Johann Wolfgang Goethe
Epoche der forcierten Talente
[457] Entsprang aus der philosophischen. Höhere theoretische Ansichten wurden klar und allgemeiner. Die Notwendigkeit eines entschiedenen Gehaltes, man nenne ihn Idee oder Begriff, ward allgemein anerkannt, daher konnte der Verstand sich in die Erfindung mischen und, wenn er den Gegenstand klug entwickelte, sich dünken, er dichte wirklich.
Hiezu gaben den ersten theoretischen Anstoß Schillers »Ästhetische Briefe« in den »Horen«, seine Abhandlung »Über naive und sentimentale Dichtkunst«, kritisch und folglich praktisch seine Rezension über Bürger in der »Allgemeinen Literaturzeitung«.
[457] Die Gebrüder Schlegel theoretisierten und kritisierten im ähnlichen Sinne: denn auch ihre Lehre, so wie ihr Streben, trat aus der Kantischen Philosophie hervor.
Dies wäre die Ableitung dieser Epoche, was den Gehalt betrifft.
Die äußere und letzte Form der Ausführung ward durch eine verbesserte Rhythmik sehr erleichtert. Voß, obgleich seine Bemühungen mit Undank belohnt wurden, zerstörte lieber den Effekt, den seine Arbeiten durch eine natürliche Behaglichkeit gemacht hatten, als daß er seinen Überzeugungen entsagt hätte. Dem ohngeachtet aber war jedermann aufmerksam auf seine Lehren und sein Beispiel; und so fand diese neue Epoche einen großen Vorteil vor sich an einer verbesserten Rhythmik.
Außer diesem ahmte man italienische und spanische Silbenmaße mit größerer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit nach, indem man die Oktaven-, Terzinen-und Sonettform auch im Deutschen ausbildete. Die beiden Enden der Dichtkunst waren also gegeben, entschiedener Gehalt dem Verstande, Technik dem Geschmack, und nun erschien das sonderbare Phänomen, daß jedermann glaubte, diesen Zwischenraum ausfüllen und also Poet sein zu können. Die Philosophen begünstigten diesen Irrtum: denn nachdem sie der Kunst einen so hohen Rang angewiesen, daß sie sogar die Philosophie unter die Kunst gesetzt, so wollten sie wenigstens persönlich jenes Vorrangs nicht entbehren und behaupteten, jedermann, wenigstens der Philosoph, müsse ein Poet sein können, wenn er nur wolle.
Durch diese Maximen wurde die Menge aufgefordert, und die Masse der Dichtenden nahm überhand.
Selbst Schiller, der ein wahrhaft poetisches Naturell hatte, dessen Geist sich aber zur Reflexion stark hinneigte und manches, was beim Dichter unbewußt und freiwillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang, zog viele junge Leute auf seinem Weg mit fort, die aber eigentlich nur seine Sprache ihm nachlernen konnten.
[458]Jene große Kluft aber zwischen dem gewählten Gegenstande und der letzten technischen Ausführung suchte man auf mancherlei Weise auszufüllen.
1. Durch religiose Gesinnungen: