1829, 3. October.
Mit Ludwig Freiherrn v. u. zu Steinfurt
In Weimar angelangt .... wurden alsbald die Empfehlungsbriefe, die mir Geheimrath Thiebaut an [177] Goethe und die Räthin Schlosser an Goethe und seine Schwiegertochter gegeben, abgesendet. Auf 12 Uhr des folgenden Tages ward ich beschieden.
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Man führte mich durch ein Zimmer in ein zweites. Überall Kunstwerke verschiedener Art, Gemälde, Kupferstiche, Büsten, Statuen, auf Repositorien große Mappen, Zeichnungen enthaltend. Das Ameublement stand hiermit in Widerspruch; es war geschmacklos, alt, fast ärmlich zu nennen. Ich wartete einige Minuten; dann sah ich durch eine offen stehende Thür des Zimmers, in welchem ich mich befand, Goethe in das anstoßende Gemach kommen, ziemlich rasch in sehr aufgerichteter Haltung, die Lippen bewegend, manchmal selbst leise redend, hindurchschreiten und zu mir eintreten. Sein Äußeres entsprach imganzen meiner Erwartung nicht. Nach den vielfachen glänzenden Beschreibungen, die ich gehört und gelesen, hatte ich mir ihn noch größer und weniger gealtert vorgestellt; nur sein lebhaftes, mitunter feuriges Auge und seine aufrechte Haltung, die er während unserer ganzen Unterredung beizubehalten suchte, und von Zeit zu Zeit, wenn der Oberkörper unwillkührlich vorsank, wieder herstellte, bezeugte auch im Äußeren noch die Herrschaft des gewaltigen Geistes über den achtzigjährigen Körper. Höchst merkwürdig aber, ja wahrhaft erstaunenswürdig war die Art, wie er sprach. Es war der reinste, ununterbrochenste Fluß der Rede, die höchste Mannigfaltigkeit und Gewandtheit [178] des Ausdrucks, über welchen Gegenstand er auch sprechen mochte. Da, wo sich's um tiefere Dinge handelte und wo selbst die Gebildeten, selbst die geübten Denker in der Regel die Worte suchen müssen, da bewegte er sich mit derselben Leichtigkeit, als wenn er über das Wetter ober eine Stadtneuigkeit spräche. Man sah überall, wie ihm, der sein ganzes Leben der Beschäftigung mit Ideen und Idealen gewidmet, diese Dinge, die uns nur Zuckerbrod sind, zur gewöhnlichen Speise geworden. Es war mit einem Worte unsere deutsche Sprache in der Gestalt, wie man sie sich, von überirdischen Wesen geredet, denken möchte.
Nachdem wir uns niedergelassen, fragte er zunächst, in welcher Beziehung Thibaut, der Verfasser meines Empfehlungsschreibens, mich seinen Collegen nenne, und als ich die Bewandtniß der Sache erklärt, sprach er einiges zum Lob des Standes der Gelehrten, indem er meinte: theils sei es angenehm, an einem Orte zu leben, wo man stets dem Gang der Wissenschaft genau folgen könne, theils erfreulich das, was man erlernt und erforscht, nun den Jüngeren durch mündliche Lehre wieder mitzutheilen; insbesondere habe das Studium der Geschichte viel Anziehendes. Er erkundigte sich hierauf nach dem neuen Universitätsgebäude, seiner Einrichtung und Bauart, und erwähnte dann rühmend einiger Professoren, namentlich Thibaut's, Creuzer's, Schlosser's und Paulus'. Von Schlosser pries er das neueste Buch, [Universalhistorische Übersicht der Geschichte [179] der alten Welt und ihrer Cultur] hinzufügend, daß es freilich noch manches zu wünschen übrig lasse, allein man müsse sich bei solchen Werken an die vorzüglicheren Seiten halten. Ich sprach von Paulus' Einfluß auf die Theologie und meinte, es sei gut, daß ein so kräftiger Vertheidiger der Denkfreiheit noch vorhanden sei, allein er scheine mir doch zu weit zu gehen, wenn er, wie mir berichtet worden, den jungen Leuten geradezu sage, es gebe keine Unsterblichkeit. »Freilich, freilich!« erwiderte er. »Und es ist ja lächerlich, so etwas zu behaupten: was weiß er denn davon?« Er sprach dann ausführlicher von theologischen Streitigkeiten der jüngsten Zeit [zwischen Voß und Creuzer] und meinte, daß solche Parteiungen wol stets bestehen würden, weil sie stets bestanden hätten. »Wie sich's mit der Dreieinigkeit verhalte, und ob der Mensch von Natur gut oder böse sei, und ob er durch Christum erlöst und von seinen Sünden befreit worden, oder ob er durch eigene Kraft oder nur durch Gottes Gnade selig und von der Verdammniß befreit werden könne, oder« – fügte er herzlich lachend hinzu – »ob er sich gar selig preisen soll, daß er verdammt ist, darüber wird wol, solange es Menschen giebt, mit Eifer gestritten werden.« Amschönsten, meinte er, sei es jetzt in einer Stadt Nordamerikas, von der er neulich gelesen, daß in ihr an die sechzig Kirchen seien, in deren jeder ein anderes Glaubenssystem gepredigt werde; da könne man also an jedem Sonntag im Jahr sich in einer andern Confession [180] erbauen. Die Menschen verließen in diesen Dingen viel zu sehr den einfachen Weg; die Kinder könnten darin gar wol unsre Lehrmeister sein. Ich erinnerte an sein kleines Gedicht »Katechisation«. Er lachte und sagte: »Ja, ja, so ist's!«
