a.

Montag den 25. Januar... war Wieland's Begräbnißtag ..... Ich fühlte mich zu tief erschüttert, als daß ich diesem Leichenzuge hätte beiwohnen können. Auch war ich auf Nachmittag zu Goethe beschieden, für dessen Gesundheit wir mehr, als jemals unter diesen Umständen zu fürchten hatten. Er war ebenfalls durch diesen Todesfall äußerst bewegt .... Als unter anderm zufällig auch die Rede auf seine »Natürliche Tochter« kam, von welcher gestern... eine Vorlesung gehalten wurde, fragte ich ihn, ob wir bald eine Fortsetzung derselben erwarten dürften. Goethe schwieg eine Weile, alsdann gab er zur Antwort: »Ich wüßte in der That nicht, wo die äußeren Umstände zur Fortsetzung oder gar zur Vollendung derselben herkommen sollten. Ich habe es meinerseits sehr zu bereuen, auf Schillers Zureden von meinem alten Grundsatze abgegangen zu sein. Dadurch, daß ich die bloße Exposition dieses Gedichtes habe drucken lassen – denn für mehr kann ich das selbst nicht ansprechen, was im Publicum davon vorhanden ist – habe ich mir alle Freude an meiner Arbeit gleichsam imvoraus hinweggenommen. Die verkehrten Urtheile, die ich auf diesem Wege erfahren [52] konnte, mußten dann auch das Ihrige dazu beitragen. Kurz, ich bin selber so völlig von dieser Arbeit zurück, daß ich damit umgehe, auch sogar den Entwurf des Ganzen unter meinen Papieren zu zerstören, damit nach meinem Tode kein Unberufener kommt, der es auf eine ungeschickte Art fortsetzt.«

Ich bemerkte, um Goethes Mißmuth etwas zu mildern, was Herder ehemals zu mir von dieser Tragödie gesagt hatte, und führte zu dem Ende seine eigenen Worte an. Er nannte sie die köstlichste, gereifteste und sinnigste Frucht eines tiefen, nachdenkenden Geistes, der die ungeheuern Begebenheiten dieser Zeit still in seinem Busen getragen und zu höheren Ansichten entwickelt hätte, zu deren Aufnahme die Menge freilich gegenwärtig kaum fähig wäre. »Wenn dem so ist,« fiel mir Goethe ins Wort, »so laßt mich das Obengesagte wiederholen: wo sollen wir die Zeitumstände zur Fortsetzung eines solchen Gedichtes hernehmen? Was jener geheimnißvolle Schrank verberge, was ich mit dem ganzen Gedichte, was ich mit dem Zurücktreten der Fürstentochter in den Privatstand bezweckte - darüber wollen wir uns in keine nähere Erklärung einlassen; der Torso selbst und die Zeit, wenn der finstere Parteigeist, der sie nach tausend Richtungen bewegt, ihr wieder einige Ruhe der Betrachtung gestattet, mag für uns antworten!« – »Gerade von diesen Punkten aus war es,« fiel ich ihm ins Wort, »wo Herder eine sinnreiche Fortsetzung und Entwickelung des allerdings [53] mehr epischen als dramatischen Stoffes erwartete. Die Stelle besonders, wo Eugenie so unschuldig mit ihrem Schmucke spielt, indeß ein ungeheures Schicksal, das sie in einen andern Welttheil wirft, schon dicht hinter ihr steht, verglich Herder sehr anmuthig mit einem Gedicht der griechischen Anthologie, wo ein Kind unter einem schroff herabhängenden Felsen, der jeden Augenblick den Einsturz droht, ruhig entschlafen ist. Im Ganzen aber – wie er zugleich bei dieser Gelegenheit hinzusetzte – ist der Silberbleistift von Goethe für das heutige Publicum zu zart; die Striche, die derselbe zieht, sind zu fein, zu unkenntlich, ich möchte fast sagen, zu ätherisch. Das an so arge Vergröberungen gewöhnte Auge kann sie eben deßhalb zu seinem Charakterbild zusammenfassen. Die jetzige literarische Welt, unbekümmert um richtige Zeichnung und Charakter, will durchaus mit einem reichergiebigen Farbenquast bedient sein!