Johann Wolfgang Goethe
Aus Goethes Brieftasche

[An den Leser]

[65] Folgende Blätter streu ich ins Publikum mit der Hoffnung, daß sie die Menschen finden werden, denen sie Freude machen können. Sie enthalten Bemerkungen und Grillen des Augenblicks, meist über bildende Kunst, und scheinen also hier am unrechten Platz hingeworfen. Sei's also nur denen, die einen Sprung über die Gräben, wodurch Kunst von Kunst gesondert wird, als Salto mortale nicht fürchten, und solchen, die mit freundlichem Herzen aufnehmen, was man ihnen in harmloser Zutraulichkeit hinreicht. So auch mit den Gedichten.

1. Nach Falconet und über Falconet

I. Nach Falconet und über Falconet

– »Aber«, möchte einer sagen, »diese schwebende Verbindungen, diese Glanzkraft des Marmors, die die Übereinstimmung hervorbringen, diese Übereinstimmung selbst, begeistert sie nicht den Künstler mit der Weichheit, mit der Lieblichkeit, die er nachher in seine Werke legt? Der Gips dagegen, beraubt er ihn nicht einer Quelle von Annehmlichkeiten, die sowohl die Malerei als die Bildhauerkunst erheben? Diese Bemerkung ist nur obenhin. Der Künstler findet die Zusammenstimmung weit stärker in den Gegenständen der Natur als in einem Marmor, der sie vorstellt. Das ist die Quelle, wo er unaufhörlich schöpft, und da hat er nicht wie bei der Arbeit nach dem Marmor zu fürchten ein schwacher Kolorist zu werden. Man vergleiche nur, [65] was diesen Teil betrifft, Rembrandt und Rubens mit Poussin, und entscheide nachher, was ein Künstler mit allen den sogenannten Vorzügen des Marmors gewinnt. Auch sucht der Bildhauer die Stimmung nicht in der Materie, woraus er arbeitet, er versteht sie in der Natur zu sehen, er findet sie so gut in dem Gips als in dem Marmor 1; denn es ist falsch, daß der Gips eines harmonischen Marmors nicht auch harmonisch sei, sonst würde man nur Abgüsse ohne Gefühl machen können; das Gefühl ist Übereinstimmung und vice versa.« Die Liebhaber, die so bezaubert von diesen Tons, diesen feinen Schwingungen sind, haben nicht unrecht, denn es zeigen sich solche an dem Marmor so gut wie in der ganzen Natur, nur erkennt man sie leichter da, wegen der einfachen und starken Würkung; und der Liebhaber, weil er sie hier zum erstenmal bemerkt, glaubt, daß sie nirgends oder wenigstens nirgends so kräftig anzutreffen seien. Das Aug des Künstlers aber findet sie überall. Er mag die Werkstätte eines Schusters betreten oder einen Stall, er mag das Gesicht seiner Geliebten, seine Stiefel oder die Antike ansehn, überall sieht er die heiligen Schwingungen und leise Töne, womit die Natur alle Gegenstände verbindet. Bei jedem Tritte eröffnet sich ihm die magische Welt, die jene große Künstler innig und beständig umgab, deren Werke in Ewigkeit den wetteifernden Künstler zur Ehrfurcht hinreißen, alle Verächter, ausländische und inländische, studierte und unstudierte, im Zaum halten und den reichen Sammler in Kontribution setzen werden.

Jeder Mensch hat mehrmal in seinem Leben die Gewalt dieser Zauberei gefühlt, die den Künstler allgegenwärtig faßt, dadurch ihm die Welt ringsumher belebt wird. Wer ist nicht einmal beim Eintritt in einen heiligen Wald von Schauer überfallen worden? Wen hat die umfangende [66] Nacht nicht mit einem unheimlichen Grausen geschüttelt? Wem hat nicht in Gegenwart seines Mädchens die ganze Welt golden geschienen? Wer fühlte nicht an ihrem Arme Himmel und Erde in wonnevollsten Harmonien zusammenfließen?

