1821, 21. Juli


Mit Carl Gustav Carus

Unter all diesen Betrachtungen war indeß 11 Uhr herangekommen, ja, vorübergegangen, und ich eilte nun, Goethes Wohnung aufzufinden. Gleich beim Eintritt in das mäßig große, im einfach antiken Stil gebaute Haus deuteten die breiten, sehr allmählich sich hebenden Treppen, sowie die Verzierung der Treppenruhe mit dem Hunde der Diana und dem jungen Faun von Belvedere die Neigungen des Besitzers an. Weiter oben fiel die Gruppe der Dioskuren angenehm in die Augen, und am Fußboden empfing den in den Vorsaal Eintretenden blau ausgelegt ein einladendes Salve. Der Vorsaal selbst war mit Kupferstichen und Büsten auf das Reichste verziert und öffnete sich gegen die Rückseite des Hauses durch eine zweite Büstenhalle auf den lustig umrankten Altan und auf die zum Garten hinabführende Treppe. In ein anderes Zimmer geführt, sah ich mich auf's Neue von Kunstwerken und Alterthümern umgeben: schön geschliffene Schalen von Chalcedon standen auf Marmortischen umher; über dem Sopha verdeckten halb und halb grüne Vorhänge eine große Nachbildung des unter dem Namen der Aldobrandinischen Hochzeit bekannten alten Wandgemäldes, und außerdem forderte die Wahl der unter Glas und Rahmen bewahrten Kunstwerke, meistens Gegenstände [91] alter Geschichte nachbildend, zu aufmerksamer Betrachtung auf.

Endlich kündigte ein rüstiger Schritt durch die anstoßenden Zimmer den werthen Mann selbst an. Einfach im blauen Zeugoberrock gekleidet, gestiefelt, in kurzem, etwas gepuderten Haar, mit den bekannten von Rauch herrlich aufgefaßten Gesichtszügen, in gerader kräftiger Haltung schritt er auf mich zu und führte mich zum Sopha. Die zweiundsiebzig Jahre haben auf Goethe wenig Eindruck gemacht; der arcus senilis in der Hornhaut beider Augen beginnt zwar, sich zu bilden, aber ohne dem Feuer des Auges zu schaden. Überhaupt ist das Auge an ihm vorzüglich sprechend, und mir erschien darin zumeist die ganze Weichheit des Dichtergemüths, welche sein übriger ablehnender Anstand nur mit Mühe zurückzuhalten und gegen das Einbringen und Belästigen der Welt zu schützen scheint; doch auch das ganze Feuer des hochbegabten Sehers leuchtete in einzelnen Momenten des weitern mehr erwärmten Gesprächs mit fast dämonischer Gewalt aus den schnell aufgeschlagenen Augen.

So saß ich denn nun ihm gegenüber! Die Erscheinung eines Menschen, welchem ich selbst einen so großen Einfluß auf meine Entwickelung zugestehen mußte, war mir plötzlich nahe gerückt, und ich war umsomehr bemüht, diese merkwürdige Gegenwart genau zu beachten und zu erfassen. Die gewöhnlichen einleitenden Gespräche waren bald beseitigt: ich erzählte [92] von meinen neuen Arbeiten über die Ur-Theile des Knochengerüstes und konnte ihm die Bestätigung seiner frühern Vermuthung über das Dasein von sechs Kopfwirbeln mittheilen. Zur schnellern Darlegung des Ganzen ersuchte ich um Bleistift und Papier; wir gingen in ein zweites Zimmer, und wie ich nun den Typus des Fischkopfes in seiner Gesetzmäßigkeit schematisch entwickelte, unterbrach er mich oft durch beifällige Ausrufungen und freudiges Kopfnicken. »Ja, ja! Die Sache ist in guten Händen,« sagte er; »da haben uns der Spix und Bojanus so etwas hergedunkelt! Nun, nun! Ja, ja!« 1

