[83] 15/4459a.

An Johann Heinrich Meyer

[Concept.]

[Ende 1801.]

Über beykommenden Abdruck eines geschnittnen Steins, den ich am Finger eines Emigrirten in

[83] Pyrmont gefunden habe, bitte ich mir Ihre Gedanken aus. Um die Communication zu erleichtern, sage ich folgendes:

Julius Cäsar, bezeichnete durch den Schwanzstern, das Vexill und das Schwerdt, gegen seinen Mördern über, welche gleichfalls mit Attributen bezeichnet sind; der Dolch über ihrem Haupte ist auszulegen, so auch der Spieß hinter Brutus. Nicht so leicht die Urne hinter diesem und die Art Granatapfel vor dem Cassius.

Der erste Eindruck der Composition ist gefällig; es ist etwas geschmackvoll zierliches in der Zusammenstellung des Ganzen. Was aber bey näherer Betrachtung auffällt, ist die äußerst zarte genialische Charakteristik der drey Köpfe bey einer äußerst leichten Behandlung. Die seine, geistreiche, jesuitische, beynahe etwas verdrießliche Gestalt des Cäsars, der zusammengenommene, gedrängte, kurzgebundne und trutz mäulige Brutus, der explicitere, weichere leidenschaftliche Cassius, alle dünken mich sowohl im Ganzen als im Einzelnen fürtrefflich ausgedruckt.

Ich empfehle die Arbeit durchs Vergrößerungsglas anzusehen. Fast durchaus bemerkt man Spuren des Werkzeugs und dann sind wieder sehr zarte Stellen, z.B. an der Stirne und Wange des Cäsars, so daß er auch durch Behandlung zur Hauptperson wird. Bedeutend aber ist, wie schon gesagt, alles im höchsten Grade; der Contrast zwischen Cäsar und den Gegnern [84] und wieder der Gegner unter sich selbst fürtrefflich empfunden. Irre ich mich nicht, so gleicht Cäsar der großen Büste, die in der Farnesina stand. Was sagen Sie nun zu dem Werke? Ist es alt oder neu? und in beyden Fällen glauben Sie, in welcher Zeit es gemacht sey? Ist es alt, so befremdet zwar der Gegenstand, allein es waren doch auch zu den Kayser Zeiten noch Freyheitsfreunde genug; doch muß man sagen, es ist so zart genommen, daß keine Person dabey avantagirt ist. Sollte es neu seyn, so muß ich mir von den neuern in Absicht auf Genialität einer historischen Sphäre u.s.w. einen bessern Begriff machen, als ich gehabt habe. Sagen Sie mir nun Ihre Gedanken, damit ich wisse, ob sich hierin etwas bejahen oder verneinen lasse.

Geneigt bin ich sehr, wie Sie sehen, die Arbeit für alt zu halten.

Der Stein hat einen Sprung, der durch den Brutus durchgehet.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1801. An Johann Heinrich Meyer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-81B3-9