1829, 19. August.
Mit Adam Mickiewicz,
Anton Edward Odyniec u.a.
Gestern, genau zu Mittag, hielt ein eleganter Wagen der Frau Ottilie [v. Goethe] vor unserem Hôtel, und eine Viertelstunde später stiegen wir aus demselben bei [115] der Gartenpforte des Landhauses Goethes aus, wo uns schon ein alter Diener Goethes erwartete, der uns durch den Garten führte, die Thüre des Salons öffnete, uns einließ und fortging ..... Wir warteten, halblaut sprechend, beinahe eine Viertelstunde. Adam fragte, ob mir das Herz poche. In der That war das eine Erwartung, wie die irgend einer übernatürlichen Erscheinung. Er selber erinnerte daran, wie er vordem die Frau S[zymanowska] darum beneidet hatte, daß sie Goethe gesehen und mit ihm gesprochen. Da hörten wir oben Schritte. Adam citirte mit Nachdruck den Vers aus Zgierski's ›Kiszka‹: Man hört ein Gehen und ein hohes Schreiten – und kaum, daß wir dieses, im Augenblicke passendsten Citates uns erkühnten, öffnete sich die Thüre, und herein trat – Jupiter! Mir wurde heiß. Und ohne Übertreibung: es ist etwas Jupiterhaftes in ihm. Der Wuchs hoch, die Gestalt kolossal, das Antlitz würdig, imponirend, und die Stirne – gerade dort ist die Jupiterhaftigkeit. Ohne Diadem strahlt sie von Majestät. Das Haar, noch wenig weiß, ist nur über der Stirne etwas grauer. Die Augenbrauen klar, lebhaft, zeichnen sich noch durch eine Eigenthümlichkeit aus, nämlich durch eine lichtgraue, wie emaillirte Linie, welche die Iris beider Augen am äußeren Rande rings umfaßt. Adam verglich sie dem Saturnusringe; wir sahen bisher bei niemand etwas Ähnliches. Er trug einen dunkelbraunen, von oben bis herab zugeknüpften Überrock; auf dem Halse ein [116] weißes Tuch, das durch eine goldene Nadel kreuzweise zusammengehalten wurde; keinen Kragen. Wie ein Sonnenstrahl aus Gewölke verklärte ein wunderbar liebliches, wohlwollendes Lächeln die Strenge dieser Physiognomie, als er schon beim Eintritte uns mit Verbeugung und Händedruck begrüßte und dazu sprach: »Pardon Messieurs que je vous ai fait attendre. Il m'est très agréable de voir les amis de Mme. Szymanowska qui m'honore aussi de son amitié.« Du [Korsak] mußt nämlich wissen, daß Goethe ein großer Verehrer der Frau S. war und über sie sprechend äußerte: »Elle est charmante comme elle est belle, et gracieuse comme elle est charmante.« Sodann, als wir uns gesetzt hatten, wandte er sich zu Adam und versicherte ihm: er wisse, daß er an der Spitze der neuen Richtung stehe, welcher sich die Literatur bei uns wie in ganz Europa zukehre. »Ich weiß es aus eigener Erfahrung,« fügte er hinzu, »was das für eine schwere Sache ist, gegen den Strom zu schwimmen.« »Auch wir wissen es,« antwortete Adam, »nach den Erfahrungen Ew. Excellenz, wie große Genien beim Übergange durch sie die Strömung sich nach umlenken.« Goethe nickte einwenig dazu, wie zum Zeichen, daß er das Compliment fühle, und weitersprechend beklagte er, daß er nur wenig von der polnischen Literatur kenne und keine slawische Sprache verstehe. »Mais l'homme a tant à faire dans cette vie.« Er fügte aber hinzu, daß er Adam schon aus [117] den Journalen kenne, sowie auch Fragmente aus seiner neuen Dichtung (›Wallenrod‹), welche ihm Frau S. freundlichst in einer deutschen Übersetzung (von Fräulein Caroline Janisch, einer Freundin Adam's in Moskau) zugesendet, oder welche er später in den Leipziger Jahrbüchern [?] gelesen hatte. Dorther wisse er auch, wie er, sich zu mir wendend, versicherte, von dem von mir herausgegebenen Almanach (Melitela), welcher Productionen aller jetzt lebenden polnischen Dichter enthält, habe auch dort die Übersetzung meiner Dichtung »Die Gefangene des Litauers« gelesen, und lobte die Lebendigkeit der Handlung und des Stiles »autant que je puis en juger par la traduction.