a.

Bei Frau von der Recke lernte er [Goethe] den Minister Maret kennen, auf den er einen außerordentlichen Eindruck machte, und der davon dem Kaiser erzählte, worauf Napoleon ihn sogleich am 2. October zu sich einladen ließ. Die Audienz dauerte fast eine volle Stunde. Ich [von Müller] hatte Goethe bis ins Vorzimmer begleitet und harrte da seiner Rückkehr. Nur Talleyrand, Berthier und Savary waren bei dieser Audienz gegenwärtig; gleich nach Goethes Eintritt in das kaiserliche Cabinet kam auch noch der Generalintendant Daru dazu.

Der Kaiser saß an einem großen runden Tische[220] frühstückend. Zu seiner rechten stand Talleyrand, zu seiner linken Daru, mit dem er sich zwischendurch über die preußischen Contributionsangelegenheiten unterhielt. Er winkte Goethe, näher zu kommen, und fragte, nachdem er ihn aufmerksam betrachtet hatte, nach seinem Alter. Als er erfuhr, daß er im sechzigsten Jahre stehe, äußerte er seine Verwunderung, ihn noch so frischen Aussehens zu finden, und ging alsbald zu der Frage nach Goethes Trauerspielen über, wobei Daru Gelegenheit nahm, sich näher über sie auszulassen und überhaupt Goethes dichterische Werke zu rühmen, namentlich auch seine Übersetzung des »Mahomet« von Voltaire. »Das ist kein gutes Stück!« sagte der Kaiser und setzte umständlich auseinander, wie unschicklich es sei, daß der Weltüberwinder von sich selbst eine so ungünstige Schilderung mache. Werther's Leiden versicherte er siebenmal gelesen zu haben 1 und machte zum Beweise dessen eine tief eindringende Analyse dieses Romans, wobei er jedoch an gewissen Stellen eine Vermischung der Motive des gekränkten Ehrgeizes mit denen der leidenschaftlichen Liebe finden wollte. »Das ist nicht naturgemäß und schwächt bei dem Leser die Vorstellung von dem übermächtigen Einfluß, den die Liebe auf Werther gehabt. Warum haben sie das gethan?«

[221] Goethe fand die weitere Begründung dieses kaiserlichen Tadels so richtig und scharfsinnig, daß er ihn späterhin oftmals gegen mich mit dem Gutachten eines kunstverständigen Kleidermachers verglich, der an einem angeblich ohne Naht gearbeiteten Ärmel sobald die fein versteckte Naht entdeckt.

Dem Kaiser erwiderte er: es habe ihm noch niemand diesen Vorwurf gemacht, allein er müsse ihn als ganz richtig anerkennen; einem Dichter dürfte jedoch zu verzeihen sein, wenn er sich mitunter eines nicht leicht zu entdeckenden Kunstgriffs bediene, um eine gewisse Wirkung hervorzubringen, die er auf einfachem, natürlichem Wege nicht hervorbringen zu können glaube.

Nun auf das Drama zurückkommend, machte Napoleon mehrfache sehr bedeutende Bemerkungen, die den Beweis lieferten, daß er die tragische Bühne mit der größten Aufmerksamkeit, gleich einem Criminalrichter, betrachte, und die deutlich genug zeigten, wie tief er das Abweichen des französischen Charakters von Natur und Wahrheit empfinde. Auf die Schicksalsstücke übergehend, mißbilligte er sie höchlich: »Sie haben einer dunkleren Zeit angehört; was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal!«

Hierauf sprach er lange mit Daru über die Contributionsangelegenheiten, während dessen der Marschall Soult hereintrat, den der Kaiser scherzend über einige unangenehme Ereignisse in Polen ansprach. Auf einmal [222] stand Napoleon auf, ging auf Goethe zu und fragte mit gemäßigterer Stimme nach Goethes Familie und seinen Verhältnissen zu den verschiedenen Personen des herzoglichen Hauses. Die Antworten, die er erhielt, übersetzte er sich sogleich nach seiner Weise in entschiednere Urtheile. Doch bald wieder auf das Trauerspiel zurückkommend, sagte er: »Das Trauerspiel sollte die Lehrschule der Könige und der Völker sein; das ist das Höchste, was der Dichter erreichen kann. Sie z.B. sollten den Tod Cäsars auf eine vollwürdige Weise, großartiger als Voltaire, schreiben. Das könnte die schönste Aufgabe Ihres Lebens werden. Man müßte der Welt zeigen, wie Cäsar sie beglückt haben würde, wie alles ganz anders geworden wäre, wenn man ihm Zeit gelassen hätte, seine hochsinnigen Pläne auszuführen. Kommen Sie nach Paris! Ich fordere es durchaus von Ihnen. Dort giebt es größere Weltanschauung, dort werden Sie überreichen Stoff für Ihre Dichtungen finden.« 2

Jedesmal, wenn er über etwas sich ausgesprochen hatte, setzte er hinzu: »Qu'en dit Monsieur Goet?«

Als nun Goethe endlich abtrat, hörte man den Kaiser bedeutsam zu Berthier und Daru sagen: »Voilà un homme!«

[223] Goethe beobachtete lange ein tiefes Schweigen über den Hergang bei dieser Audienz, sei es, weil es überhaupt in seinem Charakter lag, sich über wichtige, ihn persönlich betreffende Vorgänge nicht leicht auszusprechen, sei es aus Bescheidenheit und Delicatesse. Daß aber Napoleons Äußerungen ihm einen mächtigen Eindruck hinterließen, konnte man ihm sehr bald abmerken, obschon er selbst den Fragen seines Fürsten nach dem Inhalte der Unterredung auf geschickte Weise auszuweichen verstand. Die Einladung nach Paris insbesondere beschäftigte ihn noch geraume Zeit recht lebhaft; er fragte mich mehrmalen nach dem ohngefähren Betrag des Aufwandes, den sie wohl erfordern würde, nach den verschiedenen, für ihn nöthigen Einrichtungen in Paris, Zeitabtheilungen u.s.w. Späterhin mochte ihn wohl die Erwägung so mancher nicht zu beseitigenden Unbequemlichkeiten in Paris von dem Vorhaben abgebracht haben.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1808. 1808, 2. October.: Mit Napoleon Bonaparte. a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A37D-A