« – »Das hat der Alte gut und recht aufgefaßt!« äußerte Goethe bei diesen Worten. »Indeß,« nahm ich die Rede wieder von Neuem auf und fuhr fort: »Herder wünschte nichts angelegentlicher als die Beendigung eines Werkes, das er eben wegen seiner Einfalt und Zartheit und der Perlenebne seiner Diction, wie er es nannte, mit keinem jener Produkte vertauschen möchte, die, in Farben schwimmend, die Ungewißheit ihrer Umrisse nur allzuoft durch ein glänzendes Colorit verbergen.« Goethe meinte hierauf, er wollte selbst, es wäre so und Herder's Wunsch damals in Erfüllung [54] übergegangen; »nun aber,« wie er sogleich hinzusetzte, »ist es für uns beide zu spät, ich werde dieses Gedicht so wenig vollenden, als es Herder jemals lesen wird.«

Unbemerkt lenkte sich das Gespräch von hier aus wieder auf Wieland, »dem,« wie Goethe bemerkte, »es allein gegeben war, dem Publicum theilweise seine Werke im ›Teutschen Merkur‹ vorzulegen, ohne daß er durch die verkehrten Urtheile der Menge, mit denen er sich dadurch in Berührung setzte, je die Freude an seiner Arbeit verlor. Er änderte sie auch wohl dem Publicum zu Gefallen ab, welches ich da, wo das Werk aus einem Gusse ist, am wenigsten gutheißen kann.« – »Um uns der trüben Gedanken in diesen Tagen zu entheben, haben wir kürzlich wieder den ›Pervonte‹ zur Hand genommen. Die Plastik, der Muthwille dieses Gedichtes sind einzig, musterhaft, ja völlig unschätzbar. In diesem und ähnlichen Produkten ist es seine eigentliche Natur, ich möchte sogar sagen, aufs allerbeste, was uns Vergnügen macht. Der unvergleichliche Humor, den er besaß, war, sobald er über ihn kam, von einer solchen Ausgelassenheit, daß er mit seinem Herrn und Gebieter hinging, wohin er nur wollte. Mochte sich derselbe über Sittenlehre, Welt und geselligen Anstand tausenderlei weis machen, und sich und andern seines Gleichen unverbrüchliche Regeln und Gesetze darüber in Menge vorschreiben, sie wurden alle nicht gehalten, sobald er ins Feuer, oder vielmehr, sobald das Feuer [55] über ihn kam. Und da war er eben recht, und das, was er immer hätte sein sollen, eine schöne, höchst anmuthige Natur. Ich erinnere mich noch der Vorlesung eines der ersten Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹ [›das Wintermärchen‹], das er in Versen bearbeitete, und worin das ›Fische! Fische! thut ihr eure Pflicht‹ vorkommt. In diesem ersten Entwurfe war alles so curios, so allerliebst toll, närrisch, phantastisch, daß ich auch nicht die Änderung der kleinsten Zeile davon mir würde gestattet haben. Wie sollte das aber Wieland über sein Herz bringen, der Kritik, womit er sich und andere sein Lebelang plagte, ein solches Opfer darzubringen? In der rechten Ausgabe mußte das Tolle verständig, das Närrische klug, das Berauschte nüchtern werden. Ich möchte Sie wohl aufmuntern, dergleichen Gedichte wie ›Pervonte‹ und andere öfters in Gesellschaft vorzulesen. Es fordert indessen einige Vorbereitung: Wieland's Verse wollen mit einer prächtigen Lebendigkeit vorgetragen sein, wenn man sich einer augenblicklichen Wirkung davon versichern will. Es ist ein unvergleichliches Naturell, was in ihm vorherrscht: alles Fluß, alles Geist, alles Geschmack! Eine heitre Ebene ohne den geringsten Anstoß, wodurch sich die Ader eines