« Ich erröthete mächtig, ob aus Beschei denheit oder Freude weiß ich nicht, gewiß aber aus mächtiger Erregung. Adam warf inzwischen einige Worte über meine Übersetzungen aus Bürger hin. Im Blicke Goethes, welchem meine erhobenen Augen begegneten, glaubte ich den Ausdruck wohlwollender Güte zu sehen. Als ihm dann Adam auf sein Verlangen den ganzen Gang der polnischen Literatur wunderbar concis und klar vorführte, und zwar von der ältesten bis zu der neuesten Zeit, wobei er denselben mit den historischen Epochen zusammenhielt und verglich, war in den auf ihn unverwandt gerichteten Augen Goethes nicht bloß eine tiefe Würdigung, sondern auch ein lebhaftes Interesse an dem Erzählten zu gewahren. Die Fingerbewegung seiner auf das Knie gestützten Hand schien [118] dasselbe zu bezeugen. Nota bene: ich vergaß zu sagen, daß Goethe im Beginne dieses Gesprächs sich des Deutschen bediente; kaum hatte ihm aber Adam, und zwar auch deutsch gesagt, daß er zwar des Deutschen immerhin mächtig sei, aber es nicht wage, sich dessen in seiner Gegenwart zu bedienen, so kehrte er gleich zu dem Französischen zurück. Im weiteren Laufe des Gespräches behauptete Goethe, daß bei dem immer schärfer hervortretenden Streben nach allgemeiner Wahrheit auch die Poesie und überhaupt die Literatur einen immer allgemeineren Character annehmen müsse, gestand aber Adam zu, daß sie nie besondere nationale Züge verlieren würde. Von da ging das Gespräch auf die Volkslieder über, und mit lebendigem Interesse fragte Goethe und hörte zu, was Adam und zumtheil auch ich ihm über die Verschiedenheit im Character und den Tonweisen unserer provinciellen Gesänge erzählte, und wiederholte das alles später selber beim Mittagessen für die andern. Damit endigte unser literarisches Gespräch.
Dann sich zuerst zu Adam, dann zu mir wendend, fragte er um unsere weiteren Reiseprojecte, indem er sich gefühlvoll Italiens und Roms erinnerte, wobei er uns, wie er sagte, darum beneidete, daß wir dorthin gingen, woher er einst in seiner Jugend die liebsten Erinnerungen zurückgebracht habe. Weiter sprach er mit Adam über seine Bekannten in Berlin, die jener auf der Durchreise kennen gelernt hatte, und zwar besonders [119] über Professor Gans; dann kehrte er wieder zu Frau S. zurück und that einiger anderen ihm einst bekannt gewordenen Polen Erwähnung, namentlich Johann Potocki's und der Fürstin Lubomirski, denen beiden er großes Lob spendete. Als wir, uns empfehlend, aufstanden, bedauerte er sehr, daß er wegen des eben strömenden Regens uns nicht sein Gärtchen (son petit jardin) zeigen könne. »Mais j'aurai le plaisir de jouir encore de votre société à diner chez ma bellefille;« und, sich lächelnd zu mir wendend, fügte er hinzu: »Et nous aurons quelques jolies dames et demoiselles; j'espère que ça vous fera plaisir.« Wir lachten beide und er wandte sich auch lachend schnell zu Adam, ihn gleichsam vertraulich fragend: »N'est ce pas?« Darauf reichte er uns die Hand, und als wir schon auf der Stiege waren, öffnete er nochmals die Salonthüre und wiederholte: »Au revoir!«
»Wie zum Teufel gescheidt ist der!« Das war das erste Wort Adam's, als wir die Treppe hinabgingen. Und auch ich habe einen Beweis an mir, wie schnell er findet, was jemandem gefällt oder gefallen möchte; denn könnte mir's einfallen, daß an diesem Tage und neben Goethe irgend ein anderer Stern über meinem Geisteshorizonte aufgehen könne? Und der alte Seher prophezeite das. – Inmitten der Gäste, die wir, um ein Viertel vor drei kommend, bei Frau Ottilie antrafen, waren auch Vogels, Er Hofrath und Leibarzt des Großherzogs und Sie eine Schönheit in [120] der vollen Bedeutung des Wortes. Es ist schwer, neben ihrer, den Grazien eigenen Gestalt und Bewegung, noch über ihre Züge zu sprechen – über diese ›Musik im Antlitz‹, wie es Lord Byron bezeichnet, aber überlese Dir die Beschreibung Theresens (sie selber heißt Rosa) in seiner Dichtung ›Mazeppa‹ und Du wirst beinahe die ähnlichste Vorstellung von ihr bekommen.