Davon fühlt nun der Künstler nicht allein die Würkungen, er dringt bis in die Ursachen hinein, die sie hervorbringen. Die Welt liegt vor ihm, möcht ich sagen, wie vor ihrem Schöpfer, der in dem Augenblick, da er sich des Geschaffnen freut, auch alle die Harmonien genießt, durch die er sie hervorbrachte und in denen sie besteht. Drum glaubt nicht so schnell zu verstehen, was das heiße: Das Gefühl ist die Harmonie und vice versa.

Und das ist es, was immer durch die Seele des Künstlers webt, was in ihm nach und nach sich zum verstandensten Ausdrucke drängt, ohne durch die Erkenntniskraft durchgegangen zu sein.

Ach dieser Zauber ist's, der aus den Sälen der Großen und aus ihren Gärten flieht, die nur zum Durchstreifen, nur zum Schauplatz der aneinander hinwischenden Eitelkeit ausstaffiert und beschnitten sind. Nur da, wo Vertraulichkeit, Bedürfnis, Innigkeit wohnen, wohnt alle Dichtungskraft, und weh dem Künstler, der seine Hütte verläßt, um in den akademischen Pranggebäuden sich zu verflattern! Denn wie geschrieben steht: es seie schwer, daß ein Reicher ins Reich Gottes komme, ebenso schwer ist's auch, daß ein Mann, der sich der veränderlichen modischen Art gleichstellt, der sich an der Flitterherrlichkeit der neuen Welt ergötzt, ein gefühlvoller Künstler werde. Alle Quellen natürlicher Empfindung, die der Fülle unsrer Väter offen waren, schließen sich ihm. Die papierne Tapete, die an seiner Wand in wenig Jahren verbleicht, ist ein Zeugnis seines Sinns und ein Gleichnis seiner Werke.

Über das Übliche sind schon so viel Blätter verdorben worden; mögen diese mit drein gehn. Mich dünkt, das Schickliche gelte in aller Welt fürs Übliche, und was ist in [67] der Welt schicklicher als das Gefühlte? Rembrandt, Raffael, Rubens kommen mir in ihren geistlichen Geschichten wie wahre Heilige vor, die sich Gott überall auf Schritt und Tritt, im Kämmerlein und auf dem Felde, gegenwärtig fühlen und nicht des umständlichen Prachts von Tempeln und Opfern bedürfen, um ihn an ihre Herzen herbeizuzerren. Ich setze da drei Meister zusammen, die man fast immer durch Berge und Meere zu trennen pflegt, aber ich dürfte mich wohl getrauen, noch manche große Namen herzusetzen und zu beweisen, daß sie sich alle in diesem wesentlichen Stücke gleich waren.

Ein großer Maler wie der andre lockt durch große und kleine empfundne Naturzüge den Zuschauer, daß er glauben soll, er sei in die Zeiten der vorgestellten Geschichte entrückt und wird nur in die Vorstellungsart, in das Gefühl des Malers versetzt. Und was kann er im Grunde verlangen, als daß ihm Geschichte der Menschheit mit und zu wahrer menschlicher Teilnehmung hingezaubert werde?

Wenn Rembrandt seine Mutter Gottes mit dem Kinde als niederländische Bäurin vorstellt, sieht freilich jedes Herrchen, daß entsetzlich gegen die Geschichte geschlägelt ist, welche vermeldet: Christus seie zu Bethlehem im jüdischen Lande geboren worden. Das haben die Italiener besser gemacht! sagt er: Und wie? – Hat Raffael was anders, was mehr gemalt als eine liebende Mutter mit ihrem Ersten, Einzigen? und war aus dem Sujet etwas anders zu malen? Und ist Mutterliebe in ihren Abschattungen nicht eine ergiebige Quelle für Dichter und Maler, in allen Zeiten? Aber es sind die biblischen Stücke alle durch kalte Veredlung und die gesteifte Kirchenschicklichkeit aus ihrer Einfalt und Wahrheit herausgezogen und dem teilnehmenden Herzen entrissen worden, um gaffende Augen des Dumpfsinns zu blenden. Sitzt nicht Maria zwischen den Schnörkeln aller Altareinfassungen vor den Hirten mit dem Knäblein da, als ließ' sie's um Geld sehn oder habe sich, nach ausgeruhten vier Wochen, mit aller Kindbettsmuße [68] und Weibseitelkeit auf die Ehre dieses Besuchs vorbereitet? Das ist nunschicklich! das ist gehörig! das stößt nicht mit der Geschichte!

