1810, Februar (?).


Mit Johann Daniel Falk

In einem Gespräche über Literatur kam auch die Rede auf Kotzebue und dessen »Merkwürdigstes Lebensjahr«. Abgesehen von den Abenteuern der Reise und dem harten Schicksale des Mannes, das Theilnahme fodere und verdiene, sei es, wie Goethe versicherte, kaum möglich, bei einem von allen Seiten so reich vorliegenden Stoffe, etwas an sich Gehaltloseres zu Tage zu fördern. »Ich bin gewiß, wenn einer von uns im Frühling über die Wiesen von Oberweimar herauf nach Belvedere geht, daß ihm tausendmal Merkwürdigeres in der Natur zum Wiedererzählen oder zum Aufzeichnen in sein Tagebuch begegnet, als dem Kotzebue auf seiner ganzen Reise bis an's Ende der Welt zugestoßen ist. Und das macht blos, weil er[300] von Natur nicht vermögend ist, aus sich und seinem Zustande heraus in irgend eine tiefere Betrachtung einzugehen. Kommt er wohin, so läßt ihn Himmel und Erde, Luft und Wasser, Thier- und Pflanzenreich völlig unbekümmert; überall findet er nur sich selbst, sein Wirken und sein Treiben wieder, und wenn es in Tobolsk wäre, so ist man gewiß damit beschäftigt, entweder seine Stücke zu übersetzen, einzustudiren, zu spielen oder wenigstens eine Probe davon zu halten. Übrigens bin ich keineswegs ungerecht gegen sein ausgezeichnetes Talent für alles, was Technik betrifft. Nach Verlauf von hundert Jahren wird sich's schon zeigen, daß mit Kotzebue wirklich eine Form geboren wurde. Schade nur, daß durchaus Charakter und Gehalt mangelt. Vor wenig Wochen habe ich seinen ›Verbannten Amor‹ gesehen, und diese Vorstellung hat mir ein besonderes Vergnügen gemacht; das Stück ist mehr als geistvoll, es sind sogar Züge von Genie darin. Dasselbe gilt von den ›Beiden Klingsbergen‹, die ich für eine seiner gelungensten dramatischen Arbeiten halte, wie ihm denn überhaupt die Darstellung der Libertinage weit besser, als die einer schönen Natur zu glücken pflegt. Die Verderbtheit der höhern Stände ist das Element, worin Kotzebue sich selbst übertrifft. Auch seine ›Corsen‹ sind mit großem Geschicke gearbeitet, und die Handlung ist wie aus einem Guß. Sie sind beim Publicum beliebt, und das mit völligem Rechte. Versteht sich, daß man[301] nach dem Inhalte, wie immer, nicht besonders fragen darf. Übrigens sind technische Vorzüge dieser Art bei uns Deutschen noch keineswegs so häufig, daß man sie nicht in Anschlag bringen oder gar verächtlich darüber wegsehen sollte. Könnte Kotzebue sich inner halb des ihm von Natur angewiesenen Kreises halten, so würde ich der erste sein, der ihn gegen ungerechte Vorwürfe in Schutz nähme, – wir haben kein Recht, irgend Jemandem Dinge abzufordern, die er von Natur aus nicht zu leisten im Stande ist – aber so mischt er sich in tausend Dinge, wovon er kein Wort versteht. Er will die Oberflächlichkeit eines Weltmannes in die Wissenschaften übertragen, was die Deutschen, und zwar mit Recht, für etwas völlig Unerlaubtes zu halten pflegen. Indeß auch diese Unart möchte ihm noch hingehen, wenn er nur nicht dabei in eine fast unerhörte Eitelkeit verfiele. Ob diese, oder die Naivetät, womit er sie an den Tag legt, größer ist, will ich nicht untersuchen. Er kann nun einmal nichts Berühmtes um, über oder neben sich leiden, und wenn es ein Land, und wenn es eine Stadt, und wenn es eine Statue wäre. In seiner ›Reise nach Italien‹ hat er dem Laokoon, der mediceischen Venus und den armen Italienern selbst alles nur erdenkliche Böse nachgesagt. Ich bin gewiß, besonders was Italien betrifft, er hätte es weit leidlicher gefunden, wenn es nur nicht vor ihm so berühmt gewesen wäre. Aber da sitzt der Knoten! Zur Hälfte ist er ein Schelm, zur andern Hälfte aber,[302] besonders da, wo es die Philosophie oder die Kunst betrifft, ist er ehrlich genug, kann aber nichts dafür daß er sich und andern, wo davon die Rede ist, jedesmal und zwar mit dem erheblichsten Anstande irgend etwas weismacht.«

[303]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1810. 1810, Februar (?). Mit Johann Daniel Falk. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A253-E