2 Strophen).
62. a b a b c d e e c d.
Beispiel: Vorwort zu Uhlands Gedichten, wobei die Versschlüsse
„Versāmmĕltĕn“ &c., „blǖhĕndĕ“ &c. als Daktylen zu lesen sind. (Vgl. § 74.
Beispiele B. S. 238 d. B.)
(Uhland.)
63. a b a b c d d e e f.
Beispiel: Mörike, Feuerreiter.
64. a b c d e b e f g h.
Beispiel: Gestörter Tiefsinn von Rückert.
65. a a b c c b d d d e.
Beispiel: Ulrich von Liechtenstein (Hagens Minnes. II. 51. 37).
66. a a b c c b d d b d. (Rückerts Schnitterengelstrophe.)
Beispiel:
(Rückert, Erscheinung der Schnitterengel.)
Ähnlich ist sein General Vandamme gedichtet (a a b c c b d d e b).
[713]67. a a b c c b d d c b. (Rückerts Lebensweisheitsstrophe.)
Beispiel:
(Rückerts Lebensweisheit.)
68. a b a b c d c c c d.
Beispiel: Herwegh, Eine Erinnerung (Gedichte eines Lebendigen).
69. a a b c c b d e f e.
Beispiele: Schiller, Hero und Leander. Ferner Lektüre von E. v. Colbe
(Gedichte. Berlin 1873. S. 63).
70. a b b a c d e e d c.
Beispiele: Voß, Wohllaut, sowie Ländliche Stille.
71. a b a a b c d d c d.
Beispiel: Bürgers Lied von der Einzigen.
72. a b a b c d d d d e.
Beispiel: Körner, Aus der Ferne.
73. a b a b a b c c d d.
Beispiel: Körner, Troubadour.
74. x x x x x x x x x x.
Beispiel: Macassarisches Liebeslied (Talvj Volkslieder S. 73).
§ 208. Die eilfzeilige Strophe (Undezime).
Diese Strophe, welche wir in 37 Gestaltungen bei den Minnesingern
finden, ist bei den neueren Dichtern nur in 18 Formen vertreten,
welch letztere freilich durch ihre charakteristisch schöne Bauart
fast sämtlich der Nachahmung wert erscheinen dürften. Auffallend ist
die Thatsache, daß nur in 9 Fällen die gleiche Form wieder benützt
wurde; die meisten Dichter haben sich neue Kombinationen gebildet.
Die 11zeilige Strophe ist unsymmetrisch gegliedert. 26 Formen
dieser Strophe haben bei den Minnesingern die Gliederung 3 + 3 + 5,
fünf 2 + 2 + 7 (namentlich bei Walther v. d. Vogelweide und [714]
Hartmann von Aue); die übrigen 4 + 4 + 3 (namentlich bei Winli
und Nithart). Jn der Neuzeit hat Franz Dingelstedt diese Strophe
zur Bedeutung gebracht. Sein „Seestück aus Holland“ (1845) besteht
aus 20 prächtig gebauten Undezimen.
Formen der eilfzeiligen Strophe.
1. a a a b c c c b d d b.
Beispiele: Aufruf wider die Hussiten (Liliencrons Sammlung Nr. 57;
sowie Soltaus Sammlung histor. Volksl. Nr. 2 des II. Hunderts).
2. a a a b b a a c d d c.
Beispiel: Wachsmuth von Mülnhusen (Hagens Minnes. I. 327. 5).
3. a a b c c b d e d d e.
Beispiel: Der Kanzler (Hagens Minnes. II. 391. 5).
4. a a b a a b c a c c b.
Beispiel: Konrad von Würzburg (Hagens Minnes. II. 323. 21).
5. a a b d d b e c e e c.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 291. 23).
6. a a b c c b d d e e b.
Beispiel: Heinrich Teschler (Hagens Minnes. II. 130. 13).
7. a a b c d d b c e e e.
Beispiel: Nithart (Hagens Minnes. II. 104. 6).
8. a a b c c b d e d d f.
Beispiel: Marschall von Raprechtswyl (Hagens Minnes. I. 342. 1).
9. a a b c c b d d e e e.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 200. 42).
10. a a b c d d b c b b c.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 166. 34).
11. a a b c c b c b d d b.
Beispiel: Heinrich von Morungen (Hagens Minnes. I. 128. 26).
12. a a b c c b d e e e d.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 56. 31).
13. a a b c c d e f f d g.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 49. 16).
14. a a b a a b c d c d e.
Beispiel: Derselbe a. a. O. I. 43. 6.
[715]15. a a b c c b d e f f e.
Beispiel: Friedr. von Leiningen (Hagens Minnes. I. 26. 1).
16. a a b b c c c c d d d. (Körners Sturmstrophe.)
Beispiel:
(Körner, Männer und Buben.)
17. a a b b c c d d e e e.
Beispiel:
(Rückert, Altdeutscher Liebesbrief.)
18. a a b a a b a a a a b.
Beispiel:
(Rückert, Lieder und Sprüche 191.)
19. a b a b b c c d e e d.
Beispiel: Herzog Johann von Brabant (Hagens Minnes. I. 17. 8).
20. a b c d a b c d e e e.
Beispiel: Graf Rudolf von Neuenburg (Hagens Minnes. I. 19. 6).
[716]21. a b c d a b c d e e f.
Beispiele: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 41. 1) und Heinrich
v. Sax (ebd. I. 92. 2).
22. a b c a b c d e e e d.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 52. 23).
23. a b c a b c d d a b c.
Beispiel: Wernher v. Honberg (Hagens Minnes. I. 64. 5).
24. a b c a b c d a d d a.
Beispiel: Heinr. Frauenberg (Hagens Minnes. I. 95. 2).
25. a b c a b c d e d e d.
Beispiel: Schenk von Limburg (Hagens Minnes. I. 132. 2), sowie
Rubin (Hagens Minnes. I. 313. 7).
26. a b c a b c d e d e c.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 151. 10).
27. a b a b c c c b e e e.
Beispiel: Der Vorige a. a. O. I. 161. 27.
28. a b c a b c d d e f e.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 182. 15).
29. a b a b c d d c e f e.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 239. 33).
30. a b b c d e f g h i e.
Beispiel: Die Waise, litth. Volkslied (aus Rhesas Dainos. 2. Aufl.
S. 49).
31. a b c a b c a a d e e.
Beispiel: v. Johannsdorf (Hagens Minnes. I. 322. 4).
32. a b a a c d a e d c f.
Beispiel: Bligge v. Steinach (Hagens Minnes. I. 326. 1).
33. a b a b c c c d b b d.
Beispiel: Hartmann v. Aue (Hagens Minnes. I. 332. 12).
34. a b c a b c d d e e d.
Beispiel: Konrad v. Landegge (Hagens Minnes. I. 359. 17), sowie
Johannes Hadloub (ebd. II. 286. 12. und II. 295. 32.)
35. a b c a b c d d d e e.
Beispiel: Christian Lupin (Hagens Minnes. II. 21. 4).
36. a b c d e b c d e a d.
Beispiel: Winli (Hagens Minnes. II. 30. 6).
37. a b c a b c d d e e c.
Beispiel: Konrad von Altstetten (Hagens Minnes. II. 64. 2).
38. a b c a b c d e d e e.
Beispiel: Goeli (Hagens Minnes. II. 78. 1).
39. a b c a b c d e e d c.
Beispiel: v. Buwenburg (Hagens Minnes. II. 262. 5).
40. a b b a a b b a b b b.
Beispiel: Rückerts An Blandusias Quelle (Ges. Ausg. V. 28).
41. a b a b a b a a b a b.
Eine durch nur zwei Reime sich auszeichnende Form.
Beispiel: Rückerts Gnad' und Dank (Ges. Ausg. VII. 439).
42. a a b a a b c d d d b.
Beispiel: Konrad von Würzburg (Hagens Minnes. II. 317. 10).
43. a b a b c c b d e d e. (Geibels Nachtstrophe.)
Beispiel:
(Geibel, Gute Nacht.)
44. a a a b b b c c d d d. (Maßmanns Turnerstrophe.)
Beispiel:
(Maßmann, Wanderlied der Turner.)
45. a b a b c c d e d d e.
Beispiel: Alfred Klars Lied vom Leide. 5 Strophen.
46. a b a b c d c d c e e. (Dingelstedts Seestrophe.)
Beispiel:
(Dingelstedt, Seestück aus Holland. 20. Strophe.)
Jn demselben Schema ist noch Chamissos Mäßigung und Mäßigkeit
gedichtet, 6 Strophen, deren fünfte 4 lateinische und 1 französische Verszeile
enthält.
47. a b a b c d c d e e a.
Beispiel:
(Morhofs Schlachtlied aus dem 17. Jahrh. Menzel, Ges. d. Völker 213.)
48. a b b a c d d a e f a.
Beispiel: Rina, venetianisches Liedchen (Agrumi von Kopisch S. 25).
2 Strophen.
49. a b a b c d c d e e e.
Beispiel:
(Rückert, Frühhauch.)
50. a b b a a b b a c c c.
Zwei persische Vierzeilen mit dreizeiligem Abgesang.
Beispiel: Rückerts Abschied (Ges. Ausg. II. 515. 5 Strophen).
51. a b a b a b a b c c c.
Eine Siciliane mit angefügter Dreizeile.
Beispiel: Rückerts Verschließung (Ges. Ausg. II. 309).
52. a b b a c c b c b b b.
Beispiel: Rückerts „Hast mit halbem Scherz gefragt“ (Kindertotenl. 169).
53. a b a b c d c d e e d.
Beispiel: Goethe, Der Gott und die Bajadere. (9 Strophen.) Ferner
Körner, Bundeslied vor der Schlacht.
54. a b b a a b a c d c d.
Beispiel:
(Rückert, Ges. Ausg. VII. 319.)
55. a b b a c c c d e e d.
Beispiel: Der Winter von Beranger, übers. von Rubens (Menzel,
Ges. d. Völker S. 632).
