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An Johann Jakob Riese

Lieber Riese.

Ich habe euch lange nicht geschrieben. Verzeiht es mir. Fragt nicht nach der Ursache! Die Geschäfte waren es wenigstens nicht. Ihr lebt vergnügt in M. ich lebe hier eben so. Einsam, Einsam, ganz einsam. Bester Riese diese Einsamkeit hat so eine gewisse Traurigkeit in meine Seele gepräget.


Es ist mein einziges Vergnügen,
Wenn ich entfernt von jedermann,
Am Bache, bey den Büschen liegen,
An meine Lieben denken kann.

So vergnügt ich aber auch da bin, so fühle ich dennoch allen Mangel des gesellschaftlichen Lebens. Ich seufze nach meinen Freunden und meinen Mädgen, und wenn ich fühle daß ich vergebens seufze


Da wird mein Herz von Jammer voll,
Mein Aug wird trüber,
Der Bach rauscht jetzt im Sturm vorüber,
Der mir vorher so sanft erscholl.
Kein Vogel singt in den Gebüschen,
Der grüne Baum verdorrt
Der Zephir der mich zu erfrischen
Sonst wehte, stürmt und wird zum Nord,
Und trägt entrissne Blüten fort.
Voll zittern flieh ich dann den Ort,
Ich flieh und such in öden Mauern
Einsames Trauern.

[44] Aber wie froh bin ich, ganz froh. Horn hat mich durch seine Ankunft einem Teil meiner Schwermuht entrissen. Er wundert sich daß ich so verändert bin.


Er sucht die Ursach zu ergründen,
Denkt lächlend nach, und sieht mir ins Gesicht.
Doch wie kann er die Ursach finden,
Ich weiß sie selbsten nicht.

Euer Brief redet von Geyern. Glaubt denn der ehrliche Mann, daß hier die Auditores hundert Weiße säßen. Er war ja ehemals in Leipzig. Aber, nicht wahr, wie leer waren seine Hörsäle.

Ich muß doch ein wenig von mir selbst reden.


Ganz andre Wünsche steigen jetzt als sonst
Geliebter Freund in meiner Brust herauf.
Du weißt, wie sehr ich mich zur Dichtkunst neigte,
Wie großer Haß in meinem Bußen schlug,
Mit dem ich die verfolgte, die sich nur
Dem Recht und seinem Heiligthume weihten
Und nicht der Mußen sanften Lockungen
Ein offnes Ohr und ausgestreckte Hände
Voll Sehnsucht reichten. Ach du weißt mein Freund,
Wie sehr ich (und gewiß mit Unrecht) glaubte,
Die Muße liebte mich und gäb mir oft
Ein Lied. Es klang von meiner Leyer zwar
Manch stolzes Lied, das aber nicht die Musen,
Und nicht Apollo reihten. Zwar mein Stolz
Der glaubt es, daß so tief zu mir herab
Sich Götter niederließen, glaubte, daß
Aus Meisterhänden nichts Vollkommners käme,
Als es aus meiner Hand gekommen war.
[45] Ich fühlte nicht, daß keine Schwingen mir
Gegeben waren, um empor zu rudern.
Und auch vielleicht, mir von der Götter Hand,
Niemals gegeben werden würden. Doch
Glaubt ich, ich hab sie schon und könnte fliegen.
Allein kaum kam ich her, als schnell der Nebel
Von meinen Augen sank, als ich den Ruhm
Der großen Männer sah, und erst vernahm,
Wie viel dazu gehörte, Ruhm verdienen.
Da sah ich erst, daß mein erhabner Flug,
Wie er mir schien, nichts war als das Bemühn
Des Wurms im Staube, der den Adler sieht,
Zur Sonn sich schwingen und wie der hinauf
Sich sehnt. Er sträubt empor, und windet sich,
Und ängstlich spannt er alle Nerven an
Und bleibt am Staub. Doch schnell entsteht ein Wind,
Der hebt den Staub in Wirbeln auf. Den Wurm
Erhebt er in den Wirbeln auf. Der glaubt
Sich groß, dem Adler gleich, und jauchzet schon
Im Taumel. Doch auf einmal zieht der Wind
Den Odem ein. Es sinkt der Staub hinab,
Mit ihm der Wurm. Jetzt kriecht er wie zuvor.

Werdet nicht über meine Galimathias böse. Lebt wohl. Horn will meinen Brief einschließen. Grüßt den Kehr. Schreibt. Habt mehr Collegia in Zukunft. Horn soll 5 nehmen. Ich 6. Lebt wohl. Gewöhnt euch keine academistische Sitten an. Liebt mich. Lebt wohl. Lebt wohl.

Leipzig d. 28. Ap. 1766.

Goethe. [46]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1766. An Johann Jakob Riese. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7C78-9