[102] Schicksal der Handschrift
Aus Italien dem Formreichen war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen; die Freunde, statt mich zu trösten und wieder an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Entzücken über entfernteste, kaum bekannte Gegenstände, mein Leiden, meine Klagen über das Verlorne schien sie zu beleidigen, ich vermißte jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache. In diesen peinlichen Zustand wußt' ich mich nicht zu finden, die Entbehrung war zu groß, an welche sich der äußere Sinn gewöhnen sollte, der Geist erwachte sonach, und suchte sich schadlos zu halten.
Im Laufe von zwei vergangenen Jahren hatte ich ununterbrochen beobachtet, gesammelt, gedacht, jede meiner Anlagen auszubilden gesucht. Wie die begünstigte griechische Nation verfahren um die höchste Kunst im eignen Nationalkreise zu entwickeln, hatte ich bis auf einen gewissen Grad einzusehen gelernt, so daß ich hoffen konnte nach und nach das Ganze zu überschauen, und mir einen reinen, vorurteilsfreien Kunstgenuß zu bereiten. Ferner glaubte ich der Natur abgemerkt zu haben, wie sie gesetzlich zu Werke gehe, um lebendiges Gebild, als Muster alles künstlichen, hervorzubringen. Das dritte, was mich beschäftigte, waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein Drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft.
Wie ich mich nun in diesen Regionen hin und her bewegte, mein Erkennen auszubilden bemüht, unternahm ich sogleich schriftlich zu verfassen, was mir am klarsten vor dem Sinne stand, und so ward das Nachdenken geregelt, die Erfahrung geordnet, und der Augenblick festgehalten. Ich schrieb zu gleicher Zeit einen Aufsatz über Kunst, Manier und Stil, einen andern die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, und das römische Karneval, sie zeigen sämtlich, was damals in meinem Innern vorging, und welche Stellung ich gegen [102] jene drei großen Weltgegenden genommen hatte. Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, das heißt die mannigfaltigen, besondern Erscheinungen des herrlichen Weltgartens auf ein allgemeines, einfaches Prinzip zurückzuführen, war zuerst abgeschlossen. Nun aber ist es eine alte schriftstellerische Wahrheit: Uns gefällt, was wir schreiben, wir würden es ja sonst nicht geschrieben haben. Mit meinem neuen Hefte wohl zufrieden, schmeichelte ich mir, auch im wissenschaftlichen Felde, schriftstellerisch eine glückliche Laufbahn zu eröffnen, allein hier sollte mir ebenfalls begegnen, was ich an meinen ersten dichterischen Arbeiten erlebt, ich ward gleich anfangs auf mich selbst zurückgewiesen; doch hier deuteten die ersten Hindernisse leider gleich auf die spätern, und noch bis auf den heutigen Tag lebe ich in einer Welt, aus der ich wenigen etwas mitteilen kann. Dem Manuskript aber erging es folgen dermaßen.
Mit Herrn Göschen, dem Herausgeber meiner gesammelten Schriften, hatte ich alle Ursache zufrieden zu sein; leider fiel jedoch die Auflage derselben in eine Zeit, wo Deutschland nichts mehr von mir wußte, noch wissen wollte, und ich glaubte zu bemerken, mein Verleger finde den Absatz nicht ganz nach seinen Wünschen. Indessen hatte ich versprochen, meine künftigen Arbeiten ihm vor andern anzubieten, eine Bedingung, die ich immer für billig gehalten habe Ich meldete ihm daher, daß eine kleine Schrift fertig liege, wissenschaftlichen Inhalts, deren Abdruck ich wünsche. Ob er sich nun überhaupt von meinen Arbeiten nicht mehr sonderlich viel versprochen, oder ob er in diesem Falle, wie ich vermuten kann, bei Sachverständigen Erkundigung eingezogen habe, was von einem solchen Übersprung in ein anderes Feld zu halten sein möchte, will ich nicht untersuchen, genug, ich konnte schwer begreifen, warum er mein Heft zu drucken ablehnte, da er, im schlimmsten Falle, durch ein so geringes Opfer von sechs Bogen Makulatur einen fruchtbaren, frisch wieder auftretenden, zuverlässigen, genügsamen Autor sich erhalten hätte.
