Johann Wolfgang Goethe
»German romance«
Volumes IV. Edinburgh 1827
[394] Um den Sinn dieses Titels im Deutschen wiederzugeben, müßten wir allenfalls sagen: Musterstücke romantischer, auch märchenhafter Art, ausgewählt aus den Werken deutscher Autoren, welche sich in diesem Fache hervorgetan haben; sie enthalten kleinere und größere Erzählungen von Musäus, Tieck, Hoffmann, Jean Paul Richter und Goethe in freier, anmutiger Sprache. Merkwürdig sind die einem jeden Autor vorgesetzten Notizen, die man so wie die Schillerische Biographie gar wohl rühmen, auch unsern [394] Tagesblättern und – heften zu Übersetzung und Mitteilung, wenn es nicht etwa schon uns unbewußt geschehen ist, empfehlen darf. Die Lebenszustände und – ereignisse sind mit Sorgfalt dargestellt und geben von dem individuellen Charakter eines jeden, von der Einwirkung desselben auf seine Schriften genugsame Vorkenntnis. Hier sowohl wie in der Schillerischen Biographie beweist Herr Carlyle eine ruhige, klare, innige Teilnahme an dem deutschen poetischliterarischen Beginnen; er gibt sich hin an das eigentümliche Bestreben der Nation, er läßt den Einzelnen gelten, jeden an seiner Stelle, und schlichtet hiedurch gewissermaßen den Konflikt, der innerhalb der Literatur irgendeines Volkes unvermeidlich ist. Denn leben und wirken heißt ebensoviel als Partei machen und ergreifen. Niemand ist zu verdenken, wenn er um Platz und Rang kämpft, der ihm seine Existenz sichert und einen Einfluß verschafft, der auf eine glückliche weitere Folge hindeutet.
Trübt sich nun hiedurch der Horizont einer innern Literatur oft viele Jahre lang, der Fremde läßt Staub, Dunst und Nebel sich setzen, zerstreuen und verschwinden und sieht jene fernen Regionen vor sich aufgeklärt mit ihren lichten und beschatteten Stellen, mit einer Gemütsruhe, wie wir in klarer Nacht den Mond zu betrachten gewohnt sind.
Hier nun mögen einige Betrachtungen, vor längerer Zeit niedergeschrieben, eingeschaltet stehen, sollte man auch finden, daß ich mich wiederhole, wenn man nur zugleich gesteht, daß Wiederholung irgend zum Nutzen gereichen könne.
Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet. In jedem Besondern, es sei nun historisch, mythologisch, fabelhaft, mehr oder weniger willkürlich ersonnen, wird man durch Nationalität und Persönlichkeit hin jenes Allgemeine immer mehr durchleuchten und durchscheinen sehen.
[395] Da nun auch im praktischen Lebensgange ein Gleiches obwaltet und durch alles irdisch Rohe, Wilde, Grausame, Falsche, Eigennützige, Lügenhafte sich durchschlingt und überall einige Milde zu verbreiten trachtet, so ist zwar nicht zu hoffen, daß ein allgemeiner Friede dadurch sich einleite, aber doch, daß der unvermeidliche Streit nach und nach läßlicher werde, der Krieg weniger grausam, der Sieg weniger übermütig.
Was nun in den Dichtungen aller Nationen hierauf hindeutet und hinwirkt, dies ist es, was die übrigen sich anzueignen haben. Die Besonderheiten einer jeden muß man kennenlernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren: denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.
Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit angehört. Zu einer solchen Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit schon bei. Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert.
Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein-geistigen Handels bemüht und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr.
Der Koran sagt: »Gott hat jedem Volke einen Propheten gegeben in seiner eigenen Sprache.« So ist jeder Übersetzer ein Prophet in seinem Volke. Luthers Bibelübersetzung [396] hat die größten Wirkungen hervorgebracht, wennschon die Kritik daran bis auf den heutigen Tag immerfort bedingt und mäkelt. Und was ist denn das ganze ungeheure Geschäft der Bibelgesellschaft anders, als das Evangelium einem jeden Volke in seine Sprache und Art gebracht zu überliefern?
[397]