Schicksal der Druckschrift

Derjenige, der sich im stillen mit einem würdigen Gegenstande beschäftigt, in allem Ernst ihn zu umfassen bestrebt macht sich keinen Begriff, daß gleichzeitige Menschen ganz anders zu denken gewohnt sind als er, und es ist sein Glück: denn er würde den Glauben an sich selbst verlieren, wenn er nicht an Teilnahme glauben dürfte. Tritt er aber mit seiner Meinung hervor, so bemerkt er bald, daß verschiedene Vorstellungsarten sich in der Welt bekämpfen und so gut den Gelehrten als Ungelehrten verwirren. Der Tag ist immer in Parteien geteilt, die sich selbst so wenig kennen als ihre Antipoden. Jeder wirkt leidenschaftlich was er vermag, und gelangt so weit es gelingen will.

Und so ward auch ich, noch ehe mir ein öffentliches Urteil zukam, durch eine Privatnachricht gar wundersam getroffen. In einer ansehnlichen deutschen Stadt hatte sich ein Verein wissenschaftlicher Männer gebildet, welche zusammen, auf [105] theoretischem und praktischem Wege, manches Gute stifteten. In diesem Kreise ward auch mein Heftchen, als eine sonderbare Novität, eifrig gelesen; allein jedermann war damit unzufrieden, alle versicherten: es sei nicht abzusehen, was das heißen solle? Einer meiner römischen Kunstfreunde, mich liebend, mir vertrauend, empfand es übel, meine Arbeit so getadelt, ja verwerfen zu hören, da er mich doch, bei einem lange fortgesetzten Umgange, über mannigfaltige Gegenstände ganz vernünftig und folgerecht sprechen hören. Er las daher das Heft mit Aufmerksamkeit, und ob er gleich selbst nicht recht wußte, wo ich hinaus wolle, so ergriff er doch den Inhalt mit Neigung und Künstlersinn, und gab dem Vorgetragenen eine zwar wunderliche, aber doch geistreiche Bedeutung.

Der Verfasser, sagte derselbe, hat eine eigene, verborgene Absicht, die ich aber vollkommen deutlich einsehe, er will den Künstler lehren, wie sprossende und rankende Blumenverzierungen zu erfinden sind, nach Art und Weise der Alten in fortschreitender Bewegung. Die Pflanze muß von den einfachsten Blättern ausgehen, die sich stufenweise vermannigfaltigen, einschneiden, vervielfältigen und, indem sie sich vorwärts schieben, immer ausgebildeter, schlanker und leichter werden, bis sie sich in dem größten Reichtum der Blume versammeln, um den Samen entweder auszuschütten, oder gar einen neuen Lebenslauf wieder zu beginnen. Marmorpilaster, auf solche Weise verziert, sieht man in der Villa Medicis, und nun verstehe ich erst recht, wie es dort gemeint ist. Die unendliche Fülle der Blätter wird zuletzt von der Blume noch übertroffen, so daß endlich statt der Samenkörner oft Tiergestalten und Genien hervorspringen, ohne daß man es, nach der vorhergehenden, herrlichen Entwickelungsfolge, nur im mindesten unwahrscheinlich fände, ich freue mich nun auf die angedeutete Weise gar manchen Zierat selbst zu erfinden, da ich bisher unbewußt die Alten nachgeahmt habe.

In diesem Falle war jedoch Gelehrten nicht gut gepredigt, sie ließen die Erklärung zur Not hingehn, meinten aber doch: wenn man nichts weiter als die Kunst im Auge habe und Zieraten beabsichtige, so müsse man nicht tun, als wenn [106] man für die Wissenschaften arbeite, wo dergleichen Phantasien nicht gelten dürften. Der Künstler versicherte mich später: in Gefolg der Naturgesetze, wie ich sie ausgesprochen, sei ihm geglückt Natürliches und Unmögliches zu verbinden, und etwas erfreulich Wahrscheinliches hervorzubringen. Jenen Herrn dagegen habe er mit seinen Erklärungen nicht wieder aufwarten dürfen.

Von andern Seiten her vernahm ich ähnliche Klänge, nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.

