1823, 2. October.


Abend bei Goethe

Von 5-11 Uhr [v. Müller] bei Goethe.

Beim Eintreten gleich beschwichtigte er meinen Groll [283] über Nichteinladung zum heutigen Mittag, wo Reinhard's Geburtstag bei ihm gefeiert wurde, auf die freundlichste Weise. Dadurch fiel bald das Gespräch auf seine Geselligkeit überhaupt und ich sprach sehr offen über die deßfallsigen Wünsche seiner Freunde und der Fürstlichkeiten.

Goethe nahm meine Aufrichtigkeit sehr gut auf und entwickelte seine Gegengründe, die hauptsächlich auf Frau v. H. (Heygendorff) hinausliefen und die ich nicht zu erkennen vermochte. Seine Äußerungen über Reinhard waren rührend, »ich lasse ihn so bald nicht fort, ich klammere mich an ihn an.«

Schultz spielte, Ottilie sang, Soret kam, Goethe mineralogisirte mit ihm lange und sprach nachher sehr poetisch darüber. Es gebe wohl verschiedene Ansichten in den Wissenschaften; aber sie würden oft nur durch eine papierne Scheidewand veranlaßt, die leicht mit dem Ellbogen durchzustoßen sei. Bald ließ er mich wieder allein zu ihm in die Ecke des blauen Zimmers setzen und knüpfte das Gespräch über Organisation seiner Winter-Geselligkeit wieder an.

»Seht, wenn es mir wieder wohl unter Euch werden soll diesen Winter, so darf es mir nicht an munterer Gesellschaft, nicht an heiteren Anregungen fehlen, nachdem ich zu Marienbad deren in so reicher Fülle empfunden habe. Sollte es nicht möglich sein, daß eine ein für allemal gebetene Gesellschaft, sich täglich, bald in größerer, bald in kleinerer Zahl, in meinem Hause [284] zusammen fände? Jeder käme und bliebe nach Belieben, könnte nach Herzenslust Gäste mitbringen. Die Zimmer sollten von sieben Uhr an immer geöffnet, erleuchtet, Thee und Zubehör reichlich bereit sein. Man triebe Musik, spielte, läse vor, schwatzte, Alles nach Neigung und Gutfinden. Ich selbst erschiene und verschwände wieder, wie der Geist es mir eingäbe. Und bliebe ich auch mitunter ganz weg, so dürfte dies keine Störung machen. Es kommt nur darauf an, daß eine unserer angesehensten Frauen, gleichsam als Patronin dieses geselligen Vereins aufträte und Niemand würde sich besser dazu eignen, als Frau von Fritsch. So wäre denn ein ewiger Thee organisirt, wie die ewige Lampe in gewissen Capellen brennt. Helft mir, ich bitte Euch, diese vorläufigen Ideen und Pläne fördern und ausbilden.«

Hierauf erfolgte vertraulichste Mittheilung seiner Verhältnisse zu Levezows. »Es ist eben ein Hang,« der mir noch viel zu schaffen machen wird, aber ich werde darüber hinauskommen. Iffland könnte ein charmantes Stück daraus fertigen, ein alter Onkel, der seine junge Nichte allzuheftig liebt.

Nach einer Weile fing er an meine und Riemer's allzugroße Gelindigkeit in der Kritik des Schenk'schen Gedichts auf Canova zu tadeln. Es sei kein Funke ächten poetischen Geistes darinnen, nur Rhetorik, ja sogar falsche, verderbliche Motive. Unsre eignen Productionen seien ganz gut, in der Kritik aber bewiesen wir uns nicht als seine ächten Schüler. Man müsse [285] nur das Beste preisen. Man müsse sich stets die schwersten Aufgaben machen und in Dichtungen nur auf reiche, gehaltvolle Motive eingehen.

Dann zeigte er mir eine Menge Landschaftszeichnungen von 1810 aus seinem Jenaischen Aufenthalte vor, und klagte, daß er seitdem nicht mehr zu zeichnen vermocht und dadurch unendlich an Selbstbefriedigung verloren habe. Je schwerer die Zunge ihm wurde, je geistreichere und humoristischere Ideen drängten sich hervor. Wir gingen in's Eßzimmer, wo die andern sehr lustig waren. Er machte allerliebste Scherze über ungeknüpft herunterhängende Mützenbänder; kam dann auf Byron, pries seinen »Cain« und vorzüglich die Todschlag-Scene. »Byron allein lasse ich neben mir gelten! Walter Scott ist nichts neben ihm.«

»Die Perser [vielmehr Araber] hatten im fünften Jahrhundert nur sieben Dichter, die sie gelten ließen, und unter den verworfenen waren mehrere Canaillen, die besser als ich waren.«

Als er merkte, daß Ulrike schläfrig war, ergrimmte er scherzhaft, daß seine persische Literaturgeschichte an ihr und dem übrigen jungen Volke verschwendet sei und jagte sie mit komischer Heftigkeit alle fort.

Seit lange hatte ich Goethe nicht so überreich an Witz, Humor, Gemüthlichkeit und Phantasie gefunden. Dazu gehörte auch die zarteste Erzählung von seiner Schönheit in Marienbad und von der Bekanntschaft mit der hübschen Regensburgerin, die v. Helldorf anbetete.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 2. October. Abend bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A1E5-C