Johann Wolfgang Goethe
Nachlese zu Aristoteles' »Poetik«
[121] Ein jeder, der sich einigermaßen um die Theorie der Dichtkunst überhaupt, besonders aber der Tragödie bekümmert hat, wird sich einer Stelle des Aristoteles erinnern, welche den Auslegern viel Not machte, ohne daß [121] sie sich über ihre Bedeutung völlig hätten verständigen können. In der nähern Bezeichnung der Tragödie nämlich scheint der große Mann von ihr zu verlangen, daß sie durch Darstellung Mitleid und Furcht erregender Handlungen und Ereignisse von den genannten Leidenschaften das Gemüt des Zuschauers reinigen solle.
Meine Gedanken und Überzeugung von gedachter Stelle glaube ich aber am besten durch eine Übersetzung derselben mitteilen zu können.
»Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung, die eine gewisse Ausdehnung hat und in anmutiger Sprache vorgetragen wird, und zwar von abgesonderten Gestalten, deren jede ihre eigne Rolle spielt, und nicht erzählungsweise von einem Einzelnen; nach einem Verlauf aber von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschließt.«
Durch vorstehende Übersetzung glaube ich nun die bisher dunkel geachtete Stelle ins klare gesetzt zu sehen und füge nur folgendes hinzu: Wie konnte Aristoteles in seiner jederzeit auf den Gegenstand hinweisenden Art, indem er ganz eigentlich von der Konstruktion des Trauerspiels redet, an die Wirkung und, was mehr ist, an die entfernte Wirkung denken, welche eine Tragödie auf den Zuschauer vielleicht machen würde? Keineswegs! Er spricht ganz klar und richtig aus: wenn sie durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen.
Er versteht unter Katharsis diese aussöhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert wird.
In der Tragödie geschieht sie durch eine Art Menschenopfer, es mag nun wirklich vollbracht oder unter Einwirkung einer günstigen Gottheit durch ein Surrogat gelöst [122] werden, wie im Falle Abrahams und Agamemnons, genug, eine Söhnung, eine Lösung ist zum Abschluß unerläßlich, wenn die Tragödie ein vollkommenes Dichtwerk sein soll. Diese Lösung aber, durch einen günstigen gewünschten Ausgang bewirkt, nähert sich schon der Mittelgattung, wie die Rückkehr der Alkeste; dagegen im Lustspiel gewöhnlich zu Entwirrung aller Verlegenheiten, welche ganz eigentlich das Geringere von Furcht und Hoffnung sind, die Heirat eintritt, die, wenn sie auch das Leben nicht abschließt, doch darin einen bedeutenden und bedenklichen Abschnitt macht. Niemand will sterben, jedermann heiraten, und darin liegt der halb scherz-, halb ernsthafte Unterschied zwischen Trauer- und Lustspiel israelitischer Ästhetik.
Ferner bemerken wir, daß die Griechen ihre Trilogie zu solchem Zwecke benutzt: denn es gibt wohl keine höhere Katharsis als der »Ödipus von Colonus«, wo ein halbschuldiger Verbrecher, ein Mann, der durch dämonische Konstitution, durch eine düstere Heftigkeit seines Daseins, gerade bei der Großheit seines Charakters, durch immerfort übereilte Tatausübung den ewig unerforschlichen, unbegreiflich folgerechten Gewalten in die Hände rennt, sich selbst und die Seinigen in das tiefste, unherstellbarste Elend stürzt und doch zuletzt noch aussöhnend ausgesöhnt und zum Verwandten der Götter, als segnender Schutzgeist eines Landes eines eignen Opferdienstes wert, erhoben wird.
Hierauf gründet sich nun auch die Maxime des großen Meisters, daß man den Helden der Tragödie weder ganz schuldig noch ganz schuldfrei darstellen müsse. Im ersten Falle wäre die Katharsis bloß stoffartig, und der ermordete Bösewicht z.B. schiene nur der ganz gemeinen Justiz entgangen; im zweiten Falle ist sie nicht möglich: denn dem Schicksal oder dem menschlich Einwirkenden fiele die Schuld einer allzu schweren Ungerechtigkeit zur Last.
Übrigens mag ich bei diesem Anlaß wie bei jedem andern [123] mich nicht gern polemisch benehmen; anzuführen habe ich jedoch, wie man sich mit Auslegung dieser Stelle bisher beholfen. Aristoteles nämlich hatte in der »Politik« ausgesprochen: daß die Musik zu sittlichen Zwecken bei der Erziehung benutzt werden könnte, indem ja durch heilige Melodien die in den Orgien erst aufgeregten Gemüter wieder besänftigt würden und also auch wohl andere Leidenschaften dadurch könnten ins Gleichgewicht gebracht werden. Daß hier von einem analogen Fall die Rede sei, leugnen wir nicht, allein er ist nicht identisch. Die Wirkungen der Musik sind stoffartiger, wie solchesHändel in seinem »Alexandersfest« durchgeführt hat und wie wir auf jedem Ball sehen können, wo ein nach sittig-galanter Polonaise aufgespielter Walzer die sämtliche Jugend zu bacchischem Wahnsinn hinreißt.
Die Musik aber, so wenig als irgendeine Kunst, vermag auf Moralität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein; Pietät und Pflicht müssen aufgeregt werden, und solche Erweckungen werden die Künste nur zufällig veranlassen. Was sie aber vermögen und wirken, das ist eine Milderung roher Sitten, welche aber gar bald in Weichlichkeit ausartet.
Wer nun auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen inneren Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehen, daß Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das, was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen, unbestimmten Zustande entgegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen leidenschaftlich eingenommen.
Wir kehren zu unserm Anfang zurück und wiederholen: Aristoteles spricht von der Konstruktion der Tragödie, insofern der Dichter, sie als Objekt aufstellend, etwas würdig Anziehendes, Schau- und Hörbares abgeschlossen hervorzubringen denkt.
[124] Hat nun der Dichter an seiner Stelle seine Pflicht erfüllt, einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelöst, so wird dann dasselbe in dem Geiste des Zuschauers vorgehen; die Verwicklung wird ihn verwirren, die Auflösung aufklären, er aber um nichts gebessert nach Hause gehen: er würde vielmehr, wenn er asketisch-aufmerksam genug wäre, sich über sich selbst verwundern, daß er ebenso leichtsinnig als hartnäckig, ebenso heftig als schwach, ebenso liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet, wie er hinausgegangen. Und so glauben wir alles, was diesen Punkt betrifft, gesagt zu haben, wenn sich schon dieses Thema durch weitere Ausführung noch mehr ins klare setzen ließe.
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