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Goethe kam Punkt drei Uhr in einem, wie mir schien neuerem Überrocke, aber von derselben Farbe, mit einem weißeren Halstuche, als zu Hause, sonst aber wie dort gekleidet und, wie es schien, heiteren Humors. Die sämmtlichen Damen gingen ihm entgegen, und er begrüßte jede mit einem Händedrucke und sprach lächelnd mit ihr. Die Reihe kam dann an uns. Goethe fragte seinen Sohn, ob er uns mit den anwesenden Gästen bekannt gemacht habe, und, auf das Fräulein hinweisend, sagte er: »c'est la petite-fille 1 de notre Schiller.« Ich weiß aber nicht, ob in gerader Linie und habe mir ihren Zunamen nicht gemerkt; ich weiß nur, daß sie anders heißt und so muß sie wohl eine Enkelin von der Tochter her sein. Doch gestehe, daß das immerhin etwas bedeutet, eine Enkelin Schiller's im Hause Goethes zu sehen.
[121] Bei Tische saß Adam zwischen Goethe und Frau Ottilie; ich hatte von der Einen Seite die angenehme Nachbarschaft der Frau Vogel, von der anderen die des Fräuleins Pappenheim. Das Gespräch war lebhaft, ..... das ich selbstverständlich, ob gern oder ungern, nach beiden Seiten hin führen mußte und überdies mein Ohr so viel möglich nach dem Sprechen Goethes mit Adam hin richtete. Trotzdem konnte ich selten etwas erhaschen, außer wenn Goethe seine Stimme erhob, sei es, daß er zu entfernteren sprach, sei es, daß er seine Worte an alle richtete, wo dann auch alle schweigend zuhörten. Und so erzählte er unter anderm von den alten deutschen Stadtsoldaten, deren er in seiner Jugend in Straßburg [?] kennen gelernt hatte, wie sie, auf den Festungswällen Wache stehend, ihr Gewehr auf die Erde legten und Strümpfe strickten. Und er erzählte das so launig, daß es unmöglich war, dabei nicht zu lachen. Im allgemeinen schien er heiteren und scherzhaften Humors zu sein, doch gab es auch Momente, in denen er sich gravitätischer äußerte. So entgegnete er Herrn Vogel auf seine Behauptung, die Theorie müsse immer der Praxis vorangehen, mit Nachdruck, daß sie immer mit der Praxis zusammengehe; »denn es ist den Menschen unmöglich, körperlose Seelen zu schaffen.« Herrn Eckermann dagegen, der ihm gegenüber saß, wiederholte er Wort für Wort das, was er von Adam über die Volkslieder vernommen. Dieses Wiederholen fremder [122] Worte muß seine Gewohnheit sein, und sicher um der Artigkeit willen; denn als er nach dem Essen beim Kaffee mit der Schale in den Händen neben mir stehend mich heiter auf deutsch fragte: »Nun, wie gefallen denn Ihnen unsere Damen?« und ich, durch diesen Ton ermuthigt, mich verneigend und lächelnd »Paradiesischer Vogel, Excellenz!« zur Antwort gab, lachte Goethe laut auf und bewegte sich mit großen Schritten zu den Damen, um ihnen diese Worte zu wiederholen. Frau Ottilie und die anderen sahen lächelnd nach mir herüber; Frau Rosa wurde purpurroth, aber ihr Blick beruhigte mich auf's schnellste, daß das nicht aus Zorn geschah. – Später, als uns Herr August eine Sammlung Büsten großer Männer und sein Mineraliencabinet zeigte, und darin namentlich viele sehr gut erhaltene versteinerte Zähne verschiedener Thiere, machte Adam die Bemerkung, daß kein vorsündfluthlicher Dentist schönere besitzen konnte. Goethe gefiel dieser Scherz, wie es schien, so gut, daß er sich sogleich zu den Damen wendete und es ihnen lächelnd wiederholte.
Vor 6 Uhr ging Goethe in seine Zimmer, die er oben bewohnt und nahm von jedem mit einem »au revoir« Abschied.
1 Das gemeinte Schauspiel hieß: ›Drei Tage aus dem Leben eines Spielers‹, von Theodor Hell nach dem Französischen.