1814, 30. Mai.
Bei Goethe in Berka
Unter häßlichem Regenwetter fuhr ich [v. Müller] nach Weimar, um nach Goethes Wunsch das bevorstehende Duell seines Sohnes mit Rittmeister v. Werthern auf schickliche Weise zu verhindern. Es gelang durch Herrn v. Gersdorfs eifrige Mitwirkung, und dieser fuhr selbst mit mir nach Berka zurück. Nach einem heitern Mittagsmahle gingen wir im Vorsaale auf und ab, in welchem der große ausführliche Plan von Rom aufgehängt war.
Goethe animirte mich sehr zu einer Reise nach Italien. Biester habe sie einst in drei Monaten gemacht. Plötzlich blieb er vor jenem Abbilde Roms sinnend stehen und zeigte auf Ponte molle, über welchen man, von Norden herkommend, in die ewige Roma einzieht. »Euch darf ich's wohl gestehen,« sagte er, – »seit ich über den Ponte molle heimwärts fuhr, habe ich keinen rein glücklichen Tag mehr gehabt.« Und dabei waltete tiefe Rührung über seinen Zügen! »Ich lebte,« fuhr er fort, »zehn Monate lang zu Rom ein zweites akademisches Freiheitsleben; die vornehmere Gesellschaft [130] ganz vermeidend, weil ich diese ja zu Hause schon habe.« Im Fortlauf des Gesprächs erzählte er von einer seltsamen Unterredung mit Lord Bristol, der ihm den durch seinen Werther angerichteten Schaden vorwarf. »Wie viel tausend Schlachtopfer fallen nicht dem englischen Handelssystem zu Gefallen,« entgegnete ich noch derber; »warum soll ich nicht auch einmal das Recht haben, meinem System einige Opfer zu weihen?«
Als er darauf ein herrliches Blatt von Israel von Mecheln (1504), den Tanz der Herodias vorstellend, uns zeigte, setzte er hinzu: »Der Mensch mache sich nur irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an der er sich die Lust in heitern Tagen erhöhen und in trüben Tagen aufrichten kann. Er gewöhne sich z.B. täglich in der Bibel oder im Homer zu lesen, oder Medaillen oder schöne Bilder zu schauen, oder gute Musik zu hören. Aber es muß etwas Treffliches, Würdiges sein, woran er sich so gewöhnt, damit ihm stets und in jeder Lage der Respect dafür bleibe.«
Wir machten hierauf einen sehr angenehmen Spaziergang vom Bade durch die stillen Wiesengründe bis zur Kohlenhütte vor dem Orte gegen Saalborn zu. Dort setzten wir uns auf Bauhölzer und schwelgten im reinsten ländlichen Naturgenusse. Dann tranken wir Thee in der Hütte am Flusse. Goethe schilderte mit heiterster Laune den verstorbenen D. Bucholz, der sich von der kaiserlichen Akademie der Naturforscher den Namen Plinius Secundus ausbat. »Aber es heißt[131] ja Niemand von der Sippschaft also,« ward ihm erwidert.
Beim Abendessen erzählte ich erst meine Posener Abenteuer mit Herrn v. Studnitz, dann die zu Kropstädt in Napoleons Bivouac, im October 1806 und schilderte hierauf des Ministers von Frankenberg possierliche Individualität, wie Goethe die des Fürsten Kaunitz. Man habe z.B. dem letzteren nie vom Tode reden dürfen, und das Ableben des Kaisers Joseph sei ihm nur dadurch hinterbracht worden, daß sein Secretär ihm sagte: »Joseph II. unterschreibt nicht mehr.« Kaunitz hatte eine alte kränkliche Schwester, der er öfters die besten Speisen und besonders Früchte von seiner Tafel zusandte. Dieß setzte er lange fort, als sie schon verstorben war. Goethe hielt Frankenbergs Zerstreuung und karikirtes Wesen ursprünglich für absichtlich angenommene Maske.
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