Wie behandelt Rembrandt diesen Vorwurf? Er versetzt uns in einen dunkeln Stall; Not hat die Gebärerin getrieben, das Kind an der Brust, mit dem Vieh das Lager zu teilen; sie sind beide bis an Hals mit Stroh und Kleidern zugedeckt; es ist alles düster, außer einem Lämpchen, das dem Vater leuchtet, der mit einem Büchelchen dasitzt und Marien einige Gebete vorzulesen scheint. In dem Augenblick treten die Hirten herein. Der vorderste, der mit einer Stallaterne vorangeht, guckt, indem er die Mütze abnimmt, in das Stroh. War an diesem Platze die Frage deutlicher auszudrücken: Ist hier der neugeborne König der Juden?

Und so ist alles Kostüm lächerlich! denn auch der Maler, der's euch am besten zu beobachten scheint, beobachtet's nicht einen Augenblick. Derjenige, der auf die Tafel des reichen Manns Stengelgläser setzte, würde übel angesehen werden, und drum hilft er sich mit abenteuerlichen Formen, belügt euch mit unbekannten Töpfen, aus welchem uralten Gerümpelschranke er nur immer mag, und zwingt mich durch den markleeren Adel überirdischer Wesen in stattlich gefalteten Schleppmänteln zu Bewundrung und Ehrfurcht.

Was der Künstler nicht geliebt hat, nicht liebt, soll er nicht schildern, kann er nicht schildern. Ihr findet Rubensens Weiber zu fleischig! Ich sage euch, es waren seine Weiber, und hätt er Himmel und Hölle, Luft, Erd und Meer mit Idealen bevölkert, so wäre er ein schlechter Ehmann gewesen, und es wäre nie kräftiges Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein geworden. 2

[69] Es ist törig, von einem Künstler zu fordern, er soll viel, er soll alle Formen umfassen. Hatte doch oft die Natur selbst für ganze Provinzen nur eine Gesichtsgestalt zu vergeben. Wer allgemein sein will, wird nichts, die Einschränkung ist dem Künstler so notwendig als jedem, der aus sich was Bedeutendes bilden will. Das Haften an ebendenselben Gegenständen, an dem Schrank voll alten Hausrats und wunderbaren Lumpen hat Rembrandt zu dem Einzigen gemacht, der er ist. Denn ich will hier nur von Licht und Schatten reden, ob sich gleich auf Zeichnung eben das anwenden läßt. Das Haften an eben der Gestalt untereiner Lichtsart muß notwendig den, der Auge hat, endlich in alle Geheimnisse leiten, wodurch sich das Ding ihm darstellt, wie es ist. Nimm jetzo das Haften an einer Form, unter allen Lichtern, so wird dir dieses Ding immer lebendiger, wahrer, runder, es wird endlich du selbst werden. Aber bedenke, daß jeder Menschenkraft ihre Grenzen gegeben sind. Wie viel Gegenstände bist du imstande so zu fassen, daß sie aus dir wieder neu hervorgeschaffen werden mögen? Das frag dich, geh vom Häuslichen aus, und verbreite dich, so du kannst, über alle Welt.

2. Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775

II. Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775
Vorbereitung

Wieder an deinem Grabe und dem Denkmal des ewigen Lebens in dir über deinem Grabe, heiliger Erwin! fühle ich, Gott sei Dank, daß ich bin, wie ich war, noch immer so kräftig gerührt von dem Großen und, o Wonne, noch einziger, ausschließender gerührt von dem Wahren als ehemals, da ich oft aus kindlicher Ergebenheit das zu ehren mich bestrebte, wofür ich nichts fühlte und, mich selbst betrügend, den kraft-und wahrheitsleeren Gegenstand mit liebevoller Ahndung übertünchte. Wie viel Nebel sind von meinen Augen gefallen, und doch bist du nicht aus [70] meinem Herzen gewichen, alles belebende Liebe! Die du mit der Wahrheit wohnst, ob sie gleich sagen, du seist lichtscheu und entfliehend im Nebel.

