1830, 3. Februar.


Mit Friedrich Soret

Wie sprachen über den ›Globe‹ und ›Temps‹, und dies führte auf die französische Literatur und Literatoren.

»Guizot,« sagte Goethe unter anderm, »ist ein Mann nach meinem Sinne, er ist solide. Er besitzt tiefe Kenntnisse, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus, der, über den Parteien stehend, seinen eigenen Weg geht. Ich bin begierig, zu sehen welche Rolle er in den Kammern spielen wird, wozu man ihn jetzt gewählt hat.«

»Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen scheinen,« erwiederte ich, »haben mir ihn als etwas pedantisch geschildert.«

»Es bleibt zu wissen übrig,« entgegnete Goethe, »welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle bedeutenden Menschen, die in ihrer Lebensweise eine[197] gewisse Regelmäßigkeit und feste Grundsätze besitzen, die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten des Lebens kein Spiel treiben, können sehr leicht in den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten erscheinen. Guizot ist ein weitsehender, ruhiger, festhaltender Mann, der der französischen Beweglichkeit gegenüber gar nicht genug zu schätzen und gerade ein solcher ist wie sie ihn brauchen.

Villemain,« fuhr Goethe fort, »ist vielleicht glänzender als Redner. Er besitzt die Kunst einer gewandten Entwickelung ausdemgrunde, er ist nie verlegen um schlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerksamkeit fesselt und seine Hörer zu lautem Beifall fortreißt; aber er ist weit oberflächlicher als Guizot und weit weniger praktisch.

Was Cousin betrifft, so kann er zwar uns Deutschen wenig geben, indem die Philosophie, die er seinen Landsleuten als etwas Neues bringt, uns seit vielen Jahren bekannt ist. Allein er ist für die Franzosen von großer Bedeutung; er wird ihnen eine ganz neue Richtung geben.

Cuvier, der große Naturkenner, ist bewundernswürdig durch seine Darstellung und seinen Stil; niemand exponirt ein Factum besser als er; allein er besitzt fast gar keine Philosophie; er wird sehr unterrichtete Schüler erziehen, aber wenig tiefe.«

Alles dieses zu hören war mir um so interessanter, als es mit den Ansichten Dumont's über die gedachten [198] Männer sehr nahe zusammentraf. Ich versprach Goethen, ihm die betreffenden Stellen aus dessen Manuscripten abzuschreiben, damit er sie mit seiner eigenen Meinung gelegentlich vergleichen möge.

Die Erwähnung Dumont's brachte das Gespräch auf dessen Verhältniß zu Bentham, worüber sich Goethe also äußerte:

»Es ist für mich ein interessantes Problem,« sagte er, »wenn ich sehe, daß ein so vernünftiger, so gemäßigter und so praktischer Mann wie Dumont der Schüler und treue Verehrer dieses Narren Bentham sein konnte.«

»Bentham,« erwiederte ich, »ist gewissermaßen als eine doppelte Person zu betrachten. Ich unterscheide Bentham das Genie, das die Principien ersann, die Dumont der Vergessenheit entzog, indem er sie ausarbeitete, und Bentham den leidenschaftlichen Mann, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die Grenzen seiner eigenen Lehre überschritt und dadurch sowohl in der Politik als in der Religion zum Radicalen ward.«

»Das aber,« erwiederte Goethe, »ist eben ein neues Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines langen Lebens damit beschließen kann, in seinen letzten Tagen noch ein Radicaler zu werden.«

Ich suchte diesen Widerspruch zu lösen, indem ich bemerkte, daß Bentham, in der Überzeugung von der Vortrefflichkeit seiner Lehre und seiner Gesetzgebung, und bei der Unmöglichkeit sie ohne eine völlige Veränderung [199] des herrschenden Systems in England einzuführen, sich um so mehr von seinem leidenschaftlichen Eifer habe fortreißen lassen, als er mit der äußern Welt wenig in Berührung komme und die Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes nicht zu beurtheilen vermöge.

»Dumont dagegen,« fuhr ich fort, »der weniger Leidenschaft und mehr Klarheit besitzt, hat die Überspannung Bentham's nie gebilligt und ist weit entfernt gewesen, selber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat überdies den Vortheil gehabt, die Principien Bentham's in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in Folge politischer Ereignisse zu jener Zeit gewissermaßen als ein neues zu betrachten war, nämlich in Genf, wo denn auch alles vollkommen gelang und der glückliche Erfolg den Werth des Princips an den Tag legte.«

»Dumont,« erwiederte Goethe, »ist eben ein gemäßigter Liberaler, wie es alle vernünftigen Leute sind und sein sollen, und wie ich selber es bin, und in welchem Sinne zu wirken ich während eines langen Lebens mich bemüht habe.

Der wahre Liberale,« fuhr er fort, »sucht mit den Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, so viel Gutes zu bewirken als er nur immer kann; aber er hütet sich, die oft unvermeidlichen Mängel sogleich mit Feuer und Schwert vertilgen zu wollen. Er ist bemüht, durch ein kluges Vorschreiten die öffentlichen Gebrechen[200] nach und nach zu verdrängen, ohne durch gewaltsame Maßregeln zugleich oft ebenso viel Gutes mit zu verderben. Er begnügt sich in dieser stets unvollkommenen Welt so lange mit dem Guten, bis ihn das Bessere zu erreichen Zeit und Umstände begünstigen.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 3. Februar. Mit Friedrich Soret. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A329-6