Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Die Tatsache, daß Sie in Ihren Neujahrsansprachen den Appell an unsere Mitbürger richten, sich den Bemühungen um die Eingliederung behinderter Menschen nicht zu verschließen, besonders jedoch die Worte der Anerkennung und des Bekenntnisses zum Einsatzwillen und der Aufnahme des Behinderten in die Gemeinschaft unseres Staates anlässlich der XXI. Weltspiele der Gelähmten in Heidelberg, ermutigen uns, Ihnen zu schreiben.

Daß Sie in Ihren Äußerungen zur Behindertenfrage nicht davor zurückschrecken, Realitäten aufzudecken, dabei jedoch die ‘Liebe zum Menschen ’ auch in seiner Unzulänglichkeit immer wieder durchklingen lassen, läßt uns hoffen, Ihr Verständnis für unser Anliegen, das wir Ihnen mit diesem Schreiben vorstellen möchten, zu finden. Die Entscheidung, unsere Arbeit materiell zu unterstützen, legen wir mit diesem Brief in Ihre Hand.

Unsere Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde, über deren Bestreben und Wirken die beigefügten Unterlagen unterrichten, will dazu beitragen, behinderte Menschen zu verantwortlichen Staatsbürgern werden zu lassen. Dieses Ziel will sie erreichen, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, sich in der Gemeinschaft mit Nichtbehinderten optimal zu entfalten. Unsere Mitglieder fühlen und tragen Verantwortung für einander, Menschen, die jahrelang in Isolation und Abhängigkeit gelebt und verlernt haben, in einer Gemeinschaft selbständig und verantwortlich zu handeln, erleben bei den Treffen unserer Clubs Solidarität und den Anspruch an sich. Sie erfahren ihre Rechte, aber auch ihre Pflichten als Staatsbürger. Sie lernen in den Clubs und auf gemeinsamen Tagungen die Anwendung demokratischer Spielregeln.

Wir können reale Erfolge aufweisen, die unsere Überzeugung bestätigen, daß es möglich ist, die Eigeninitiative behinderter Menschen zu wecken, und uns auch immer wieder darin bestärken, unser Ziel ist keine Utopie.

Seit Gründung unserer Bundesarbeitsgemeinschaft wurde uns wiederholt nahegelegt, uns an sogenannte ‘Kampfverbände ’ anzuschließen. Sie seien durch ihre wirksamen Aktivitäten in der Sozialpolitik anerkannt. Hier stehen unsere Erfahrungen und Vorstellungen gelegentlich im Gegensatz zum behördlichen Standpunkt.

Wir wollen behinderte Menschen befähigen, sich selbst zu integrieren. Wir meinen, daß er, der bislang aufgrund seiner Behinderung eine Aussenseiterrolle innehatte, keinesfalls an erster Stelle die Mittel des Kampfes, der Konfrontation und der Forderung nach Sonderrechten benutzen sollte, um ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Er soll zunächst lernen, sich in einer kleinen Gemeinschaft zu behaupten, seine eigenen Probleme aufzuarbeiten und seinen Anteil für ein gutes Gruppenleben einzubringen. Er muß sich und andere kennenlernen, von sich aus auf den Nichtbehinderten zugehen mit dem Wissen, daß dieser mindestens ebenso viele Schwierigkeiten und Hemmungen hat, ihn zu verstehen.

Viele von uns haben bislang - mehr oder weniger glücklich- lediglich passiv Hilfe empfangen. Sie erfahren in der Clubgemeinschaft, daß man auch geben muß, um akzeptiert zu werden. Im Kampf findet man höchstens Anerkennung als starker und gefährlicher Gegner[;] Sonderrechte drängen uns nur vermehrt in die Rolle des Aussenseiters. Als aktiver Partner und Mensch kann man nur akzeptiert werden über den Weg der Freundschaft, des gegenseitigen Verständnisses und der daraus erwachsende Toleranz gegenüber dem Partner.

Überlegungen ähnlicher Art gelten auch für einen engen arbeitsmäßigen und organisatorischen Zusammenschluß mir den Elternverbänden.

Wir sind auch hier vom Willen der Verbände überzeugt, uns ehrlich zu vertreten. Wie unsere nichtbehinderten Altersgenossen müssen wir aber lernen, von der Versuchung freizukommen, in kritischen Augenblicken die Verantwortung an Eltern und Betreuer abzugeben.

In der Clubgemeinschaft erlebt jeder von uns intensiv, wie wichtig jede Person ist und Regression in eine Schutzzone in Form der Flucht vor der Verantwortung allen schadet. Jahrzehntelang war der behinderte Mensch nur Objekt. Wir glauben, daß er in der Zukunft nur bestehen kann, wenn neben individueller ( in der Familie ) und kollektiver ( von Seiten der Interessenverbände und des Staates ) Hilfeleistung die eigene Verantwortung, partnerschaftliche Beziehung zum Mitmenschen und daraus erwachsende eigenständige Vertretung seiner Interessen steht.

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Wir gehören auch nicht in einen Verband, der speziell eine Behindertengruppe vertreten will.

Wir wollen die vorbehaltlose Partnerschaft, die keine Grenzen zwischen Behindertengruppen setzt, die auch gelebt wird mit schwerstbehinderten Menschen.

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Jedoch scheitern heute mehr denn je Initiativen aus dem freien Raum- mögen sie noch von so guten Ideen getragen sein, wenn ihnen die materielle Basis fehlt.

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Deshalb bitten wir Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, unser Anliegen wohlwollend zu prüfen und uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Starthilfe zu gewähren.

Mit vorzüglicher Hochachtung!
Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V.

Regina Pickel, 1. Vors.

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Rechtsinhaber*in
Regina Pickel-Bossau

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2018). Quellensammlung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Interessenorganisationen. E7 - Transkript. Geschichte-MMB. Regina Pickel-Bossau. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-D1F4-5