1809, 28. (?) Februar.


Mit Johann Daniel Falk

»Es ist Alles,« sagte er ein ander Mal, am 29. [so!] Februar 1809, in demselben Sinne, »in den Wissenschaften zu weitsichtig geworden. Auf unsern Kathedern werden die einzelnen Fächer planmäßig zu halbjährigen Vorlesungen mit Gewalt auseinandergezogen. Die Reihe von wirklichen Erfindungen ist gering, besonders, wenn man sie durch ein paar Jahrhunderte im Zusammenhange betrachtet. Das Meiste, was getrieben wird, ist doch nur Wiederholung von dem, was dieser oder jener berühmte Vorgänger gesagt hat. Von einem selbstständigen Wissen ist kaum die Rede. Man treibt die jungen Leute heerdenweise in Stuben und Hörsäle zusammen und speist sie in Ermangelung wirklicher Gegenstände mit Citaten und Worten ab. Die Anschauung, die oft dem Lehrer selbst fehlt, mögen sich die Schüler hinterdrein verschaffen! Es gehört eben nicht viel dazu, um einzusehen, daß dies ein völlig verfehlter Weg ist. Besitzt nun der Professor vollends gar einen gelehrten Apparat, so wird es dadurch nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Des Dünkels ist nur gar kein Ende. Jeder Färber an seinem Kessel, jeder Apotheker an seinem Destillirkolben muß sich sofort des breitern von ihm belehren lassen. Die armen Teufel von Praktikern, ich kann[241] nicht sagen, wie sie mich dauern, daß sie in solche Hände gefallen sind! Da saß ehemals so ein alter Färber in Heilbronn, der war klüger als sie alle! Dafür haben sie ihn aber auch tüchtig ausgelacht. Was gäbe ich darum, wenn der alte Meister noch in der Welt wäre, die er, aber die ihn nicht erkannte, und meine Farbenlehre erlebt hätte. Dem hatte sein Kessel geholfen. Der wußte, worauf es ankam.«

»Wenn ich die Summe von dem Wissenswerthen in so mancher Wissenschaft, mit der ich mich mein ganzes Leben hindurch beschäftigt habe, aufschreiben wollte, das Manuscript würde so klein ausfallen, daß Sie es in einem Briefcouvert nach Hause tragen könnten. Es herrscht bei uns der Gebrauch, daß man die Wissenschaften entweder ums Brot verbauern läßt, oder sie auf den Kathedern förmlich zersetzt, so daß uns Deutschen nur zwischen einer seichten Popularphilosophie und einem unverständlichen Gallimathias transcendentaler Redensarten gleichsam die Wahl gelassen ist. Das Capitel von der Electricität ist noch das, was in neuerer Zeit nach meinem Sinne am vorzüglichsten bearbeitet ist.«

»Die ›Elemente‹ des Euklides stehen noch immer als ein unübertroffenes Muster eines guten Lehrvortrages da; sie zeigen uns in der größten Einfachheit und nothwendigen Abstufung ihrer Probleme, wie Eingang und Zutritt zu allen Wissenschaften beschaffen sein sollten.«

