1831, 15. Mai und vorher.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tische. Nach manchen heitern Unterhaltungen brachte er zuletzt das Gespräch auf seine persönlichen Angelegenheiten, indem er aufstand und von seinem Pulte ein beschriebenes Papier nahm.

»Wenn einer wie ich über die achtzig hinaus ist,« sagte er, »hat er kaum noch ein Recht zu leben; er muß jeden Tag darauf gefaßt sein, abgerufen zu werden, [83] und daran denken, sein Haus zu bestellen. Ich habe, wie ich Ihnen schon neulich eröffnete, Sie in meinem Testament zum Herausgeber meines literarischen Nachlasses ernannt und habe diesen Morgen, als eine Art von Contract, eine kleine Schrift aufgesetzt, die Sie mit mir unterzeichnen sollen.«

Mit diesen Worten legte Goethe mir den Aufsatz vor, worin ich die nach seinem Tode herauszugebenden theils vollendeten, theils noch nicht vollendeten Schriften namentlich aufgeführt und überhaupt die nähern Bestimmungen und Bedingungen ausgesprochen fand. Ich war im Wesentlichen einverstanden, und wir unterzeichneten darauf beiderseitig.

Das benannte Material, mit dessen Redaction ich mich bisher schon von Zeit zu Zeit beschäftigt hatte, schätzte ich zu etwa funfzehn Bänden; wir besprachen darauf einzelne noch nicht ganz entschiedene Punkte.

»Es könnte der Fall eintreten,« sagte Goethe, »daß der Verleger über eine gewisse Bogenzahl hinauszugehen Bedenken trüge, und daß demnach von dem mittheilbaren Material verschiedenes zurückbleiben müßte. In diesem Fall könnten Sie etwa den polemischen Theil der ›Farbenlehre‹ weglassen. Meine eigentliche Lehre ist in dem theoretischen Theile enthalten, und da nun auch schon der historische vielfach polemischer Art ist, sodaß die Hauptirrthümer der Newton'schen Lehre darin zur Sprache kommen, so wäre des Polemischen damit fast genug. Ich desavouire meine etwas scharfe Zergliederung [84] der Newton'schen Sätze zwar keineswegs, sie war zu ihrer Zeit nothwendig und wird auch in der Folge ihren Werth behalten, allein im Grunde ist alles polemische Wirken gegen meine eigentliche Natur, und ich habe daran wenig Freude.«

Ein zweiter Punkt, der von uns naher besprochen wurde, waren die Maximen und Reflexionen, die am Ende des zweiten und dritten Theils der ›Wanderjahre‹ abgedruckt stehen.

Bei der begonnenen Umarbeitung und Vervollständigung dieses früher in Einem Bande erschienenen Romans hatte Goethe nämlich seinen Anschlag aufzwei Bände gemacht, wie auch in der Ankündigung der neuen Ausgabe der sämmtlichen Werke gedruckt steht. Im Fortgange der Arbeit jedoch wuchs ihm das Manuscript über die Erwartung, und da sein Schreiber etwas weitläufig geschrieben, so täuschte sich Goethe und glaubte, statt zu zwei Bänden zu dreien genug zu haben, und das Manuscript ging in drei Bänden an die Verlagshandlung ab. Als nun aber der Druck bis zu einem gewissen Punkte gediehen war, fand es sich, daß Goethe sich verrechnet hatte, und daß besonders die beiden letzten Bände zu klein ausfielen. Man bat um weiteres Manuscript, und da nun in dem Gang des Romans nichts mehr geändert, auch in dem Drange der Zeit keine neue Novelle mehr erfunden, geschrieben und eingeschalten werden konnte, so befand sich Goethe wirklich in einiger Verlegenheit.

[85] Unter diesen Umständen ließ er mich rufen; er erzählte mir den Hergang und eröffnete mir zugleich, wie er sich zu helfen gedenke, indem er mir zwei starke Manuscriptbündel vorlegte, die er zu diesem Zweck hatte herbeiholen lassen.

»In diesen beiden Packeten,« sagte er, »werden Sie verschiedene bisher ungedruckte Schriften finden, Einzelheiten, vollendete und unvollendete Sachen, Aussprüche über Naturforschung, Kunst, Literatur und Leben, alles durcheinander. Wie wäre es nun, wenn Sie davon sechs bis acht gedruckte Bogen zusammenredigirten, um damit vorläufig die Lücken der ›Wanderjahre‹ zu füllen? Genau genommen gehört es zwar nicht dahin, allein es läßt sich damit rechtfertigen, daß bei Makarien von einem Archiv gesprochen wird, worin sich dergleichen Einzelheiten befinden. Wir kommen dadurch für den Augenblick über eine große Verlegenheit hinaus und haben zugleich den Vortheil, durch dieses Vehikel eine Masse sehr bedeutender Dinge schicklich in die Welt zu bringen.«

Ich billigte den Vorschlag und machte mich sogleich an die Arbeit und vollendete die Redaction solcher Einzelheiten in weniger Zeit. Goethe schien sehr zufrieden. Ich hatte das Ganze in zwei Hauptmassen zusammengestellt; wir gaben der einen den Titel ›Aus Makariens Archiv‹, und der andern die Aufschrift ›Im Sinne der Wanderer‹, und da Goethe gerade zu dieser Zeit zwei bedeutende Gedichte vollendet hatte, eins:[86] ›Auf Schillers Schädel‹, und ein anderes: ›Kein Wesen kann zu nichts zerfallen‹, so hatte er den Wunsch, auch diese Gedichte sogleich in die Welt zu bringen, und wir fügten sie also dem Schlusse der beiden Abtheilungen an.

Als nun aber die ›Wanderjahre‹ erschienen, wußte niemand wie ihm geschah. Den Gang des Romans sah man durch eine Menge räthselhafter Sprüche unter brochen, deren Lösung nur von Männern vom Fach, d.h. von Künstlern, Naturforschern und Literatoren, zu erwarten war, und die allen übrigen Lesern, zumal Leserinnen, sehr unbequem fallen mußten. Auch wurden die beiden Gedichte so wenig verstanden, als es geahnt werden konnte wie sie nur möchten an solche Stelle gekommen sein.

Goethe lachte dazu. »Es ist nun einmal geschehen,« sagte er heute, »und es bleibt jetzt weiter nichts, als daß Sie bei Herausgabe meines Nachlasses diese einzelnen Sachen dahin stellen wohin sie gehören, damit sie bei einem abermaligen Abdruck meiner Werke schon an ihrem Orte vertheilt stehen, und die ›Wanderjahre‹ sodann, ohne die Einzelheiten und die beiden Gedichte, in zwei Bände zusammenrücken mögen, wie anfänglich die Intention war.«

Wir wurden einig, daß ich alle auf Kunst bezüglichen Aphorismen in einen Band über Kunstgegenstände, alle auf die Natur bezüglichen in einen Band über Naturwissenschaften [87] im allgemeinen, sowie alles Ethische und Literarische in einen gleichfalls passenden Band dereinst zu vertheilen habe.

[88]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1831. 1831, 15. Mai und vorher. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9FFF-1