1826, 26. März.


Mittag bei Goethe

Goethe war heute bei Tische in der heitersten, herzlichsten Stimmung. Ein ihm sehr werthes Blatt war ihm heute zugekommen, nämlich Lord Byron's Handschrift der Dedication seines ›Sardanapal‹. Er zeigte sie uns zum Nachtisch, indem er zugleich seine Tochter quälte, ihm Byron's Brief aus Genua wiederzugeben. »Du siehst, liebes Kind,« sagte er, »ich habe jetzt alles beisammen, was auf mein Verhältniß zu Byron Bezug hat, selbst dieses merkwürdige Blatt gelangt heute wunderbarerweise zu mir, und es fehlt mir nun weiter nichts als jener Brief.«

Die liebenswürdige Verehrerin von Byron wollte aber den Brief nicht wieder entbehren. »Sie haben ihn mir einmal geschenkt, lieber Vater,« sagte sie, »und ich gebe ihn nicht zurück; und wenn Sie denn einmal wollen, daß das Gleiche zum Gleichen soll, so geben Sie mir lieber dieses köstliche Blatt von heute noch dazu, und ich verwahre sodann alles miteinander.« Das wollte Goethe noch weniger, und der anmuthige Streit ging noch eine Weile fort, bis er sich in ein allgemeines munteres Gespräch auflöste.

Nachdem wir vom Tische aufgestanden und die Frauen hinaufgegangen waren, blieb ich [Eckermann] mit Goethe allein. Er holte aus seiner Arbeitsstube [275] ein rothes Portefeuille, womit er mit mir ans Fenster trat und es auseinanderlegte. »Sehen Sie,« sagte er, »hier habe ich alles beisammen, was auf mein Verhältniß zu Lord Byron Bezug hat. Hier ist sein Brief aus Livorno, dies ist ein Abdruck seiner Dedication, dies mein Gedicht, hier das, was ich zu Medwin's Conversationen geschrieben; nun fehlt mir bloß sein Brief aus Genua; aber sie will ihn nicht hergeben.«

Goethe sagte mir sodann von einer freundlichen Aufforderung, die in Bezug auf Lord Byron heute aus England an ihn ergangen und die ihn sehr angenehm berührt habe. Sein Geist war bei dieser Gelegenheit ganz von Byron voll, und er ergoß sich über ihn, seine Werke und sein Talent in tausend interessanten Äußerungen.

»Die Engländer,« sagte er unter anderm, »mögen auch von Byron halten, was sie wollen, so ist doch so viel gewiß, daß sie keinen Poeten aufzuweisen haben, der ihm zu vergleichen wäre. Er ist anders als alle übrigen und meistentheils größer.«

[276]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, 26. März. Mittag bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5CD-6