56. a b c b c d e f g h d. (Schefers Gewitterstrophe.)
Beispiel:
57. a b a b c c c d e d e. (Bodenstedts Frühlingsstrophe.)
Beispiel:
(Bodenstedt IX. 21.)
§ 209. Die zwölfzeilige Strophe (Duodezime).
Die zwölfzeilige Strophe ist von den Minnesingern noch häufiger
angewandt worden als die 11zeilige. Wir finden bei ihnen 42 Formen
derselben, während die sämtlichen namhaften neueren Dichter nur
wenige Kombinationen aufweisen, von welchen noch dazu einige bei
den Minnesingern bereits vertreten sind.
Die Gliederung der zwölfzeiligen Strophe ist bei den Minnesingern
2 + 2 + 8, oder 3 + 3 + 6 oder 4 + 4 + 4. Die erstere
Form ist die seltenere (vgl. Walther von der Vogelweide, Hartmann [721]
von Aue, Der tugendhafte Schreiber); die beiden letzteren Formen
finden sich in gleicher Häufigkeit. Die älteren Formen dieser zwölfzeiligen
Strophen sind so planvoll und so architektonisch verständnisvoll
aufgebaut, wie wir etwas Ähnliches bei den Neueren nicht nachzuweisen
vermögen. Zum Beweis geben wir übersetzt nur eines von
den vielen Beispielen:
(Konrad von Würzburg.)
Welch reiche Kombinationszahl bei der zwölfzeiligen Strophe möglich ist,
ergiebt schon der Hinblick auf die Kombinationsmöglichkeit der achtzeiligen.
Die neu hinzukommenden 15 Kombinationen der letzten 4 Zeilen können einzeln
an die 225 Kombinationen der achtzeiligen Strophe angefügt werden, wodurch
sich 15 × 225 == 3375 Kombinationen ergeben, die noch durch eine Durchsetzung
der einzelnen Zeilen mit reimlosen Zeilen erheblich vermehrt werden.
Formen der zwölfzeiligen Strophe.
1. a a b c c b d e e b d d.
Beispiel: Rost von Sarnen (Hagens Minnes. II. 133. 8).
2. a a b c c b d e f d e f.
Diese von Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 271. 79)
gebrauchte Strophe hat Rückert mit charakteristisch verlängerter Schlußzeile angewandt.
Beispiel:
(Rückert.)
[722]3. a a b c | d d b c | a a e e.
Beispiel: Fr. v. Sunenburg (Hagens Minnes. II. 357. 4).
4. a a b c c b d e d e f f.
Beispiel: Bruder Wernher (Hagens Minnes. II. 227. 1).
5. a a b c c b d d e f f e. (Frauenehrenton Reinmars von
Zweter.)
Beispiele: Reinmar von Zweter (Hagens Minnes. II. 177. 2) und
Konrad von Würzburg (ebd. II. 326. 28).
6. a a b c | d d b c | e e f f.
Beispiele: Steimar (Hagens Minnes. II. 159. 13) und Tanhuser
(ebd. II. 93. 11).
7. a a b c c b d d e e f f.
Beispiel: Steimar (Hagens Minnes. II. 157. 9) und Gerok, Christus
am Meer.
8. a a b a c a d a e a f a.
Beispiel: Fr. Rückert, Die ausgehende Lyrik.
9. a a a b c c c b d d d b.
Beispiel: Eberhard von Sax (Hagens Minnes. I. 68. 1).
10. a a b c c b d d b e e b.
Beispiel: Heinrich von Meißen (Hagens Minnes. I. 13. 5).
11. a a b c c b d d e f f f. (Nicolais Türmerstrophe.)
Beispiel:
(Geibel, Türmerlied.)
Jn ganz gleichem Schema und Metrum ist das ähnlich beginnende bekannte
Kirchenlied Nicolais (1558─1608) gedichtet (vgl. württ. Gesangbuch
Nr. 634), von welchem Geibel seine Form entlehnte.
12. a a b b b c c d d e e e.
Beispiel: Rückert, Das mündliche Wort.
[723]13. a a b b c c d d e e f f. (Goethes Recensentenstrophe.)
Diese von Konrad von Landegge gebrauchte Form (Hagens Minnes. I.
357. 12) hat uns Goethe in seinem Recensenten erhalten. Rückert hat zwei
Gedichte in diesem Schema gedichtet (Lieder und Sprüche S. 12).
Beispiel:
(Goethe, der Recensent.)
14. a a b a b b a b a c c a.
Beispiel:
(Rückert, Lieder und Sprüche. 166.)
15. a a b b c c d d d d d d.
Beispiel: Rückert, Jung bleiben wir (Lieder u. Sprüche 4).
16. a b b a c d c d e f e f.
Beispiel: Chinesisches Frühlingslied von Fr. Rückert (Schi-King S. 103).
17. a b b a c d c d a b b a.
Beispiel: Sicilianisches Ständchen in Silchers Volksmelodien I. S. 7.
18. a b b c a d d c e f f e.
Beispiele: Joh. Hadloub (Hagens Minnes. II. 284. 9), Nithart
(ebd. II. 110. 13) und Konrad v. Landegge (ebd. I. 359. 16 und 361. 19).
19. a b b a | c d c e | f g g f.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 249. 57).
[724]20. a b b c a d d c c e e c.
Beispiel: Heinr. v. Morungen (Hagens Minnes. I. 120. 2).
21. a b b c b c a c d e e d.
Beispiel: Rückert, Das schlechteste von Allem (Lieder u. Sprüche 155).
22. a b a b a b a b a b a b.
Beispiel: Ausgleichung von Rückert (Ges. Ausg. II. 177. 2 Strophen).
Ebenso Mignon (Dieselbe) von Goethe I. 129.
23. a b c a b c a b c a b c.
Beispiel:
(Rückert.)
Diese Strophe ist durch die c=Reime vor dem Auseinanderfallen in
4 dreizeilige Strophen geschützt.
24. a b a b c a c c a a b a.
Beispiel: Schneller Wechsel, von Rückert (Ges. Ausg. II. 388).
25. a b a b b a c c a c c a.
Beispiel: Rückerts Gründonnerstag (Ges. Ausg. VII. 187).
26. a b a b a b c c d d d d.
Beispiel:
(Rückert, Traurige Frühlingsbotschaft.)
[725]27. a b a b c d c d e f e f. (Geibels Spielmannsstrophe.)
Geibel hat diese Strophe durch sein weitgesungenes vierstrophiges Spielmanns
Lied populär und berühmt gemacht. Offenbar leuchtete ihm bei der
Komposition derselben das vorige Rückertsche Schema (Nr. 26) vor, dem sie
namentlich im 4zeiligen Refrain ähnelt, obwohl letzterer bei Rückert flüssig ist.
Zuerst hat diese Strophe angewandt Reinmar der Alte (Hagens Minns. I.
200. 60) sowie Der tugendhafte Schreiber (ebd. II. 152. 11), welcher
gliederte 2 + 2 + 8. Jn derselben finden wir noch folgende Dichtungen:
Opitz' Alcide und Diana, Hölderlins Diotima, Goethes Sendschreiben (Werke II.
182. 3 Strophen) und Herkömmlich (Werke II. 302), Schillers Auf den Tod
eines Jünglings, Klage der Ceres (11 Strophen), Uhlands Das Herz für unser
Volk, Paul Gerhards 6strophiges, bei Abschluß des westphälischen Friedens
gedichtetes Friedenslied, Freiligraths Leipzigs Toten! Rückerts 6strophiges
Kindertotenlied Euer Locken, sowie endlich Graf Strachwitz' 5strophiges Gedicht
Der gefangene Admiral.
Beispiel:
(Geibel, Spielmanns Lied.)
28. a b a b c b c b d e d e.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 278. 1).
29. a b c | a b c | d e f g g e.
Beispiel: Gottfried von Straßburg (Hagens Minnes. II. 266. 1).
30. a b c | d e c | f g h i k k.
Beispiel: Waltram von Gresten (Hagens Minnes. II. 160. 3).
Die Strophe schließt in höchst berechneter Weise die beiden 3zeiligen
Stollen mit dem c=Reim ab, dagegen den Abgesang mit dem charakteristischen
Reimpaare k k.
31. a b c a b c c d d e e f.
Beispiel: Joh. Hadloub (Hagens Minnes. II. 297. 36).
32. a b a b b c b c d c d c.
Beispiel: Joh. v. Brabant (Hagens Minnes. I. 15. 1).
[726]33. a b c a b c d e d e f f.
Beispiele: Otto v. Botenlauben (Hagens Minnes. I. 32. 14) und
Albrecht v. Heigerlen (ebd. I. 63. 1).
34. a b c d a b c d e e e a.
Beispiel: Heinrich v. Veldeke (Hagens Minnes. I. 37. 9).
35. a b c d e f a b c d e g.
Beispiel: Gottfried v. Nifen (Hagens Minnes. I. 60. 45).
36. a b c a b c d d e e f f.
Beispiel: Christian v. Hamle (Hagens Minnes. I. 112. 1).
37. a b b a | a b b a | b a a b.
Zwei persische Vierzeilen mit Abgesang.
Beispiel: Rückerts Maler-Traum (Ges. Ausg. I. 564).
Ähnlich ist Rückerts „O mögen mir den Tag die Götter schenken“ (nämlich:
a b b a | a b b a | a b a b).
38. a b a b c c c c b b b b.
Beispiele: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 152. 12 und
170. 41).
39. a b a b c d c d e e f f.
Dieses von Hartmann von Aue (Hagens Minnes. I. 330. 5), von
Brennenberg (ebd. I. 336. 4) und Walther von der Vogelweide (ebd. I.
229. 11) gebrauchte Schema hat uns Kinkel im Gedicht Heimwärts erhalten.
40. a b c a b c a b c a a c.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 194. 46).
41. a a b c d d c c e e f f.
Beispiel: Roquette, Brautfahrt.
42. a b a b c d c d e f f g.
Beispiel: Burkhard v. Hohenfels (Hagens Minnes. I. 202. 4).
