Herbst

38
Früchte bringet das Leben dem Mann; doch hangen sie selten
Rot und lustig am Zweig, wie uns ein Apfel begrüßt.
39
Richtet den herrschenden Stab auf Leben und Handeln, und lasset
Amorn, dem lieblichen Gott, doch mit der Muse das Spiel!
40
Lehret! Es ziemet euch wohl; auch wir verehren die Sitte;
Aber die Muse läßt nicht sich gebieten von euch.
[260] 41
Nimm dem Prometheus die Fackel, beleb, o Muse, die Menschen!
Nimm sie dem Amor, und rasch quäl und beglücke wie er!
42
Alle Schöpfung ist Werk der Natur. Von Jupiters Throne
Zuckt der allmächtige Strahl, nährt und erschüttert die Welt.
43
Freunde, treibet nur alles mit Ernst und Liebe; die beiden
Stehen dem Deutschen so schön, den ach! so vieles entstellt.
44
Kinder werfen den Ball an die Wand und fangen ihn wieder;
Aber ich lobe das Spiel, wirft mir der Freund ihn zurück.
45
Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.
46
Wärt ihr, Schwärmer, imstande, die Ideale zu fassen
O so verehrtet ihr auch, wie sich's gebührt, die Natur.
47
Wem zu glauben ist, redlicher Freund, das kann ich dir sagen:
Glaube dem Leben; es lehrt besser als Redner und Buch.
[261] 48
Alle Blüten müssen vergehn, daß Früchte beglücken;
Blüten und Frucht zugleich gebet ihr, Musen, allein.
49
Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum.
Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt.
50
Schadet ein Irrtum wohl? Nicht immer! aber das Irren,
Immer schadet's. Wie sehr, sieht man am Ende des Wegs.
51
Fremde Kinder, wir lieben sie nie so sehr als die eignen;
Irrtum, das eigene Kind, ist uns dem Herzen so nah.
52
Irrtum verläßt uns nie; doch ziehet ein höher Bedürfnis
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.
53
Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder dem Höchsten,
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.
54
Warum will sich Geschmack und Genie so selten vereinen?
Jener fürchtet die Kraft; dieses verachtet den Zaum.
[262] 55
Fortzupflanzen die Welt, sind alle vernünft'gen Diskurse
Unvermögend; durch sie kommt auch kein Kunstwerk hervor.
56
Welchen Leser ich wünsche? Den unbefangensten, der mich,
Sich und die Welt vergißt und in dem Buche nur lebt.
57
Dieser ist mir der Freund, der mit mir Strebendem wandelt;
Lädt er zum Sitzen mich ein, stehl ich für heute mich weg.
58
Wie beklag ich es tief, daß diese herrliche Seele,
Wert, mit zum Zwecke zu gehn, mich nur als Mittel begreift!
59
Preise dem Kinde die Puppen, wofür es begierig die Groschen
Hinwirft; wahrlich, du wirst Krämern und Kindern ein Gott.
60
Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im Menschen
Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein.
61
Auf das empfindsame Volk hab ich nie was gehalten; es werden,
Kommt die Gelegenheit, nur schlechte Gesellen daraus.
[263] 62
Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehmals
Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück.
63
Wo Parteien entstehn, hält jeder sich hüben und drüben;
Viele Jahre vergehn, eh sie die Mitte vereint.
64
»Jene machen Partei; welch unerlaubtes Beginnen!
Aber unsre Partei, freilich, versteht sich von selbst.«
65
Willst du, mein Sohn, frei bleiben, so lerne was Rechtes, und halte
Dich genügsam, und nie blicke nach oben hinauf!
66
Wer ist der edlere Mann in jedem Stande? Der stets sich
Neiget zum Gleichgewicht, was er auch habe voraus.
67
Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das Kleine
Recht; der Große begehrt just so das Große zu tun.
68
Was ist heilig? Das ist's, was viele Seelen zusammen
Bindet; bänd es auch nur leicht, wie die Binse den Kranz.
[264] 69
Was ist das Heiligste? Das, was heut und ewig die Geister,
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.
70
Wer ist das würdigste Glied des Staats? Ein wackerer Bürger;
Unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff.
71
Wer ist denn wirklich ein Fürst? Ich hab es immer gesehen,
Der nur ist wirklich Fürst, der es vermochte zu sein.
72
Fehlet die Einsicht oben, der gute Wille von unten,
Führt sogleich die Gewalt, oder sie endet den Streit.
73
Republiken hab ich gesehen, und das ist die beste,
Die dem regierenden Teil Lasten, nicht Vorteil gewährt.
74
Bald, es kenne nur jeder den eigenen, gönne dem andern
Seinen Vorteil, so ist ewiger Friede gemacht.
75
Keiner bescheidet sich gern mit dem Teile, der ihm gebühret,
Und so habt ihr den Stoff immer und ewig zum Krieg.
[265] 76
Zweierlei Arten gibt es, die treffende Wahrheit zu sagen:
Öffentlich immer dem Volk, immer dem Fürsten geheim.
77
Wenn du laut den einzelnen schiltst, er wird sich verstocken,
Wie sich die Menge verstockt, wenn du im ganzen sie lobst.
78
Du bist König und Ritter und kannst befehlen und streiten:
Aber zu jedem Vertrag rufe den Kanzler herbei.
79
Klug und tätig und fest, bekannt mit allem, nach oben
Und nach unten gewandt, sei er Minister und bleib's.
80
Welchen Hofmann ich ehre? Den klärsten und feinsten! Das andre,
Was er noch sonst besitzt, kommt ihm als Menschen zugut.
81
Ob du der Klügste seist: daran ist wenig gelegen;
Aber der Biederste sei, so wie bei Rate, zu Haus.
82
Ob du wachst, das kümmert uns nicht, wofern du nur singest.
Singe, Wächter, dein Lied schlafend, wie mehrere tun.
[266] 83
Diesmal streust du, o Herbst, nur leichte, welkende Blätter;
Gib mir ein andermal schwellende Früchte dafür.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Werke. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827). Vier Jahreszeiten. Herbst. Herbst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6772-D