1810, 10. November.


Mit Johann Daniel Falk

Es war am 10. November 1810, als Goethe nicht längst von Teplitz zurückgekommen war. Folgende nähere Umstände über seinen dortigen Aufenthalt habe ich damals wörtlich, wie er sie mir mittheilte, niedergeschrieben.

Er wohnte daselbst in dem nämlichen Hause, wo sich auch der König von Holland einmiethete. Goethe wollte sogleich ausziehen und die ganze Etage räumen, der König aber litt es nicht, sondern erklärte, daß er auf keinen Fall Gebrauch davon machen würde.

Goethes Urtheil über den König von Holland, den er von nun an zum öftern sah, und mit dem er, nur durch die Thür eines Schlafzimmers von ihm getrennt, eine Zeitlang in Teplitz zubrachte, bin ich im Stande, da ich dies noch an demselben Abende schreibe, aus treuem Gedächtniß wiederzugeben.

»Ludwig,« sagte Goethe, »ist die geborene Güte und Leutseligkeit, sowie sein Bruder Napoleon die geborene Macht und Gewalt ist. Sonderbar überhaupt sind die Eigenschaften unter diesen Brüdern gemischt und vertheilt, die doch als Zweige einer und derselben Familie angehören. Lucian z.B. verschmähte ein [337] Königreich und beschäftigte sich zu Rom mit der Kunst. Mit dem sanften Ludwig scheint die Niederlegung eines zweiten Königreiches in so stürmischen Zeiten, wie die unsrigen, geboren zu sein. Milde und Herzensgüte bezeichnen jeden seiner Schritte. Sonach ist es keineswegs Eigensinn, wie man gemeint hat, der ihn zu dieser auffallenden Handlung, seinem Bruder gegenüber, verleitete; im Gegentheil ist Ludwig einer der sanftmüthigsten, friedfertigsten Charaktere, die ich im Laufe meines Lebens kennen lernte; nur, was freilich eben daraus folgt, daß ihn alles Ungerechte, Ungesetzmäßige, Unbarmherzige in tiefster Seele verletzt und ihm gleichsam von Natur zuwider ist. Irgend ein Thier gequält, ein Pferd gemißhandelt, oder ein Kind leiden zu sehen, erträgt er nicht; man sieht es seinen Geberden, seinem ganzen Benehmen in solchen Lagen an, es empört sein Inneres; es macht ihn unglücklich, wenn in seiner Gegenwart etwas Rohes geschieht, ja, wenn er auch nur davon erzählen hört. Vorfallende Unschicklichkeiten in Beziehung auf seine Person vergiebt er weit leichter. Eine schöne Seele, eine überall ruhige Fassung des Gemüthes, im Hintergrunde Gott ohne die geringste religiöse Schwärmerei – das sind die ersten, die wesentlichsten Grundzüge zu Ludwigs Charakter, die dabei zugleich einen Theil eines ganz unverfälschten Wesens ausmachen, das nicht etwa anerzogen, angelernt, sondern dieser schönen Natur ganz eigenthümlich ist. Wie ein glänzender Silberfaden zieht sich die Religion durch alle [338] seine Gespräche und Urtheile; sie erheitert gleichsam den dunkeln Grund seiner oft etwas schwermüthigen Lebensbetrachtung. Was irgend in der Weltgeschichte sein schönes sittliches Wesen schmerzlich berührt, erhält sogleich eine sanfte Abweisung. Er verwirft daraus alles, was nach seinem Gefühle nicht recht und wider die göttliche Vorschrift ist. Hieraus entsteht nothwendig die Beschränkung seines Urtheils in manchem Stücke, die aber durch die Ruhe eines schönen Gemüthes unter allen noch so trübseligen Umständen reichlich aufgewogen wird. Die Zeit ist nach seiner Meinung heftig