43. a b | a b | c c d e f f d.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 239. 34).
44. a b c a b c e f e f e f.
Beispiel: Walther v. Metz (Hagens Minnes. I. 308. 6).
[727]45. a b c b d e e f f f f g.
Beispiel:
(Bußlied aus Lange's kirchl. Hymnologie S. 619.)
46. a b c a b c d e d e d e.
Beispiel: Rubin (Hagens Minnes. I. 311. 2).
47. a b | a b | c c d e f f d e.
Beispiel: Hartmann v. Aue (Hagens Minnes. I. 328. 2).
48. a b a c e b e c f f g g.
Beispiel: Konrad v. Landegge (Hagens Minnes. I. 352. 4).
49. a b a c d b d c e b e c.
Beispiele: Ulrich v. Liechtenstein (Hagens Minnes. II. 34. 6) und
Goethe, Nachgefühl (I. 47).
50. a b c d a b c d d b b b.
Beispiel: v. Munegür (Hagens Minnes. I. 62. 1).
51. a b a b a b a b c c c b.
Beispiel: Liebesglück von Bernard de Ventadour, übersetzt von Diez
(Menzel, Ges. d. Völker S. 249).
52. a b a b c d c d e e e e.
Beispiel:
(Ludw. Tieck, Nacht.)
[728]53. a b a b c d c d a b a b.
Diese Form ist durch Geibelsche Dichtungen beliebt geworden. Wie im
Schema Nr. 27 schließt er auch hier durch einen 4zeiligen Refrain charakteristisch
ab. Vgl. O stille dies Verlangen! (3 Strophen) und Gondoliera.
Beispiel:
(Geibel, Gondoliera.)
54. a b c b d e f g h i k l.
Beispiel: Donna Maria de Padilla. (Aus Geibels Volksliedern der
Spanier. S. 122.)
55. a b c b | d e f e | g h i h.
Beispiel: Chamissos Don Quixote.
56. a b c d e f a g h i k l.
Beispiel: Leop. Schefers Wonn' über Wonn'. 1 Strophe.
57. a a b b c c d d e f e f.
Beispiel: Schillers Kampf mit dem Drachen.
58. x x x x x x x x x x x x.
Bei den beiden Strophen Nr. 54 und 56 findet sich je 1 (vielleicht
zufälliger) Reim; bei dem vorstehenden Schema sind sämtliche Zeilen reimlos.
Es nähert sich dieses Schema der Oden- und Dithyrambenform. Die in demselben
gedichteten Strophen charakterisieren sich als Teilganze durch die syntaktische
Pause an ihrem Schlusse und durch den flüssigen Kehrreim bei ihrem
Beginn. Die Strophe gleicht einem großen Gefäß, welches Raum hat für
einen reichen Jnhalt. Die nachstehende künstliche Reimspielstrophe Rückerts
entspricht diesem Schema im Hinblick auf die Verszeilenschlüsse und dem Anfangsrefrain.
Dieselbe kann jedoch wegen des Binnenreims auch gebrochen
geschrieben werden, und dann erscheint sie als mustergültig abgerundete, geschlossene
Vierundzwanzigzeile mit dem Schema: a b b c c d d e e f f g g
h h i i k k l l m m a, so zwar, daß der Schlußreim das Echo des Reims
der Anfangszeile wird.
Beispiel:
(Rückerts Kindertotenlieder 5.)
§ 210. Die dreizehnzeilige Strophe.
Diese unsymmetrische Strophe ist von den Neueren nur ausnahmsweise
angewendet worden. Wir begegnen ihr bei Leop. Schefer, bei
dem sie aus reimlosen Versen besteht; ferner bei Schiller (Einer
jungen Freundin ins Stammbuch); bei Rückert (Ges. Ausg. VII. 150;
Kindertotenl. 354; Schi-King S. 188); beim Kuhreihen aus dem Haslithal
(Kretzschmers Volksl. II. 309) und bei Franz Jahn („Mosel
und Rhein“ in Alldeutschland v. Müller v. d. Werra 1871, S. 343).
Ausgiebiger wurde sie von den Minnesingern verwertet. Von 24
freundlichen Formen haben 12 die Gliederung 4 + 4 + 5; 10 gliedern
sich: 3 + 3 + 7 und nur zwei 2 + 2 + 9. Eine 13zeilige fremde
Form ist bekanntlich die im § 171 abgehandelte Kanzone.
Jnteressant ist die Thatsache, daß keine einzige 13zeilige Form
sich wiederholt, daß somit jeder Dichter seine besondere Kombination
erfunden hat.
Formen der dreizehnzeiligen Strophe.
1. a a a b | c c c d | e d d d e.
Beispiel: Goesli von Ehenhein (Hagens Minnes. I. 347. 1).
2. a a a b | c c c b | b d d d b.
Beispiel: Regenbogen (Hagens Minnes. II. 309. 1).
3. a a a b | c c c d | e f e e f.
Beispiel: v. Trostberg (Hagens Minnes. II. 72. 5).
4. a a a | b b b | c d c d d e e.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 153. 14).
5. a a b | c c b | d e d e f f g.
Beispiel: Walther Sigeher (Hagens Minnes. II. 361. 4).
6. a a b | c c d | e e f g g f f.
Beispiel: Ulrich v. Liechtenstein (Hagens Minnes. II. 47. 24).
[730]7. a a b c | d d b c | e c c e c.
Beispiel: Graf v. Toggenburg (Hagens Minnes. I. 23. 7).
8. a a b | c c b | d d e f f e b.
Beispiel: v. Hohenburg (Hagens Minnes. I. 34. 5).
9. a a b a | c c b c | d e f f d.
Beispiel: Wernher v. Teufen (Hagens Minnes. I. 109. 3).
10. a a b | c c b | d d d b e e e.
Beispiel: Ulrich v. Wintersteten (Hagens Minnes. I. 163. 31).
11. a a b | c c b | d d e f f g g.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 226. 2).
12. a a b b c d d c e e f f c.
Beispiel:
(Fang-Schus Kriegslied. Rückerts Schi-King S. 188.)
13. a a b b c c a a d d e e e.
Beispiel:
(Rückert, Ges. Ausg. VII. 150.)
14. a b b c | a d d c | e a e e e.
Beispiel: Heinr. v. Weißensee (Hagens Minnes. II. 22. 1).
[731]15. a b b c b c b c b c b c b.
Beispiel:
(Rückert, Ges. Ausg. V. 319.)
16. a b c d | a b c d | e f e e f.
Beispiel: Gottfr. v. Husen (Hagens Minnes. I. 42. 3).
17. a b | a b | c d e e d f f f f.
Beispiel: Heinr. v. Stretlingen (Hagens Minnes. I. 110. 1), 3 Strophen
mit je vierzeiligem, aus verkürzten Zeilen bestehenden Schlußrefrain.
18. a b c | a b c | d e d e f f f.
Beispiel: Schenk v. Limburg (Hagens Minnes. I. 131. 1).
19. a b c | a b d | e f e f e g g.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 160. 25).
20. a b c | a b c | d e d e f f e.
Beispiel: Der Vorige a. a. O. I. 167. 34.
21. a b c d | a b c e | d f f g g.
Beispiel: Heinrich v. Rugge (Hagens Minnes. I. 221. 2).
22. a b a b | c d c d | e e f e f.
Beispiel: Konrad v. Landegge (Hagens Minnes. I. 356. 10).
23. a b c d | a b a d | e f e f f.
Beispiel: Tanhuser (Hagens Minnes. II. 90. 7).
24. a b c | a b c | d e d e a f c.
Beispiel: Heinr. Teschler (Hagens Minnes. II. 128. 8).
25. a b | a b | c c b b b d e e d.
Beispiel: Friedrich der Knecht (Hagens Minnes. II. 170. 5).
[732]26. a b c a | d e f a | g h g h h.
Beispiel: Neuneu (Hagens Minnes. II. 172. 2).
27. a b c d | a e e f | d g g h h.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 292. 26).
28. a b c d e c f c g h i i h.
Beispiel:
(Kuhreihen aus dem Haslithal. Kretschmer II. Nr. 309. S. 557.)
(Bei einer, durch die Binnenreime ermöglichten gebrochenen Schreibung
dieser Strophe wird dieselbe zur Achtzehnzeile mit dem Schema: a a b b c d d
e e c f f c g h i i h.)
29. a b c a b b c d c b d c d.
Beispiel: Wie ich den Brief gesiegelt, von Fr. Rückert. (Kindertotenl.
S. 354.)
30. a b a b c c d e e d f f g.
Beispiel: Schiller, Einer jungen Freundin in's Stammbuch (2 Strophen).
Ähnlich Der heilige Martin von Chamisso. (a b a b | c c d e e d | f f d.)
31. a b a b c c d d d e e f f.
Beispiel:
(Franz Jahn, Alldeutschland S. 343.)
[733]32. a b c b a c c d e e d f f.
Beispiel: Lob der Frauen von Fr. Schlegel. (Werke 8. 121. 6 Str.)
33. a x x x x x x x x x x a x. (Schefers Liebesstrophe.)
Beispiel:
(Leop. Schefer.)
(Der a=Reim ist jedenfalls nicht beabsichtigt, somit diese Strophe reimlos.)
§ 211. Die vierzehnzeilige Strophe.
Die deutsche 14zeilige Strophe ist bei den Minnesingern in
16 Formen vertreten. Jn der neueren poetischen Litteratur findet sie
sich häufiger als die 13zeilige. Kopisch, Sallet, Goethe, Rückert,
Gottschall, Karl Beck, Hoffmann von Fallersleben und Bodenstedt
sind ihre hauptsächlichsten Bearbeiter.
