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An Johann Bernhard Wilbrand

Schon seit Ew. Wohlgeboren freundlichen, reichlichen Sendung weiß ich bey mir die Frage nicht zu entscheiden, ob es räthlicher sey, zu schweigen oder etwas zu sagen, was Ihnen unangenehm seyn könnte; endlich kommt mir zur guten Stunde das Gefühl, das Letztere für besser zu halten. Und so erwidere ich also dankbar Folgendes und gestehe mit Vergnügen, daß ich dem Gange Ihrer Forschungen, da ihrer Denkweise so viel Ähnliches mit der meinigen hat, schon länger gern gefolgt bin; denn wo man im Hauptsinne übereinstimmt, ist die Anwendung einem jeden nach seiner eignen Art und Weise zu überlassen; auch [142] habe ich Ihr Werk »Das Gesetz des polaren Verhaltens in der Natur«, das mir zeitig zugekommen, mit Vergnügen gelesen und mich dabey verhalten, als wenn ich mit einem gleichgesinnten Manne hin und wiederspräche, aufnehmend entweder geradezu oder nähere Überlegung und Bedenken mir vorbehaltend, zu erfreulichem Unterricht.

Als ich nun aber Seite 296 las: »P. Verhalten des Lichts im Farbenspectrum«, bedauerte ich, daß ein Mann, der sich schon von so vielen Vorurtheilen los gesagt und überall auf Grund und Uranfang gedrungen hatte, sich noch nicht von der schmählichsten aller Taschenspielereyen, dem Newtonischen Spectrum, habe retten können, welches nicht allein für ein abgeleitetes, sondern in dieser Ableitung noch sogar bis zur Unkenntlichkeit verschränktes Phänomen zu erklären ist. Ich wünschte in diesem Augenblick, besonders da Sie Seite 164 so theilnehmend und einsichtig über die Metamorphose der Pflanzen gesprochen, daß Ihnen auch, was ich für die Farbenlehre gethan, möchte zu Gesicht gekommen seyn. Nun find ich aber sogleich eben diese Farbenlehre angeführt und die hinzugefügten, sich anschließenden Versuche meines vortrefflichen Freundes Seebeck gewürdigt und benutzt; aber von meiner Farbenlehre selbst, was sie will und was sie, wo nicht leistet, doch andeutet, auch nicht die mindeste Notiz, worüber ich in ein Erstaunen gerieth, das der Verzweiflung nah war; denn wenn Sie, der [143] Sie auf eben demselben Wege wandeln, einen solchen Merkstein vorbeygehen, als wär es ein zufällig hingewälztes Geschiebe, was soll man von andern erwarten, die, auf gewohnten betretenen Wegen hinwandlend, dieses Zeichen weit zur Seite lassen?

Ich hatte gleich in dem ersten Augenblicke eine Anwandlung, eben dasselbe freundlich zu schreiben, und ich hätte wohlgethan. Möge das Gegenwärtige seinen Zweck erreichen, warum ich bisher geschwiegen, treulich dolmetschen und Sie meiner Hochachtung und Theilnahme versichern, welche beide durch Ihre Sendung nur vermehrt werden konnten; denn sie sprach ja deutlich die Übereinstimmung aus, welche Sie zu meinen Arbeiten empfanden. Mit den aufrichtigsten Wünschen und in Hoffnung ferneren Mittheilung.

Jena den 5. August 1820.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1820. An Johann Bernhard Wilbrand. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7515-0