1821, 20. Februar.


Mit Friedrich von Müller
und Clemens Wenzeslaus Coudray

Abends nach 8 Uhr traf ich Coudray bei Goethe. Das Gespräch kam von dem für morgen angekündeten Trauerspiel »Cäsars Tod« auf die Erfurter [80] Periode im Jahre 1808, die Goethe sehr lebhaft Schildern half.

Nach Coudray's Weggang sprachen wir von Knebel's Lucrez, und Goethe erzählte, wie er, um ihn von der vorgehabten polemisirenden Vorrede abzubringen, brieflich die unverfänglichen Gesichtspunkte aufgestellt habe, um Knebeln dabei fest zu halten und ihn productiv und positiv zu machen, wie jedoch jener gleich in der ersten Antwort abgesprungen und sich keineswegs mit Heiterkeit der Aufforderung gefügt habe, daher am Gelingen derselben fast zu zweifeln sei.

Auf die religiösen Ansichten des Lucrez dürfe man sich nämlich gar nicht einlassen; seine Natur-Anschauung dagegen sei grandios, geistreich, erhaben; diese sei zu preisen –; wie er hingegen über die letzten Gründe der Dinge gedacht, gleichgültig. Es habe schon damals eine gewaltige Furcht vor dem Zustande nach dem Tode in den Köpfen der Menschen gespukt, ähnlich dem Fegfeuer-Glauben bigotter Katholiken; Lucrez sei dadurch ergrimmt, in das Extrem verfallen, von dieser Furcht durch seine Vernichtungslehre mit einem Male heilen zu wollen. Man spüre durch das ganze Lehrgedicht einen finstern, ingrimmischen Geist wandeln, der sich durchaus über die Erbärmlichkeit seiner Zeitgenossen erheben wolle. So sei es immer gewesen, auch bei Spinoza und andern Ketzern. Wären die Menschen en masse nicht so erbärmlich, so hätten die Philosophen nicht nöthig, im Gegensatz so absurd zu sein! Lucrez [81] komme ihm in seinen abstrusen Lehrsätzen immer wie Friedrich II. vor, als dieser in der Schlacht von Collin seinen Grenadieren, die eine Batterie zu attaquiren zauderten, zurief: Ihr Hunde, wollt Ihr denn ewig leben?

Ich pries den Zufall, der ihn zum Briefwechsel über diese Vorrede verleitet habe. Da antwortete er: »was thut man denn Bedeutendes, ohne durch einzelnen Anlaß aufgeregt zu sein? Die Gelegenheiten sind die wahren Musen, sie rütteln uns auf aus Träumereien und man muß es ihnen durchaus danken. Knebel hatte leider keine Collectionen über Lucrez, keine Acten, darum werde es ihm schwer, jetzt productiv und positiv zu sein. Da habe ich ganz anders gesammelt, Stöße von Excerpten und Notizen über jeden Lieblingsgegenstand.«

[82]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, 20. Februar. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A837-7