1831, 6. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische in mancherlei Unterhaltungen. Wir reden auch von Kindern und deren Unarten,[38] und er vergleicht sie den Stengelblättern einer Pflanze, die nach und nach von selber abfallen, und wobei man es nicht so genau und so streng zu nehmen brauche.

»Der Mensch,« sagte er, »hat verschiedene Stufen, die er durchlaufen muß, und jede Stufe führt ihre besondern Tugenden und Fehler mit sich, die in der Epoche, wo sie kommen, durchaus als naturgemäß zu betrachten und gewissermaßen recht sind. Auf der folgenden Stufe ist er wieder ein anderer, von den frühern Tugenden und Fehlern ist keine Spur mehr, aber andere Arten und Unarten sind an deren Stelle getreten. Und so geht es fort, bis zu der letzten Verwandlung, von der wir noch nicht wissen, wie wir sein werden.«

Zum Nachtisch las Goethe mir sodann einige seit 1775 sich erhaltene Fragmente von ›Hanswurst's Hochzeit‹. Kilian Brustfleck eröffnet das Stück mit einem Monolog, worin er sich beklagt, daß ihm Hanswurst's Erziehung trotz aller Mühe so schlecht geglückt sei. Die Scene sowie alles Übrige war ganz im Tone des ›Faust‹ geschrieben. Eine gewaltige productive Kraft bis zum Übermuth sprach sich in jeder Zeile aus, und ich bedauerte bloß, daß es so über alle Grenzen hinausgehe, daß selbst die Fragmente sich nicht mittheilen lassen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stück spielenden Personen, die fast drei Seiten füllten und sich gegen Hundert belaufen mochten. Es waren alle erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbsten [39] lustigsten Sorte, sodaß man nicht aus dem Lachen kam. Manche gingen auf körperliche Fehler und zeichneten eine Figur dermaßen, daß sie lebendig vor die Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigsten Unarten und Laster und ließen einen tiefen Blick in die Breite der unsittlichen Welt voraussetzen. Wäre das Stück zu Stande gekommen, so hätte man die Erfindung bewundern müssen, der es geglückt, so mannigfaltige symbolische Figuren in eine einzige lebendige Handlung zu verknüpfen.

»Es war nicht zu denken, daß ich das Stück hätte fertig machen können,« sagte Goethe, »indem es einen Gipfel von Muthwillen voraussetzte, der mich wohl augenblicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernst meiner Natur lag und auf dem ich mich also nicht halten konnte. Und dann sind in Deutschtand unsere Kreise zu beschränkt, als daß man mit so etwas hätte hervortreten können. Auf einem breiten Terrain wie Paris mag dergleichen sich herumtummeln, sowie man auch dort wohl ein Béranger sein kann, welches in Frankfurt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken wäre.«

[40]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1831. 1831, 6. März. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A518-B