komischen Witzes nach allen Richtungen ergießt und, je nachdem die Capricen sind, wovon sein Genius befallen wird, auch sogar seinen eigenen Urheber nicht verschont. Keine, auch nicht die entfernteste Spur von jener bedachtsam mühseligen [56] Technik, die einem die besten Ideen und Gefühle durch einen verkünstelten Vortrag zuwidermacht, oder wohl gar auf immer verleidet. Eben diese hohe Natürlichkeit ist der Grund, warum ich den Shakespeare, wenn ich mich wahrhaft ergötzen will, jedesmal in der Wieland'schen Übersetzung lese. Den Reim behandelte Wieland mit einer großen Meisterschaft: ich glaube, wenn man ihm einen ganzen Setzkasten voll Wörter auf sein Schreibepult hingeworfen hätte, er wäre damit zu Rande gekommen, sie zu einem lieblichen Gedichte zu ordnen. Von der neuen Schule und der Ansicht, womit sie sich Wieland und seinen Schriften gegenüberstellte und seinen wohlverdienten, vieljährigen Ruhm dadurch in Schatten zu bringen hoffte, möchte ich lieber ganz geschwiegen haben. Sie hatten es freilich so übel nicht vor; sie wollten einen falschen Enthusiasmus auf die Bahn bringen, und dabei mußte ihnen freilich Wieland's Verspottung alles Enthusiastischen sehr ungelegen in den Weg kommen. Laßt aber nur ein paar Jahrzehnte vergangen sein, so wird aller dieser Schattenseiten, die man so geflissentlich in Wieland aufzudecken suchte, nur sehr wenig gedacht werden, er selber aber wird als humoristischer, geschmackvoller Dichter denjenigen heitern Platz im Jahrhunderte behaupten, worauf er von Natur die gerechtesten Ansprüche besitzt. – Selbst eine ursprünglich enthusiastische Natur, wie sich aus den ›Sympathien eines Christen‹, sowie aus einigen andern Jugendprodukten Wieland's zur Genüge [57] abnehmen läßt, lebte er gleichsam in beständiger Furcht vor einem Rückfalle und hatte sich dagegen die verständige Kritik als Präservativ verschrieben. Schon die oftmalige Rückkehr zu den nämlichen Gegenständen seines Spottes erweist diese Behauptung. Die höhern Anforderungen seiner Seele wollen sich nun einmal nicht abweisen lassen, und es trifft sich recht oft, wo er den Platonismus, oder irgend eine andere sogenannte Schwärmerei verspotten will, daß er beide recht schön, ja mit der Glut einer liebenswürdigen Begeisterung darstellt. Alles unterwarf er dem Verstande, und besonders einem ihrer Lieblingszweige, der Kritik. Auf diesem Wege gelangt man freilich zu keinem Resultate. Dies sieht man deutlich auch an Wieland's letztem Werke, den von ihm übersetzten Briefen des Cicero. Dieselben enthalten die höchste Verdeutlichung des damaligen Zustandes der Welt, die sich zwischen den Anhängern des Cäsar und Brutus getheilt hatte; sie lesen sich mit derselben Frische, wie eine Zeitung aus Rom, indeß sie uns über die Hauptsache, worauf eigentlich alles ankommt, in völliger Ungewißheit lassen. Das macht, es war Wieland in allen Stücken weniger um einen festen Standpunkt als um eine geistreiche Debatte zu thun. Zuweilen berichtigt er den Text in einer Note, würde es aber auch nicht übel nehmen, wenn jemand aufträte und wieder durch eine neue Note seine Note berichtigte. Übrigens muß man Wieland deswegen nicht gram werden; denn gerade diese Unentschiedenheit [58] ist es, welche den Scherz zulässig macht, indeß der Ernst immer nur Eine Seite umfaßt und an dieser mit Ausschließung aller heitern Nebenbeziehungen festhält. Die besten und anmuthigsten seiner Produkte sind auf diesem Wege entstanden und würden ohne diese seine Launenhaftigkeit gar nicht einmal denkbar sein. Dieselbe Eigenschaft, die ihn in der Prosa zuweilen beschwerlich macht, ist es, die ihn in der Poesie höchst liebenswürdig erscheinen läßt: Charaktere, wie Musarion, haben ihre ganze eigenthümliche Liebenswürdigkeit auf eben diesem Wege erhalten.«