Abermals befand ich mich also in derselben Lage wie jene, da ich dem Buchhändler Fleischer meineMitschuldigen [103] anbot; diesmal aber ließ ich mich nicht sogleich abschrecken. Ettinger in Gotha, eine Verbindung mit mir beabsichtigend, erbot sich zur Übernahme, und so gingen diese wenigen Bogen, mit lateinischen Lettern zierlich gedruckt, auf gut Glück in die Welt.
Das Publikum stutzte: denn nach seinem Wunsch, sich gut und gleichförmig bedient zu sehen, verlangt es an jeden, daß er in seinem Fache bleibe, und dieses Ansinnen hat auch guten Grund: denn wer das Vortreffliche leisten will, welches nach allen Seiten hin unendlich ist, soll es nicht, wie Gott und die Natur wohl tun dürfen, auf mancherlei Wegen versuchen. Daher will man, daß ein Talent, das sich in einem gewissen Feld hervortat, dessen Art und Weise allgemein anerkannt und beliebt ist, aus seinem Kreise sich nicht entferne, oder wohl gar in einen weit abgelegenen hinüber springe. Wagt es einer, so weiß man ihm keinen Dank, ja man gewährt ihm, wenn er es auch recht macht, keinen besondern Beifall.
Nun fühlt aber der lebhafte Mensch sich um sein selbst willen, und nicht fürs Publikum da, er mag sich nicht an irgendeinem Einerlei abmüden und abschleifen, er sucht sich von andern Seiten Erholung. Auch ist jedes energische Talent ein allgemeines, das überall hinschaut und seine Tätigkeit da und dort nach Belieben ausübt. Wir haben Ärzte, die mit Leidenschaft bauen, Gärten und Fabriken anlegen, Wundärzte als Münzkenner und Besitzer köstlicher Sammlungen.Astruc, Ludwig des Vierzehnten Leibchirurg, legte zuerst Messer und Sonde an den Pentateuch und was sind nicht überhaupt schon die Wissenschaften, teilnehmenden Liebhabern, und unbefangenen Gastfreunden schuldig geworden! Ferner kennen wir Geschäftsmänner als leidenschaftliche Romanenleser und Kartenspieler, ernsthafte Hausväter jeder andern Unterhaltung die Theaterposse vorziehend. Seit mehreren Jahren wird uns zum Überdruß die ewige Wahrheit wiederholt, daß das Menschenleben aus Ernst und Spiel zusammengesetzt sei, und daß der Weiseste und Glücklichste nur derjenige genannt zu werden verdiene, der sich zwischen beiden im Gleichgewicht zu bewegen versteht, denn auch ungeregelt wünscht ein jeder das Entgegengesetzte von sich selbst, um das Ganze zu haben.
[104] Auf tausenderlei Weise erscheint dieses Bedürfnis dem wirksamen Menschen aufgedrungen. Wer darf mit unserm Chladni rechten, dieser Zierde der Nation? Dank ist ihm die Welt schuldig, daß er den Klang allen Körpern auf jede Weise zu entlocken, zuletzt sichtbar zu machen verstanden. Und was ist entfernter von diesem Bemühen, als die Betrachtung des atmosphärischen Gesteins. Die Umstände der in unsern Tagen häufig sich erneuernden Ereignisse zu kennen und zu erwägen, die Bestandteile dieses himmlisch-irdischen Produkts zu entwickeln, die Geschichte des durch alle Zeiten durchgehenden wunderbaren Phänomens aufzuforschen, ist eine schöne, würdige Aufgabe. Wodurch hängt aber dieses Geschäft mit jenem zusammen? etwa durchs Donnergeprassel, womit die Atmosphärilien zu uns herunterstürzen? Keineswegs, sondern dadurch, daß ein geistreicher, aufmerkender Mann zwei der entferntesten Naturvorkommenheiten seiner Betrachtung aufgedrungen fühlt, und nun eines wie das andere stetig und unablässig verfolgt. Ziehen wir dankbar den Gewinn der uns dadurch beschert ist.