1832, 17. Februar.


Mit Friedrich Soret

Ich hatte Goethen ein in England gestochenes Portrait von Dumont zugeschickt, das ihn sehr zu interessiren schien.

[130] »Ich habe das Bild des bedeutenden Mannes oft und wiederholt betrachtet,« sagte er, als ich ihn heute gegen Abend besuchte. »Anfangs hatte es etwas Zurückstoßendes für mich, welches ich jedoch der Behandlung des Künstlers zuschreiben möchte, der die Züge etwas zu hart und tief eingegraben. Aber je länger ich den im hohen Grabe merkwürdigen Kopf ansah, desto mehr verschwanden alle Härten und es trat aus dem dunkeln Grunde ein schöner Ausdruck von Ruhe, Güte und geistreich-feiner Milde hervor, wie sie den klugen, wohlwollenden und für das allgemeine Beste thätigen Mann charakterisiren und der Seele des Beschauers so wohl thun.«

Wir sprachen darauf weiter über Dumont, besonders aber über die Memoiren, die er in Bezug auf Mirabeau geschrieben, und worin er die mannigfaltigen Hilfsquellen aufdeckt, die Mirabeau zu benutzen verstanden, auch die vielen Leute von Talent namhaft macht, die er zu seinen Zwecken in Bewegung gesetzt und mit deren Kräften er gearbeitet. »Ich kenne kein lehrreicheres Buch,« sagte Goethe, »als diese Memoiren, wodurch wir in die geheimsten Winkel jener Zeit tiefe Blicke thun, und wodurch uns das Wunder Mirabeau natürlich wird, ohne daß dieser Held dadurch irgend etwas von seiner Größe verliert. Nun kommen aber die neuesten Recensenten der französischen Journale, die über diesen Punkt einwenig anders denken. Die guten Leute glauben, der Verfasser jener Memoiren [131] wolle ihnen ihren Mirabeau verderben, indem er das Geheimniß seiner übermenschlichen Thätigkeit enthüllt und auch andern Leuten einigen Antheil an dem großen Verdienste vindicirt, das bisher der Name Mirabeau allein verschlang.

Die Franzosen erblicken in Mirabeau ihren Hercules, und sie haben vollkommen recht. Allein sie vergessen, daß auch der Koloß aus einzelnen Theilen besteht, und daß auch der Hercules des Alterthums ein collectives Wesen ist, ein großer Träger seiner eigenen Thaten und der Thaten anderer.

Im Grunde aber sind wir alle collective Wesen, wir mögen uns stellen wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigenthum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. Das begreifen aber viele sehr gute Menschen nicht und tappen mit ihren Träumen von Originalität ein halbes Leben im Dunkeln. Ich habe Künstler gekannt, die sich rühmten, keinem Meister gefolgt zu sein, vielmehr alles ihrem eigenen Genie zu danken zu haben. Die Narren! Als ob das überall anginge! Und als ob sich die Welt ihnen nicht bei jedem Schritte aufdränge und aus ihnen trotz ihrer eigenen Dummheit etwas machte! Ja ich behaupte, wenn ein solcher Künstler nur an den Wänden dieses[132] Zimmers vorüberginge und auf die Handzeichnungen einiger großen Meister, womit ich sie behängt habe, nur flüchtige Blicke würfe, er müßte, wenn er überall einiges Genie hätte, als ein Anderer und Höherer von hier gehen.

Und was ist denn überhaupt Gutes an uns, wenn es nicht die Kraft und Neigung ist, die Mittel der äußern Welt an uns heranzuziehen und unsern höhern Zwecken dienstbar zu machen? Ich darf wohl von mir selber reden und bescheiden sagen wie ich fühle. Es ist wahr, ich habe in meinem langen Leben mancherlei gethan und zustande gebracht, dessen ich mich allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn wir ehrlich sein wollten, das eigentlich mein war, als die Fähigkeit und Neigung, zu sehen und zu hören, zu unterscheiden und zu wählen, und das Gesehene und Gehörte mit einigem Geist zu beleben und mit einiger Geschicklichkeit wiederzugeben. Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornirte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinne sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu thun, als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten.

Es ist im Grunde auch alles Thorheit, ob einer[133] etwas aus sich habe, oder ob er es von andern habe; ob einer durch sich wirke, oder ob er durch andere wirke: die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig. Mirabeau hatte daher vollkommen recht, wenn er sich der äußern Welt und ihrer Kräfte bediente wie er konnte. Er besaß die Gabe, das Talent zu unterscheiden, und das Talent fühlte sich von dem Dämon seiner gewaltigen Natur angezogen, sodaß es sich ihm und seiner Leitung willig hingab. So war er von einer Masse ausgezeichneter Kräfte umgeben, die er mit seinem Feuer durchdrang und zu seinen höhern Zwecken in Thätigkeit setzte. Und eben daß er es verstand, mit andern und durch andere zu wirken, das war sein Genie, das war seine Originalität, das war seine Größe.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1832. 1832, 17. Februar. Mit Friedrich Soret. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4EC-8