Als Goethe hörte, daß ich gestern Wieland im Tode gesehen und mir dadurch einen schlimmen Abend und eine noch schlimmere Nacht bereitet hatte, wurde ich darüber tüchtig von ihm ausgescholten. »Warum,« sagte er, »soll ich mir die lieblichen Eindrücke von den Gesichtszügen meiner Freunde und Freundinnen durch die Entstellungen einer Maske zerstören lassen? Es wird ja dadurch etwas Fremdartiges, ja völlig Unwahres meiner Einbildungskraft aufgedrungen. Ich habe mich wohl in Acht genommen, weder Herder, Schiller, noch die verwittwete Frau Herzogin Amalia im Sarge zu sehen. Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Portraitmaler. Ich meinerseits will ein seelenvolleres Bild, als seine Masken, von meinen sämmtlichen Freunden im Gedächtniß aufbewahren. Also bitte ich es Euch, wenn es dahin kommen sollte, auch einmal mit mir zu halten. Auch will ich es nicht verhehlen,[59] eben das ist es, was mir an Schillers Hingang so ausnehmend gefällt. Unangemeldet und ohne Aufsehen zu machen kam er nach Weimar, und ohne Aufsehen zu machen ist er auch wieder von hinnen gegangen. Die Paraden im Tode sind nicht das, was ich liebe. Zwar ist das Aufstellen der Leichen eine uralte, gute Gewohnheit und sogar nöthig fürs Volk und die öffentliche Sicherheit. Es beruht etwas darauf für die Gesellschaft, nicht nur, daß man weiß, daß ein Mensch, sondern auch wie er gestorben ist. Deßhalb, daß man überhaupt stirbt, läßt sich niemand ein graues Haar wachsen; aber jedem von uns muß daran gelegen sein, daß sein Leben früher, als der Naturlauf es gebietet, sei es von geldgierigen Erben oder auf eine andere, jedesmal unbeliebige Weise den Kreisen, worin es sich bewegt, unterschlagen werde.«

Mitten in dieser Unterhaltung war August v. Goethe hereingetreten, der heute seines Vaters Stelle versehen und Wieland's Begräbnisse zu Osmanstädt in seinem Namen und Auftrage mit beigewohnt hatte. Aus seinem Munde vernahmen wir sogleich nähere Umstände dieser Bestattung. Goethe lobte die getroffenen Einrichtungen; besonders auch, daß einige von der Regierung, andere von der Kammer, gleichsam aus der Mitte beider Collegien, bei dieser Feierlichkeit zugegen gewesen waren. »Es ist die letzte Ehre,« fügte er hinzu, »die wir ihm und uns selbst zu erzeigen imstande sind. Allemal zeugt es von einem würdigen Sinne, wenn man solche [60] Anlässe gehörig benutzt; und wenn sonst nichts, so legen wir dadurch vor der Welt wenigstens ein Zeugniß ab, daß wir nicht unwerth sind, ein so seltenes Talent eine lange Reihe von Jahren hindurch in unserer Mitte besessen zu haben.« Sein Sohn mußte ihm darauf die Begräbnisstelle, den Ort im Garten, den Stein, alles aufs Genaueste bezeichnen. Auch vernahm er es nicht ungern, daß über fünfhundert Menschen aus den umliegenden Dörfern sich heute unaufgefordert bei Wieland's Grabe eingefunden hatten.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1813. 1813, 25. Januar.: Mit Johann Daniel Falk. a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A0C5-D