1827, 5. Juli.
Mit Johann Peter Eckermann u.a.
Heute gegen Abend begegnete Goethe mir am Park von einer Spazierfahrt zurückkommend. Im Vorbeifahren winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn besuchen möchte. Ich wendete daher sogleich um nach seinem Hause, wo ich den Oberbaudirector Coudray fand. Goethe stieg aus, und wir gingen mit ihm die Treppen hinauf. Wir setzten uns in dem sogenannten Junozimmer um einen runden Tisch. Wir hatten nicht lange geredet, als auch der Kanzler hereintrat und sich zu uns gesellte. Das Gespräch wendete sich um politische Gegenstände: Wellington's Gesandtschaft nach Petersburg und deren wahrscheinliche Folgen, Kapodistrias, die verzögerte Befreiung Griechenlands, die Beschränkung der Türken auf Konstantinopel, und dergleichen. Auch frühere Zeiten unter Napoleon kamen zur Sprache, besonders aber über den Herzog von Enghien und sein unvorsichtiges revolutionäres Betragen ward viel geredet.
Sodann kam man auf friedlichere Dinge, und Wieland's Grab zu Osmannstedt war ein vielbesprochener Gegenstand unserer Unterhaltung. Oberbaudirector Coudray erzählte, daß er mit einer eisernen Einfassung des Grabes beschäftigt sei. Er gab uns von seiner Intention eine deutliche Idee, indem er die Form des [147] eisernen Gitterwerks auf ein Stück Papier vor unsern Augen hinzeichnete.
Als der Kanzler und Coudray gingen, bat Goethe mich, noch ein wenig bei ihm zu bleiben. »Da ich in Jahrtausenden lebe,« sagte er, »so kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudray's Eisenstäbe um das Wieland'sche Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer künftigen Cavallerie blinken, und ich kann noch dazu sagen, daß ich bereits einen ähnlichen Fall in Frankfurt erlebt habe. Das Wieland'sche Grab liegt überdies viel zu nahe an der Ilm; der Fluß braucht in seiner raschen Biegung kaum einhundert Jahre am Ufer fortzuzehren, und er wird die Toten erreicht haben.«
Wir scherzten mit gutem Humor über die entsetzliche Unbeständigkeit der irdischen Dinge und nahmen sodann Coudray's Zeichnung wieder zur Hand und freuten uns an den zarten und kräftigen Zügen der englischen Bleifeder, die dem Zeichner so zuwillen gewesen war, daß der Gedanke unmittelbar ohne den geringsten Verlust auf dem Papiere stand.
Dies führte das Gespräch auf Handzeichnungen, und Goethe zeigte mir eine ganz vortreffliche eines italienischen Meisters, den Knaben Jesus darstellend[148] im Tempel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er mir einen Kupferstich, der nach dem ausgeführten Bilde gemacht war, und man konnte viele Betrachtungen anstellen, die alle zugunsten der Handzeichnung hinausliefen.
»Ich bin in dieser Zeit so glücklich gewesen,« sagte Goethe, »viele treffliche Handzeichnungen berühmter Meister um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen sind unschätzbar, nicht allein weil sie die rein geistige Intention des Künstlers geben, sondern auch weil sie uns unmittelbar in die Stimmung versetzen, in welcher der Künstler sich in dem Augenblick des Schaffens befand. Aus dieser Zeichnung des Jesusknaben im Tempel blickt aus allen Zügen große Klarheit und heitere stille Entschiedenheit im Gemüthe des Künstlers, welche wohlthätige Stimmung in uns übergeht, sowie wir das Bild betrachten. Zudem hat die bildende Kunst den großen Vortheil, daß sie rein objectiver Natur ist und uns zu sich herannöthigt, ohne unsere Empfindungen heftig anzuregen. Ein solches Werk steht da und spricht entweder gar nicht, oder auf eine ganz entschiedene Weise. Ein Gedicht dagegen macht einen weit vagern Eindruck: es erregt die Empfindungen, und bei jedem andere, nach der Natur und Fähigkeit des Hörers.«
»Ich habe,« sagte ich, »dieser Tage den trefflichen englischen Roman ›Roderik Random‹ von Smollet gelesen; dieser kam dem Eindruck einer guten Handzeichnung [149] sehr nahe. Eine unmittelbare Darstellung, keine Spur von einer Hinneigung zum Sentimentalen, sondern das wirkliche Leben steht vor uns wie es ist, oft widerwärtig und abscheulich genug, aber im ganzen immer heitern Eindrucks wegen der ganz entschiedenen Realität.«
»Ich habe den ›Roderik Random‹ oft rühmen hören,« sagte Goethe, »und glaube was Sie mir von ihm erwähnen, doch ich habe ihn nie gelesen. Kennen Sie den ›Rasselas‹ von Johnson? Lesen Sie ihn doch auch einmal und sagen Sie mir, wie Sie ihn finden.« Ich versprach dieses zu thun.