verworren und sehr böse, aber daraus folgt keineswegs, daß sie immer so bleiben werde. Man darf in seiner Gegenwart keine Maxime aussprechen, die irgend einer seiner christlich moralischen Ansichten zuwiderlautet oder sie gar aufhebt, sonst wird er still, wortkarg, oder wendet sich, jedoch ohne Streit und Widerspruch, aus dem Gespräche. Als er nach Teplitz kam, fühlte er sich so schwach, daß man ihn führen mußte; in der Folge ging es aber besser. Wie es einem so zart und empfindlich gestimmten Wesen gelingen konnte, den schweren Kampf zwischen Holland und seinem eisernen Bruder durchzukämpfen, ohne daß das Gewebe seiner Nerven zerriß und er selber zugrunde ging, ist mir noch immer ein Räthsel. Es ist bewundernswürdig, daß die Macht der Idee ihn so über den widerwärtigen Umständen emporgehalten hat. Was er als Oberhaupt einer berühmten Nation dieser, was er sich selbst schuldig [339] zu sein glaubte, nachdem er sich dessen einmal als König von Holland bewußt geworden war, verfolgte er auch gegen Frankreich und gegen seinen Bruder mit demjenigen strengen und sittlichen Ernste, der seiner Natur eigen ist. Von dem Augenblicke an, wo Napoleon von der Schelde, von dem Rheine, von der Maaß nur noch wie von den Adern des großen französischen Staatskörpers sprach und das Blut, was die tapfern Vorfahren unter Philipp dem Zweiten, um Holländer zu sein, so heldenmüthig verspritzt hatten, gar nicht weiter in Anschlag brachte, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Thron zu verlassen, den er nicht länger glaubte auch nur mit einiger Würde behaupten zu können. Es ist dieses sonach kein Schritt, der, um Aufsehen zu erregen, von ihm gethan wurde, sondern alles, was in dieser Sache öffentlich geschehen ist, geht vielmehr aus der innersten Überzeugung eines Wesens hervor, dem die Ruhe und der Friede eines guten Gewissens das schätzbarste Kleinod auf Erden sind und mehr als der Besitz eines Thrones gelten. Hiezu kommt noch eine äußerst liebliche Erscheinung, die besonders seinem Umgange eine große Annehmlichkeit ertheilt. Man bemerkt nämlich weder Philosophie, noch Grundsätze, noch irgend etwas dergleichen in seiner Unterhaltung, was von irgend einer Seite scharf und verletzend für die anders Gesinnten hervortritt; es ist vielmehr die reine, gütige Natur selbst, die vor uns steht und, ihren angeborenen sanften Trieben gemäß, heitere Geständnisse [340] ablegt. Grundsätze haben noch Logik und lassen Streit, Zweifel und Auslegungen zu, das echte Gewissen aber kennt blos Gefühle und geht geradewegs auf den Gegenstand zu, den es liebend zu umfassen gedenkt und, wenn es ihn umfaßt, auch nie wieder losläßt. Wie die unschuldige Herde auf der Wiese diejenigen Blumen und Kräuter, welche ihr der Instinkt als giftige ankündigt, oder als schädlich verbietet, nicht mit Füßen zerstampft, oder sie voll Unmuth und Ingrimm zerstört, sondern ruhig stehen läßt, weitergeht und blos das nimmt, was ihr eigentlich zur Nahrung dient und ihrer sanften, friedfertigen Natur gemäß ist, ebenso betrachte ich die Neigungen und Abneigungen einer wahrhaft sittlich schönen Natur, vor welcher alle jene in Schulen angelernte Künste nothwendig beschämt in den Hintergrund zurücktreten müssen.

