Johann Wolfgang Goethe
Lorenz Sterne
[350] Es begegnet uns gewöhnlich bei raschem Vorschreiten der literarischen sowohl als humanen Bildung, daß wir vergessen, wem wir die ersten Anregungen, die anfänglichen Einwirkungen schuldig geworden. Was da ist und vorgeht, glauben wir, müsse so sein und geschehen; aber gerade deshalb geraten wir auf Irrwege, weil wir diejenigen aus dem Auge verlieren, die uns auf den rechten Weg geleitet haben. In diesem Sinne mach ich aufmerksam auf einen Mann, der die große Epoche reinerer Menschenkenntnis, edler Duldung, zarter Liebe in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zuerst angeregt und verbreitet hat.
An diesen Mann, dem ich so viel verdanke, werd ich oft erinnert; auch fällt er mir ein, wenn von Irrtümern und Wahrheiten die Rede ist, die unter den Menschen hin- und widerschwanken. Ein drittes Wort kann man im zarteren Sinne hinzufügen, nämlich Eigenheiten. Denn es gibt gewisse [350] Phänomene der Menschheit, die man mit dieser Benennung am besten ausdrückt; sie sind irrtümlich nach außen, wahrhaft nach innen und, recht betrachtet, psychologisch höchst wichtig. Sie sind das, was das Individuum konstituiert, das Allgemeine wird dadurch spezifiziert, und in dem Allerwunderlichsten blickt immer noch etwas Verstand, Vernunft und Wohlwollen hindurch, das uns anzieht und fesselt.
Gar anmutig hat in diesem Sinne Yorick-Sterne, das Menschliche im Menschen auf das zarteste entdeckend, diese Eigenheiten, insofern sie sich tätig äußern, »ruling passion« genannt. Denn fürwahr, sie sind es, die den Menschen nach einer gewissen Seite hintreiben, in einem folgerechten Gleise weiterschieben und, ohne daß es Nachdenken, Überzeugung, Vorsatz oder Willenskraft bedürfte, immerfort in Leben und Bewegung erhalten. Wie nahe die Gewohnheit hiemit verschwistert sei, fällt sogleich in die Augen: denn sie begünstigt ja die Bequemlichkeit, in welcher unsere Eigenheiten ungestört hinzuschlendern belieben.
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