»Auch in Lord Byron,« sagte ich, »finde ich häufig Darstellungen, die ganz unmittelbar dastehen und uns rein den Gegenstand geben, ohne unser inneres Sentiment auf eine andere Weise anzuregen, als es eine unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut. Besonders der ›Don Juan‹ ist an solchen Stellen reich.«
»Ja,« sagte Goethe, »darin ist Lord Byron groß; seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene Realität, als wären sie improvisirt. Von ›Don Juan‹ kenne ich wenig; allein aus seinen andern Gedichten sind mir solche Stellen im Gedächtniß, besonders Seestücke, wo hin und wieder ein Segel hinausblickt, ganz unschätzbar, sodaß man sogar die Wasserlust mit zu empfinden glaubt.«
»In seinem ›Don Juan‹,« sagte ich, »habe ich besonders [150] die Darstellung der Stadt London bewundert, die man aus seinen leichten Versen heraus mit Augen zu sehen wähnt. Und dabei macht er sich keineswegs viele Skrupel, ob ein Gegenstand poetisch sei oder nicht, sondern er ergreift und gebraucht alles wie es ihm vorkommt, bis auf die gekräuselten Perrücken vor den Fenstern der Haarschneider und bis auf die Männer, welche die Straßenlaternen mit Öl versehen.«
»Unsere deutschen Ästhetiker,« sagte Goethe, »reden zwar viel von poetischen und unpoetischen Gegenständen, und sie mögen auch in gewisser Hinsicht nicht ganz unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer Gegenstand unpoetisch, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen weiß.«
»Sehr wahr!« sagte ich, »und ich möchte wohl, daß diese Ansicht zur allgemeinen Maxime würde.«
Wir sprachen darauf aber die ›Beiden Foscari‹, wobei ich die Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen zeichne.
»Seine Frauen,« sagte Goethe, »sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neuern noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen. Mit den Männern ist nichts zu thun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen.«
»Übrigens,« fuhr ich fort, »haben die ›Foscari‹ wegen der durchgehenden Folterqualen etwas Apprehensives, [151] und man begreift kaum, wie Byron im Innern dieses peinlichen Gegenstandes so lange leben konnte, um das Stück zu machen.«
»Dergleichen war ganz Byron's Element,« sagte Goethe; »er war ein ewiger Selbstquäler, solche Gegenstände waren daher seine Lieblingsthemata, wie Sie aus allen seinen Sachen sehen, unter denen fast nicht ein einziges heiteres Sujet ist. Aber nicht wahr, die Darstellung ist auch bei den ›Foscari‹ zu loben?«
»Sie ist vortrefflich,« sagte ich; »jedes Wort ist stark, bedeutend und zum Ziele führend, sowie ich überhaupt bis jetzt in Byron noch keine matte Zeile gefunden habe. Es ist mir immer als sähe ich ihn aus den Meereswellen kommen, frisch und durchdrungen von schöpferischen Urkräften.« – »Sie haben ganz recht,« sagte Goethe, »es ist so.« – »Je mehr ich ihn lese,« fuhr ich fort, »je mehr bewundere ich die Größe seines Talents, und Sie haben ganz recht gethan, ihm in der ›Helena‹ das unsterbliche Denkmal der Liebe zu setzen.«
»Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit,« sagte Goethe, »niemand gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann: Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben. Auch paßte er übrigens ganz wegen seines unbefriedigten Naturells und seiner kriegerischen Tendenz, woran er [152] in Missolunghi zu Grunde ging. Eine Abhandlung über Byron zu schreiben, ist nicht bequem und räthlich, aber gelegentlich ihn zu ehren und auf ihn im einzelnen hinzuweisen, werde ich auch in der Folge nicht unterlassen.«
Da die ›Helena‹ einmal zu Sprache gebracht war, so redete Goethe darüber weiter. »Ich hatte den Schluß,« sagte er, »früher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verschiedene Weise ausgebildet und einmal auch recht gut; aber ich will es Euch nicht verrathen. Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi, und ich ließ gern alles übrige fahren. Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle? Er ist früher und durchgehends antik gehalten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einem Mal ernst und hoch reflectirend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können.«
»Allerdings,« sagte ich, »habe ich dieses bemerkt; allein seitdem ich Rubens' Landschaft mit den doppelten Schatten gesehen, und seitdem der Begriff der Fictionen mir aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irremachen. Solche kleine Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen.«
[153] »Mich soll nur wundern,« sagte Goethe lachend, »was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit und Kühnheit genug haben, darüber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll. Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und soll.«
Ich freute mich dieses bedeutenden Worts und merkte es mir. Darauf schickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir saßen ohne Licht, die helle Sommernacht leuchtete aus Norden über den Ettersberg herüber.
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