Goethe, der in „Rastlose Liebe“ mit Jamben beginnt, um in
Anapäste und Daktylen überzugehen, schließt eine freundliche Vierzehnzeile
im Zauberlehrling durch einen 6zeiligen Refrain. Rückert, der
in seiner einreimigen Lobstrophe eine der originellsten Vierzehnzeilen
bildet, weiß im Guckkasten sehr geschickt den Rhythmus zu wechseln;
seine alle Gebiete berührende, im beweglichen Jambus einherschreitende
Schilderung erhält in den letzten 4 Zeilen jeder Strophe durch den
Trochäus einen Halt, der jedesmal die Rückkehr zum Guckkasten beginnt.
Freundliche, an die Rückertschen selbständig auftretenden Achtzeilen
erinnernde Gebilde sind die Goetheschen Vierzehnzeilen „Séance“
(Bd. II. 199) und „Versus memoriales“ (Bd. II. 238). Die Rückertschen
Vierzehnzeilen zeichnen sich vor den Goetheschen aus durch strophisch
schönen Abschluß, z. B. Das Lob, und Der Stern des Lebens (Rückerts
Ges. Ausg. VII. 131 u. 433) wie durch architektonische Gliederung,
z. B. Zwölf Freier (Ges. Ausg. I. 534). Zwar liebt die Architektonik
der Strophe im allgemeinen keine allzugroßen Gruppen; doch hat Rückert
die Monotonie durch den Wechsel im Reimgeschlecht, durch Verschiedenheit
in der Zeilenlänge und im Rhythmus zu beseitigen verstanden.
Die fremde Form des dreiteiligen Sonetts (§ 165) ist im Grunde
genommen nur eine Vierzehnzeile. (Vgl. besonders S. 534 d. B.)
Am beliebtesten ist die 14zeilige Strophe in der russischen Poesie.
Sie ist die Lieblingsform Puschkins und Lermontoffs.
Bodenstedt hat durch seine mustergültige Übersetzung nunmehr der
14zeiligen Strophe neue Bahnen geöffnet. Jm 5. und 6. Band seiner
gesammelten Schriften finden sich 417 und im 7. und 8 Bande 156
14zeilige Strophen, die sämtlich nach einem, nur hie und da im Abgesang
modifizierten Schema gebildet sind.
Die Gliederung der 14zeiligen Strophe ist bei den Minnesingern
4 + 4 + 6 oder 3 + 3 + 8 oder (bei Walther v. d. Vogelweide)
5 + 5 + 4.
Formen der vierzehnzeiligen Strophe.
1. a a a a a a a a a a a a a a.
Beispiel:
(Rückert, Das Lob.)
2. a a a b | c c c b | d e e e e d.
Beispiel: Kraft v. Toggenburg (Hagens Minnes. I. 22. 5).
3. a a a b | c c c b | d e d f f e.
Beispiel: Gottfr. v. Straßburg (Hagens Minnes. II. 266. 2).
4. a a b c | c d e e | f g g h i i.
Beispiel: Trinklied für Philister von W. Müller.
5. a a a b | c c c b | d d e e e d.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 60).
6. a a b b c c d d e e f f g g.
Beispiel:
(Rückert, Zwölf Freier.)
7. a a b b c c d d e e f g f g. (Sallets Rosenstrophe.)
Beispiel:
(Sallet, Die erwachte Rose. Ges. Ged. 46.)
8. a a b a b a b a a a b a a b.
Beispiel:
(Rückert, Ges. Ausg. VII. 433.)
9. a b b c c a d e d e f g f g.
Beispiel:
(Aus Karl Becks Janko, der ungarische Roßhirt.)
10. a a b | c c b | c d e d e f f g.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 160. 14).
11. a a b | c c b | d d d b e f f e.
Beispiel: Der Vorige. Band I. 154. 16.
12. a a b c | d d b c | e b e b g g.
Beispiel: Hardegger (Hagens Minnes. II. 134. 1).
13. a a b b c c d d e e f f c c. (Heinzelmännchenstrophe.)
Beispiel:
(Kopisch, Die Heinzelmännchen.)
14. a b c d | d c b e | f g f g f h.
Beispiel: Gottfr. v. Nifen (Hagens Minnes. I. 53. 25).
15. a b c d | a b c d | e f e f g g.
Beispiel: Ulrich v. Wintersteten (Hagens Minnes. I. 151. 11).
16. a b c a b c d d d e c f f e.
Beispiel: Ulrich v. Wintersteten (Hagens Minnes. I. 156. 19).
17. a b c | a b c | d d e e f f g g.
Beispiel: Heinr. v. Rugge (Hagens Minnes. I. 220. 1).
18. a b c d e | a b c d e | f g g f.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 233. 20).
[737]19. a b c d | a b c d | e f f g g e.
Beispiel: Meister Sigeher (Hagens Minnes. II. 361. 2).
20. a b a b c d c d e f f g e g. (Goethes Zauberlehrlingsstrophe.)
Als Beispiel s. S. 514 d. B. „Hat der alte Hexenmeister“ &c.
Diese Goetheschen Strophen könnte man füglich auch als Doppelstrophen
bezeichnen.
21. a b a b c c d d e f f e g g. (Bodenstedts Russenstrophe.)
Beispiel:
(Bodenstedts Übersetzung von Puschkins Eugen Onägin. S. Bodenstedts
Ges. Schriften V. S. 13.)
Bei mehreren Strophen hat Bodenstedt das Schema a b a b c d c d
e f e f g g und andere unwesentliche Modifikationen angebracht. Vgl. Ges.
Schriften Bd. VIII. 29, 30, 31, 32, 33, 82, 124, 125 u. s. w.
22. a b c b d b e b f b g b h b.
Beispiel:
23. a b a b c d c d e e f f g g. (Rückerts Guckkastenstrophe.)
Beispiel:
(Rückerts Guckkasten. Ges. Ausg. II. 104.)
24. a b a b a b a b a b a b a b.
Beispiel: Rückerts Selbst (Ges. Ausg. VII. 394).
25. a a b b c c d d e e f f g b.
Beispiel: Mädchenwünsche von Goethe (O fände für mich &c.
Werke II. 241).
26. a a b c b c d e d e f f g g. (Hoffmann v. F. Unkenstrophe.)
Beispiel:
(Hoffmann v. Fallersleben, Die Frösch und die Unken.)
27. a b a b c d c d e e f g f g.
Beispiel:
(Zum Neuen Jahr 1871 v. Rud. Gottschall.)
28. a a b b c d c d e f e f g g. (Rittershaus' Freimaurerstrophe.)
Beispiel: „Freimaurer sind wir und wir bleiben frei“ von Emil
Rittershaus. (4 Strophen.)
§ 212. Die fünfzehnzeilige Strophe.
Diese Strophe kommt weit seltener vor als die vorige. Bei
den Minnesingern begegnen wir ihr nur in 11 Formen. Die Gliederung
ist in 6 Fällen 3 + 3 + 9, in 5 Beispielen 4 + 4 + 7
und einmal 5 + 5 + 5. Von den neueren Dichtern hat die Strophe
schöne Anwendung gefunden bei Goethe, Lenau und bei Rückert, der
noch in seiner allerletzten Zeit in ihr dichtete; ferner bei Gustav
Pfarrius, dem beliebten Dichter des Nahethals, und bei Kobell, dem
berühmten Pfälzerdialekt-Dichter. Wiederholungen des gleichen Schemas
finden sich nirgends.
Formen der fünfzehnzeiligen Strophe.
1. a a a a a a a a a a a a a a a.
Beispiel:
(Wilh. Müllers „Mein!“ I. 28.)
2. a a a a a | b b b b b | c c c c c.
Beispiel: Schulmeister von Eßlingen (Hagens Minnes. II. 139. 9).
[740]3. a a a b | c c c b | d d e e e e b.
Beispiel: Konrad von Würzburg (Hagens Minnes. II. 329. 34).
4. a a b | c c b | d d e f g g e f e.
Beispiel: Schulmeister von Eßlingen (Hagens Minnes. II. 137. 1).
5. a a b c | d d b c | e f e f f e f.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 303. 69).
6. a a b | c c b | d d e f g g e f e.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 257. 70).
7. a a b c | d d b c | e e f g g f c.
Beispiel: Walther v. Breisach (Hagens Minnes. II. 140. 1).
8. a a b c c b b d d e e a a f f.
Beispiel: Goethes Legende (Werke II. 199).
9. a b b c | a b b c | d e e e f f e.
Beispiel: Christian v. Lupin (Hagens Minnes. II. 20. 1).
10. a b c a b a b b a c a b a b a.
Beispiel:
(Rückert, Lieder und Sprüche. S. 211.)
11. a b b a | c d d c | e e f f e g g.
Beispiel: Ulrich v. Wintersteten (Hagens Minnes. I. 169. 39).
12. a b c | a b c | d d d e f f f e e.
Beispiel: Wolfram v. Eschenbach (Hagens Minnes. I. 285. 3).
13. a b c d | a b c d | e a c a f f f.
Beispiel: Der Thüring (Hagens Minnes. II. 26. 3).
[741]14. a b a c | a b a c | d d c e e f f.
Beispiel: Kirchherr zu Sarnen (Hagens Minnes. II. 132. 4).
15. a b a b c c d e d e f f g g h. (Pfarrius Winterstrophe.)
Beispiel:
(G. Pfarrius, Jm Winter.)
16. a b b c c d d e e f g g h h i.
Beispiel: S'Hedlbergerfaß von Kobell (Gedichte in hochdeutscher und
pfälzischer Mundart. S. 149).
17. a b a b c c d d e e f f g g g.
Beispiel: Roquette, Weihnachtslied.
18. x x x x x x x x x x x x x x x.
Beispiel: Der Steyrertanz (Lenaus Gedichte 1843. II. 55).
Die Schemata a a b c c b d e d e f g f g g und a a a b c c c b d e
d e f g g, welche sich in Tiecks Übersetzung der Minnelieder (Tiecks sämtl.
Werke Bd. 20. S. 301 und 44) finden, stimmen nicht mit dem Original
(vgl. Hagens Minnes. II. 390. 9 und I. 25. 5), wo die entsprechenden
Strophen 19= und 17zeilig sind.
§ 213. Die sechzehnzeilige Strophe.