Über sein Verhältniß zu Stolberg befragt, sprach er von ihm, besonders aber von seiner Schwester und überhaupt von dem Kreise der Menschen, die sich damals um die Fürstin Galitzin in Westfalen versammelten, mit großem Lob. Es seien Menschen von ausgezeichneter Bildung gewesen, bei denen er immer gerne verweilt, und die auch den alten Heiden immer recht wol in ihrer Mitte geduldet hätten. Über das Schlossersche Ehepaar befragt, berichtete ich, was mir bekannt war, rühmte ihre Gastfreiheit, ihren schönen Wohnort in der Nähe von Heidelberg und fügte hinzu: es sei unbegreiflich, daß zwei Menschen von so klarem Verstand in diesen Bigottismus hätten verfallen können. »Wol ist das schwer zu begreifen,« erwiderte er; »ja wenn sie noch vielleicht eine große Sünde begangen hätten, die sie nur im Schooße der allein seligmachenden Kirche abzubüßen hätten hoffen können! Aber so sind sie die besten unschuldigsten Menschen von der Welt, die niemals etwas Böses gethan haben.« Er sprach dann von ihrem letzten Aufenthalt bei ihm, und als ich sagte, daß er doch in religiösen Punkten sehr schwer mit ihnen werde harmonirt haben, entgegnete er: imallgemeinen mache der Unterschied von Protestanten und Katholiken ihn niemals [181] irre; er frage gar nicht darnach, er bemerke es nicht einmal und wisse kaum, wer von seiner Umgebung zu den einen oder andern gehöre. Allein freilich habe eine so scharf hervortretende Bigotterie immer verhindert, zu einem vollen inneren Verständniß zu kommen.
Ich wandte das Gespräch auf seine literarischen Productionen, insbesondere auf »Faust« und die »Italienische Reise«. Er äußerte sich darüber mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit. Die »Italienische Reise« seien Briefe, die er an seine Freunde geschrieben und die er sich habe zurückgeben und drucken lassen, weil er geglaubt, sie möchten wol für manche interessant sein. In der eben erscheinenden neuen Ausgabe seiner Werke wolle er jetzt noch Nachträge liefern. In seinem »Faust« habe er das unruhige Wogen und Treiben im Menschen einmal schildern wollen. Ich sagte, es habe mich sehr gelächert, am Schlusse [des zuerst veröffentlichten Bruchstückes] des zweiten Theils des »Faust« die Worte »Ist fortzusetzen« zu finden, da bekanntlich immer soviel darüber gestritten worden, ob das Gedicht überhaupt fortgesetzt werden könne oder nicht, ob Faust der Teufel geholt habe oder nicht; nun seien die armen Leute doch in Zweifel und Ungewißheit geblieben. »Freilich,« erwiederte er mit der lieblichsten Schalkheit, »könnte das nun noch lange Zeit so fortgehen. Ja, man muß es wol einem alten Mann verzeihen, wenn er sich manchmal so einen kleinen Scherz erlaubt.«
[182] Ich entledigte mich der vom Grafen Sternberg aufgetragenen Empfehlungen. Er sagte einiges zu seinem Lobe und erkundigte sich nach der Medaille, die gerade jetzt ihm zu seinem Gedächtniß geprägt werde, bemerkend, daß wenn sie von geschickter Hand ausgeführt werde, man etwas Schönes zu erwarten berechtigt sei, da das Profil des Mannes bedeutende Formen zeige. Meine Frage, ob er noch immer sich hauptsächlich mit Naturwissenschaften beschäftige, bejahte er, hinzufügend: »Die Naturwissenschaften sind die einzigen, die uns auf einen sichern festen Grund führen, oder vielmehr, die uns nicht täuschen.« Der Sinn dieses mir damals etwas dunkeln Ausspruches ist mir später durch die Lectüre von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« klar geworden. Von der Naturforscherversammlung, die gerade damals wieder zusammentrat, sprach er mit Achtung: alles derart sei schon gut, weil es überhaupt zustande habe kommen können, ersprießliche Folgen für Wissenschaft und Gelehrte könnten da nicht ausbleiben.
Es war geraume Zeit während unserer Unterredung verstrichen; ich bemerkte, daß er sie beendigt wünsche, und stand auf. Er empfahl mir schließlich den Besuch der Großherzogin-Mutter, ihre hohen Eigenschaften rühmend und entließ mich.
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