Freundinnen, welche mich schon früher den einsamen Gebirgen, der Betrachtung starrer Felsen gern entzogen hätten, waren auch mit meiner abstrakten Gärtnerei keineswegs zufrieden. Pflanzen und Blumen sollten sich durch Gestalt, Farbe, Geruch auszeichnen, nun verschwanden sie aber zu einem gespensterhaften Schemen. Da versuchte ich diese wohlwollenden Gemüter zur Teilnahme durch eine Elegie zu locken, der ein Platz hier gegönnt sein möge, wo sie, im Zusammenhang wissenschaftlicher Darstellung, verständlicher werden dürfte, als eingeschaltet in eine Folge zärtlicher und leidenschaftlicher Poesien.


Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung
Dieses Blumengewühls über dem Garten umher;
Viele Namen hörest du an und immer verdränget,
Mit barbarischem Klang, einer den andern im Ohr.
Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;
Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
Auf ein heiliges Rätsel. O, könnt' ich dir, liebliche Freundin,
Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort!
Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze,
Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.
Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde
Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt
Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten,
Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt.
[107] Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild
Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;
Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung;
Und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind.
Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet,
Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild.
Zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeugt sich,
Ausgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt,
Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ.
Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung,
Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.
Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche,
Scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.
Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung
An und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin.
Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße,
Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,
Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere Stengel,
Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse gedrängt entscheidet der bergende Kelch sich,
Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt.
Also prangt die Natur in hoher, voller Erscheinung,
Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft.
Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stengel die Blume
Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.
Aber die Herrlichkeit wird des neuen Schaffens Verkündung.
Ja, das farbige Blatt fühlet die göttliche Hand.
Und zusammen zieht es sich schnell; die zärtesten Formen,
Zwiefach streben sie vor, sich zu vereinen bestimmt.
Traulich stehen sie nun, die holden Paare, beisammen,
Zahlreich ordnen sie sich um den geweihten Altar.
Hymen schwebet herbei und herrliche Düfte, gewaltig,
Strömen süßen Geruch, alles belebend, umher.
[108] Nun vereinzelt schwellen sogleich unzählige Keime,
Hold in den Mutterschoß schwellender Früchte gehüllt.
Und hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte;
Doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an,
Daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge,
Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei.
Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel,
Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.
Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt!
O! gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß,
Freundschaft sich mit Macht in unserm Innern enthüllte,
Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.
Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten
Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn!
Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.

Höchst willkommen war dieses Gedicht der eigentlich Geliebten, welche das Recht hatte, die lieblichen Bilder auf sich zu beziehen; und auch ich fühlte mich sehr glücklich, als das lebendige Gleichnis unsere schöne vollkommene Neigung steigerte und vollendete; von der übrigen liebenswürdigen Gesellschaft aber hatte ich viel zu erdulden, sie parodierten meine Verwandlungen durch märchenhafte Gebilde neckischer, neckender Anspielungen.

Leiden ernsterer Art jedoch waren mir bereitet von auswärtigen Freunden, unter die ich, in dem Jubel meines Herzens, die Frei-Exemplare verteilt hatte, sie antworteten alle mehr oder weniger in Bonnets Redensarten: denn seine Kontemplation der Natur hatte, durch scheinbare Faßlichkeit, die Geister gewonnen, und eine Sprache in Gang gebracht, in der man etwas zu sagen, sich untereinander zu verstehen glaubte. Zu meiner Art mich auszudrücken wollte [109] sich niemand bequemen. Es ist die größte Qual, nicht verstanden zu werden, wenn man nach großer Bemühung und Anstrengung sich endlich selbst und die Sache zu verstehn glaubt; es treibt zum Wahnsinn, den Irrtum immer wiederholen zu hören, aus dem man sich mit Not gerettet hat, und peinlicher kann uns nichts begegnen, als wenn das, was uns mit unterrichteten, einsichtigen Männern verbinden sollte, Anlaß gibt einer nicht zu vermittlenden Trennung.

Überdies waren die Äußerungen meiner Freunde keineswegs von schonender Art, und es wiederholte sich dem vieljährigen Autor die Erfahrung, daß man gerade von verschenkten Exemplaren Unlust und Verdruß zu erleben hat. Kommt jemandem ein Buch durch Zufall oder Empfehlung in die Hand, er liest es, kauft es auch wohl, überreicht ihm aber ein Freund, mit behaglicher Zuversicht, sein Werk, so scheint es, als sei es darauf abgesehen, ein Geistes-Übergewicht aufzudringen. Da tritt nun das radikale Böse in seiner häßlichsten Gestalt hervor, als Neid und Widerwille gegen frohe, eine Herzensangelegenheit vertrauende Personen. Mehrere Schriftsteller, die ich befragte, waren mit diesem Phänomen der unsittlichen Welt auch nicht unbekannt.