Die sechzehnzeilige Strophe ist die Lieblingsform des Schenks
Ulrichs von Wintersteten, der sie in nicht weniger als 5 Kombinationen
bietet. Wir finden außerdem noch 12 Kombinationen derselben bei
den Minnesingern mit der Gliederung a. einmal: 2 + 2 + 12,
b. dreimal: 3 + 3 + 10, c. sechsmal: 4 + 4 + 8, d. sechsmal:
5 + 5 + 6, e. einmal: 6 + 6 + 4. Einer schönen Bildung
dieser Form begegnen wir bei Konrad von Würzburg mit dem Aufgesang
3 + 3, und einem 5zeiligen Abgesang, zu welchem ein sich
anschließender, 5zeiliger, stehender Refrain gehört.
Von den neueren Dichtern haben 16zeilige Kombinationen gebildet:
Goethe, Emil Edel, Emil Rittershaus, Osk. v. Redwitz, Jul.
Grosse, Fr. Rückert, der mehrere Formen geschaffen hat, Herm. Löper
und Kobell. Von den sämtlichen Sechzehnzeilen ist nur die aus
Reimpaaren gebildete wiederholt worden, und zwar von Goethe, Rittershaus,
Grosse und Löper.
Nicht selten erscheint die 16zeilige Strophe wie 2 unverbunden
an einander gereihte achtzeilige Strophen. Jm Weihnachtslied Rückerts
verhindert nur der Reim das Auseinanderfallen in zwei Achtzeilen.
Ähnlich ist es bei Goethes Beispiel der Fall.
Zuweilen treten die 16zeiligen Strophen als selbständige Gedichte
auf, ähnlich den vielen Rückertschen Oktaven, oder wie es im Sonett
bei der 14zeiligen der Fall ist. Doch gehören in der Regel mehrere
Strophen zu einem Gedichte.
Formen der sechzehnzeiligen Strophe.
1. a a b b c | d d e e c | b f f g g b.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 282. 6).
2. a a b b c | d d e e c | b f f g g b.
Beispiel: Der Vorige ebd. II. 293. 28.
3. a a b b c | d d e e c | f g g h h f.
Beispiel: Der Vorige ebd. II. 299. 41.
4. a a b c d | e e b c d | f d f f b b.
Beispiel: Der Tanhuser (Hagens Minnes. II. 96. 15).
5. a a b b c | d d e e c | f g g h h f.
Beispiel: Konrad von Landegge (Hagens Minnes. I. 362. 21).
6. a a b c c b c d d e e e f g f g.
Beispiel:
7. a a b b c c d d e e f f g g h h. (Hermann v. Löpers
Weinstrophe.)
Diese Form ist unter den 16zeiligen Formen die einzige, welche von
verschiedenen Dichtern angewandt wurde: von Julius Grosse (in Devise),
Hermann v. Löper (Liebesgedanken beim Wein), Emil Rittershaus (Nach dem
Sturm), Goethe (Das garstige Gesicht II. 235), v. Kobell (Der Windwurf,
vgl. dessen Gedichte in oberbayerischer Mundart, S. 100).
Beispiel:
(Hermann v. Löpers Liebesgedanken beim Wein.)
8. a b b c d | a e e c d | f f g h h g.
Beispiel: Frauenlob (Hagens Minnes. II. 350. 4).
9. a b a b c c d e f g f g h h d e.
Beispiel:
(Rückerts Weihnachtslied.)
[744]10. a b a b a b c c d e d e d e c c.
Beispiel: Heimweh (O Land, das mich so gastlich aufgenommen) in
Gedichte eines Lebendigen (Herwegh).
11. a b c | a b c | b d d b c ‖ e e b b e. (Konrads von Würzburg
Musterstrophe.)
Beispiel: Konrad von Würzburg (Hagens Minnes. II. 314. 4).
Waniger wunne bilde
geschepfet hat
meie mit der künste sin.
Seht, wie das gebilde
gebluemet stat!
es git pfellel varben schin.
Da bi bekleidet sich der walt,
Der hat der loube ein wunder;
suessen sank darunder
vil manikvalt
singent wol diu vogelin.
Sumerzit
vröude git
unt wunneklichen rat:
hei! was er nu vröuden hat,
Der liebe nahe lit! (3 Strophen.)
(Konrad von Würzburg.)
12. a b c d | c b a d | e f e f g h g h.
Beispiel: Fr. v. Sunenburg (Hagens Minnes. II. 352. 1).
13. a b c d | a b c d | e f e f g h g g.
Beispiel: Der Kanzler (Hagens Minnes. II. 396. 16).
14. a b c | a b c | d e f d e f g g h h.
Beispiel: Reinmar der Alte (Hagens Minnes. I. 178. 10).
15. a b c d | a b c d | e e e f g g g f.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 234. 23).
16. a b c d e f g h i k l m n d o p.
Beispiel: Amor und die Biene von C. M. de Villegos. (Übersetzt
von Hoffmann.)
17. a b a b c d c d e f e f g h g h.
Beispiel: Symbole von Goethe (Werke II. 216) sowie Emil Edels
Geographischer Unterricht; ferner Oskar v. Redwitz: An Napoleon.
18. a b a b c d d c e f e f g h g h.
Beispiel: Goethe, Gellerts Monument von Öser (Werke II. 27).
[745]19. a b a b c d c d e b e b f g f g. (Otto Roquettes Jlsestrophe.)
Beispiel:
(Otto Roquette, Der Prinzessin Jlse Liebeswerben.)
20. a b c b c d e d e f g h h g i i.
Beispiel: Roquette, Sterne sind schweigende Siegel.
21. a b c b | d e f e | g h g h i i k k.
Beispiel: Ulrich v. Wintersteten (Hagens Minnes. I. 162. 28).
22. a b a b | c d e d | f g f g h i h i.
Beispiel: Der Vorige ebd. I. 163. 30.
23. a b c d | a d b c | e e f g h i i h.
Beispiel: Der Vorige ebd. I. 164. 32.
24. a b | a b | c d c d e e f f g g h h.
Beispiel: Der Vorige ebd. I. 165. 33.
25. a b c b d e f e g h i h k l m l.
Beispiel:
(Goethe, Frühling über's Jahr.)
§ 214. Die siebenzehnzeilige Strophe.
Dieser unsymmetrischen Strophe begegnen wir nur bei sieben
Minnesingern. Jhre Gliederung ist dreimal 4 + 4 + 9, dreimal
5 + 5 + 7 und einmal 2 + 2 + 13. Von den neueren Dichtern
bedienen sich ihrer: Goethe, Rückert, Bodenstedt ─ und in der Übersetzung
aus dem Persischen Tholuck. Man findet neben einstrophigen
siebenzehnzeiligen Gedichten auch solche, welche aus mehreren 17zeiligen
Strophen bestehen. Das gleiche Schema ist nirgends wiederholt. Bei
Goethe (Werke VI. 158) findet sich ein 17zeiliges Sonett mit dem
Reimschema: a b b a a b b a c d e e c d und d f f. (S. § 165.
S. 535 d. B.)
Formen der siebenzehnzeiligen Strophe.
1. a a a a b | c c c c b | d d d d d e b.
Beispiel: Gottfr. von Nifen (Hagens Minnes. I. 47. 14).
2. a a a b | c c c b | d e d d e f f f f.
Beispiel: Konrad von Kirchberg (Hagens Minnes. I. 25. 5).
3. a a a b | c c c b | d e e e e d f a f.
Beispiel: Der Kanzler (Hagens Minnes. II. 391. 11).
4. a a b b c | d d e e c | c f g g h h.
Beispiel: Johannes Hadloub (Hagens Minnes. II. 288. 17).
5. a a b b c | c d d e e | a f a g g h h.
Beispiel: Liebe herrscht überall! Von Ferideddin Attar, übers. von
Tholuck (Die ganze Welt ein Marktplatz ist der Liebe).
6. a a b b c c d d d e e f f g g h h.
Beispiel: Dank für eine Einladung von Rückert (Lieder und Sprüche
S. 147).
7. a a b b c c d d e c e f f e c e c.
Beispiel: Witz und Gefühl von Rückert (Ges. Ausg. VII. 35).
8. a a b b b c b c b d d e c e c d d.
Beispiel: Gefahr des Lobes von Rückert (Ges. Ausg. VII. 118).
[747]9. a b c d e b f a e g f a g h i h i.
Beispiel:
(„Die Jtaliener in Rußland“ vom Grafen Leopardi, übers. v. Kannegießer.)
10. a b b c | a d d c | e e f f c g g g c.
Beispiel: Schenk von Limburg (Hagens Minnes. I. 132. 4).
11. a b | a b | c c d d e e f f g g h h g.
Beispiel: Nithart (Hagens Minnes. II. 113. 14).
12. a b c d e | a b d d e | f g f g c h e.
Beispiel: Heinrich Teschler (Hagens Minnes. II. 128. 7).
13. a b c d e f g b h d i k l m n o p.
Beispiel: Dankbarkeit von Fr. Rückert (Ges. Ausg. VII. 133).
14. a b a b b c d c d e e e f f g g f. (Rückerts Goldbergstrophe.)
Beispiel:
(Rückerts Lieder und Sprüche, 49.)
15. a b a b c d d d c e f g g h h i i.
Beispiel:
(Goethe, Geist und Schönheit im Streit. II. 218.)
16. a b a b c d e c d e f f g h g h g.
Beispiel: Jch Glücklicher der Glücklichen von Bodenstedt (Mirza-Schaffy
S. 18. Nr. 13).
§ 215. Die achtzehnzeilige Strophe.
Die achtzehnzeilige Strophe kommt nur in vier Formen bei den
Minnesingern vor und zwar mit der Gliederung 3 + 3 + 12, sowie
4 + 4 + 10. Dagegen findet sie sich auffallenderweise häufiger bei
neueren Dichtern: bei Goethe, Rückert, Fastenrath, Melch. Meyr,
Bodenstedt, in der Sammlung Alldeutschland, in der Sammlung von
Talvj, sowie im „Geist des Orients“ von Günsburg. Gedichte, die
aus mehreren 18zeiligen Strophen bestehen, hat nur Rückert geschaffen.
