1822, 3. December.
Abend bei Goethe
Bei Goethe in einer Abendgesellschaft. Die Herren Riemer, Coudray Meyer, Goethes Sohn und Frau von Goethe waren unter den Anwesenden.
Die Studenten in Jena sind in Aufstand begriffen; man hat eine Compagnie Artillerie hingeschickt, um sie zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern, die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder Vorwand der Revolte gegeben. Alle diese Lieder erhielten beim Vorlesen entschiedenen Beifall, besonders wegen des Talents, das darin sichtbar; Goethe selbst fand sie gut und versprach sie mir [Soret] zur ruhigen Durchsicht.
Nachdem wir daraus eine Zeit lang Kupferstiche und kostbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns die Freude, das Gedicht »Charon« zu lesen. Die klare, deutliche und energische Art mußte ich bewundern, womit Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine so schöne Deklamation gehört. Welches Feuer! Welche Blicke! Und welche Stimme, abwechselnd donnernd und dann wieder sanft und milde! Vielleicht entwickelte er an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum, in dem wir uns befangen; aber doch war in seinem Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünschen mögen.
[205] Goethe sprach darauf über Litteratur und seine Werke, sowie über Frau von Staël und Verwandtes. Er beschäftigt sich gegenwärtig mit der Übersetzung und Zusammenstellung der Fragmente vom »Phaëthon« des Euripides. Er hat diese Arbeit bereits vor einem Jahre angefangen und in diesen Tagen wieder vorgenommen.
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