Einen Freund und Gönner jedoch, welcher, währender Arbeit so wie nach deren Vollendung, treulich eingewirkt, muß ich an dieser Stelle rühmen. Karl von Dalberg war es, ein Mann der wohl verdient hätte das ihm angeborne und zugedachte Glück in friedlicher Zeit zu erreichen, die höchsten Stellen durch unermüdete Wirksamkeit zu schmücken und den Vorteil derselben mit den Seinigen bequem zu genießen. Man traf ihn stets rührig, teilnehmend, fördernd, und wenn man sich auch seine Vorstellungsart im ganzen nicht zueignen konnte; so fand man ihn doch im einzelnen jederzeit geistreich überhelfend. Bei aller wissenschaftlichen Arbeit bin ich ihm viel schuldig geworden, weil er das mir eigentümliche Hinstarren auf die Natur zu bewegen, zu beleben wußte. Denn er hatte den Mut, durch gewisse gelenke Wortformeln, das Angeschaute zu vermitteln, an den Verstand heranzubringen.

Eine günstige Rezension in den Göttinger Anzeigen, Februar 1791, konnte mir nur halb genügen. Daß ich mit [110] ausnehmender Klarheit meinen Gegenstand behandelt, war mir zugestanden, der Rezensent legte den Gang meines Vortrags kürzlich und reinlich dar, wohin es aber deute, war nicht ausgesprochen, und ich daher nicht gefödert. Da man mir nun zugab, daß ich den Weg ins Wissen von meiner Seite wohl gebahnt habe, so wünschte ich brünstig, daß man mir von dort her entgegenkäme: denn es war mir gar nichts daran gelegen, hier irgendwo Fuß zu fassen, sondern so bald als möglich durch diese Regionen, unterrichtet und aufgeklärt, durchzuschreiten. Da es aber nicht nach meinen Hoffnungen und Wünschen erging, so blieb ich meinen bisherigen Anstalten getreu. Herbarien wurden zu diesen Zwecke gesammelt, ich verwahrte sogar manche Merkwürdigkeit in Spiritus, ließ Zeichnungen verfertigen, Kupfertafeln stechen, alles das sollte der Fortsetzung meiner Arbeit zugute kommen. Der Zweck war die Haupterscheinung vor Augen zu bringen, und die Anwendbarkeit meines Vortrags zu betätigen. Nun ward ich aber unverhofft in ein höchst bewegliches Leben hingerissen. Meinem Fürsten folgte ich, und also dem preußischen Heer nach Schlesien, in die Champagne, zur Belagerung von Mainz. Diese drei Jahre hintereinander waren auch für mein wissenschaftliches Bestreben höchst vorteilhaft. Ich sah die Erscheinungen der Natur in offner Welt, und brauchte nicht erst einen zwirnsfädigen Sonnenstrahl in die finsterste Kammer zu lassen, um zu erfahren, daß hell und dunkel Farben erzeuge. Dabei bemerkte ich kaum die unendliche Langeweile des Feldzugs, die höchst verdrießlich ist, wenn Gefahr dagegen uns belebt und ergötzt. Ununterbrochen waren meine Betrachtungen, unausgesetzt das Aufzeichnen des Bemerkten, und mir, dem Unschreibseligen, stand der gute Genius abermals schönschreibend zur Seite, der mir in Karlsbad und früher so förderlich gewesen.

Da mir nun alle Gelegenheit entzogen war in Büchern mich umzusehen, benutzte ich meine Druckschrift gelegentlich, daß ich gelehrte Freunde, welche der Gegenstand interessierte, bittend anging, mir zuliebe, in ihrem weit verbreiteten Lesekreis gefällig achtzugeben, was schon über diese Materie geschrieben und überliefert wäre: denn ich [111] war längst überzeugt, es gebe nichts Neues unter der Sonne, und man könne gar wohl in den Überlieferungen schon angedeutet finden, was wir selbst gewahr werden und denken, oder wohl gar hervorbringen. Wir sind nur Originale weil wir nichts wissen.

Jener Wunsch aber ward mir gar glücklich erfüllt, als mein verehrter Freund, Friedrich August Wolf, mir seinen Namensvetter andeutete, der längst auf der Spur gewesen, die ich nun auch verfolgte. Welcher Vorteil mir dadurch geworden, weist sich zunächst aus.

[112]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Werke. Naturwissenschaftliche Schriften. Morphologie. Schicksal der Druckschrift. Schicksal der Druckschrift. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6450-D