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An Friedrich Müller

Ihren Brief mein lieber Müller habe ich geschwind erhalten und ersuche Sie, so oft Sie Laune haben fortzufahren und mich mit Ihren lebhaften Beschreibungen zu sich zu versezen. Erzählen Sie mir von Menschen, von der Kunst, der Stadt, dem alten und neuen was Ihnen durch den Sinn geht. Nur bitt ich Sie versäumen Sie ia nicht mir etwas zu schiken, es sei was es wolle, zeichnen Sie nur einige Ruinen, es braucht nichts ausgeführtes zu sein. Jedermann fragt darnach, und die Leute sind selten die glauben ohne Zeichen und Wunder zu sehen. Was meine eigne Zeichnungen betrifft haben Sie sehr recht es fehlt mir an Fleis mir eine gewisse leichte Bestimmtheit zu erwerben. Besonders da ich nur sehr abgerissen der Liebeswerke mit den Musen zu pflegen [233] habe und mit der Wahl der Gegenstände ist es auch eine kuriose Sache. In diesen Gegenden, wo so wenig Sommer ist, wo das Laub so kurze Zeit schön bleibt wo man das Bedürfnis des Schattens der Quellen, der feuchtlichen Zufluchtsörter so selten fühlt, wo die Gegend selbst gemein ist und nur allenfalls ein schon vollkommnes Künstler Auge zur Nachahmung reizt, (denn freilich ist am Ende nichts gemein was trefflich nachgeahmt wird) hier gewöhnt man sich leicht an eine Liebschaft zu Dingen die man immer sieht, unter allen Jahrs- und Tagzeiten sich selbst gleich findet, denen das Enge, beschränkte Bedürfniss noch einen besonderen Reiz giebt und woran sich Haltung Licht und Reflexspiel leichter Buchstabieren lassen. Ich meine verfallne Hütten, Höfgen, Strohdächer, Gebälke und Schweinställe. Man ist in glüklichen Stunden oft an solchen Gegenständen vorbeigegangen, findet sie zur Nachahmung immer bereit da stehen, und da man gerne von der Welt und den Prachthäusern in das Niedrige flieht, um am Einfachen und Beschränkten sich zu erholen, so knüpft man nach und nach so viel Ideen auf solche Gegenstände, daß sie sogar zaubrischer als das Edle selbst werden. Ich glaube, dass es den Niederländern in ihrer Kunst so gegangen ist.

Aber ich will Ihre Warnung in einem seinen Herzen behalten und wenigstens so viel als möglich das beste aussuchen. Radieren thu' ich gar nicht mehr. Das Zeichnen nach der Natur wird wie es [234] Umstände und Lust erlauben fortgesezt. Leben Sie wohl.

Weimar, den 12. Juni 1780.

Goethe.


Sagen Sie mir ob die Addresse richtig ist.
[235]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1780. An Friedrich Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-89A5-B