Vier Jahreszeiten

Alle viere, mehr und minder,

Necken wie die hübschen Kinder.

[253][255]

Frühling

1
Auf, ihr Distichen, frisch! ihr muntern, lebendigen Knaben!
Reich ist Garten und Feld! Blumen zum Kranze herbei!
2
Reich ist an Blumen die Flur; doch einige sind nur dem Auge,
Andre dem Herzen nur schön; wähle dir, Leser, nun selbst!
3
Rosenknospe, du bist dem blühenden Mädchen gewidmet,
Die als die Herrlichste sich, als die Bescheidenste zeigt.
4
Viele der Veilchen zusammengeknüpft, das Sträußchen erscheinet
Erst als Blume; du bist, häusliches Mädchen, gemeint.
5
Eine kannt ich, sie war wie die Lilie schlank, und ihr Stolz war
Unschuld; herrlicher hat Salomo keine gesehn.
6
Schön erhebt sich der Aglei und senkt das Köpfchen herunter.
Ist es Gefühl? oder ist's Mutwill? Ihr ratet es nicht.
[255] 7
Viele duftende Glocken, o Hyazinthe, bewegst du;
Aber die Glocken ziehn, wie die Gerüche, nicht an.
8
Nachtviole, dich geht man am blendenden Tage vorüber;
Doch bei der Nachtigall Schlag hauchest du köstlichen Geist.
9
Tuberose, du ragest hervor und ergetzest im Freien;
Aber bleibe vom Haupt, bleibe vom Herzen mir fern!
10
Fern erblick ich den Mohn; er glüht. Doch komm ich dir näher,
Ach, so seh ich zu bald, daß du die Rose nur lügst.
11
Tulpen, ihr werdet gescholten von sentimentalischen Kennern;
Aber ein lustiger Sinn wünscht auch ein lustiges Blatt.
12
Nelken, wie find ich euch schön! Doch alle gleicht ihr einander,
Unterscheidet euch kaum, und ich entscheide mich nicht.
13
Prangt mit den Farben Aurorens, Ranunkeln, Tulpen und Astern!
Hier ist ein dunkles Blatt, das euch an Dufte beschämt.
[256] 14
Keine lockt mich, Ranunkeln, von euch, und keine begehr ich;
Aber im Beete vermischt sieht euch das Auge mit Lust.
15
Sagt! was füllet das Zimmer mit Wohlgerüchen? Reseda,
Farblos, ohne Gestalt, stilles, bescheidenes Kraut.
16
Zierde wärst du der Gärten; doch wo du erscheinest, da sagst du
Ceres streute mich selbst aus mit der goldenen Saat.
17
Deine liebliche Kleinheit, dein holdes Auge, sie sagen
Immer: Vergiß mein nicht! immer: Vergiß nur nicht mein!
18
Schwänden dem inneren Auge die Bilder sämtlicher Blumen,
Eleonore, dein Bild brächte das Herz sich hervor.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Werke. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827). Vier Jahreszeiten. Frühling. Frühling. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6994-4