Ich kann sagen, daß, wo ich in meinem Leben das Glück hatte, einer solchen wahrhaft sittlichen Erscheinung zu begegnen, sie mich ausnehmend anzog und erbaute, wie ich denn auch in dieser Zeit meinen Freunden in Teplitz sehr oft zu sagen pflegte: man verläßt den König von Holland nie, ohne daß man sich besser fühlt. Mit großer Seelenerhebung gestand ich es mir selbst, wenn ich ihn so ein paar Stunden gesehen und gehört hatte: wenn dieses anmuthig zarte und beinahe frauenhaft entwickelte Wesen in so großen, ungeheuern Weltverhältnissen das konnte, solltest du als Privatmann in beschränkten Kreisen nicht dasselbe [341] leisten können, oder wenigstens Muth und Fassung aus seinem Beispiel zu schöpfen im Stande sein? Es läßt sich schon ahnen, daß ein aller sittlichen Anerkennungen so fähiges und schönes Gemüth auch vor dem Charakter aller nordischen Völker und ihres Thuns und Lassens eine gleichsam angeborene Ehrfurcht in sich trägt, daher zeigen sich im Könige von Holland stille Anneigungen zu Preußen und Sachsen. Man möchte wohl mit dem Schicksale rechten, wofern nicht andere und tiefere Pläne desselben im Hintergrunde der Zeit liegen, die wir nicht zu errathen im Stande sind, daß es gerade seinen Bruder und nicht ihn zum Könige von Westfalen machte.

Ernst mit Sitte verbunden, beide ohne die geringste Strenge, Frömmigkeit ohne allen Stolz und Dünkel, ohne irgend eine trübe Beimischung von Furcht und Aberglauben, grundredlich und grundgütig zugleich – sollte man nicht glauben, daß dieser Charakter gänzlich dazu geeignet war, mit Allem, was der deutsche Charakter Vortreffliches oder Schätzenswerthes an sich trägt, eine innige Verbindung, ja Durchdringung einzugehen? Aber auch in solchem an sich so erwünschten Falle würde schwerlich so viele angeborene Herzensgüte, wenigstens auf keine Weise mit Beibehaltung von Ludwigs Verhältniß zur französischen Nation, sich auf die Länge frei und selbständig behauptet haben, und es würde nur allzubald wiederum ebenso wie in Holland gegangen sein. Sein Reich ist nicht von dieser Welt und noch weniger von dieser Zeit. –

[342] In den Umgebungen des Königs begegnete ich einem Doctor, dessen Ansichten oft etwas schroff, um nicht zu sagen katholisch beschränkt waren. Er sprach sogar manchmal von der allein seligmachenden katholischen Kirche, was aber der König im Gespräche nie aufnahm, der, wie gesagt, ebenso mild als ernst und menschlich in seinen Ansichten, sich keiner Einseitigkeit hingab. Ich suchte meine Fassung in solchen Fällen so viel nur immer möglich beizubehalten; einmal aber, da er wieder einige fast capuzinermäßige Tiraden, wie sie jetzt gang und gäbe sind, über die Gefährlichkeit der Bücher und des Buchhandels vorbrachte, konnte ich nicht umhin, ihm mit der Behauptung zu dienen: das gefährlichste aller Bücher in weltgeschichtlicher Hinsicht, wenn durchaus einmal von Gefährlichkeit die Rede sein sollte, sei doch wohl unstreitig die Bibel, weil wohl leicht kein anderes Buch so viel Gutes und Böses, als dieses, im Menschengeschlechte zur Entwickelung gebracht habe. Als diese Rede heraus war, erschrak ich ein wenig vor ihrem Inhalte; denn ich dachte nicht anders, als die Pulvermine würde nun nach beiden Seiten in die Luft fliegen. Zum Glück aber kam es doch anders, als ich erwartete. Zwar sah ich den Doctor vor Schrecken und Zorn bei diesen Worten bald erbleichen, bald wieder roth werden, der König aber faßte sich mit gewohnter Milde und Freundlichkeit und sagte bloß scherzweise: ›Cela perce quelquefois que Monsieur de Goethe est hérétique.‹

Zu Amsterdam fühlte sich der König so sehr als[343] Holländer, daß es ihn, wenigstens so lange er in dieser Stadt lebte, sehr verdroß, daß die Großen daselbst häufig ihre Muttersprache vernachlässigten und fast nichts als Französisch sprachen. ›Wenn Ihr nicht Holländisch sprechen wollt,‹ sagte er zu Einigen von ihnen halb im Ernste und halb im Scherze, ›wie mögt Ihr nur glauben, daß sich irgend Jemand sonst in der Welt die Mühe geben wird, es zu sprechen?‹«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1810. 1810, 10. November. Mit Johann Daniel Falk. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A34B-9