Gebet

Du bist eins und lebendig, gezeugt und entfaltet, nicht zusammengetragen und geflickt. Vor dir, wie vor dem schaumstürmenden Sturze des gewaltigen Rheins, wie vor der glänzenden Krone der ewigen Schneegebürge, wie vor dem Anblick des heiter ausgebreiteten Sees und deiner Wolkenfelsen und wüsten Täler, grauer Gotthard! wie vor jedem großen Gedanken der Schöpfung, wird in der Seele reg, was auch Schöpfungskraft in ihr ist. In Dichtung stammelt sie über, in krützlenden Strichen wühlt sie auf dem Papier Anbetung dem Schaffenden, ewiges Leben, umfassendes, unauslöschliches Gefühl des, das da ist und da war und da sein wird.

Erste Station

Ich will schreiben, denn mir ist's wohl, und sooft ich da schrieb, ist's auch andern wohl worden, die's lasen, wenn ihnen das Blut rein durch die Adern floß und die Augen ihnen hell waren. Mög es euch wohlsein, meine Freunde, wie mir in der Luft, die mir über alle Dächer der verzerrten Stadt morgendlich auf diesem Umgange entgegenweht.

Zweite Station

Höher in der Luft, hinabschauend, schon überschauend die herrliche Ebne, vaterlandwärts, liebwärts und doch voll bleibenden Gefühls des gegenwärtigen Augenblicks.

Ich schrieb ehmals ein Blatt verhüllter Innigkeit, das wenige lasen, buchstabenweise nicht verstanden und worin gute Seelen nur Funken wehen sahen des, was sie unaussprechlich und unausgesprochen glücklich macht. Wunderlich war's, von einem Gebäude geheimnisvoll reden, Tatsachen in Rätsel hüllen und von Maßverhältnissen [71] poetisch lallen! Und doch geht mir's jetzt nicht besser. So sei es denn mein Schicksal, wie es dein Schicksal ist, himmelan strebender Turn, und deins, weitverbreitete Welt Gottes! angegafft und läppchensweise in den Gehirnchen der Welschen aller Völker auftapeziert zu werden.

Dritte Station

Hätt ich euch bei mir, schöpfungsvolle Künstler, gefühlvolle Kenner! deren ich auf meinen kleinen Wanderungen so viele fand, und auch euch, die ich nicht fand und die sind. Wenn euch dies Blatt reichen wird, laßt es euch Stärkung sein gegen das flache unermüdete Anspülen unbedeutender Mittelmäßigkeit, und solltet ihr an diesen Platz kommen, gedenkt mein in Liebe.

Tausend Menschen ist die Welt ein Raritätenkasten, die Bilder gaukeln vorüber und verschwinden, die Eindrücke bleiben flach und einzeln in der Seele, drum lassen sie sich so leicht durch fremdes Urteil leiten, sie sind willig, die Eindrücke anders ordnen, verschieben und ihren Wert auf und ab bestimmen zu lassen.


Hier ward durch Lenzens Ankunft die Andacht des Schreibers unterbrochen, die Empfindung ging in Gespräche über, unter welchen die übrigen Stationen vollendet wurden. Mit jedem Tritte überzeugte man sich mehr: daß Schöpfungskraft im Künstler sei aufschwellendes Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen, und daß nur durch diese ein selbständig Werk, wie andere Geschöpfe durch ihre individuelle Keimkraft hervorgetrieben werden.

Baukunst

Es war sehr leicht zu sehen, daß die Steinbaukunst der Alten, insofern sie Säulenordnungen gebrauchten, von der Holzbaukunst ihr Muster genommen habe. Vitruv bringt [72] bei dieser Gelegenheit das Märchen von der Hütte zu Markte, das nun auch von so vielen Theoristen angenommen und geheiliget worden ist; allein ich bin überzeugt, daß man die Ursachen viel näher zu suchen habe.

