1821, 8. Juni.
Mit Friedrich von Müller
Ich traf ihn gegen 6 Uhr Abends ganz allein und gerieth, als ich ihm des edlen, verstorbenen Senators Merkel in Nürnberg Lebensabriß von Roth in München mittheilte und einige Stellen daraus zur Empfehlung [84] vorlas, alsobald in argen und mißlichen Streit mit ihm.
Der Verfasser hatte nämlich, bei Erwähnung von Merkels heterodoxem Freunde Cnopf, geoffenbarte und natürliche Religion in schroffen Gegensatz gestellt, was Goethe zum allerhöchsten mißbilligte. »Hier sieht man den Schelm, der nicht ehrlich herausgeht mit der wahren Farbe,« rief er aus; »das sind die verdammten Rednerkünste, die Alles bemänteln, über Alles hingleiten wollen, ohne das Rechte und Wahre herauszusprechen. Was hat denn der christlichen Religion den Sieg über alle andern verschafft, wodurch ist sie die Herrin der Welt geworden und verdient es zu sein, als weil sie die Wahrheiten der natürlichen Religion in sich aufgenommen? Wo ist denn da der Gegensatz? Die Grenzen fließen ja in einander.«
Nun analysirte er Roth's ganze Phrase, ihre Halbheit und Unrichtigkeit bitter rügend, und ließ mich gewaltig bereuen, gerade diese Stelle hervorgehoben zu haben, was auch eigentlich gar nicht in meiner Absicht gelegen hatte, da ich nur eine andere weit treffendere nicht gleich finden konnte.
Das Gespräch ging auf Röhr und den Rationalismus über. Goethe tadelte heftig, daß das Publicum an den sentimentalen Faseleien eines Schulze, an der Nullität eines .... weit mehr Geschmack finde, als an Röhr's klarer Gediegenheit und aufgeklärter Consequenz. Das hänge aber mit der Sinnlichkeit, die jeder[85] geschmeichelt verlange, zusammen. Vernünftig sein und blos vernünftig handeln aber wolle niemand. Als ich beklagte, daß Röhr nicht eine kleine Dosis Phantasie mehr habe, und das Gemüth mehr anspreche, behauptete er heftig, dieses sei mit Röhr's streng abgeschlossener Individualität unvereinbar, und wenn man ihm nur einen Tropfen Phantasie, wie aus dem Wunderfläschchen des heiligen Remigius, womit Frankreichs Könige gesalbt würden, auf's Haupt träufeln könnte, so würde er eben ein ganz anderer Mann sein. Wie sich einmal der geistige Organismus des Menschen gebildet, darüber könne er nicht hinaus; die Natur schaffe nichts Ganzes in den Individuen, während der Charakter der Gattung freilich ein Ganzes sei, und man die verschiedenen menschlichen Eigenschaften eigentlich nicht zersplittert denken dürfe. Die Brünette könne nun einmal nicht zugleich blond sein, weil es sonst kein Individuum wäre. Alle Geistliche, die nicht wahre Rationalisten seien, betrügen sich selbst oder andere. Das Wort »Betrug« wollte ich nicht zugestehen; er gab es endlich preis, ohne jedoch den Sinn desselben auszugeben, und ich fühlte abermals, wie schwer es halte, mit ihm bei der Schärfe und vollendeten Klarheit aller seiner Begriffe und Redewendungen zu disputiren.
Er zeigte mir hierauf illuminirte Bilder von kölnischen gemalten Fenstern in der Kirche des heiligen Humbert, wir kamen aber bald wieder auf philosophische [86] Gegenstände, auf die schöne Zeit der Herzogin Mutter und auf sein Verhältniß zu Wieland und Herder zu sprechen.
Über die Ursachen seiner Spannung mit Herdern, den er drei Jahre lang in der letzten Zeit nicht sah, theilte er Vertraulichstes mit, unter feierlichstem Handschlag.
In Jena trafen sie sich dann einmal wieder. Goethe besuchte Herdern zuerst. Sie sprachen lange und doch – setzte er hinzu – getraue ich mir den Ausgang dieses Gesprächs nicht zu offenbaren. Herdern selbst muß man vieles wegen seiner steten Kränklichkeit zu gute halten; leider hatte er die Reizbarkeit und Bitterkeit im Urtheil, die ihm von Jugend auf angeklebt, in's Alter hinüber getragen. Aber Unarten, die in der Jugend so gar interessant und am Manne noch erträglich sind, werden ganz unleidlich, wenn man sie in's Alter hinüber nimmt. Je mehr man Herdern geliebt, je mehr habe man sich von ihm entfernt, entfernt halten müssen, um ihn nicht todt zu schlagen.
Wieland's Unarten sind ganz anderes und oft wahrhaft liebenswürdig gewesen. Einsiedel, den zuweilen auch ein grandioser Sinn angewandelt, habe einst, als ich mich über Wieland's unleidliche Willkür im Urtheil beklagte, ein trefflich Wort gesprochen. Wenn man Wieland selten sieht, sagte er, muß man sich über ihn ärgern, sieht man ihn täglich, so findet man erst Harmonie in seinem Wesen und erstaunt über den Umfang [87] dessen, was man von ihm Treffliches hört und lernt. Böttiger war eigentlich der böse Dämon unter jenen Männern, der alles Unheil anzettelte.
»Die Herzogin Mutter war es, die sich höchst gemäßigt bei allem diesen benommen, die entgegengesetzten Geister immer freundlich auseinander gehalten und mir nie den geringsten Stoff zu einer Klage gegeben hat. Sie war ein allerliebstes, vortreffliches, aber indefinibles Wesen. Inzwischen« – setzte er hinzu – »um das oft gebrauchte Gleichniß, daß wir zu nah aneinanderstehende Bäume gewesen, beizubehalten, – wenn jene Verstimmungen mich hinderten an Ausbreitung, so trieben sie mich desto mehr in die Höhe: ich blieb mir getreu und lebte auf meine Weise. Jeder von uns hätte eines eignen, abgeschlossenen Kreises für sich bedurft; in einer großen Stadt, z.B. in Berlin hätten wir ihn gefunden, während wir uns hier oft durchkreuzten. Und so war ich stets und werde es bleiben, so lange ich lebe und darüber hinaus hoffe ich auch noch auf die Sterne; ich habe mir so einige ausersehen, auf denen ich meine Späße noch fortzutreiben gedenke.«
Wir sprangen über auf die »Wahlverwandtschaften« und auf die »Wanderjahre.« »Ich begreife wohl,« sagte er, »daß den Lesern Vieles räthselhaft blieb, daß sie sich nach einem zweiten Theile sehnten; aber da ja Wilhelm so Vieles schon in den Lehrjahren gelernt, so muß er ja auf der Wanderschaft desto mehr Fremdes [88] an sich vorübergehen lassen; die Meisterjahre sind ohnehin noch schwieriger und das Schlimmste in der Trilogie. Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen und überall steckt noch etwas anderes dahinter. Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.« Dann sprach er von Fräulein Caspers in Wien, die ihn durch Struve habe grüßen lassen, und daß sie eines jener lieblichen, aber neutralen adiaphoren weiblichen Wesen sei, die, mit geringer Sinnlichkeit ausgestattet, um so sicherer durch die Welt gehen, weil sie eben nicht mehr anreizen, als daß man gerne bei ihnen verweilt.
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