Der Diener brachte eine Collation. Es war mir ein rührendes Verhältniß, Goethe zu sehen, wie er mir den Wein eingoß und ein Brod mit mir theilte, selbst von der einen Hälfte genießend und mir die andere reichend. – Dabei sprach er von meinen beiden Bildern, die ich ihm vor einem Jahre durch Frommann gesendet hatte, erzählte, wie ihm das eine (das Haus auf der Brockenspitze) längere Zeit seiner Bedeutung nach räthselhaft geblieben, wie nur später erst eine dritte Person 2 ihm den Aufschluß darüber gegeben, und wie diese Dinge überhaupt wohl in Ehren gehalten würden. Dann ließ er sein Portefeuille über vergleichende Anatomie [93] bringen und zeigte seine frühern Arbeiten. Späterhin kamen wir auf das Bedeutungsvolle in der Form der Felsen und Gebirge für Bestimmung der Art des Gesteins, ja, für die gesammte Bildung der Erdoberfläche; und auch in diesen Ideen war er völlig einheimisch, ja, er hatte dafür gesammelt, wie eine zweite wohlgefüllte Mappe mit Felsenzeichnungen vom Harz und andern Orten deutlich bewies.

Merkwürdig waren mir, als ich jetzt kurze Zeit im Zimmer allein blieb, die Anordnungen und Ausschmückungen desselben. Außer einem hohen Gestelle mit gewaltigen Mappen für Kupferstiche in ihrer geschichtlichen Folge, interessirte mich ein, mit Schubkästen behufs der Aufbewahrung einer Münzsammlung versehener Schrank. Der Aufsatz desselben trug nämlich unter Glas eine ansehnliche Menge antiker Götterbildchen, Larven, Faunen u.s.w., unter welchen ein ganz kleiner goldener Napoleon, in das glockenförmig verschlossene Ende einer Barometerröhre gestellt, sich sonderbar genug ausnahm. Auch sonst aber wollte noch manches beachtet sein. So beschäftigte mich ein alterthümliches wunderliches Schloß, welches mit seinem Schlüssel am Fenstergewände hing; so forderten auch hier manche Kupferstiche zur Betrachtung auf; ja, selbst die Einrichtung der Zimmerthür war bemerkenswerth, da sie nicht in Angeln sich bewegte, sondern aus dem Thürgewände hervor-und zurückgeschoben werden mußte.

[94] Zuletzt noch sprachen wir über entoptische Farben, und es brachte ihn dies darauf, karlsbader Glasbecher mit gelber durchsichtiger Malerei herbeibringen zu lassen, an denen er mich die fast wunderbar scheinenden Verwandlungen von Gelb in Blau und Roth in Grün – je nachdem die Beleuchtung auf eine oder die andere Weise geleitet wurde, wahrnehmen ließ. 3 Äußerungen über die ungünstige Aufnahme so mancher seiner wissenschaftlichen Arbeiten konnte er hierbei doch nicht ganz unterdrücken. – Gegen 1 Uhr entfernte ich mich endlich, in aller Hinsicht erfreut und erwärmt.

Spätere Nachschrift.

Seit jenem Morgen des 21. Juli sind nun mehr als vier Decennien vorübergegangen, und immer noch steht mir die einfach schöne Gestalt des werthen Mannes, ganz in der Art, wie ich sie sah und wie der treffliche Rauch als Statuetten sie bald nachher ausgeführt hatte, vor der Seele. Ich hätte ihn damals länger sehen sollen! Er wollte mich zu Tisch behalten, ein paar Tage in seiner Nähe: welche vermehrte und liebe Erinnerungen [95] würde ich mir bereitet haben! Aber so ist die Jugend! Mit Hast treibt sie meist fernen Zielen zu und vieles Große, zu spät Erkannte geht ihr darüber verloren.


Note:

1 Mit diesen, auf eigenthümlich gutmüthige Weise betonten Worten pflegte er überhaupt alle Pausen des Gesprächs zu beleben.

Note:

2 Der Großherzog, wie Frommann mir sagte.

Note:

3 Ich hatte damals sehr den Wunsch, solchen Glasbecher zu erlangen, allein der verehrte Mann sagte mir, dergleichen wären jetzt nicht mehr zu haben, aber versprach mir einen Ersatz dafür. In Wahrheit sendete er mir später einen hübschen kleinen Apparat, in welchem sich über schwarz und weißem Felde schwachfarbige Glasplättchen hin und herschieben fassen und das Phänomen vortrefflich zeigen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, 21. Juli Mit Carl Gustav Carus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A769-0