Die dorischen Tempel der ältesten Ordnung, wie sie in Großgriechenland und Sizilien bis auf den heutigen Tag noch zu sehen sind und welche Vitruv nicht kannte, bringen uns auf den natürlichen Gedanken: daß nicht eine hölzerne Hütte zuerst den sehr entfernten Anlaß gegeben habe.

Die ältesten Tempel waren von Holz, sie waren auf die simpelste Weise aufgebaut, man hatte nur für das Notwendigste gesorgt. Die Säulen trugen den Hauptbalken, dieser wieder die Köpfe der Balken, welche von innen heraus lagen, und das Gesims ruhte oben drüber. Die sichtbaren Balkenköpfe waren, wie es der Zimmermann nicht lassen kann, ein wenig ausgekerbt, übrigens aber der Raum zwischen denselben, die sogenannten Metopen, nicht einmal verschlagen, so daß man die Schädel der Opfertiere hineinlegen, daß Pylades, in der »Iphigenie auf Tauris« des Euripides, hindurchzukriechen den Vorschlag tun konnte. Diese ganz solide, einfache und rohe Gestalt der Tempel war jedoch dem Auge des Volks heilig, und da man anfing von Stein zu bauen, ahmte man sie, so gut man konnte, im dorischen Tempel nach.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß man bei hölzernen Tempeln auch die stärksten Stämme zu Säulen genommen habe, weil man sie, wie es scheint, ohne eigentliche Verbindung der Zimmerkunst, dem Hauptbalken nur gerad untersetzte. Als man diese Säulen in Stein nachzuahmen anfing, wollte man für die Ewigkeit bauen; man hatte aber nicht jederzeit die festesten Steine zur Hand; man mußte die Säulen aus Stücken zusammensetzen, um ihnen die gehörige Höhe zu geben; man machte sie also sehr stark in Verhältnis zur Höhe und ließ sie spitzer zugehen, um die Gewalt ihres Tragens zu vermehren.

[73] Die Tempel von Paestum, Segeste, Selinunt, Girgent sind alle von Kalkstein, der mehr oder weniger sich der Tuffsteinart nähert, die in Italien Travertin genannt wird; ja die Tempel von Girgent sind alle von dem losesten Muschelkalkstein, der sich denken läßt. Sie waren auch deshalb von der Witterung so leicht anzugreifen und ohne eine andere feindliche Gewalt zu zerstören.

Man erlaube mir eine Stelle des Vitruv hierher zu deuten, wo er erzählt: daß Hermogenes, ein Architekt, da er zu Erbauung eines dorischen Tempels den Marmor beisammengehabt, seine Gedanken geändert und daraus einen ionischen gebaut habe.

Vitruv gibt zwar zur Ursache an: daß dieser Baumeister sowohl als andre mit der Einteilung der Triglyphen nicht einig werden können; allein es gefällt mir mehr zu glauben, daß dieser Mann, als er die schönen Blöcke Marmor vor sich gesehen, solche lieber zu einem gefälligern und reizendern Gebäude bestimmt habe, indem ihn die Materie an der Ausführung nicht hinderte. Auch hat man die dorische Ordnung selbst immer schlanker gemacht, so daß zuletzt der Tempel des Herkules zu Cora acht Diameter in der Säulenlänge enthält.

Ich möchte durch das, was ich sage, es nicht gerne mit denjenigen verderben, welche für die Form der altdorischen Tempel sehr eingenommen sind. Ich gestehe selbst, daß sie ein majestätisches, ja einige ein reizendes Ansehen haben: allein es liegt in der menschlichen Natur, immer weiter, ja über ihr Ziel fortzuschreiten; und so war es auch natürlich, daß in dem Verhältnis der Säulendicke zur Höhe das Auge immer das Schlankere suchte und der Geist mehr Hoheit und Freiheit dadurch zu empfinden glaubte.