[242] »Wie ungeheure Summen haben nicht die Fabrikherrn bloß durch falsche Ansichten in der Chemie verloren. Selbst die technischen Künste sind beiweitem nicht, wie sie sollten, vorgerückt. Diese Bücher- und Stubengelehrsamkeit, dies Klugwerden und Klugmachen aus nachgeschriebenen Heften ist auch die alleinige Ursache, daß die Zahl der wahrhaft nützlichen Entdeckungen durch alle Jahrhunderte so gering ist. Wahrlich, wenn heute, wo wir den 29. [so!] Februar 1809 schreiben, der altehrwürdige englische Mönch Baco – mit dem Kanzler Verulam keineswegs zu verwechseln –, nachdem so manche Jahrhunderte hinter seinen wissenschaftlichen Bestrebungen abgelaufen sind, von den Todten zurück zu mir in mein Studirzimmer käme und mich höflich ersuchte, ihn mit den Entdeckungen, die seitdem in Künsten und Wissenschaften erfolgt, bekannt zu machen, ich würde mit einiger Beschämung vor ihm dastehen und im Grunde nicht so recht wissen, was ich dem guten Alten antworten sollte. Fiele es mir etwa ein, ihm ein Sonnenmikroskop vorzulegen, so würde er mir bald mit einer Stelle in seinen Schriften dienen, wo er dieser Erfindung nicht bloß ahnend vorgriff, sondern derselben auch durch wahrhaft praktische Winke den Weg bahnte. Führte uns unser Gespräch auf die Entdeckung der Uhren, so würde er vielleicht, wenn ich ihm eine vorzeigte, gelassen fortfahren: Es ist das rechte! Es kommt mir indessen nicht unerwartet. Ich habe es ebenfalls vorausgesehen. [243] Von der Möglichkeit solcher Maschinen könnt ihr Seite 504 in meinen Schriften das Nöthige nachlesen, wo ich sie ebenfalls, wie das Sonnenmikroskop und die Camera obscura, ausführlicher behandelt habe. Zuletzt, nach völliger Durchmusterung aller neuer Erfindungen, müßte ich vielleicht erwarten, daß sich der tiefsinnige Klosterbruder mit folgenden Worten von mir verabschiedete: Besonderes ist es eben nicht, was ihr da im Laufe so vieler Jahrhunderte geleistet habt. Rührt euch besser! Ich will mich nun wieder schlafen legen und nach vier Jahrhunderten wiederkommen und zusehen, ob auch ihr schlaft, ober ob ihr in diesem oder jenem Stücke weiter fortgeschritten seid! – Bei uns Deutschen,« setzte Goethe hinzu, »geht Alles fein langsam vonstatten. Als ich vor nunmehr zwanzig Jahren die erste Idee von der Metamorphose der Pflanzen aufstellte, wußte man bei Beurtheilung dieser Schrift nichts weiter als die einfache Behandlung im Vortrag eines wissenschaftlichen Gegenstandes herauszuheben, die jungen Leuten allenfalls zum Muster dienen könne. Von der Gültigkeit eines Grundgesetzes, auf dessen Entwickelung doch hier eben alles ankam, und das, im Fall es sich bewährte, durch die ganze Natur die mannichfalitgste Anwendung erlaubte, vernahm ich kein Wort. Das macht, es stand nichts davon im Linné, den sie ausschreiben und sodann ihren Schülern vortragen. Man sieht aus allem, der Mensch ist zum Glauben und nicht zum Schauen gemacht. [244] Wie lange wird es dauern, so werden sie auch an mich glauben und mir dies und jenes nachsprechen! Ich wollte aber lieber, sie behaupteten ihr Recht und öffneten die Augen selbst, damit sie sähen, was vor ihnen liegt; so aber schelten sie nur auf alles, was bessere Augen hat als sie, und nehmen es sogar übel, wenn man sie in ihren Kathederansichten der Blödsichtigkeit beschuldigt. Von der Farbenlehre, die mit der Metamorphose der Pflanzen auf einem und demselben Principe beruht, gilt dieses eben auch. Sie werden sich aber die Resultate derselben auch schon aneignen; man muß ihnen nur Zeit lassen, und besonders es nicht übel nehmen, wenn sie einen, wie es mir jetzt in der Metamorphose der Pflanzen häufig genug begegnet, ohne zu nennen, ausschreiben und fremdes Eigenthum für das ihre