1794, 6. Juni.


Mittagsmahl bei Goethe

Den 6. Juni waren wir Mittags bei Goethe zusammen. Beinahe während der ganzen Mahlzeit sprach Goethe mit einer von mir [Böttiger] an ihm noch nie beobachteten Heftigkeit gegen Lavater, den er für den studirtesten Heuchler und Bösewicht erklärte, aber seiner unendlichen Kunst, allen alles zu werden völlige Gerechtigkeit wiederfahren ließ. Anekdote von Hottinger und der Fürstin von Dessau. Lavater schenkte Hottinger, seinem abgesagtesten Gegner, ein Halstuch, das auf der Fürstin Busen geruht hatte und von ihren Thränen benetzt war, um den jungen Hottinger durch Sinnlichkeit zu fesseln. Goethe antwortete Lavater nie, [144] ohngeachtet dieser durch Grobheiten Antwort erzwingen will, und ließ sich vor ihm in Mainz verleugnen. Warum er überall seinen Namen einkritzle? In Frankfurt zerbrach Goethe bei seiner Mutter viele Scheiben und Spiegel, wo überall Lavater sein Gedächtniß gestiftet hatte. Wieland, der, seit Lavater mit [Karl Leonhard] Reinhold bei ihm war, immer Lavater's Partie nahm, wurde durch das alles, was Goethe sagte, so aufgebracht, daß er sich selbst ausschalt, weil er zeither den Fremden, gegen die er Lavatern lobpries, soviel Ärgerniß gegeben habe. Voß, der auch Unwillen gegen Lavatern zeigte, erzählte, Lavater habe in Kopenhagen, und überall im Holsteinischen mit großer Selbstgefälligkeit erzählt, als er mit Reinhold und Wieland zu Tische gesessen, da hätten die Dichtkunst, Philosophie und Schwärmerei Tischgenossenschaft gemacht.

Er [Goethe] hat lange Untersuchungen über das sogenannte os intermaxillare, welches die Thierphysiognomien nach Camper und Blumenbach von der menschlichen unterscheiden soll, angestellt. Loder wird sie herausgeben.

Es ist äußerst interessant, ihn seine Abenteuer beim Feldzug in der Champagne 1792, wo er den Herzog begleitete, erzählen zu hören. Er hielt sich immer zum Vortrab, wo es am lustigsten zuging. Anekdote von einem Bauer bei Verdun, der sich allein in einem Weinberg versteckt hatte und gegen die preußische Armee schoß. Er sollte gehängt werden und man fand keinen [145] Baum, woran man ihn hätte hängen können. Endlich ließ ihn der preußische Major mit 25 Arschprügeln laufen. Ein niedliches Bauerweibchen, die sich hatte flüchten wollen, brachten sie mit ihren zwei Wagen und Effekten glücklich in ihr Dorf zurück. In Verdun ließ sich Goethe Empfehlungsbriefe nach Paris an die schöne Weile [?] geben, weil er auch gewiß überzeugt war, es ging grade nach Paris. Ein Blatt vom Moniteur, das sie auf einem feindlichen Wagen erbeuteten und worin stand: les Prussiens pourront venir à Paris, mais ils n'en sortiront pas, bestärkte sie alle in diesem Glauben. Goethe ließ sich schon die Spezialkarten zum Marsche nach Paris durch einen Soldaten, der dies Geschäft als Feldbuchbinder trieb, auf Leinwand ziehen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1794. 1794, 6. Juni. Mittagsmahl bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4DE-6