Besonders, da man von so mannigfaltigem schönen Marmor sehr große Säulen aus einem Stücke fertigen konnte und zuletzt noch der Urvater alles Gesteins, der alte Granit, aus Ägypten herüber nach Asien und Europa gebracht ward und seine großen und schönen Massen zu jedem [74] ungeheuren Gebrauche darbot. Soviel ich weiß, sind noch immer die größten Säulen von Granit.

Die ionische Ordnung unterschied sich bald von der dorischen, nicht allein durch die mehrere verhältnismäßige Säulenhöhe, durch ein verzierteres Kapitäl, sondern auch vorzüglich dadurch, daß man die Triglyphen aus dem Friese ließ und den immer unvermeidlichen Brüchen in der Einteilung derselben entging. Auch würden, nach meinem Begriff, die Triglyphen niemals in die Steinbaukunst gekommen sein, wenn die ersten nachgeahmten Holztempel nicht so gar roh gewesen, die Metopen verwahrt und zugeschlossen und der Fries etwa abgetüncht worden wäre. Allein ich gestehe es selbst, daß solche Ausbildungen für jene Zeiten nicht waren und daß es dem rohen Handwerk ganz natürlich ist, Gebäude nur wie einen Holzstoß übereinander zu legen.

Daß nun ein solches Gebäude, durch die Andacht der Völker geheiligt, zum Muster ward, wornach ein anderes, von einer ganz andern Materie, aufgeführt wurde, ist ein Schicksal, welches unser Menschengeschlecht in hundert andern Fällen erfahren mußte, die ihm weit näher lagen und weit schlimmer auf dasselbe wirkten als Metopen und Triglyphen.

Ich überspringe viele Jahrhunderte und suche ein ähnliches Beispiel auf, indem ich den größten Teil sogenannter gotischer Baukunst aus den Holzschnitzwerken zu erklären suche, womit man in den ältesten Zeiten Heiligenschränkchen, Altäre und Kapellen auszuzieren pflegte, welche man nachher, als die Macht und der Reichtum der Kirche wuchsen, mit allen ihren Schnörkeln, Stäben und Leisten an die Außenseiten der nordischen Mauern anheftete und Giebel und formenlose Türme damit zu zieren glaubte.

Leider suchten alle nordischen Kirchenverzierer ihre Größe nur in der multiplizierten Kleinheit. Wenige verstanden diesen kleinlichen Formen unter sich ein Verhältnis zu geben; und dadurch wurden solche Ungeheuer wie der [75] Dom zu Mailand, wo man einen ganzen Marmorberg mit ungeheuren Kosten versetzt und in die elendesten Formen gezwungen hat, ja noch täglich die armen Steine quält, um ein Werk fortzusetzen, das nie geendigt werden kann, indem der erfindungslose Unsinn, der es eingab, auch die Gewalt hatte, einen gleichsam unendlichen Plan zu bezeichnen.

Fußnoten

1 Warum ist die Natur immer schön? Überall schön? Überall bedeutend? Sprechend! Und der Marmor und Gips, warum will der Licht, besonder Licht haben? Ist's nicht, weil die Natur sich ewig in sich bewegt, ewig neu erschafft und der Marmor, der belebteste, dasteht tot. Erst durch den Zauberstab der Beleuchtung zu retten von seiner Leblosigkeit.

2 In dem Stück von Goudt nach Elsheimer, »Philemon und Baucis«, hat sich Jupiter auf einem Großvaterstuhl niedergelassen, Merkur ruht auf einem niederen Lager aus, Wirt und Wirtin sind nach ihrer Art beschäftigt, sie zu bedienen. Jupiter hat sich indessen in der Stube umgesehen, und just fallen seine Augen auf einen Holzschnitt an der Wand, wo er einen seiner Liebesschwänke, durch Merkurs Beihülfe ausgeführt, klärlich abgebildet sieht. Wenn so ein Zug nicht mehr wert ist als ein ganzes Zeughaus wahrhafter antiker Nachtgeschirrn, so will ich alles Denken, Dichten, Trachten und Schreiben aufgeben.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Werke. Theoretische Schriften. Aus Goethes Brieftasche. Aus Goethes Brieftasche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-5E76-7