1822, 19. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Ich kam Vormittags zu Goethe, der mir... [einen für den Kurfürsten Maximilian von Bayern bestimmt gewesenen] alterthümlichen Becher zeigte und mich ersuchte, ihm Schiller's dreißigjährigen Krieg zum Lesen zu leihen. Firnstein's Leben und Gedichte interessiren Goethe sehr. Die jammervolle Gestalt Firnstein's scheint auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht zu haben; er lobte ihn und sagte: »Diesem Manne muß man trachten, auf die Beine zu helfen.« – Ich brachte dann Schiller's dreißigjährigen Krieg und empfahl mich wieder.

[194] Als ich Abends zu Goethe kam, bemerkte ich, daß ihm Zähren über die Wangen herabrollten. Ich fragte erstaunt: Excellenz, was ist Ihnen geschehen?

»Nichts, Freundchen,« erwiederte er, »ich bedaure nur, daß ich mit einem solchen Manne, der so etwas schreiben konnte, einige Zeit im Mißverständnisse leben konnte. Schiller wohnte drei Häuser von mir, und wir besuchten uns nicht, weil ich, von Italien zurückkommend, vorwärts gedrungen war, und die durch Schiller veranlaßten Räubergeschichten nicht ertragen konnte. Vom Jahre 1797 bis 1805 besuchten wir uns wöchentlich zwei- bis dreimal, schrieben uns auch gegenseitig. Schiller hatte die Gabe, daß er über seine Sachen, die er in Arbeit hatte, über Plan, Eintheilung sprechen konnte, was aber mir nicht eigen war. Da er manches nicht gehörig motivirte, so gab es Dispute. Als er mir sein vortreffliches Werk, Wilhelm Tell, brachte, machte ich ihn aufmerksam, wie es komme, daß der Landvogt Geßler auf den Einfall geräth, Tell solle den Apfel von des Knaben Kopf schießen, und bemerkte, daß das nicht gehörig motivirt sei. Schiller war hierüber etwas unwillig; allein ungefähr den dritten Tag brachte er die Scene mit dem Knaben des Tell, der behauptete, sein Vater könne mit dem Pfeile jeden Apfel vom Baume schießen. Sehen Sie, Freund, jetzt ist eine Veranlassung dazu, so macht es sich herrlich.«

»Schiller,« fuhr Goethe fort, »war in Stuttgart geboren, in der Mititär-Akademie erzogen, schrieb dort[195] die Räuber, entsprang, wurde in Mannheim gut aufgenommen, von Württemberg requirirt, suchte Asyl im Thüringer Walde auf einem Landgute, wie Luther auf der Wartburg, heirathete, kam nach Dresden, Jena, dann nach Weimar. Er hatte ein Leiden im Unterleibe, und ich glaubte, daß er kaum noch ein Jahr leben würde. In jenem leidenden Zustande hatte er eine Apprehension gegen die Menschen. Als ich ihn während desselben besuchte, wurde angeklopft. Schiller sprang haftig auf, öffnete die Thüre und als ein junger, nicht unansehnlicher Chirurg aus Berlin fragte, ob er die große Ehre und das Vergnügen hätte, den berühmten Schiller zu sprechen, sagte dieser hastig: Ich bin Schiller, heute können Sie ihn nicht sprechen, – schob den Fremden zur Thüre hinaus und machte sie zu.«

»Es ist oft lästig«, setzte Goethe bei, »sich durch so viele Besuche die Zeit rauben zu sehen.« Darauf ging er auf Firnstein über und sagte: »Wenn Firnstein noch einige Gedichte nach meinem Rathe gemacht haben wird, so will ich ihn gerne einführen und die Einleitung zum Drucke treffen, denn er ist in körperlicher Hinsicht ein äußerst bedauerungswürdiger Mensch.«

[196]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1822. 1822, 19. August. Mit Joseph Sebastian Grüner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A005-C