ausgeben. Was den Mönch Baco betrifft, so darf uns diese außerordentliche Erscheinung nicht Wunder nehmen. Wir wissen ja, daß sich in England sehr früh große Keime von Civilisation zeigten. Die Eroberung dieser Insel durch die Römer möchte wohl dazu den ersten Grund gelegt haben. Dergleichen verwischt sich doch nicht so leicht, wie man wohl glaubt. Späterhin machte auch das Christenthum ebenfalls daselbst, und das schon frühe, die bedeutendsten Fortschritte. Der heilige Bonifacius ist nicht nur mit einem Evangelienbuche, sondern auch mit dem Winkelmaß in der Hand, und von allen Baukünsten begleitet, von dort her zu uns herüber nach Thüringen[245] gekommen. Baco lebte zu einer Zeit, wo der Bürgerstand durch die Magna charta bereits große Vorrechte in England erlangt hatte. Die erlangte Freiheit der Meere, die Jury oder die Geschwornengerichte vollendeten diesen heitern Anfang. Es war fast unmöglich, daß bei so günstigen Umständen die Wissenschaften zurückbleiben und nicht auch einen freien Aufschwung nehmen sollten. Im Baco nahmen sie denselben wirklich. Dieser sinnige Mönch, ebensoweit vom Aberglauben, als vom Unglauben entfernt, hat Alles in der Idee, nur nicht in der Wirklichkeit gehabt. Die ganze Magie der Natur ist ihm, im schönsten Sinne des Worts, aufgegangen. Er sah alles, was kommen mußte, die Sonnenmikroskope, die Uhren, die Camera obscura, die Projectionen des Schattens; kurz, aus der Erscheinung des einzigen Mannes könnte man abnehmen, was für Fortschritte das Volk, zu dem er gehörte, im Gebiete der Erfindungen, Künste und Wissenschaften zu machen berufen war. Strebt aber nur immer weiter fort,« fügte Goethe begeistert hinzu, »junges deutsches Volk, und werdet nicht müde, es auf dem Wege, wo wir es angefangen haben, glücklich fortzusetzen! Ergebt euch dabei keiner Manier, keinem einseitigen Wesen irgend einer Art, unter welchen Namen es auch unter euch auftrete! Wißt, verfälscht ist alles, was uns von der Natur trennt; der Weg der Natur aber ist derselbe, auf dem ihr Baco, Homer und Shakspeare nothwendig begegnen müßt. Es ist [246] überall noch viel zu thun! Seht nur mit eigenen Augen und hört mit eigenen Ohren! Übrigens laßt es euch nicht kümmern, wenn sie euch anfeinden! Auch uns ist es, weil wir lebten, nicht besser gegangen. In der Mitte von Thüringen, auf dem festen Lande haben wir unser Schiff gezimmert; nun sind die Fluthen gekommen und haben es von dannen getragen. Noch jetzt wird mancher, der die flache Gegend kennt, worin wir uns bewegten, nicht glauben, daß die Fluthen wirklich den Berg hinan gestiegen sind; und doch sind sie da. Verschmäht auch nie, in euer Streben die Einwirkung von gleichgesinnten Freunden aufzunehmen, sowie ich auch auf der andern Seite angelegentlich rathe, ebenfalls nach meinem Beispiele, keine Stunde mit Menschen zu verlieren, zu denen ihr nicht gehört oder die nicht zu euch gehören; denn solches fördert wenig, kann uns aber im Leben gar man ches Ärgerniß zufügen, und am Ende ist denn doch alles vergeblich gewesen. Im ersten Bande von ›Herder's Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ sind viele Ideen, die mir gehören, besonders im Anfange. Diese Gegenstände wurden von uns damals gemeinschaftlich durchgesprochen. Dazu kam, daß ich mich zu sinnlichen Betrachtungen der Natur geneigter fühlte, als Herder, der immer schnell am Ziele sein wollte und die Idee ergriff, wo ich kaum noch einigermaßen mit der Anschauung zu Stande war, wiewohl wir gerade durch diese wechselseitige Aufregung uns gegenseitig förderten.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1809. 1809, 28. (?) Februar. Mit Johann Daniel Falk. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A6CD-D