Bei den übrigen Dichtern treten die 18zeiligen Strophen als selbständige
Gedichte auf ähnlich wie das vierzehnzeilige Sonett, oder die
achtzeilige Stanze. Die Bildung dieser Form verlangt Kenntnis der
Gesetze der Strophik, um das Auseinanderfallen in 2 neunzeilige oder
3 sechszeilige Strophen zu verhüten. (Vgl. S. 732. Nr. 28.)
Formen der achtzehnzeiligen Strophe.
1. a a b b c c d d e e f f g g h h i i.
Jn dieser Form haben gedichtet: Melchior Meyr (Was ist Liebe?) und
Rückert (Ges. Ausg. VII. 113 und VII. 393 und Lieder und Sprüche
S. 162) sowie Joh. Fastenrath (Ein Gebet).
Beispiel:
(Rückert, Der Zeichenbedürftige. Ges. Ausg. VII. 393.)
2. a a b a b a c a c a c a c a c a c a.
Beispiel: Rückerts Zuruf an seine Kinder (Kommt, art'ge Sommerdöckchen).
3. a b a b | c c c b | d d e e f f f f g g.
Beispiel: Ulrich von Wintersteten (Hagens Minnes. I. 157. 21).
4. a b c d | a b c d | e f g e f g h i h i.
Beispiel: Der Vorige ebd. I. 158. 22.
5. a b c | a b c | c d e d e c f f g h h g.
Beispiel: Der Vorige ebd. I. 171. 43.
6. a b a b | c d c d | e f e f g g g h h h.
Beispiel: Tanhuser (Hagens Minnes. II. 92. 10).
7. a b c d e f g h i k i l m n o p q r.
Beispiel: Goethe Aus einem Stammbuch von 1604 (Werke II. 87).
(Diese Strophe wird wohl als reimlos zu betrachten sein, da der i=Reim
jedenfalls dem Zufall zuzuschrieben ist.)
8. a b a b c c d e d e c c f g f g c c.
Beispiel: Die Rose von Toul (in Alldeutschland von Müller von der
Werra 1871. S. 161).
9. a b a b c d c d e e f g f g e h e h.
Beispiel: Bodenstedts Jch weiß, was der Prophet verhieß (Mirza-Schaffy
S. 131. 1).
10. a b c a b c a b c a b c a b c a b c.
Beispiel: Daß ich also die ganze Nacht &c. von Rückert (Kindertotenlieder
S. 166).
11. a a a a a a a a a a a a a a a a a a.
Beispiel:
(Franz Dingelstedts ? ? ? ?)
12. x x x x x x x x x x x x x x x x x x.
Beispiele: Wermut (Aus dem Serbischen, in Talvjs Sammlung II. 72.)
sowie Arabisches Frühlingslied (Jn Geist des Orients von Günsburg S. 191).
§ 216. Die neunzehnzeilige Strophe.
Eine höchst seltene unsymmetrische Form, die immerhin wirkungsvoll
sein kann, wenn die Zeilen kurz und gereimt sind. (Vgl. Beisp. 2.)
Nur bei den Minnesingern giebt es Gedichte, die aus mehreren
19zeiligen Strophen bestehen. Bei den Neueren bildet jede 19zeilige
Strophe ein abgeschlossenes Gedicht. Die Gliederung bei den Minnesingern
ist durchweg 5 + 5 + 9.
Formen der neunzehnzeiligen Strophe.
1. a a a a b, c c c c b, d e d e f f f f e.
Beispiel: Nithart (Hagens Minnes. II. 124. 39).
2. a a a b b c c d d d e e f f a g g a a.
Beispiel:
(Rückerts Lieder und Sprüche S. 48.)
3. a a b b c c d d e e f f g g h h i i i.
Beispiel: An Christian von Stockmar von Rückert (Lieder und Sprüche
S. 161).
4. a a a b c | d d d b c | e e e f f f f g g.
Beispiel: Konrad von Würzburg (Hagens Minnes. II. 316. 8).
5. a b a b c | a b a b c | d d e f f g e g c.
Beispiel: Der Marner (Hagens Minnes. II. 246. 11).
6. a b a c c | d b d e f | g h g h i k i k k.
Beispiel: Der Kanzler (Hagens Minnes. II. 388. 2).
7. a b c d e f g h i k l m n o p q r f s.
Beispiel:
(Anakreon, Die Brut des Eros. Übers. von Seeger.)
(Da der f=Reim jedenfalls unabsichtlich eintrat, so darf die Strophe wohl
als reimlos betrachtet werden.)
§ 217. Die zwanzigzeilige Strophe.
Obwohl die 20zeilige Strophe symmetrischen Bau zuläßt, so
findet sie sich doch ebenso selten als die 19zeilige. Wir begegnen ihr
bei vier Minnesingern, deren einer ─ der Kanzler ─ eine erstaunliche,
nur von Rückert erreichte Reimgewandtheit dadurch beweist, daß
er bei jeder 20zeiligen Strophe seines aus 3 Strophen bestehenden [752]
Gedichts nur je einen einzigen Reim anwendet. Die Gliederung ist
6 + 6 + 8. Nur Walther von der Vogelweide gliedert 4 + 4 + 12.
Ein kunstreiches, aus acht 20zeiligen Strophen bestehendes Gedicht
mit originellem strophischem Charakteristikum findet sich in Ellissens
Thee- und Asphodelos-Blüten S. 22. Die Übersetzer Tieck (Werke
XX. 81) und Günsburg (Geist des Orients, S. 185) bedienen sich
bei den 20zeiligen Strophen zehn aufeinanderfolgender Reimpaare.
Auch Uhland liebte die Reimpaare, aber er wiederholte den Reim in
einzelnen Paaren des Strophenschlusses. Rückert, Bodenstedt u. A.
wandten willkürliche Reimkombinationen an.
Formen der zwanzigzeiligen Strophe.
1. a a a a a a a a a a a a a a a a a a a a.
Beispiel:
Leider Winter ungestalt,
uz wert halt,
din gewalt
sere smalt,
din kraft duldet bruch und spalt,
din mül niht mer malt.
Sank der vogelin ungezalt
din engalt,
unt der walt;
des dich schalt
spruch der werlte manikvalt:
nu ist din runs verswalt.
Wol uf, reigen, jung und alt!
snewe sint versnalt;
werdiu jugent, du wesen salt
vröude balt,
leit verschalt,
trostes walt,
sit verstozen und vervalt
sint die rifen kalt. (3 Strophen.)
(Der Kanzler in Hagens Minnes. II. 394. 13.)
2. a a a b | c c c b | d d d e f f f e g g g e.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 254. 67).
3. a a b b c c d d e e f f g g h h i i k k.
Beispiel: Weibertrost (Ein altes Weib sprach zum Propheten &c., aus
Geist des Orients von Günsburg S. 185). Ähnlich Tieck (XX. S. 81:
Viel liebe Sommerwunne von Rubin).
4. a a b b c c d e e d f f g g h h i k k i.
Beispiel:
(Nonnenklage a. d. Chinesischen. Ellissens Thee= u. Asphodelosblüten. S. 22.)
5. a a b b c c d d e e f f g g b b k k d d.
Beispiel: Uhlands Zimmerspruch (Das neue Haus ist aufgericht't).
6. a b a b b c | d e d e e f | g g g h i i i k.
Beispiel: Marner (Hagens Minnes. II. 241. 13).
7. a b b c c d | a b b c c d | e f f g g f f d.
Beispiel: Konrad von Würzburg (Hagens Minnes. II. 325. 26).
8. a a a b b c c c d d e e f g f g f g f g.
Beispiel: „Was ist doch Mirza-Jussuf ein vielbelesner Mann!“ von
Bodenstedt (Mirza-Schaffy S. 97).
9. a a b b c c c c d e d e f g f g h i i h.
Beispiel: Mein Lehrer ist Hafis &c. von Bodenstedt (Mirza Schaffy,
S. 32).
10. a a b b c c d d e e f f g g b b h h i i.
Beispiel: Das Fingerhakeln von Michael Thill (Alldeutschland von
Müller v. d. Werra 1871. S. 181).
11. a b a b c d c d e f e f g h g h i k i k.
Beispiel: Franz v. Kobells Rees'hinnernis (S. 139 der Gedichte in
hochdeutscher und pfälzischer Mundart).
12. a b c b d c e f g h i h k g c g l m c m.
Beispiel: 's Zitterspiel vom Vorigen a. a. O. S. 28.
13. a b c b d e d e f g h g i k l k m n o n.
Beispiel: Die Bitt' vom Vorigen a. a. O. II. S. 184.
[754]14. a b a b d e f e g h i h k l m l n h i h.
Beispiel: Trinkspruch beim Feste der Zwanglosen zu Ehren der Vermählung
des Kronprinzen von Bayern (War wohl eine schöne Rebe &c.) von
Kobell a. a. O. S. 89.
15. x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x.
Beispiel:
(Anakreons Kampf mit Eros. Übers. v. Drexel.)
§ 218. Überzwanzigzeilige Strophen.
Je mehr Zeilen der Dichter für eine Strophe verwendet, desto
größer wird für ihn die Schwierigkeit, diese Strophe als abgerundetes,
gut verbundenes Teilganzes erscheinen zu lassen, desto eingehendere
Kenntnis der strophischen Technik wird man von ihm verlangen müssen.
Leider geht nachweislich so manchem unserer Dichter die Kenntnis von
den Feinheiten und Gesetzen der Strophik vollständig ab, und dies ist
wohl ein hauptsächlicher Grund, weshalb trotz der Kombinationsmöglichkeit
mehrzeiliger Strophen mit Zunahme der Zeilenzahl ihre
Häufigkeit abnimmt. Findet man schon verhältnismäßig wenige 15─20
zeilige Strophen, so kommen überzwanzigzeilige Strophen in verschwindend
geringer Zahl vor. Meist sind es episch=lyrische Volksdichtungen
von geringerer stofflicher Ausdehnung, welche überzwanzigzeilig
sind, weil ihre Dichter die Kunst der Strophik nicht kannten.
