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An Julius Eduard Hitzig

Geneigtest zu gedenken.

Wenn eine Gesellschaft deutscher Männer sich zusammen begab, um besonders von deutscher Poesie Kenntniß zu nehmen, so war dieß auf alle Weise zulässig und höchst wünschenswerth, indem diese Personen sämmtlich, als gebildete Männer, von dem übrigen deutschen Literatur- und Staatswesen im Allgemeinen und Besondern unterrichtet, sich gar wohl die schöne Literatur zur geistreich-vergnüglichen Unterhaltung auswählen und bestimmen durften.

Sage man sich daher, daß die schöne Literatur einer fremden Nation nicht erkannt und empfunden werden kann, ohne daß man den Complex ihres ganzen Zustandes sich zugleich vergegenwärtige.

Dieß geschieht nun zum Theil, indem wir Zeitungen lesen, die uns ausführlich genug von öffentlichen Dingen unterrichten. Dieß ist aber nicht genug, sondern man hat noch hinzuzufügen, was sie in [143] kritischen und referirenden Journalen von sich selbst und von den übrigen Nationen, besonders auch von der deutschen, für Gesinnungen und Meinungen, für Antheil und Aufnahme zu äußern veranlaßt sind. Wollte man z.B. sich mit der französischen neuesten Literatur bekannt machen, so müßte man die seit zwey Jahren gehaltenen und im Drucke erschienenen Vorlesungen, als Guizot, »Cours de l'histiore moderne«, Villemain, »Cours de la littérature française«, und Cousin, »Cours de l'histoire de la philosophie«, kennen lernen. Das Verhältniß, das sie unter sich und zu uns haben, geht hieraus am deutlichsten hervor. Noch lebhafter vielleicht wirken die schneller erscheinenden Blätter und Hefte: »Le Globe«, »La Revue française« und das zuletzt erscheinende Tagesblatt »Le Temps«. Keins von aller daraus entspringenden Wogungen vor unserm Geiste lebendig erhalten wollen.

Die deutsche Poesie bringt, man darf nur die tagtäglichen Productionen und die beiden neuesten Musenalmanache ansehen, eigentlich nur Ausdrücke, Seufzer und Interjectionen wohldenkender Individuen. Jeder Einzelne tritt auf nach seinem Naturell und seiner Bildung; kaum irgend etwas geht in's Allgemeine, Höhere; am wenigsten merkt man einen häuslichen, städtischen, kaum einen ländlichen Zustand; von dem, was Staat und Kirche betrifft, ist gar nichts zu [144] merken. Dieß wollen wir nicht tadeln, sondern gelten lassen für das, was es ist. Ich spreche es nur deshalb aus, um zu sagen: daß die französische Poesie, so wie die französische Literatur sich nicht einen Augenblick von Leben und Leidenschaft der ganzen Nationalität abtrennt, in der neuesten Zeit natürlich immer als Opposition erscheint und alles Talent aufbietet, sich geltend zu machen, um den Gegentheil niederzudrücken, welcher dann freylich, da ihm die Gewalt verliehen ist, nicht nöthig hat, geistreich zu seyn.

Folgen wir aber diesen lebhaften Bekenntnissen, so sehen wir in ihre Zustände hinein, und aus der Art, wie sie von uns denken, mehr oder weniger günstig, lernen wir uns zugleich beurtheilen, und es kann gar nicht schaden, wenn man uns einmal über uns selbst denken macht.

Darf ich aufrichtig reden, so wird hiedurch ein größerer Vortheil erzielt, als wenn wir uns mit ausländischen Dichtern in Correspondenz setzten wollten. Die besten bleiben immer in ihrem Kreis beschränkte Individuen, welche in solchem Falle gar nichts thun können als schönstens zu danken, wenn man ihre Sachen gut findet. Setzt man daran aus, so ist das Verhältniß sogleich aufgehoben.

Befolgt man aber jenen vorgeschlagenen Gang, so wird man sehr schnell von allem, was öffentlich wird und der Öffentlichkeit sich nähert, vollkommen unterichtet. Bey dem jetzigen schnellwirkenden Buchhandel [145] bezieht man ein jedes Werk sehr eilig, anstatt daß der Autor, wie ich oft erfahre, eine solche Gabe erst durch Gelegenheit schickt, und ich das Buch lange schon gelesen habe, wenn ich es erhalte.

Aus allem dem ist ersichtlich, daß es keine geringe Aufgabe ist, eine solche Literatur der neuesten Zeit zu durchbringen. Über die englische wie über die italienische müßte man wieder besonders reden; denn das sind wieder ganz andere Verhältnisse.

Doch ich schließe hier, damit Gegenwärtiges nicht länger zurückbleibe, erbiete mich, auch in der Folge über die Hilfsmittel zu jenen Zwecken mich bescheidentlich zu äußern, danke zum allerschönsten für die liebenswürdige Beachtung meines Andenkens und für jenes Schreiben, gezeichnet mit so vielen werthen Namen. Geben Sie mir manchmal Nachricht von dem Fortwalten Ihrer Bemühungen! Empfehlen Sie mich Herrn Geh. Rath Streckfuß und der übrigen Gesellschaft zum angelegentlichsten.

Treu angehörig

J. W. v. Goethe.

Weimar den 11. November 1829.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Julius Eduard Hitzig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7100-B