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An N.N.

[Concept.]

Ein reicher Privatmann hat Endesunterzeichnetem die Summe von 50 Karolin eingehändigt, als Preis der besten Auflösung einer, die verschiedenen Stufen der Cultur betreffenden Frage.

Es sollen nämlich die Phänomene menschlicher Ausbildung, so wie die dabey fördernden und hindernden Ursachen, auf allgemeine Ideen zurückgeführt werden.

Da schon so manches, in mancherley Sinn, über diesen Gegenstand geschrieben worden, so hätte man freylich jetzt die Frage zeitgemäß zu stellen, allein hier finden sich gleich zu Anfang große Schwierigkeiten, indem die Aufgabe unendlich ist und kaum in einiger Begränzung aussprechbar scheint. Damit aber doch etwas geschehe thue ich nachstehenden Vorschlag:

Man verlange eine gedrängte, lichtvolle Darstellung des Bestehenden im Menschen, worauf sich die Hauptphänomene der vorschreitenden, stillstehenden und zurückschreitenden Cultur beziehen lassen.

Je tiefer die Auflösung dieser Aufgabe aus der menschlichen Natur geschöpft wäre, desto willkommner [227] sollte sie seyn; allein man wünscht, um der Gemeinnützlichkeit willen, sie im Felde der rationellen Empirie behandelt zu sehen, so auch daß der Aufsatz gut geschrieben sey.

In wie fern ich eine dergleichen Auflösung für möglich halte gebe ich ein Beyspiel, das nur dazu dienen soll um den Freunden, deren Rath ich mir in dieser Sache erbitte, im Kurzen verständlicher zu seyn.

Man nehme die beyden Enden menschlicher Thätigkeit Genuß und Streben, mit den dazwischen liegenden Zuständen Gewohnheit und Resignation, als empirische Data für einmal an, man lege diesen Maßstab, oder einen ähnlichen, der sich durch strengere Ableitung mehr empfiehlt, an die Völkergeschichte der verschiedensten Länder und Zeiten, ja, an die Lebens und Tagesgeschichte eines einzelnen Menschen; so wird man finden wie manches durch eine solche Operation sich entwickeln, wie manches verschieden scheinende sich unter einerley Rubrik bringen läßt.

Sollte man nicht zur Erleichterung der Sache einen solchen Maßstab, dessen nähere Bestimmung ich meinen philosophischen Freunden überlasse, als Text aufstellen? und den Preis auf die beste Auslegung, Ausführung, Bearbeitung eines solchen Textes setzen. Wenigstens bestimmte man dadurch in dem ungeheuern Felde einen Punct, von dem man auszugehen hätte, und sowohl Stoff als Form wären den Concurrenten [228] gewissermaßen schon vorbereitet. Wobey man jedoch alle Freyheit sich selbst einen Text aufzugeben, und den Gegenstand von einer beliebigen Seite zu fassen, zugestehen müßte.

Dürfte ich mir hierüber ein gefälliges Gutachten erbitten.

Weimar am 1. Mai 1801.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1801. An N.N.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8EF3-F