Sie gaben ihre Dichtungen in Reimpaaren in einem Atemzuge, in
einer Strophe, die ─ bei Licht betrachtet ─ oft in 2 oder mehrere
minderzeilige Teile zerlegbar ist. Es ist gewissen Dichtern und dilettierenden
Reimern zu schwer, den Gedanken: d. i. das Material so [755]
zuzuspitzen, daß das Ende desselben mit dem Schluß einer genau
bestimmten Strophe zusammenfällt.
Von Sangbarkeit kann bei überzwanzigzeiligen Strophen dann
wohl die Rede noch sein, wenn sie kurze Zeilen haben. Wenn Geibel
eine langzeilige Zwölfzeile (die Spielmannsstrophe § 209) zum Volksliede
zu erheben vermochte, warum sollte nicht auch eine kurzzeilige
Vierundzwanzigzeile desselben Vorzugs sich erfreuen dürfen! Jn der
Regel haben die langen Strophen nur oratorischen Charakter und
können ─ wie die Odenmaße ─ meist nur als schematische Kunstdichtungen
gelten. Bei den Minnesingern finden wir nur 3 überzwanzigzeilige
Strophen. Die neueren Dichter haben nicht ein einziges
Gedicht, welches aus mehreren überzwanzigzeiligen Strophen bestände,
wohl aber mehrere überzwanzigzeilige Strophen, welche abgeschlossene
kleine Dichtungen bilden. Manche Chorstrophen in Schillers Übersetzung
der Jphigenie von Euripides sind mehr als 20zeilig u. s. w.
Desgl. einzelne Dichtungen und Übersetzungen Platens und Nachahmungen
oder Übersetzungen der Pindarschen Oden &c.
Einzelne Formen überzwanzigzeiliger Strophen.
1. 21zeilige Strophen.
a. Schema: a b a b c d | e f e f c | d g h g h i k i k d.
Beispiel: Walther v. d. Vogelweide (Hagens Minnes. I. 267. 73).
b. Schema: a a b c c d | e e b f f d | g h i h k k k l l.
Beispiel: Marner (Hagens Minnes. II. 236. 2).
2. 22zeilige Strophen.
Schema: a a b c | d d e c | f g f g h h g i i i k g k g.
Beispiel: Tanhuser (Hagens Minnes. II. 91. 9).
3. 23zeilige Strophen.
Schema: a b a b a a c | a b a b a a c | d e d e d e d d e.
Beispiel: Gottfried v. Nifen (Hagens Minnes. I. 50. 20).
Eine 23zeilige Strophe mit 23 a=Reimen, ähnlich dem 20zeiligen
Beispiel des Kanzlers (§ 217. S. 752 d. B.) hat Hoffmann in seinem Hoch
auf Freiligrath geliefert. Es beginnt: „Heil ihm, der den geraden Pfad“,
und der Schluß ist „Ferdinand Freiligrath“.
4. Eine freundliche Vierundzwanzigzeile würde das in gebrochenen Zeilen
zu schreibende Beispiel Nr. 58 S. 728 ergeben.
5. 25zeilige Strophe.
Beispiel: Tieck (Bd. XX. S. 173).
[756]6. 34zeilige Strophe.
Beispiel: Zu den Poesien von Karl Barth von Fr. Rückert:
(Rückert.)
§ 219. Freie Strophen von verschiedener Länge.
Es giebt eine große Anzahl von Gedichten, bei welchen kürzere
und längere Strophen in willkürlicher, bunter Mannigfaltigkeit mit
einander wechseln. Die Länge der einzelnen Strophen ist meist durch
die Ausdehnung des Gedankens bestimmt, der Hauptsache nach ─
d. h. soweit sich ihre Verse nicht an ein bestimmtes Metrum binden
─ haben wir diese Gedichte mit ungleichen Strophen bereits im § 120
mitbehandelt. Es finden sich solche aber noch in den von uns geordneten
und gruppierten Materialien bei:
Tiedge (Elegie auf dem Schlachtfelde von Kunersdorf),
Denis (Abschied von der sichtbaren Welt),
Hebel (Der Wächter in der Mitternacht),
[757]Platen (Bilder Neapels),
Goethe (Harzreise im Winter; Pilgers Morgenlied &c.),
Schiller (Die Glocke &c.),
Rückert (Der Fußwanderer &c.),
Geibel (Herbstlieder II.; Barbarossas Erwachen; Der Tod des
Tiberius &c.),
Annette von Droste-Hülshoff (Die Lerche; Der Heidemann &c.),
Herwegh (Zum Andenken an Georg Büchner),
Heinr. Heine (Der Phönix; Frieden; Morgengruß &c.),
Bodenstedt (Der Terek),
Bechstein (Der Verdrießliche),
Lenau (Der Schiffsjunge; Die Werbung &c.),
Feod. Löwe (Schöpfungsmorgen),
Wilh. Jordan (Dithyrambe; Jdylle &c.),
Fr. Hermann (Pseud. für Obertribunalsrat Dr. Sonnenschmidt in Berlin,
Stubbenkammer; Jn der Nacht; An das Meer &c.),
Scheurlin (Das Glöcklein im Herzen),
Fröhlich (Versorgung; Herablassung),
J. G. Seidl (Das Mühlrad im Winter). Vgl. Bd. IV. S. 272 der
gesammelten Schriften Seidls. Wien 1879. &c. &c.
Jndem wir auf die Beispiele in § 120, S. 376 ff., wo von der
Freiheit in der Versebildung gehandelt wurde, verweisen, zeigen wir
nur noch durch 2 weitere Beispiele, wie die Strophenausdehnung von
der Ausdehnung des Gedankens abhängig ist, so daß also gewissermaßen
die freie Strophe die Konsequenz der freien Verse ist.
Beispiele freier Strophen:
1. Gereimt.
a.
(Friedrich Bodenstedt: Der Terek. Ges. Schriften I. 50, und IX. 165.)
b.
(A. E. Fröhlich, Versorgung.)
2. Ungereimt.
An das Meer.
(Friedr. Hermann.)
§ 220. Eine Zukunftsform.
Trotz unzähliger Strophenformen fehlt in unserer Litteratur eine
Dichtungsform, bei welcher die einzelnen Strophen so fest mit einander
verbunden und in einander gefügt sind, daß keine derselben willkürlich
und ohne Zerreißung der Form im Ganzen weggelassen werden kann.
(Zuerst hat Chr. Kirchhoff in der Dichterhalle 1877 auf die Verdienstlichkeit
der Strophenverbindungen aufmerksam gemacht und dadurch
mehrfache, zum Teil beachtenswerte Vorschläge von achtungswerter
Seite hervorgerufen.)
Für gewisse volksliedartige episch=lyrische Dichtungen ist meines Erachtens
eine Form zu finden, deren einzelne Strophen nicht nur durch den Jnhalt,
sondern auch durch das Reimband zusammengehalten werden, wie dies in der
fremden Sestine allzu künstlich, einfacher aber im Einzelsonett, im Meistersonett,
im persischen Ghasel, in der Terzine, in einzelnen Volksliedern (S. 440 und
441 d. B.) sowie namentlich in der freundlichen malaischen Form (§ 185)
der Fall ist.
Um die einzelnen Strophen fest mit einander zu verketten, könnte man
einen Reim der beginnenden Strophe eines Gedichts in der 1. oder letzten
Zeile der folgenden Strophe wiederkehren lassen, um so das Reimband durch
das ganze Gedicht zu schlängeln und mit der Einheit des Jnhalts auch die
Einheit der äußeren Form zu verbinden. Goethe hat dies in 2 Gedichten versucht
(Nachgefühl I. 47 und der Goldschmiedsgesell I. 25), wenn auch nicht
in unserm Sinn, denn bei ihm kehrt der gleiche Reim wieder, so daß also
leicht eine Strophe wegfallen kann. Rückert bietet ein Gedicht, bei dem der
identische Reim durch das Ganze sich hindurchzieht (vgl. Ges. Ausg. III. 56),
─ eine Verbindung, die freilich nur der identische Reim erreicht, wobei aber
ebenfalls eine oder mehrere Strophen ausgelassen werden können.
Soll eine wirkliche Verkettung sämtlicher Strophen eines Gedichts stattfinden,
so muß sie derart sein, daß das Hinweglassen irgend einer Strophe unmöglich
ist. Durch das Fehlen einer Strophe muß die Form ebenso alteriert werden
wie ein Gebäude durch Hinwegnahme eines Grundsteins. Es muß also ein
Reim der vorhergehenden Strophe immer sein Echo in der nächstfolgenden
Strophe finden u. s. w.
Die Kombinationen der sich ergebenden Reimketten sind reich und so leicht
herzustellen, daß wir von einer Aufzählung derselben füglich absehen können.
Beispielshalber wollen wir nur drei Möglichkeiten der 5zeiligen Strophen herschreiben,
wobei wir die (bei 1 verbindende) reimlose Zeile an den Schluß legen.
1. a b a b c | c d c d e | e f e f g | g h g h i u. s. w.
Oder: 2. a b a b c | b d b d e | d f d f g | f h f h i u. s. w.
Oder: 3. a b a b c | a d a d e | a f a f g | a h a h i u. s. w.
Jn der Form 3 kann leicht eine Strophe ausfallen, weshalb sie hinter
1 und 2 zurücksteht. Noch reicher werden diese Kombinationen, wenn die Strophe
drei reimlose Zeilen hat u. s. w.
Der Dichter Theodor Souchay, mit dem wir diese durch Kirchhoff
angeregte Form bei seinem Weggang nach dem Bodensee besprachen, hat ─
kaum dort angelangt ─ das nachfolgende immerhin mitteilenswerte Beispiel in
Volksversen improvisiert:
Beispiel einer Zukunftsform. Schema: a a b b c | b b d d e | &c.
(Th. Souchay.)
Jn demselben Schema (a a b b x | b b c c x | c c d d x | d d e e x |
e e f f x | f f g g x | g g a a x |) hat B. Blancke auf unsern Vorschlag und
nach dem obigen Vorgang Souchays soeben ein von Winternitz komponiertes
Johannis-Festlied gedichtet, das durch Wiederkehr des a=Reims in der Schlußstrophe
eine erfreuliche Abrundung und eine geschickte Abgeschlossenheit der Form
bewirkt:
(B. Blancke.)
§ 221. Rückblick auf die sämtlichen Strophen.
1. Die aus viertaktigen Versen gebildeten Strophen sind in
unserer Litteratur weitaus überwiegend.
2. Jn Hinsicht auf Zeilenlänge sind die kurzen Zeilen bei längeren
Strophen vorherrschend.
3. Die Strophenlänge wird durch Art und Weise der Ausführung
und durch die Darstellung des Jnhalts diktiert.
4. Als Maximum der Strophenlänge erträgt unser Ohr recht
wohl 12 Langzeilen (vgl. § 209. 27) oder 20 bis 24 Kurzzeilen.
5. Die kunstreiche, verständnisvolle Ausführung verleiht der entsprechenden
Strophenform Bedeutung und Berühmtheit.
6. Großen Spielraum wird dem in die Geheimnisse der Strophik
eingedrungenen Dichter die Behandlung der freien Strophenformen
gewähren. Hierbei dürfte Schillers Lied von der Glocke Vorbild
sein. (§ 157.)
1. Überblicken wir die sämtlichen Strophen, so finden wir, daß dieselben
meist aus 2= bis 6taktigen, in einzelnen Fällen aber auch aus 7= und
8taktigen Versen bestehen. Vorherrschend in der Lyrik sind diejenigen Strophen,
welche aus 4taktigen Versen gebildet sind.
2. Weiter ersieht man, daß die Länge der Verse insofern von der
Strophenlänge abhängig ist, als lange Strophen ─ sofern sie nicht schematische
Kunstdichtungen sein sollen ─ schon der Übersichtlichkeit und der Auffaßbarkeit
halber unbedingt kurze Zeilen haben müssen.
3. Die Strophenlänge ist meistens nur vom Jnhalt des Gedichts
abhängig wie von der Gruppierung des Stoffes. Romanzen, Balladen, singbare
Gedichte haben (Geibels 12zeilige Spielmannsstrophe ausgenommen) in der
Regel keine zu langen Strophen, welch letztere mehr bei schilderndem, erzählendem,
elegischem Jnhalt am Platze sein mögen. Deshalb hat z. B. Rückert
Gedichte wie Schwere Wahl (Ges. Ausg. I. 534), Der Guckkasten (II. 104),
Die Ephemeren (VII. 314), Das Reich der Amoren (I. 537) in langen
Strophen geschaffen. Ebenso Tiedge Elegie, Denis Gruß des Frühlings,
Tieck Sehnsucht, Schiller Lied von der Glocke und Kampf mit dem Drachen,
Hermann Lingg Spartakus, Geibel Der Tod des Tiberius, Strachwitz Der gefangene
Admiral, Lenau Der Schiffsjunge, George Morin Sedan u. s. w.
4. Wie aus den Beispielen des § 117 ersichtlich ist, findet man als
Maximum der Strophenausdehnung 20= bis 35zeilige Strophen. Die letzteren
dürften wohl von keinem Ohre als einheitliche Ganze aufgefaßt werden können.
Jn der Regel ist die 12zeilige Strophe die Grenze lyrischer Dichtungen. Große
Dichter haben aber auch einzelne wertvolle, schöne Bildungen in 13=, 14=,
16= bis 20zeiligen Strophen geliefert. Bei charakteristischer Lautverschiedenheit
der Reime, Einführung markierender Verse, Abwechslung im Rhythmus &c.
machen selbst noch lange kurzzeilige Strophen einen freundlichen Eindruck. Beim
Deklamieren wird das Gefühl erzeugt werden, als ob 2 oder 4 Zeilen je eine
Zeile bilden.
5. Ein Überblick über die von uns aufgerollten möglichen Strophenformen
begründet die Überzeugung, daß der einzelne Dichter seine Kraft
keinesfalls in allen möglichen Formen zu bewähren vermag, daß er aber auch
(etwa die in § 219 erwähnten Formen ausgenommen) durchaus nicht nötig
hat, neuen, unentdeckten Formen nachzusinnen. Sein Genie wird sich in der
richtigen Auswahl der seinem Gefühl und Stoff am meisten entsprechenden
Form nicht vergreifen; es wird aber auch eine untergeordnete, unbekannte
Form zu nie geahntem Glanz erheben können. Nur durch Musterleistungen in
einer bestimmten Form hat sich von jeher der dichtende Genius bewährt, nur
durch eine großartige Leistung wurde die Form berühmt. Tiefer Jnhalt
mit der schönen Form vermählt, schafft reine geistige Kunst!
6. Ein weites Feld ist dem sich von der herkömmlichen Form befreienden
Genius noch in Erfindung jener ungleichen freien Strophen gegeben, die
wir in den §§ 120 und 219 abhandeln konnten. Diese freien Strophen
müssen (wie dies im Lied von der Glocke der Fall ist) den Stempel der
Vollendung tragen. Wie schön sind sie in Der Glocke um ein symmetrisch
geordnetes Strophengerüste gruppiert, wie unvergleichlich bilden die zehn den
Glockenguß behandelnden trochäischen Grundstrophen, die sich im kunstreichen
Bau genau entsprechen, das strophische Gerüste des Ganzen und die Grundlage
für den großen Rhythmus des unübertroffenen Gedichts!
Der Dichter der Neuzeit sollte mehr als seither durch ähnliche Grundstrophen
charakteristische rhythmische Merksteine und Ruhepunkte in freistrophigen
Gedichten setzen, welche den Zweck der Strophenabschlüsse zu erreichen vermögen.
Jedenfalls sollte ein strophisches Charakteristikum auch in freien Strophen
durch Verkürzung oder Verlängerung jener die Abschnitte bezeichnenden Verszeilen
Anwendung finden, oder es sollten Strophenteile eingeflochten werden,
welche dem Rhythmuswechsel Ausdruck verleihen und wie Grundstrophen erscheinen,
wie es Schiller auch sonst noch in Würde der Frauen, im Lied an
die Freude &c. gezeigt hat.
§ 222. Schlußfolgerungen, Vorsätze, Wünsche.
Die Bevorzugung fremder Strophen muß für die Folge der
interessevollen Pflege unserer dem urdeutschen Geiste erblühten deutschnationalen
Strophik weichen.
Ein unendlich weites Feld von deutsch=nationalen
Strophenformen liegt vor uns. Es erweitert sich bis in's Unendliche,
wenn man bedenkt, wie bei jedem Schema eine große Anzahl von Arten
durch Abwechslung des Reimgeschlechts, der Zeilenlänge, des Metrums und
des Rhythmus möglich ist. Angesichts dieser Thatsache ist es zu verwundern,
daß deutsche Dichter in unbegreiflicher Blindheit für den Reichtum deutschnationaler,
zum Teil berühmt gewordener Formen mit stets neuem Eigensinn
vorzugsweise in fremden, antiken und antikisierenden Formen gedichtet haben.
Es ist zu beklagen, daß immer noch genug Dichter ihren Mangel an Sinn für
deutsche Strophik öffentlich zur Schau tragen und die Bevorzugung romanischer
und griechischer Metrik für verdienstlicher halten als die Pflege der deutschen.
Es ist zu beklagen, daß außer den Genien kaum ein einziger Dichter an eine
ästhetische Würdigung deutscher Strophik je gedacht hat. Und doch sind unsere
deutschen Reimstrophen ─ namentlich die 5= und 7zeilige ─ von so glanzvoller
Schönheit wie nur irgend eine der vollendetsten fremden Strophenformen.
Wer die von uns zum Erstenmal mühsam aufgerollte deutsche Strophik verfolgt
hat, wird das Unberechtigte des Platenschen Vorwurfs zugeben:
Denn von den sämtlichen genannten Völkern haben ja nur die Perser
einen größeren Reichtum in der Bildung der einzelnen Verse vor uns voraus,
wofür aber bei ihnen von unserer deutschen Freiheit und Kunst der Strophenbildung
keine Rede sein kann, da sie mit wenig Ausnahmen in dem gleichen
Gedichte stets ganz das nämliche Versschema ohne jegliche Abwechslung in
monotoner Weise wiederholen.
Möge man die Mahnung hören und im neuen deutschen Reich die Vorzüge
auch der deutsch=nationalen Strophik zu erkennen suchen; möge man aus
dem in diesem Buche zum erstenmal praktisch gelieferten Nachweis von dem
unendlichen Reichtum unserer deutschen Strophen deutsche Dichterthätigkeit und
Dichterfähigkeit erkennen lernen! Man wird dann gern die antikisierenden und
fremden Formen nicht eben ausrotten, sich aber doch mit ihnen nur in der
Absicht beschäftigen, das Gute derselben bei Handhabung der echt deutschen,
dem deutsch=nationalen Geist entsprossenen Strophen in Anwendung zu bringen
und mehr als seither einzulenken aus der nachäffenden Bahn des zerrissenen
gemeinsamen Vaterlandes in die Bahn des selbstbewußten neuen Deutschlands
unter der Devise:
Jm neuen deutschen Reich auch eine deutsch=nationale Poetik!
Hiermit schließen wir die Lehre von der poetischen Form ab.
Der lohnenden Aufgabe einer eingehenden Beschäftigung mit dem Jnhalt
der reichen Dichtungen
unserer sämtlichen Dichter bis in die Gegenwart
sowie der Darlegung der einzelnen Dichtungsgattungen
hat der zweite Band nahe zu treten.
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2016). ePoetics_Beyer1. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7AA-7